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HÄUSLICHE GEWALT/DOMESTIC VIOLENCE: Eine Untersuchung von bedeutsamen risikorelevanten Merkmalen zur Ermittlung der Rückfallwahrscheinlichkeit inhaftierter Gewaltstraftäter unter Verwendung des Ontario Domestic Assault Risk Assessment (ODARA)

©2012 Diplomarbeit 182 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Prognosen über das zukünftige Verhalten eines Straftäters haben im österreichischen Strafrecht eine erhebliche Bedeutung. Bei allen strafrechtlichen Entscheidungen, bei denen der Gesetzgeber vom Rechtsandwender die Einbeziehung prognostischer Überlegungen fordert, geht es um die Berücksichtigung der Entscheidungsfolgen im juristischen Beurteilungsprozess. Wie bei allen Prozessen der kriminialprognostischen Urteilsbildung geht es um die (begründete) Einschätzung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger strafrechtsrelevanter Handlungsentscheidungen und Verhaltensweisen des Täters. Diese Einschätzungen lassen sich wissenschaftlich durch zwei methodenspezifische Grundstrategien erzielen: durch den nomothetischen Ansatz und durch eine ideographische Vorgehensweise.
Der nomothetische (oder aktuarische/statistische) Ansatz beruht auf empirisch gesicherten Erfahrungen, die man aus langer Tradition, bislang mit der Rückfälligkeit von Tätern und deren Merkmalen, die die Rückfallswahrscheinlichkeit beeinflussen, gesammelt hat. Die Grundlage dieser Prognosemethoden sind somit empirisch belegte Risiko- und Schutzfaktoren sowie Verfahrensweisen zur Bezugnahme dieser Prädiktoren auf den Einzelfall (Dahle, 2010, S. 71). Anhand klar definierter Determinanten (einzelne Risiko-Items) und einheitlicher Regeln zur Bestimmung eines Risiko-Scores (Aufsummierung der Items) wird einem/den Klienten ein spezifisches Rückfallrisiko ('niedriges', 'moderates' oder 'hohes' Risiko) zugeordnet. Auf diese Weise erhält der Prognostiker/die Prognostikerin eine fundierte Vorstellung vom Niveau der (statistischen) Grundrisiken, auf dem sich der zu beurteilende Proband gemäß breitem empirischen Erfahrungswissen mit vergleichbaren Fallkonstellationen bewegt, und kann sich somit auf ein realistisches Ausgangsniveau einstellen.
Ideographische Prognosemethoden basieren hingehend nicht primär auf fallunabhängigen Prognosekriterien, sondern versuchen vielmehr die im konkreten Einzelfall relevanten Faktoren aus ihren spezifischen Gegebenheiten und Entwicklungen heraus zu begründen (ebd., S. 71f). Die Grundlage ist hier also die möglichst sorgfältige Rekonstruktion verhaltensrelevanter Gesetzmäßigkeiten (z.B. die Erfassung biografischer und strafrechtlicher Entwicklungen, die Vorgeschichte des einzelnen Täters und seiner Anlasstat etc.).
Um nun die zweigleisigen methodischen Vorgehensweisen zu vereinen, entwickelte Dahle (2000) ein klinisch-ideographisches […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Daniel Srienz
HÄUSLICHE GEWALT/DOMESTIC VIOLENCE: Eine Untersuchung von bedeutsamen
risikorelevanten Merkmalen zur Ermittlung der Rückfallwahrscheinlichkeit inhaftierter
Gewaltstraftäter unter Verwendung des Ontario Domestic Assault Risk Assessment
(ODARA)
ISBN: 978-3-8428-3946-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2012
Zugl. Klagenfurt, Alpen Adria Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich,
Diplomarbeit, 2012
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2012

3
DANKSAGUNGEN
Da mir bewusst ist, dass ohne fremde Hilfe eine Diplomarbeit in diesem Ausmaß schwer zu
bewerkstelligen ist, möchte ich allen danken, die mich bei der Anfertigung der Diplomarbeit und
im Rahmen der gesamten Arbeitsphase so tatkräftig unterstützt haben.
An dieser Stelle möchte ich mich bei Prof. Dr. EHER R. und den MitarbeiterInnen der BEST für
die lehreiche und wissenschaftliche Betreuung und Unterstützung vor Ort bedanken.
Des Weiteren bedanke ich mich auch bei Herrn PD. Dr. LACKINGER F. für die Begutachtung
meiner Diplomarbeit und die fachspezifisch wertvollen Hinweise und Anregungen.
Ein besonderer Dank geht an Mjr BECHMANN G., der mir im Rahmen meines Aufenthaltes in
Wien eine arbeitsförderliche Umgebung zur Verfügung stellte.
Mein wohl wichtigster und tiefster Dank gilt meinen Eltern, besonders meiner Mutter, die mir
auf meinem Lebensweg nicht nur finanziell, sondern auch emotional immer unterstützend zur
Seite stand. Mit großer Freude widme ich ihr diese Diplomarbeit.

4
ZUSAMMENFASSUNG
Das Ziel der vorliegenden Arbeit bestand darin, an einer Stichprobe von 97 verurteilten und klinisch-
forensisch begutachteten Straftätern, die zuvor schon zumindest ein häusliches Gewaltdelikt gesetzt
hatten, die prädiktive Validität des statistisch-aktuarischen Prognoseinstruments ODARA für erneute
häusliche Gewaltdelikte zu ermitteln. Des Weiteren wurde unter Verwendung von zwei
Prognoseinstrumenten (ODARA, SARA) für die Risikoeinschätzung häuslicher Gewaltereignisse und
einem Screeninginstrument zur Vorhersage des Gewaltrisikos (SVG-5) eine Liste von 36 forensisch-
kriminologischen Risikofaktoren formuliert, die im Zuge der Untersuchung auf ihre prädiktive Validität
im Bezug auf das Kriterium (Häuslicher Rückfall) überprüft wurden. Hierbei erwiesen sich 10 der 36
Prädiktoren als statistisch signifikant. Durch die Aufnahme zu einem Summenscore (DVRS-10) konnten
in weiteren statistischen Analysen ausgesprochen gute prädiktive Validitätsindizes (AUC = .86) ermittelt
werden. Der DVRS-10 führt nicht nur zu einer signifikant besseren Gesamtprognoseleistung für die
Vorhersage des häuslichen Rückfalls, sondern leistet in seiner Zusammensetzung der rückfallrelevanten
Merkmale eine höhere Vorhersagegenauigkeit als der ODARA.
Schlüsselwörter:
Häusliche Gewalt, Partnerschaftliche Gewalt, ehelicher Angriff/Übergriff,
Risikoeinschätzung, ODARA, SARA, SVG-5, Vorhersagegenauigkeit, Rückfall, Prognose, Täter
ABSTRACT
The aim of this study was to set out with a sample of 97 convicted and clinical-forensic reviewed
offenders who previously committed at least one domestic violence offense, in order to determine the
predictive validity of the statistical-actuarial prognostic tool ODARA for new domestic violence offenses.
Through the use of two prognosis instruments (ODARA, SARA), for risk assessment of domestic
violence events, and a screening tool for the prediction of violence risk (SVG-5) a list of 36 forensic
criminological risk factors, which were tested during the study for their predictive validity in relation for
the criterion (domestic recidivism), could be established. In this case 10 out of 36 predictors turned out to
be statistically significant. By including a total score (DVRS-10) one could reach very good predictive
validity indices (AUC = .86) in further statistical analysis. The DVRS-10 does not only lead to a
significantly improved overall prognostication output for the prediction of domestic violence recidivism
but also enables through its composition of the relapse-related characteristics a higher degree of predictive
accuracy than ODARA.
Keywords:
domestic violence, intimate partner violence, spousal assault, risk assessment, ODARA, SARA,
SVG-5, predictive accuracy, recidivism, prediction, perpetrator

5
INHALTSVERZEICHNIS
1.
Einleitung
-9-
a.
Aufbau
der
Arbeit -11-
I
­
THEORETISCHER
TEIL
-13-
2.
Rechtliche Grundlagen zur Gewaltdelinquenz
-13-
a.
Verwaltungsrechtliche
Maßnahmen
-15-
b.
Strafrechtliche
Maßnahmen
-20-
3.
Formen/Dimensionen von Gewalt im häuslichen Kontext
-24-
a.
Physische
Gewalt
-25-
b.
Sexuelle Gewalt als Subgruppe der physischen
Gewalt
-27-
c.
Psychische
Gewalt -32-
4.
Häusliche
Gewalt
-34-
a.
Erklärungsansätze für das Phänomen der Häuslichen Gewalt
-35-
b.
Internationale empirische Erkenntnisse
-42-
5.
Historische Entwicklung der Konzeptualisierung von Risikofaktoren
ehelicher/partnerschaftlicher
Gewalt -49-
6.
Instrumente zur Gewaltprognose im häuslichen/partnerschaftlichen
Kontext bzw. zur Messung/Einschätzung Häuslicher Gewalt
-57-
a.
Danger
Assessment
(DA)
-57-
b.
Spousal Assault Risk Assessment Guide (SARA)
-60-
c.
Domestic Violent Screening Instrument (DVSI)
-68-
d.
Ontario Domestic Assault Risk Assessment
(ODARA)
-70-
e.
Domestic Violence Risk Appraisal Guide (DVRAG)
-74-
7.
Instrument zur allgemeinen Risikoeinschätzung
-76-
a.
Screeninginstrument zur Vorhersage des Gewaltrisikos (SVG-5)
-76-

6
II
­
EMPIRISCHER
TEIL
-79-
8.
Konstruktionsmanual der rückfallrelevanten
Merkmale
-79-
a.
Items zur Erfassung der Vordelinquenz
-79-
b.
Items zur Erfassung der Psychosozialen Anpassung
-83-
c.
Items zur Erfassung früherer ehelicher oder partnerschaftlicher Gewalt
-90-
d.
Items zur Erfassung des mutmaßlichen/aktuellen
bzw.
kürzlichen
(Index)Deliktes
-97-
9.
Allgemeiner Methodenteil -102-
a.
Untersuchungsfrage/Fragestellung -102-
b.
Einsatz
der
Instrumente
-102-
c.
Allgemeine Begründung für die ausgewählten Risikofaktoren
-103-
d.
Wahl der Methode/Materialsammlung/Untersuchungsmaterial
-105-
e.
Stichprobenbeschreibung
-106-
f.
Soziodemographische Beschreibung der Stichprobe
-106-
g.
Deliktkategorien
-106-
h.
Rückfall
in
Delikte -106-
i.
Relative und absolute Häufigkeiten der zutreffenden Items
-107-
10.
Methodische
Herangehensweise
-114-
a.
Einsatz statistischer Verfahren
-114-
b.
Datenanalyse/Statistische Berechnungen im Überblick
-115-
11.
Datenauswertung/Ergebnisse -119-
a.
Überprüfung der formulierten Hypothesen
-119-
H1: Die Übereinstimmungsrate der Beurteiler liegt über dem Zufallsbereich.
-119-
H2: Die einzelnen Merkmale/Risikofaktoren stehen signifikant mit
-121-
Häuslichem Rückfall im Zusammenhang.
H3: Die zusätzlich erhobenen Risikofaktoren (eigene Items) korrelieren
signifikant mit Häuslichem Rückfall.
-123-
H4: Der Summenscore der etablierten Instrumente steht signifikant mit
Häuslichem Rückfall im Zusammenhang.
-124-

7
H5: Die modifizierten Risikofaktoren des ODARA leisten in der
Gesamtsumme höhere Vorhersagekraft als die originale
Zusammensetzung
der
Items. -127-
H6: Der Summenscore, gebildet aus gewichteten ODARA- und PCL-Werten
(DVRAG), führt zu einer Verbesserung der prognostischen Validität
gegenüber dem originalen ODARA.
-129-
H7: Der Summenscore gebildet aus zuvor berechneten signifikanten
Variablen steht signifikant mit Häuslichen Rückfall im Zusammenhang.
-130-
H8: Die Verwendung des Summenscores ,,DVRS-10" führt zur Verbesserung
der prognostischen Validität gegenüber dem alleinigen Einsatz des
originalen
ODARA.
-131-
H9: Pro Punkterhöhung des DVRS-10 steigt der Prozentsatz des
beobachteten gewalttätigen häuslichen
Rückfalls.
-133-
b.
Weitere
Analysen
auf
Itemebene
-137-
12.
Diskussion
-145-
13.
Resümee -149-
14.
Literaturverzeichnis
-150-
15.
Tabellen-
und
Abbildungsverzeichnis -168-
16.
Anhang
-170-

8
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v
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J
J
u
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n
n
g
g
)
)

9
1.
Einleitung
Prognosen über das zukünftige Verhalten eines Straftäters haben im österreichischen Strafrecht
eine erhebliche Bedeutung. Bei allen strafrechtlichen Entscheidungen, bei denen der Gesetzgeber
vom Rechtsandwender die Einbeziehung prognostischer Überlegungen fordert, geht es um die
Berücksichtigung der Entscheidungsfolgen im juristischen Beurteilungsprozess. Wie bei allen
Prozessen der kriminialprognostischen Urteilsbildung geht es um die (begründete) Einschätzung
der Wahrscheinlichkeit zukünftiger strafrechtsrelevanter Handlungsentscheidungen und
Verhaltensweisen des Täters. Diese Einschätzungen lassen sich wissenschaftlich durch zwei
methodenspezifische Grundstrategien erzielen: durch den nomothetischen Ansatz und durch
eine ideographische Vorgehensweise.
Der nomothetische (oder aktuarische/statistische) Ansatz beruht auf empirisch
gesicherten Erfahrungen, die man aus langer Tradition, bislang mit der Rückfälligkeit von Tätern
und deren Merkmalen, die die Rückfallswahrscheinlichkeit beeinflussen, gesammelt hat. Die
Grundlage dieser Prognosemethoden sind somit empirisch belegte Risiko- und Schutzfaktoren
sowie Verfahrensweisen zur Bezugnahme dieser Prädiktoren auf den Einzelfall (Dahle, 2010, S.
71). Anhand klar definierter Determinanten (einzelne Risiko-Items) und einheitlicher Regeln zur
Bestimmung eines Risiko-Scores (Aufsummierung der Items) wird einem/den Klienten ein
spezifisches Rückfallrisiko (,,niedriges", ,,moderates" oder ,,hohes" Risiko) zugeordnet. Auf diese
Weise erhält der Prognostiker/die Prognostikerin eine fundierte Vorstellung vom Niveau der
(statistischen) Grundrisiken, auf dem sich der zu beurteilende Proband gemäß breitem
empirischen Erfahrungswissen mit vergleichbaren Fallkonstellationen bewegt, und kann sich
somit auf ein realistisches Ausgangsniveau einstellen.
Ideographische Prognosemethoden basieren hingehend nicht primär auf fallunabhängigen
Prognosekriterien, sondern versuchen vielmehr die im konkreten Einzelfall relevanten Faktoren
aus ihren spezifischen Gegebenheiten und Entwicklungen heraus zu begründen (ebd., S. 71f).
Die Grundlage ist hier also die möglichst sorgfältige Rekonstruktion verhaltensrelevanter
Gesetzmäßigkeiten (z.B. die Erfassung biografischer und strafrechtlicher Entwicklungen, die
Vorgeschichte des einzelnen Täters und seiner Anlasstat etc.).

10
Um nun die zweigleisigen methodischen Vorgehensweisen zu vereinen, entwickelte Dahle (2000)
ein klinisch-ideographisches Prozessmodell, welches vor allem die individuelle Urteilsbildung der
Rückfallswahrscheinlichkeit und Gefährlichkeit in vier Denkschritten vereint: ,,die
Fortschreibung der individuellen Delinquenztheorie des Probanden (1. Schritt) nach den
Prinzipien der spezifischen Entwicklungsdynamik seiner Persönlichkeit in den kriminologisch
relevanten Bereichen (2. Schritt) bei Zugrundelegung seines aktuell erreichten
Entwicklungsstandes (3. Schritt) unter Annahme wahrscheinlicher zukünftiger situationaler
Rahmenbedingungen (4. Schritt)" (ebd., S. 105). In diesem Kontext wird anfangs unter
umfassend gestützten Fakten die Rekonstruktion der biographischen Entwicklung des Täters
erhoben. Es geht dabei präziser um die Herausarbeitung der Persönlichkeitsentwicklung in ihren
jeweiligen psychosozialen Bezügen und um die Erkennung spezifischer Verhaltensmuster,
Denkgewohnheiten, Handlungskompetenzen und ­defizite sowie überdauerende Bedürfnisse des
Probanden. Demzufolge wird versucht, die Entwicklung etwaiger psychischer Störungen und
anderer relevanter Krankheiten nachzuzeichnen und die strafrechtliche Vorgeschichte in ihrer
jeweiligen biographischen Einbettung zu rekonstruieren. Erst auf Grund der genauen Kenntnis
der Lebenssituation des Täters während eines bestimmten Zeitraums, lässt sich sinnvoll der
Hergang der Anlasstat(en) hinsichtlich seiner (ihrer) Dynamik und Ursachen erklären. Durch die
Anwendung dieser Individualtheorie lassen sich dann die spezifischen personalen (Risiko-)
Merkmale des Täters, die für das Geschehen bedeutsam gewesen sind, herausarbeiten.
Insgesamt betrachtet decken insbesondere die komplexen standardisierten Prognoseinstrumente
der dritten Generation einen breiten Fundus empirischen Erfahrungswissens ab und bereiten
diesen auch zweckmäßig für prognostische Zwecke auf. Die vorliegende Arbeit bezieht sich
grundlegend auf aktuarische Methoden dieser Generationen-Instrumente, welche sich mit einer
speziellen Zielgruppe - der Häuslichen Gewalt bzw. partnerschaftlichen Gewalt -
auseinandersetzt. Diese Instrumente sind Hilfsmittel, die eine mehr oder weniger fundierte
Einschätzung des Grundrisikos erlauben und darüber hinaus dazu beitragen, dass potentiell
bedeutsame Aspekte im Rahmen der komplexen Einzelfallbeurteilung nicht übersehen werden.
Diese Verfahren beziehen neben den unveränderlichen statischen Merkmalen (z.B.
anamnestische Daten, persönlichkeitsgebundene Dispositionen etc.) systematisch auch
dynamische bzw. potentiell veränderbare, behandelbare Faktoren (z.B. Fehlhaltungen/-
einstellungen, risikoträchtige Verhaltensweisen und Einstellungsmuster, klinische Symptomatik
etc.) mit ein.

11
Neben der Einschätzung des individuellen Rückfallrisikos wird in dieser Arbeit auch auf die
grobe Einschätzung der durchschnittlichen Häufigkeiten des interessierenden Rückfallverhaltens
(also die Grundwahrscheinlichkeit bzw. Basisrate für einen häuslichen Rückfall bei vergleichbarer
Fallkonstellation) eingegangen. Es geht also nicht nur um die Einschätzung allgemeiner
Rückfallrisiken bei häuslichen Gewaltdelikten, sondern auch um die Frage des einschlägigen
Rückfallrisikos. Unterschieden wird hier zwischen einem Wiedereintrag ganz allgemein
(allgemeine Rückfälligkeit), einem erneuten Eintrag wegen sexueller und gewalttätiger Delikte und
einem Wiedereintrag wegen einer der früheren Delinquenz (Häusliche Gewalt) vergleichbaren
Straftat, also der speziellen Rückfälligkeit. Aus diesen Instrumenten lässt sich beurteilen, ob der
Proband unter Anwendung dieser Instrumente eher im weiten Bereich mittlerer
Risikoausprägung liegt, oder ob ein klares Profil von deutlich unter- oder überdurchschnittlicher
Ausprägung vorliegt. Nach dieser ersten groben Orientierung über die Größenordnung der
statistisch erwartbaren Rückfallwahrscheinlichkeit geht es dann in weiterer Folge um die Frage,
ob und inwieweit bei dem zu beurteilenden Probanden, über bloße Überblicksinformationen
hinausgehend, kriminogene Risikofaktoren kumulieren und in welchem Ausmaß den Risiken
Schutzfaktoren gegenüber stehen.
a.
Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit teilt sich nach dem Abstract und der Einleitung konkret in sieben Kapitel
und zwei größere Teilabschnitte. Der theoretische Abschnitt (I) unterteilt sich in die Kapitel
zwei bis sieben. Zu Beginn geht es im
zweiten Kapitel
zunächst um eine Übersicht der
rechtlichen Grundlagen zur Gewaltdelinquenz. Hierbei wird auf die in Österreich
verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Maßnahmen zur Häuslicher Gewalt eingegangen. Im
Anschluss daran erfolgt eine Beschreibung der Gewaltdimensionen, welche im innerfamiliären
und sozialen Nahraum auftreten (
3. Kapitel
). Diesem folgt die Nomenklatur der Häuslichen
Gewalt mit Ausblick auf allgemeine Erklärungsansätze und internationale empirische
Erkenntnisse (
4. Kapitel
).
Im
fünften Kapitel
wird auf die historische Entwicklung der Risikofaktoren zu
Häuslicher Gewalt eingegangen.
Den Abschluss des theoretischen Teils bilden das
Kapitel 6
und
7
. An dieser Stelle wird
besonders auf aktuell etablierte Instrumente zur Gewaltprognose im
häuslichen/partnerschaftlichen Kontext eingegangen und ein verwendetes Instrument zur
allgemeinen Risikoeinschätzung beschrieben.

12
Zu Beginn des empirischen Teilabschnittes (II) wird im
achten Kapitel
das eingesetzte
Konstruktionsmanual der rückfallrelevanten Merkmale durch fundierte Forschungsergebnisse
empirisch untermauert und im Einzelnen vorgestellt.
Diesem Kapitel folgt der aufwendige Methodenteil der sich in einen allgemein
deskriptiven Teil (
9. Kapitel
), dem Teil der methodischen Herangehensweise (
10. Kapitel
) und
dem Abschnitt der Datenauswertung bzw. Ergebnisse (
11. Kapitel
) aufteilt. Im allgemeinen
Methodenteil wird die Untersuchungsfrage, der Einsatz der Instrumente, die Begründung für die
ausgewählten Risikofaktoren, die ausgehenden Hypothesen, das Untersuchungsmaterial, die
(soziodemographische) Stichprobenbeschreibung, Deliktkategorien und der Rückfall in Delikte,
die relative/absolute Verteilung der zutreffenden Items und die Schwere der ausgeführten
Gewalthandlungen beschrieben. Der Abschnitt der methodischen Herangehensweise umfasst
den Einsatz der statistischen Verfahren und Berechnungen. Die Datenauswertung zeigt die
Ergebnisse der durchgeführten Berechnungen und die Überprüfung der anfangs aufgestellten
Hypothesen.
Den abschließenden Teil dieser Arbeit bilden die Diskussion und das Resümee. In der
Diskussion wird ein kurzer Überblick der gesamten Arbeit dargestellt und auf Ergebnisse,
Einschränkungen bzw. methodischen Begrenzungen in der Untersuchung eingegangen.
Abgerundet wird diese Arbeit durch ein kurzes Resümee bzw. Fazit für zukünftige
Forschungsarbeiten.

13
I ­ THEORETISCHER TEIL
2.
Rechtliche Grundlagen zur Gewaltdelinquenz
Schwere Formen Häuslicher Gewalt werden in heutigen Gesellschaften weitgehend konsensuell
als gesetzeswidrig und zugleich als soziales Problem begriffen. Dies war jedoch keineswegs
immer schon so; vielmehr wurden selbst schwere Formen physischer, psychischer und sexueller
Gewalt in der Familie und im ehelichen/partnerschaftlichen Umfeld bis ins letzte Jahrhundert
hinein gebilligt. In den 1980er-Jahren wurde von der Neuen Frauenbewegung Gewalt gegen
Frauen als Männergewalt und Misshandlung gegen Frauen verstanden. Der Terminus ,,Häusliche
Gewalt" entstand erst Mitte der 1990er-Jahre und versteht sich seitdem als Synonym für Gewalt
in Ehe und Partnerschaft oder ,,Gewalt im sozialen Nahraum" (Godenzi, 1996). Über Jahrzehnte
hinweg war das Phänomen von Gewalt gegen Frauen in familiären Beziehungen mit einem Tabu
belegt. Noch in den 1980er-Jahren beurteilten 31,3% der Männer und 24,6% der Frauen
Ohrfeigen unter Ehepartnern als normal und notwendig (Neubauer et al., 1998, S. 18). Die
Häufigkeit häuslicher Gewalthandlungen, also v.a. physische Misshandlungen und
Vergewaltigungen an Frauen und Kindern im familiären Kontext, wurde vielfach verschwiegen
und lange Zeit durch die gesellschaftliche Ignoranz bagatellisiert (vgl. Honig, 1992).
Auch wenn sich das Ausmaß fortlaufender Gewalt gegen Frauen und Kinder in
statistischer Hinsicht nur wenig verändert hat, ist der politische und gesellschaftliche Diskurs in
den letzten Jahren zunehmend in Bewegung geraten. Die wachsende Enttabuisierung und
Sensibilisierung durch Forschung, Politik und zahlreiche Interventionsprojekte haben dazu
geführt, dass heute eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Institutionen mit dem Problem der
Häuslichen Gewalt konfrontiert ist. Entscheidend dazu beigetragen haben
Frauenhausbewegungen, Opferhilfseinrichtungen und Beratungsstellen für Opfer beider
Geschlechter, Strafvollzugsbehörden, fachkundiges und wissenschaftlich orientiertes
Gesundheits- und Pflegepersonal, soziale Einrichtungen uvm. Aktuelle Zahlen belegen deutlich,
wie notwendig diese Bemühungen bis heute sind.
Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistete die Anti-Gewalt-Kampagne ,,Test the West ­
Geschlechterdemokratie und Gewalt" (November, 1992) und die Menschenrechtskonferenz der
Vereinten Nationen in Wien im Juni 1993.

14
Durch den Einfluss des Duluth-Interventionsmodells gegen Männergewalt und dem Auftrag der
Bundesregierung, genauer des Bundesministeriums für Frauenangelegenheiten, konnten erste
konkrete Schritte zur Realisierung des Gewaltschutzgesetzes unternommen werden (Appelt et al.,
2001, S. 453). Eine unabhängige interministerielle Arbeitsgruppe engagierter JuristInnen und
VertreterInnen österreichischer Hilfseinrichtungen wurde beauftragt, einen Entwurf für ein neues
Gesetz zum Schutz vor Gewalt, welches die Bedürfnisse der von Gewalt betroffenen Frauen und
deren Kinder in den Mittelpunkt stellt, zu gestalten. Mit diesem Aktionsprogramm gegen Gewalt
in der Familie bzw. Ehe bekannte sich die Bundesregierung im Juni 1994 zur staatlichen
Intervention zum Schutz der körperlichen Sicherheit sozial oder physisch schwächerer
Familienmitglieder. Ein weiterer Fortschritt in Sachen Geschlechterdemokratie und
gesamtgesellschaftlicher Prävention zeigte sich am 1. Mai 1997 mit Inkrafttreten des ersten
Gewaltschutzgesetzes (GeSchG) durch das ,,Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie
(GeSchG, BGBl. Nr. 759/1996, idF BGBl. I/146/1999)". Das GeSchG galt unter anderem als
Vorreiter für andere europäische Gesetzesänderungen in Hinblick auf den Schutz von Frauen
(vgl. Dearing, 2000). Dieses Gesetz sollte durch rechtliche Maßnahmen sicherstellen, dass
betroffene Frauen und Kinder nunmehr einen weitreichenden öffentlichen und kulturellen
Schutz gegen Häusliche Gewalt erhalten (vgl. Haller, 2003; Rosenberger, 1992, S. 130). Es hat die
rechtliche und gesellschaftspolitische Situation der Frauen und die Voraussetzungen für einen
effizienten Schutz von Opfern Häuslicher Gewalt maßgebend verbessert. Durch eine Änderung
des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) (BGBl. I Nr. 146/1999, in Kraft seit 01.01.2000), der
Exekutionsordnung
(EO) (BGBl. I Nr. 31/2003, in Kraft seit 01.01.2004) und einer umfassenden
Überarbeitung des GeSchG trat in Österreich am 01. Juni 2009 eine zusätzliche Verbesserung
und grundlegende Erweiterung der Gewaltprävention im häuslichen Bereich und des
Opferschutzes in Kraft und zwar in Form des zweiten Gewaltschutzgesetzes (BGBl. I Nr.
40/2009).
Die Grundlage des GeSchG besteht aus drei aufeinander abgestimmten Teilmaßnahmen, nämlich
aus:
x der polizeilichen Wegweisung und dem Betretungsverbot (WW/BV) durch Organe der
Exekutive,
x der gerichtlichen Einstweiligen Verfügung (EV) durch das Zivilgericht und
x der Tätigkeit der Interventionsstellen/Gewaltschutzzentren (GSZ).

15
Weitere Maßnahmen waren die Schaffung von Modellprojekten zur Arbeit mit Gewalttätern, die
Einrichtung des Präventionsbeirates im Innenministerium, organisatorische Reformen im Bereich
der Sicherheitsexekutive und umfangreiche Schulungsmaßnahmen zur Einführung des
Gewaltschutzgesetzes und zur Verbesserung der Grundausbildung der Polizei (vgl. Dearing,
2005).
a.
Verwaltungsrechtliche Maßnahmen
Wegweisung und Betretungsverbot
Der Grundgedanke der Wegweisung und des Betretungsverbotes (im §38a SPG geregelt), ,,Wer
schlägt, der geht", besteht darin, das Opfer bzw. die gefährdete Person vor Gewalt in
Akutsituationen, vor ihren Gefährdern bzw. vor Gewalttätern zu schützen, indem der/die Täter
durch die Exekutive dazu aufgefordert und gezwungen wird/werden, den inneren Wohnbereich
(Wohnung/Haus) und dessen unmittelbare Umgebung zu verlassen. Durch die Mitnahme des
Täters wird in akuten Situationen weitere Gewalt präventiv verhindert und der Zivilgesellschaft
die Botschaft vermittelt, dass Gewalt in Beziehungen inakzeptabel ist (normative Funktion,
Abschreckfunktion). Mit jedem Muster von Gewaltdynamik ist jeweils eine spezifische
Wirksamkeit einer polizeilichen Intervention, sowie ein spezifischer Beratungsbedarf verbunden.
Das SPG ermächtigt die Polizei, den Gefährder aus und von der Wohnung (dem Haus) und
deren unmittelbaren Umgebung bzw. dem erweiterten Wohnbereich (z.B. Stiegenaufgang,
Hausflur, Einfahrt, (Vor)Garten, Tiefgarage etc.) wegzuweisen und der Person die Rückkehr
dorthin zu verbieten bzw. diese mit einem Betretungsverbot mit einer Geltungsdauer von zwei
Wochen (früher 10 Tage) zu belegen. Wenn innerhalb dieser Zeit eine EV nach §382b beantragt
wird, verlängert sich das BV auf vier Wochen. Gleichzeitig ermöglicht es dem Opfer bzw. der
gefährdeten Person (auch im Interesse der zugehörigen Kinder) in der vertrauten Umgebung zu
bleiben. Den konkreten räumlichen Schutzbereich legt die Exekutive dabei so fest, dass ein
wirksamer Schutz gewährleistet werden kann (§38a Abs. 1 SPG). Nicht das Forcieren einer
Trennung, sondern die sofortige Herstellung der Sicherheit der Frau ist der Zweck der
Maßnahmen des Gewaltschutzgesetzes (Jurtela, 2007, S. 63). Sind sichtbare Misshandlungen oder
Verletzungen an Frauen und/oder Kindern ersichtlich, welche Rückschlüsse auf einen Angriff
auf Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person ziehen lassen, ist die Exekutive verpflichtet
und aufgefordert, den Gefährder unverzüglich der Wohnung zu verweisen.
Als Wegweisungsgründe gelten alle Tatsachen, die Grund zur Annahme geben, dass
zukünftig weitere Angriffe drohen.

16
Geschützt sind alle Personen, die in der Wohnung (dem Haus) wohnen bzw. leben, unabhängig
davon, in welchem Verwandtschafts, Beziehungs- und Besitzverhältnis (Ehefrau,
Lebensabschnittspartner(in), Kinder, Verwandte, aber auch Untermieterin, Mitbewohnerin, etc.)
sie stehen.
Statistisch gesehen erfolgten in Österreich bspw. im Jahr 2005 bundesweit 5.618
Wegweisungen bzw. Betretungsverbote und rund 6.171 Streitschlichtungen (§26 SPG) im
familiären Kontext (Haller & Dawid, 2006, S. 10). Weggewiesen und mit einem Betretungsverbot
belegt werden kann dabei jede Person von der eine entsprechende Gefahr ausgeht, z.B. auch der
rechtmäßige Wohnungsbesitzer, ebenso ein ehemaliger Freund oder Lebensgefährte, der
plötzlich und unerwünscht in der Wohnung (dem Haus) erscheint. Ein BV geht wiederum
automatisch mit der Verhängung eines Waffenverbots einher. Während des Betretungsverbotes
darf der Gefährder die Wohnung (das Haus) und den festgelegten räumlichen Schutzbereich
nicht betreten, auch nicht mit Zustimmung der gefährdeten Person. Opfer werden diesbezüglich
auch darauf hingewiesen, wenn sie den Gefährder in dieser Frist hineinlassen.
Das WW/BV-Recht ist ein entscheidender Fortschritt, um Grenzen in Bezug auf Gewalt
im häuslichen und familiären Kontext nach außen hin sichtbar zu machen und der Gesellschaft
bzw. dem sozialen Umfeld deutlich zu signalisieren, welche rechtlichen Konsequenzen es für den
Täter/Gefährder nach sich zieht.
Einstweilige Verfügung
Ist ein längerer Schutz vor dem Gefährder notwendig, hat die gefährdete Person die Möglichkeit,
selbst (mit Nachweis der Gewaltanwendung durch sogenannte ,,Bescheinungsmittel" z.B.
ärztliche Befunde/Atteste, die direkte Aussage der betroffenen Person oder Zeugen und
Zeuginnen), auch ohne Rechtsbeistand, beim zuständigen Bezirksgericht des Wohnortes einen
Antrag auf Erlassung einer EV nach §382b EO und/oder §382e EO zu stellen. Dieser Antrag
kann in Abhängigkeit von der Gewalt- bzw. Gefährdungssituation darauf gerichtet sein, dass der
Gefährder:
x die Wohnung und deren unmittelbare Umgebung für einen festgesetzten Zeitraum nicht
betreten darf (,,Schutz vor Gewalt in Wohnungen" nach §382b EO) und/oder
x sich für einen festgesetzten Zeitraum an bestimmten Orten nicht aufhalten und auch
keinen Kontakt zur gefährdeten Person aufnehmen darf (,,Allgemeiner Schutz vor
Gewalt" nach §382e EO) und/oder
x Eingriffe in die Privatsphäre der gefährdeten Person zu unterlassen hat (,,Schutz vor
Eingriffen in die Privatsphäre" nach §382g EO).

17
Wenn für die betroffene Person das weitere Zusammenleben mit dem Gefährder untragbar ist,
weil dieser der gefährdeten Person seelische oder psychische Gewalt (z.B. Psychoterror, welcher
die psychische Gesundheit der Betroffenen nachhaltig beeinträchtig) zufügt oder sie physisch
misshandelt, angegriffen oder sie mit Gewalt bedroht hat, kann sie oder auch Angehörige der
betroffenen Person (z.B. Ehegattin/Lebensabschnittspartner(in), Geschwister oder Verwandte)
eine EV nach §382b EO zum ,,Schutz vor Gewalt in Wohnungen" oder nach §382e EO
,,Allgemeiner Schutz vor Gewalt" beim zuständigen Familiengericht beantragen (vorausgesetzt
die Wohnung wird von der betroffenen Person dringend benötigt). Eine EV kann auch
unabhängig und ohne vorhergehende Intervention der Exekutive ausgesprochen werden (z.B. in
Krisensituationen, in denen ein beschleunigtes Schutzverfahren für das Opfer notwendig ist).
Im Rahmen der EV nach §382e EO muss die Voraussetzung, dass die gefährdete Person
jemals mit dem Gefährder zusammengelebt hat, nicht gegeben sein. Das Gericht kann im Zuge
der Einstweiligen Verfügung nach §382b EO dem Gefährder auftragen, die Wohnung (das Haus)
und deren unmittelbare Umgebung umgehend zu verlassen und die Rückkehr zu den o.g.
Örtlichkeiten verweigern; und nach §382e EO kann das Gericht dem Gefährder verbieten, sich
an genau zu bezeichnenden Orten aufzuhalten (z.B. Arbeitsplatz, Schulgelände und Kinderhorte
der Kinder etc.) und auch die eigentliche Kontaktaufnahme mit der gefährdeten Person zu
unterlassen. Laut einer Statistik von 1997-2008 führt mittlerweile jedes dritte Betretungsverbot
zur Beantragung einer EV (Haller, 2010, S. 521.)
Grundsätzlich kann das Gericht die EV nach §382b EO für höchstens sechs Monate und
nach §382e EO allenfalls für ein Jahr (bei Zuwiderhandeln durch den Gefährder kann sie um ein
weiteres Jahr verlängert werden) erlassen, außer es handelt sich um ein anhängiges
Hauptverfahren (z.B. Scheidungsverfahren). In diesem Fall kann die EV bis zu dessen
Beendigung verlängert werden. Im Fall der EV nach §382e EO kann auch eine
Unterlassungsklage durch die gefährdete Person eingebracht werden und dadurch die
Einstweilige Verfügung bis zur Entscheidung des Gerichts verlängert werden.
Durch den §382g der Exekutionsordnung kann nun auch der ,,Schutz vor Eingriffen in
die Privatsphäre" (sogenannte Stalking-EV) in Form einer EV bis zu einem Jahr (und bei
Zuwiderhandeln durch den Gefährder länger), beim Gericht des Wohnsitzes des Opfers in
Betracht gezogen bzw. eingebracht werden.

18
Interventionsstellen/Gewaltschutzzentren
Nicht nur die vom Staat finanzierten Interventionsstellen gegen familiäre Gewalt wurden
zunehmend etabliert und in der Gesellschaft verankert, auch zusätzliche Einrichtungen wie
Gewaltschutzzentren, Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen wurden auf regionaler Ebene
zur umfassenden Unterstützung und zum Schutz für Frauen und Kinder eingerichtet. Auch
Schulungen durch die Interventionsstellen und andere Hilfseinrichtungen erweisen sich als
wichtige Weiterbildung für die Exekutive. Der Einsatz der KontaktbeamtInnen, die speziell zum
Thema ,,Gewalt in der Familie" ausgebildet worden sind, hat sich bewährt (Jurtela, 2007, S. 65).
Langfristige Ziele im Kontext von Interventionsprojekten sind auch Täterprogramme (z.B.
Absolvierung von Anti-Gewalt-Trainings). Diese umfassen unter anderem:
x die Verantwortungsübernahme des Täters für seine Taten,
x eine Empathieentwicklung für das/die Opfer,
x eine verbesserte Selbstwahrnehmung der eigenen Gefühlswelt als gewaltpräventive
Maßnahme und
x ein genereller Gewaltverzicht (ebd., S. 173).
Diese Programme werden vorwiegend von Männerberatungsstellen angeboten (z.B. in
Verbindung mit dem Projekt ,,Männer gegen Männergewalt"). Zur Verknüpfung des
Strafverfahrens mit diesen Täterprogrammen gibt es zwei relevante strafrechtliche Möglichkeiten:
das Strafurteil wird bedingt z.B. a) unter Erteilung einer Weisung ausgesetzt (spezialpräventive
Wirkung) oder b) durch eine zeitnahe Maßnahme (der Erteilung von Pflichten und Auflagen im
Rahmen einer Diversion) ausgesetzt (vgl. ebd., S. 176f).
Als neuere Entwicklung, weg von der isolierten Einzelarbeit der Institutionen hin zu
vermehrter Zusammenarbeit und Empowerment der Interventionszentren gegen Gewalt in der
Familie (GIF), wurden gesetzliche Begleitmaßnahmen zum Gewaltschutzgesetz eingerichtet.
Dieses flächendeckende Angebot kann den Opfern bzw. betroffenen Personen Häuslicher
Gewalt effiziente und umfassende Unterstützung bieten. Die Finanzierung erfolgt großteils aus
Mitteln des Bundesministeriums für Frauenangelegenheiten und Öffentlichen Dienst, des BM für
Inneres (BMI) und des BM für Justiz (BMJ). Beispielsweise wird nach einem Stalking- oder
Gewaltvorfall in einer Familie, unter Mitwirkung der Exekutivorgane sofort das zuständige
Gewaltschutzzentrum bzw. die Interventionsstelle informiert. Diese nimmt dann direkten
Kontakt zu den betroffenen Personen auf und fungiert somit als Drehscheibe aller involvierten
Institutionen.

19
In erster Linie geht es dabei um die Einschätzung der Gefährlichkeit des Täters und um die
Erstellung eines Krisen- und Sicherheitskonzepts.
Die Einschätzung der Gefährlichkeit des Täters bzw. die Gefahrenprognose wird unter
anderem mittels eines österreichweit standardisierten 26 Fragen umfassenden Fragenkataloges
(Domestic Abuse Intervention Project (D.A.I.P.) nach Pence & Paymar, 1993,
Duluth/Minnesota) durchgeführt (vgl. Jurtela, 2007, S. 67).
Zur Einschätzung der Gefährlichkeit werden in Folge jene Kriterien herangezogen:
x der Gebrauch von Waffen oder Kampfsportausbildungen,
x Substanzmittelmissbrauch,
x kriminelle Vorgeschichte des Täters bzw. früher begangenen Gewalttaten gegenüber der
Partnerin oder gegenüber Anderen,
x Missachtung rechtlicher Verfügungen,
x Besitzdenken bzw. Eifersucht,
x Drohungen und die Art und Weise der auslösenden Faktoren für die angedrohte oder
eingesetzte Gewalthandlung (vgl. ebd., S. 67).
Wenn man sich kritisch mit dem Fragenkatalog des Duluth Modells auseinandersetzt, dann
erscheint die empirische Absicherung dieser Intervention extrem schwach fundiert und wenig
überzeugend. Im Grunde zielt das Duluth Modell darauf ab, dass Männer ihre Einstellungen
gegenüber Frauen anpassen und ihr Verhalten in ein nicht gewalttätiges ändern. Vielmehr zeigt
sich jedoch durch robuste Befunde, dass die einseitige Erfassung auf das patriarchale Verhalten
des Mannes fokussiert ist und eigentlich die gesamte Beziehungsdynamik vollkommen außer
Acht lässt. Vielfach zeigt sich in empirischen Studien, dass der Faktor Geschlecht im Grunde ein
schlechter Prädiktor für die Einschätzung von (Häuslicher) Gewalt ist (Dutton & Corvo, 2007).
Persönlichkeitsstörungen hingegen erweisen sich als prognostisch wertvollerer Faktor für die
Einschätzung erneuter Gewalthandlungen seitens der Täter.
Der Leitgedanke des proaktiven Ansatzes ist es, die Gewaltspirale zu unterbrechen und den
gefährdeten Personen, durch die Einrichtung der Interventionsstellen/Gewaltschutzzentren,
Schutz und Sicherheit auf freiwilliger Basis zu bieten. Die proaktive Übernahme der
Verantwortung für die Strafverfolgung steht auch für den deklarierten Willen des Staates, Gewalt
gegen Frauen in ehelichen/partnerschaftlichen Lebensgemeinschaften nicht mehr zu tolerieren
und die Täter aktiv strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen.

20
Die Beratungseinrichtungen erhalten grundsätzlich von den Exekutivorganen eine Mitteilung,
wenn ein Fall von Häuslicher Gewalt vorliegt und wenden sich dann ihrerseits selbst an die
Opfer.
Entscheiden sich betroffene bzw. gefährdete Personen, dennoch weiterhin mit ihrem
Lebenspartner zusammen zu leben, werden diese regelmäßig im Sinne einer aktiven Begleitung
(z.B. Erstellung eines Sicherheitsplans, Rechtsberatungen bei Beantragung einer EV,
psychosoziale Unterstützung etc.) kontaktiert und beraten. Da nicht nur gewaltbetroffene
Personen nach BV betreut werden, sondern sich auch andere Hilfesuchende an die
Interventionsstellen bzw. Gewaltschutzzentren wenden, lag in Österreich das Ausmaß der
jährlich Betreuten im Jahr 2008 bei rund 14.059 Personen (Haller, 2010, S. 517).
b.
Strafrechtliche Maßnahmen
Während sich zivilrechtliche Änderungen mit der Einführung des Gewaltschutzgesetzes als
effektiv erwiesen, bestanden anfangs noch große Defizite in der strafrechtlichen Umsetzung.
Obwohl sich zu Beginn die Strafjustiz nicht in private Gewaltverhältnisse einmischen wollte und
den Prozess, den die Exekutive im Zuge der Einführung des Gewaltschutzgesetzes vollzogen
hatte, nämlich dass Gewalt auch im privaten Bereich klar als Gewalt zu verstehen und zu
verfolgen ist, nicht vorantrieb, erfolgten in den letzten Jahren im Strafrecht einige für den
Opferschutz wichtige gesetzliche Neuerungen. Beispielsweise gilt seit dem
Strafrechtsänderungsgesetz 2006 (BGBl. I Nr. 56/2006), nach langjähriger Forderung der
Interventionsstellen bzw. Gewaltschutzzentren, die ,,Gefährliche Drohung" nach §107 StGB
nunmehr als Offizialdelikt und nicht mehr als Ermächtigungsdelikt. Seit diesen Änderungen kann
die Strafverfolgung auch ohne Einwilligung der verletzten Person durchgeführt werden und die
Gewalt in der Familie bekommt so denselben rechtlichen Stellenwert wie Gewalt zwischen
unbekannten bzw. fremden Personen. Bis dahin konnte eine Gefährliche Drohung gegen nahe
Angehörige, die mit dem Täter zusammenlebten, ausschließlich nur dann verfolgt werden, wenn
das Opfer die Strafverfolgungsbehörden dazu ermächtigte. Mögliche Konstellationen der
Gefährlichen Drohung finden sich bei a) Gewalt in sozialen Nahbeziehungen (Familiär- und
Beziehungskonflikte) oder b) Konflikten im erweiterten sozialen Beziehungsbereich
(Nachbarschaftskonflikte oder situativ bedingte Gewalt). Gefährliche Drohungen sind meist in
eine Gewaltbeziehung eingebettet, die es für Gewaltopfer gefährlich macht, sich zu einer Anzeige
zu entschließen. In solchen Konstellationen ist auch die Art der Drohung ausschlaggebend und
für die weitere Strafverfolgung entscheidend.

21
Folgende Facetten des Drohens und Einschüchterns können unterschieden werden:
x die ausschließlich verbale Drohung in Situationen der Kopräsenz,
x die ausschließlich verbale Drohung ohne Kopräsenz (z.B. SMS, Telefon etc., mit
Wortlauten wie: ,,Du bist tot" oder ,,Ich mach dich kalt"),
x Drohungen mit einer Waffe oder Gegenständen oder
x kombinierte Formen bzw. Überlagerungen (z.B. bei Formen des subtilen Psychoterrors:
,,Wenn das Haus bei der Scheidung draufgeht, dann lernst du mich kennen") (vgl. Hanak
& Krucsay, 2010, S. 14).
Die überwiegende Mehrheit der Fälle, in denen sicherheitspolizeiliche Maßnahmen wie BV/WW
erfolgen, endet nicht mit einer strafrechtlichen Verurteilung. Strafzumessung und
Verurteilungswahrscheinlichkeit sind seitens der Gerichte im Wesentlichen an begleitenden
Tatbeständen orientiert (z.B. Vorstrafen/Vormerkungen/Vorleben des Beschuldigten, allgemeine
Tatumstände, Zeitpunkt der Anzeige, Verurteilungen im Bezug auf das Waffengesetz, Selbst-
oder Fremdtötungsgedanken, Indizes für ein überdurchschnittliches Gefährdungspotential,
Intensität der angezeigten Drohung etc.). Die Mehrzahl der angezeigten (reinen) Drohungen
endet mit einer Verfahrenseinstellung oder einem Freispruch, vielfach ergibt sich das aus
Mängeln der Evidenz bzw. Beweisbarkeit (,,Aussage gegen Aussage"). Im Jahr 2011 wurden
immerhin 1.132 Verurteilungen wegen ,,Gefährlicher Drohung" ausgesprochen (Statistik Austria,
2011). Eine vorläufige Festnahme erfolgt, wenn der Beschuldigte zum Zeitpunkt der polizeilichen
Intervention erhebliche Alkoholisierung aufweist oder ein oder mehrere weitere Tatbestände
(z.B. Hinweise auf destruktive Dynamik, Delikte wie Vergewaltigung, Nötigung, schwere
Erpressung, (schwere) Körperverletzung(en), Widerstand gegen die Staatsgewalt, Erpressung)
vorliegen bzw. dem Beschuldigten vorgeworfen werden können (ebenso Hinweise hinsichtlich
einer psychischen Auffälligkeit oder Krankheit des Beschuldigten). Obwohl die Untersuchungs-
bzw. Strafhaft einen kurzfristigen ,,Sicherheitsgewinn" für das Opfer darstellt, ist die Inhaftierung
des Beschuldigten insgesamt eher ein untypischer Sonderfall. Die Staatsanwaltschaft fungiert
dabei als Verfolgungsdistanz und filtert nach ihren professionellen und institutionellen
Relevanzkriterien Anzeigenüberschüsse sukzessive aus (vgl. ebd., 2010, S. 49).

22
Begründungen für die Einstellung des Verfahrens seitens der Staatsanwaltschaften sind
beispielsweise:
x der Beschuldigte ist nicht deliktfähig (z.B. der Beschuldigte befindet sich in ärztlicher
Behandlung, hat eine psychische Erkrankung etc.),
x Zeugen sind nicht vorhanden oder auffindbar,
x Haltlose Anzeige; Tatbild ist weder objektiv noch subjektiv erfüllt, sehr detailarme
Tatschilderungen,
x sehr unkonkrete und allgemein gehaltene Drohungen, nicht tatbildlich,
x es ist von einer Unschuldsvermutung auszugehen,
x diversionelle Erledigung oder erfolgreicher außergerichtlicher Tatausgleich (ATA),
x situations- und milieubedingte Unmutsäußerung (z.B. im Zuge eines Ehestreits oder von
Partnerschaftsauseinandersetzungen im Vorfeld einer Scheidung (Rache als Motiv)),
x Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Opfers (z.B. Opfer befindet sich in psychiatrischer
Behandlung) (ebd., S. 50f).
Verbesserungen des Opferschutzes konnten im Rahmen der psychosozialen Prozessbegleitung
(z.B. auf Zivilverfahren) nach Inkrafttreten des zweiten Gewaltschutzgesetzes erreicht werden.
Vor allem bei Opfern, die in ihrer sexuellen Integrität verletzt worden sind, gibt es nun einen
Anspruch auf schonende Vernehmung und sie werden von der Freilassung des Beschuldigten
(laut §70 Abs. 2 StPO) in Kenntnis gesetzt. Durch die Strafrechtsnovellierung 2006 konnten die
rechtlichen Voraussetzungen für das Einschreiten gegen Personen, die andere fortdauernd
verfolgen und belästigen, geschaffen werden (,,Anti-Stalking-Gesetz" oder Tatbestand der
,,Beharrlichen Verfolgung"
nach §107a StGB). Im Jahr 2011 kam es diesbezüglich immerhin zu 160
Verurteilungen, 137 davon gegen männliche Personen (Statistik Austria, 2011).
Eine weitere wesentliche Neuerung besteht in der Einführung eines Straftatbestandes, der
Gewaltakte, welche die körperliche Integrität und die Freiheit einer Person beeinträchtigen und
die über längere Zeit hinweg gesetzt werden. Diese werden als ,,Fortgesetzte Gewaltausübung" nach
§107b StGB erfasst und mit erhöhten Strafen bedroht. Mit diesem neuen Straftatbestand reagiert
der Gesetzgeber darauf, dass Gewalt in Beziehungen häufig nicht als singulärer Übergriff erfolgt,
sondern über einen längeren Zeitraum hinweg andauern kann, wobei die strafrechtliche
Berücksichtigung dieses Faktums zu einem verbesserten Opferschutz führen soll.

23
Der Großteil des zweiten Gewaltschutzgesetztes umfasst Neuregelungen im Sinne einer
umfassenden Unterstützung von Gewaltopfern sowie eine Verschärfung der Bestimmungen
gegen Sexualstraftäter, insbesondere durch die Anhebung von Strafmaßen, die Verlängerung der
Probezeit bei bedingten Entlassungen, die Aufhebung der Tilgungsfrist, die Einführung einer
gerichtlichen Aufsicht nach §52a StGB und die Möglichkeit der Verhängung eines
Tätigkeitsverbotes nach §220b StGB (vgl. Haller, 2010, S. 529). Ebenso wird der Schutz von
Kindern im aktuellen Gewaltschutzgesetz, vor allem im Zusammenhang mit Sexualstraftaten,
durch unterschiedliche Maßnahmen verbessert.
Strafrechtlich gesehen stellt sich ,,Gewalt in der Familie" nicht als spezifisches Delikt dar,
sondern beinhaltet insbesondere Tatbestände wie Körperverletzung (§§83-88 StGB), die schon
erwähnte Gefährliche Drohung (§107 StGB), (schwere) Nötigung (§§105-106 StGB), Sachbeschädigung
(§125 StGB) sowie den Hausfriedensbruch (§109 StGB). Zuweilen kann es auch zur
Kindesentziehung (§195 StGB) kommen, um das Sorgerecht des Erziehungsberechtigten zu
schützen (z.B. bei Verdacht einer möglichen Kindesentführung etc.). Des Weiteren bilden
Sexualstrafdelikte bzw. strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung
wie Vergewaltigung (§§201-202, 205-207 StGB) mögliche häusliche Tatbestände. Diese Delikte
erfolgen des Öfteren gemeinsam mit anderen Delikten (z.B. Körperverletzung mit einer zuvor
getätigten (schweren) Nötigung und anschließender Gefährlichen Drohung bzw. Drohung mit
einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben etc.).

24
3.
Formen/Dimensionen von Gewalt im häuslichen Kontext
Seit mehr als 30 Jahren wird über eine geeignete Definition ,,familiärer" bzw. ,,Häuslicher
Gewalt" diskutiert. Aus wissenschaftlicher Perspektive wird versucht eine eng und klar definierte
Begriffsbestimmung, die auch eine zuverlässige Operationalisierung zulässt, zu erreichen. Die
gezielte Abgrenzung von anderen Mechanismen und interpersonellen Prozessen, durch die
ebenfalls Schaden und Leiden entstehen, ist in diesem Kontext ein wesentlicher Bestandteil der
Definition. Aus humanistischer Sichtweise umfasst es das ganze Spektrum an Schäden und
schädlichen Handlungen (sei es physischer oder auch psychischer Natur), die einem anderen
Menschen zugefügt werden. Angesichts des Wandels der Familienkonstellationen, Ein-Elternteil-
Familien, Ein- oder Zwei-Kind-Familien, Fortsetzungsfamilien (Stieffamilien), geteilten Familien,
postfamilialen Familien oder Patchwork-Familien, kann man heutzutage nicht mehr von einer
herkömmlichen traditionellen Normalfamilie bzw. Kernfamilie sprechen. Auch wenn das
traditionelle Familienmodell nach wie vor dominiert, führt eine zunehmende Abweichung bzw.
strukturelle Änderung der Normfamilie zur Herausbildung alternativer Lebensformen. Godenzi
(1996) verwendet deshalb in seinen Forschungsarbeiten zu ,,Gewalt in Familien" bewusst die
Begriffskombination ,,Gewalt im sozialen Nahraum" und stellt somit den Begriff ,,Familie" als
reine Organisationsform in Frage (Godenzi, 1996, S. 27). Der Terminus folgt dabei einem lokalen
Kriterium, dem Nahraum, und nicht einer sozialen Organisationsform, wie der der Familie (vgl.
Godenzi, 1996, S. 27). Unter dem Begriff ,,sozialer Nahraum" bezieht er mitunter auch Personen
mit ein, die in keinem Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen oder auch
gleichgeschlechtliche Lebens(abschnitts)partner. Dass Gewalt vor allem auch in homogenen
Beziehungsverhältnissen vorkommt, zeigt sich besonders in einer Arbeit von Scheibling (2005).
Wenn von Häuslicher Gewalt die Rede ist, dann sind damit verschiedene Gewaltformen
bzw. Gewaltmuster angesprochen. Da viele Dimensionen von Gewalt in Erscheinung treten und
diese nicht bloß auf physische Schädigung oder Angriff auf Leib und Leben begrenzt und
reduziert werden kann, ist es von entscheidender Bedeutung, alle möglichen Dimensionen von
Gewalt miteinzubeziehen bzw. konkret zu behandeln. Ein brauchbarer und klarer Gewaltbegriff
lässt sich demnach nur dadurch definieren, wenn ,,Theorien und empirisch basierte Daten auf die
ihnen zu Grunde liegende Gewaltdefinitionen bezogen" sind (Godenzi, 1996, S. 38).
In der hier vorgenommenen Einteilung bzw. Auflistung handelt es sich um Formen der
physischen und psychischen Gewalt. Die sexuelle Gewalt wird als Untergruppe der körperlichen
Gewalt beschrieben. Diese verwendete Einteilung findet sich auch bei zahlreichen Autoren
wieder (Straus et al., 1996; Barnett et al., 1997; Appelt et al., 2001; Emanuele, 2002; Saltzman et
al., 1999).

25
a.
Physische Gewalt
Donald G. Dutton (2002) definiert ,,Physische Gewalt" als ,,jedes Verhalten, bei dem der Körper
des Täters absichtlich auf den Körper einer anderen Person (Opfer) Gewalt ausübt, so dass die
Gefahr für das Opfer besteht, körperlich geschädigt zu werden, auch wenn im konkreten Fall
keine Verletzung auftritt, beispielsweise Tritte, Bisse, Bedrohungen mit Messern oder durch
andere letalen Waffen (Mordversuch), etc." (Flury, 2010, S. 2). Demnach ist körperliche Gewalt
der bewusste Einsatz von Gewalt mit dem Potenzial für die Entstehung von Verletzungen oder
Schädigungen, Invalidität und Tod. Diese Art von Gewalt beinhaltet alle Formen (ist jedoch nicht
vollständig darauf beschränkt) von Misshandlungen wie etwa: einen Gegenstand nachwerfen,
Kratzen, Stoßen, Schieben, Schütteln, Werfen, Packen, Treten, Boxen, an den Haaren ziehen,
Ohrfeigen, mit der flachen Hand oder mit den Fäusten schlagen, Würgen, Beißen, mit einem
Gegenstand schlagen, mit dem Kopf unters Wasser drücken, Verbrennen oder Brandwunden
zufügen, mit einem Messer, einer Schusswaffe oder einer gleichwertigen Waffe bedrohen
und/oder verletzen und der bewusste Körpereinsatz (Körpergröße und -stärke) gegen eine
andere Person (Saltzman et al., 1999; Schwander, 2003; Büchler, 1998).
Zur physischen Gewalt gehört im weiteren Sinne auch die (räumliche) Nötigung anderer
zu den oben genannten Aufzählung bzw. Handlung (Smithey & Straus, 2004, S. 240). Massive
Körperverletzungen wie z.B. Rötungen, Blutergüsse, Rippen-, Knochen- und Schädelbrüche oder
innere Verletzungen (z.B. Vaginalriss) sind Folgen dieser spür- und sichtbaren Misshandlungen.
Generell wird zwischen leichteren und schwereren Formen von Gewalt unterschieden. Nach
Straus & Gelles (1990) lassen sich geringfügige Gewalthandlungen (z.B. Ohrfeigen gegen den
Partner) als ,,minor", also leichte Gewalttaten, die teilweise gesellschaftlich toleriert werden,
beschreiben und ernsthafte gravierende Verletzungen (wie bspw. den Tritt ins Gesicht) als
schwere ,,severe" Gewalthandlung einteilen (Straus & Gelles, 1990).
Es gibt verschiedene Barrieren, welche Betroffene daran hindern über Gewalterfahrungen
zu sprechen. Die Opfer, die wegen erlittener Verletzungen eine ärztliche Praxis oder ein Spital
aufsuchen müssen, verschweigen nicht selten die wahren Ursachen der Verletzung(en). Weil sich
die Täter gleichzeitig als Vertrauenspersonen und deshalb auch als bevorzugte, geliebte und
geachtete Menschen geben, neigen manche Frauen dazu, ihnen zu glauben (auch noch nach
schwerer Gewalthandlung oder einem Tötungsversuch). Viele Frauen schämen sich dessen, was
ihnen widerfahren ist, fürchten (gegenüber Dritten) nicht ernst genommen zu werden oder
fühlen sich (mit)schuldig an den Gewalttaten des Intimpartners. Manche Frauen neutralisieren
die Gewaltanwendung ihrer Männer sogar, weil sie die Familie als Lebenschance auffassen.

26
Damit verbleibt bei den behandelnden Ärzten die oft schwierige Unterscheidung zwischen einem
zufällig entstandenen Trauma (z.B. in Verbindung mit einem Sturz) und einem
misshandlungsbedingten Trauma (z.B. verursacht durch langfristige Misshandlungen). Um die
Gewaltsituation überleben zu können, nehmen viele Betroffene auch nicht wahr, wie schlimm die
eskalierende Gewalt eigentlich wurde bzw. war oder noch gegenwärtig ist. Je länger diese Form
der destruktiven Beziehungsgestaltung als ausweglos erlebt worden ist, umso schwieriger wird es,
Beziehungen zu anderen Menschen als verlässlich und hilfreich wahrzunehmen.
Frauen, die an Körper und Psyche verletzt werden, sind in aller Regel wahrzunehmen und
zu beobachten, werden jedoch sehr oft erst dann erkannt, wenn sie den gesundheitlichen
Schaden bereits erlitten haben (vgl. Theunert, 1995, S. 9). Für Rechtsorgane ist es deshalb
entscheidend, vorbeugende Maßnahmen auch ohne die Kooperation und Konsequenz der Opfer
einzusetzen (Hanna, 1996; Rebovich, 1996; Goodman, Dutton & Bennett, 2000). Um Frauen
nachhaltig vor (massiver) Partnergewalt zu schützen und die Loslösung vom Partner zu
ermöglichen, ist die Aufklärung über das gegenwärtige und prognostische Risiko eine wichtige
Interventionsmaßnahme. Die Verantwortung für das Ansprechen der Gewalt darf dabei nicht
alleine den betroffenen Frauen überlassen werden. Auch für Frauen, die aus persönlichen
Gründen (noch) nicht bereit sind, sich zu öffnen, kann die Frage nach der entstandenen Gewalt
von Relevanz sein. Diese Frage zeigt vor allem, dass das Problem bekannt ist und angesprochen
werden kann/darf/muss. Dabei wird nicht nur die Gesprächsbereitschaft und das Verständnis
für die Situation vermittelt, sondern auch die Aufmerksamkeit durch positive Signale (ohne zu
werten) ausgebaut. Vor allem wird hierbei das Bewusstsein über die tatsächlich durchgeführte
Grenzverletzung bestärkt bzw. ernst genommen.
,,Believing oneself to be relatively safe from future violence even if one is not may be a
coping mechanism to deal with otherwise unmanageable anxiety and fear. Such beliefs may also
be a function of an abuser's behavior as he may disguise his intent to do further harm or mislead
his partner into believing he has changed his previous abusive behavior" (Weisz et al., 2000, S.
87). Einige Autoren fanden heraus, dass weibliche Opfer, welche im Vorfeld keine
Gewaltvorfälle bekannt gaben, weit höher von späteren bzw. zukünftigen Gewalthandlungen
betroffen waren, als andere (vgl. ebd., 2000). Sehr oft ergaben sich durch das Erscheinungsbild
der Schürfungen oder Blutunterlaufungen wertvolle Hinweise auf die Verursachung.
Streifenförmige Doppelkonturen weisen etwa auf Schläge mit Stöcken oder stabförmigen
Gegenständen hin.
Auch Angriffe gegen den Hals kommen im Rahmen von männlichen Gewalthandlungen
an Frauen vielfach vor.

27
Das (langanhaltende) Würgen und die Drosselung mit Gegenständen (z.B. bei hypoxyphilen bzw.
asphyxiophilen Handlungen gegenüber dem Opfer, bis es das Bewusstsein verliert) sind zwei
Formen, die für die weitere Deliktbearbeitung (besonders bei Mord- und/oder Sexualdelikten)
konkret zu unterscheiden sind. Hinweise für die Lebensbedrohlichkeit einer Tat, die medizinisch
oder juristisch ausgewertet werden können, sind auch Verletzungen am Körper des Täters, die im
Zuge der Gegenwehr des Opfers entstehen. Solche Verletzungen sind sichtbare Zeichen für die
bewusste Handlungsfähigkeit des Täters.
b.
Sexuelle Gewalt als Subgruppe der physischen Gewalt
Sexueller Missbrauch ist in einer Vielzahl von Möglichkeiten definiert worden, obwohl er als
körperliche Misshandlung bzw. Gewalthandlung kategorisiert wird. Daher ist es sinnvoll, diesen
von anderen Arten der körperlichen Misshandlung respektive Gewaltformen zu unterscheiden.
Diese Form von Gewalt wird im Unterschied zu physischer und psychischer Gewalt mit
sexuellen Mitteln oder zu sexuellen Zecken ausgeübt. Aus klinisch-psychologischem Blickwinkel
bezieht sich der sexuelle Missbrauch auf unerwünschte, gegen den freien Willen gerichtete,
sexuelle Aktivitäten. Dabei sind die Begrifflichkeiten wie ,,sexuelle Gewalt und Viktimisierung"
oder ,,sexualisierte Gewalt" analog mit Übergriffen gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu
verstehen. Laut dem österreichischen Strafgesetzbuch umfassen diese insbesondere sexuelle
Handlungen an unmündigen oder minderjährigen Personen, Angriffe auf andere Personen, an
denen die sexuelle Freiheit und Ehre verletzt wird, Vergewaltigung, jegliche Form der sexuellen
Nötigung, uvm.
Vom erzwungenen Anschauen pornographischer Darstellungen und Handlungen über
die massive Nötigung zu ungewollten (gezwungenen) Formen der vaginalen, oralen oder analen
Penetration (z.B. im Zuge von sadistischen Ritualen oder Szenarien), bis hin zu unfreiwilliger
fetischisierter Erniedrigung und Demütigung (z.B. urophile Handlungen) reicht die schillernde
Bandbreite von gewalttätiger Sexualität bis hin zu sexuellen (massiven) Gewaltdelikten und
sexueller Tötung. Neben diesen strafbaren kriminellen Handlungen, enthalten diese nach Russel
(1982) ebenfalls die bewusste digitale Verbreitung und schließen jede sexuelle Intimität mit ein,
auch ohne die Notwendigkeit des physischen Kontaktes (z.B. erzwungene Nacktheit oder
(öffentliche) Entblößung etc.).

28
Dabei wird unterschieden ob es sich rein um den ,,sexuellen Akt" (also der leichte Kontakt
zwischen dem Penis und der Vulva, des Anus im Zuge der Penetration, der Kontakt zwischen
Mund und Penis, Vulva oder Anus oder das Einführen von Objekten) oder um einen
,,missbräuchlichen sexuellen Kontakt" (das vorsätzliche Berühren direkt oder über der Kleidung,
der Genitalien, dem Anus, der Leistengegend, der Brust, der Innenseiten der Oberschenkel oder
einer Person, welche unfähig ist die Art/Lage der Situation oder die Handlung zu verstehen, die
Teilnahme ablehnt oder unwillig ist, berührt zu werden (z.B. minderjährige, physisch/psychisch
beeinträchtigte oder alkoholisierte/drogeninduzierte Opfer, durch Einschüchterung oder Druck))
handelt (Saltzman et al., 1999).
Zusammenfassend kann ,,Sexuelle Gewalt" als ,,die Anwendung von physischer Gewalt,
um eine Person zu zwingen, eine oder auch mehrere sexuelle Handlungen gegen seinen/ihren
Willen durchzuführen, egal ob die Handlung abgeschlossen ist oder nicht" definiert werden (ebd.,
1999, S. 52).
Durch sexuelle Gewalthandlungen schließt der Täter nicht nur eine Wechselseitigkeit in
der Beziehung aus, sondern verschafft sich durch diese sexuelle Befriedigung ein Machtgefühl, in
welchem das Opfer, von dem Gefügigkeit verlangt wird, durch das gewaltsame Vorgehen
vollständig ab- und entwertet wird. Daher wird die weibliche Sexualität gewissermaßen als nicht
vorhandenes Geschlecht deklariert. Männer, welche diese Form der Sexualität wählen, erachten
die Auseinandersetzung mit weiblichen Gefühlen und deren Wünschen und Bedürfnissen als
etwas Verachtungswürdiges, Grauenhaftes und meist Ekeliges. Während für manche Gewalttäter
nach einer solchen erzwungenen sexuellen Handlung alles normal scheint, empfindet die Frau
neben ihrer erlittenen Misshandlung nicht nur tiefe Demütigung, sondern auch Ekel und
Abscheu gegenüber dem Täter.
Entgegengesetzte Konstellationen finden sich teilweise auch im Rahmen des sogenannten
Stockholm-Syndroms. Der Umstand, dass gewaltbetroffene Frauen solche Schwierigkeiten haben
sich zu trennen, ist auch bei Folter- und Geiselopfern vorzufinden (vgl. Köthke, 1999). Die
extreme Stresssituation kann bei den Opfern dazu führen, dass sie sich sehr stark an die Täter
binden, sogar teilweise dessen Perspektive(n) einnehmen. Diese Versuche, durch die Nähe zum
Täter und dem Ablesen seiner Stimmung(en) einen letzten Beitrag an Kontrolle über die
Situation und die eigene Handlungsfähigkeit zu behalten, erscheinen als letzte psychische
Überlebensstrategie. Dadurch entsteht eine für Außenstehende vorerst nicht nachvollziehbare
Koalition und Identifikation mit dem Täter (das sogenannte Täterintrojekt). Diese Verbindung
mit dem ,,mächtigen" Täter, als Überlebensstrategie der Opfer in existenzieller Notlage, gibt den
Opfern anfängliche Hoffnung, dass dieser zukünftig von ihnen ablässt.

29
Im Zuge der Häuslichen Gewalt sind diese Gegebenheiten im weitesten Sinne auch vorhanden.
Das führt dazu, dass sich in der Praxis seitens der Betroffenen unterschiedliche Haltungen
gegenüber dem Täter zeigen, die eine Trennung oder Auflösung der Beziehung extrem
erschweren. Sie können sich im Laufe der Zeit verändern oder auch kombiniert auftreten.
Häufige Reaktionen von Opfern gegenüber Tätern sind etwa eine ambivalente Bindung in der
Beziehung oder der Wunsch, die Beziehung trotz allem aufrechtzuerhalten. Herman (1993)
spricht hierbei von einer sogenannten ,,psychischen Gefangenschaft", welche sich über den
gesamten Zeitraum der Beziehung in einer Dramaturgie der Gewaltspirale, die auch schon früh in
Phasen des Kennenlernens einsetzt, durchzieht (Herman, 1993). In einem ständig schleifenden
Hin und Her äußern Frauen Angst, Einschüchterung und Hass einerseits, Mitleid und
Solidarisierung mit dem bedürftig erscheinenden Partner andererseits. Dass die Beziehung auch
angesichts wiederholter Gewaltvorfälle weiterbesteht und keine klaren Trennungsabsichten
artikuliert werden, hängt meist mit der materiellen und/oder emotionalen Abhängigkeit des
Opfers zusammen, auch wenn wenig bis keine Alternativen zur Fortführung der Beziehung
bestehen. Da die Möglichkeit der Beziehungsbeendigung nicht gegeben ist, greifen viele Frauen
dabei zu gefühlszentrierten Copingstrategien. Diese Strategien beinhalten die Belastungen so
gering wie möglich zu halten und in der jeweiligen Situation auszuhalten. Der vielleicht kurzfristig
harte aber auf Dauer sinnvollere Ansatz wäre die sofortige Beendigung der Beziehung
(problemzentrierte Copingstrategie) (vgl. Jurtela, 2007, S. 26).
Betroffene Frauen sind nicht nur Opfer einer einzigen Form von Gewalt, sondern meist
von unterschiedlichen Facetten, die gebündelt auf sie ausgeübt werden (z.B. in Form von
unterschwelligen Ankündigungen, Bedrohungen (z.B. ,,Ich bringe dich um, wenn..."),
Einschüchterungen oder Eingrenzungen). Je mehr Ressourcen individueller, sozialer, materieller
oder immaterieller Art einem Akteur zur Verfügung stehen, desto größer ist sein Potential, eigene
Interessen gegen die Interessen des oder der Anderen durchzusetzen. Gewalterfahrungen im
partnerschaftlichen Kontext sind meist kein einmaliges Ereignis, schon gar nicht ein sogenannter
,,Ausrutscher", sondern durchlaufen oft eine sukzessive Verschlechterung über einen längeren
Zeitraum hinweg, häufig hin bis zur Auflösung oder Trennung der Beziehung. Meist erfolgt dies
nicht in einer einzelnen Handlung oder zu einem gewissen Zeitpunkt, sondern durch einen
langen, unterschwelligen und nicht sichtbaren Prozess. Mit den Worten von Websdale: "One of
the major concerns about lethality in domestic violence cases is that violence and entrapment of
victims often intensifies over time" (Websdale, 2000; zitiert in Kercher et al., 2010, S. 2).

30
Diese Dynamik des Missbrauchs in der Ehe oder in Partnerschaften tritt im Allgemeinen in
Zyklen unterschiedlicher Ausprägung auf. Walker (1984) beschreibt diese Gewaltspirale mit
folgenden wiederkehrenden Phasen (vgl. Craven, 2003, S. 2f):
x ,,Tension-building Stage"
Diese Phase des Spannungsaufbaus kennzeichnet den verbalen und/oder emotionalen
Missbrauch (z.B. Ungleichgewicht in der Kommunikation), kleinere Gewalttätigkeiten
(z.B. Ohrfeigen, das Werfen mit Gegenständen, gegen die Wand stoßen etc.) und die
Übernahme der Verantwortung durch die Frau (zukünftige Konflikte und Eskalationen
vermeiden, Entschuldigungen für das Verhalten des Täters suchen etc.). Bei Festhalten an
dieser Opferrolle ist jedoch ein weiteres Erdulden und Leiden schon vorprogrammiert.
x ,,The Acute Battering Incident" oder ,,Violent Phase"
In der zweiten Phase kommt es dann zur Entladung der aufgebauten Spannung, zu
extremen, unvermittelten und massiveren Gewaltanwendungen und schlussendlich zum
Kontrollverlust seitens des Täters. Das Opfer ist im ersten Moment vor Angst gelähmt
und geschockt. Widerstand zu leisten würde bedeuten, sich noch größerer Gefahr
auszusetzen.
x ,,Kindness and Contrite Loving Behavior" oder ,,Honeymoon Phase"
Der Entladung der Gewalt folgt die Phase der scheinbar liebevollen Reue und die
Zuwendung bzw. Wiedergutmachung seitens des Täters. In dieser Phase versucht der
Täter durch umwerbendes Verhalten die ausgeführte Gewalthandlung zu bagatellisieren
und zu entwerten. Der Täter verspricht, es nie wieder zu tun, ist selbst oft davon
überzeugt und wirkt auch auf das Opfer so überzeugend, dass dieses wünscht, die
Beziehung aufrechtzuerhalten. Gerade diese Phase der Entschuldigung macht es für
Frauen schwer, die Misshandlungssituation bzw. die Beziehung endgültig zu beenden.
Dieser Kreislauf wiederholt sich jedoch immer wieder, meist in immer kürzeren Zeitabständen
und mit immer heftigerer Intensität der Gewalt. Dieser findet sich auch in Berichten der
Exekutive wieder, welche ergaben, dass in Österreich 74,2% aller Gefährder, gegen die zuvor eine
Wegweisung bzw. ein BV verhängt wurde, schon früher Übergriffe gegen die Partnerin getätigt
hatten (vgl. Jurtela, 2007, S. 23).
Erklärungsversuche für den Ausbruch dieser interaktionalen Gewaltverhältnisse in Familien
können grob in drei Grundstrukturen aufgeschlüsselt werden (Jurtela, 2007, S. 24):

31
x Die Gewalt wird durch individuelle Eigenschaften der Familienmitglieder erklärt, es
liegen z.B. Abnormalitäten, charakterliche Auffälligkeiten oder anderswertige
Störungsbilder vor.
x Die Auslöser der Gewalt wirken von außen her auf die Familie ein. Externe
Umgebungsfaktoren können unter anderem mit früheren Misshandlungserfahrungen,
Stresssituationen (z.B. Erwerbslosigkeit, Wohnsituation etc.), dem
Substanzmittelmissbrauch oder der generellen Unzufriedenheit mit der Beziehung
zusammenhängen.
x Die Gewalt wird mit sozialen Strukturen und kulturellen Normen und Werten in
Verbindung gesetzt. Individuen setzen bestimmte Mittel zur Zielerreichung ein. Die
Macht und Kontrolle gegenüber dem Partner wird als sogenanntes Interaktionsmuster
zur Aufrechterhaltung der familiären Ordnung eingesetzt.
Erst mit zunehmender Forschung über familiäre Gewalt innerhalb ehelicher oder
partnerschaftlicher Bindungen wurde die sexuelle Gewalt oder die Vergewaltigung in der Ehe
nachhaltig thematisiert. Die geschlechtliche Interaktion im privaten bzw. häuslichen Bereich blieb
den öffentlichen Kontrollinstanzen im Grunde unzugänglich. Da männliche Verfügungsrechte
über die weibliche Sexualität tief verwurzelt waren, konnten Frauen, welche entsprechende
sexuelle Gewalt erlitten, diese meist nicht als solche bewusst wahrnehmen.
Sexuelle Ausbeutung innerhalb ehelicher Lebensgemeinschaften, die erst seit einem
Jahrzehnt näher aufgegriffen und diskutiert wurde, konnte nur zu leicht unter dem Stichwort
,,eheliche Pflichten" firmieren und galten gemeinhin als etwas, das zu ertragen und zu erleiden
war. Der eigentliche Tatbestand der ,,Vergewaltigung" galt hingegen als überfallsartiger Angriff
eines Mannes auf eine Frau (nicht Ehefrau) und als Tat, die nur an einer für ihn ,,fremden" Frau
begangen werden konnte. Ein kurzer Ausblick in die Vergangenheit zeigt, dass das männliche
Recht auf die Nutzung weiblicher Sexualität in der Ehe sogar bis 1989 in unseren Gesetzen
juristisch verankert war. Die davor geltenden Absätze des Strafgesetzbuches stellten nur den
erzwungenen ,,außerehelichen Geschlechtsverkehr" unter Strafe. Somit gab es vor dem Gesetz
keinen eigentlichen Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe. Erst seit dem Jahr 1989 gilt
,,Vergewaltigung in der Ehe" in Österreich als Straftatbestand. In Deutschland sogar erst 1998.
Es konnte gar keinen Gedanken an eine Vergewaltigung in der Ehe geben, da die Verweigerung
des Beischlafs in der Ehe als ,,schwere schuldhafte Eheverfehlung" galt und so gesehen ein klarer
Scheidungsgrund war.

32
Im Strafgesetz werden jedoch auch alle anderen sexuellen Handlungen, die gegen den Willen der
Frau ausgeübt werden und das Recht auf weibliche Selbstbestimmung missachten, als
Straftatbestand aufgelistet. Vergewaltigung außerhalb der Ehe verstand man allgemein als
sogenanntes Sitten- oder Kavaliersdelikt. Innerhalb der Ehe galten sexuelle Übergriffe und
Misshandlungen als verharmlosend und normal, wohingegen die Frau als Schuldige dargestellt
wurde. Der Mann hatte sozusagen das Recht mit der Ehefrau zu schlafen, die Frau hingegen
hatte die Pflicht dazu. Diese nicht nur gesellschaftliche, sondern auch juristisch ,,abartige"
Haltung warf ein deutliches Licht auf damalige traditionelle ,,just a domestic"-Ehevorstellungen.
Frauen bewirkten durch ihr damaliges Schweigen, gesellschaftliche Stigmatisierungen von sich
fern zu halten und wehrten die Etikettierung einer ,,vergewaltigten Frau" von sich ab (Lehner-
Hartmann, 2002, S. 56 f.). Zwar war die Vergewaltigung und geschlechtliche Nötigung in einer
Ehe oder Lebensgemeinschaft seit 1989 mit Strafe bedroht, allerdings wurde der Täter nur auf
Antrag des Opfers verfolgt. Erst die Gesetzesnovellierung durch das Strafrechtsänderungsgesetz
2004 führte zu einer sogenannten Gleichstellung. In vielen Ländern ist die Vergewaltigung in der
Ehe noch immer keine strafbare Handlung. In Deutschland wurde die gesetzliche Änderung erst
im Jahre 1998 getroffen. Deutschland hat mit dem Gewaltschutzgesetz (wobei das
österreichische Modell als internationales Vorbild galt) vergleichsweise spät auch eine längst
notwendige Regelung geschaffen, mit der Opfer von Gewalt in Partnerschaften besser geschützt
werden sollten. Als Paradebeispiel der Novellierung und Verbesserung gilt Schweden, hier steht
die Vergewaltigung in der Ehe bereits seit 1965 unter Strafe.
c.
Psychische Gewalt
Diese Form der Gewalt ist am wenigsten klar unter den verschiedenen Arten des Missbrauchs
beschrieben. Psychische Misshandlung bzw. ,,normale" oder ,,minor" Gewalt, ist nicht einfach
nur die negative verbale Kommunikation, welche in vielen Partnerschaften gefunden wurde,
sondern unterscheidet sich wesentlich von ihr in Intensität und der Austragung unterschiedlicher
Interessenkonflikte und durch fehlende Gleichberechtigung im menschlichen
Informationsaustausch (Straus, 1990). Neben der offenen verbalen Misshandlung können verbale
Gewalttaten auch verdeckt und subtil in Erscheinung treten, die persönlichen Grenzen der
Frauen bzw. Betroffenen verletzen und schlimmstenfalls in den Suizid treiben (Eine verbreitete
Form von Misshandlung, die man gewissermaßen auch als ,,Verrücktmachen" bezeichnen
könnte). Durch psychische Gewaltausübung wird dem Menschen Schaden an Seele und Psyche
zugefügt und zielt darauf ab, das Selbstwertgefühl des Opfers und dessen geistige Gesundheit zu
schwächen bzw. zu zerstören.

33
Einige Frauen verlieren ihren Glauben an das eigene Urteilsvermögen, weil die Täter ihnen
ständig vorwerfen, dumm oder verrückt zu sein (Dutton & Dionne, 1991). Über einen längeren
Zeitraum hinweg und durch die Art und Weise der latenten Gewalt in der ehelichen oder
partnerschaftlichen Gemeinschaft verliert das Opfer, mitunter durch fortgesetzte Verdrängung
der Aggressionsgefühle, zugleich auch die Fähigkeit, die wahre Natur der Beziehung zu erkennen
und wird somit vom Umfeld und äußeren Kontakten sukzessive abgeschottet (z.B. durch die
vollständige Isolierung oder Verweigerung sozialer Ressourcen wie die der Familie oder der
Freunde (auch unter ,,sozialer Gewalt" beschrieben)).
Der Entzug von Wertschätzung und Zuwendung bewirkt zumeist, dass das Opfer sich
immer stärker um diese Zuwendung bemüht, nebenbei aber das Vertrauen in eigene Werte und
die Identität sukzessive verliert. Das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, wird durch den Mangel
an Ressourcen zunehmend verstärkt. Verdeckte oder verbale Misshandlungen können vom
Opfer nur dann erkannt werden, wenn die betroffene Frau ihr ,,Verletzt-Worden-Sein" auch als
solches benennt beziehungsweise die Misshandlung bewusst wahrnimmt. Alleine die Androhung
von körperlicher oder sexueller Gewalt, also die Verwendung von Gesten (bspw. das Ausholen
der Hand mit der Intention das Opfer zu schlagen oder das Greifen/Reichen in Richtung des
Busens oder der Genitalien), Worten oder beabsichtigten Mitteilungen (Aussagen wie bspw. ,,Du
bist ja psychisch krank!") oder anderen Zwangstaktiken mit vorhergehender Androhung (z.B.
eine Person zu sexuellen Handlungen zwingen: ,,Ich werde dich verprügeln, wenn du keinen Sex
mit mir hast!"), welche das Opfer demütigen und in einen traumatischen und angsterfüllten
Zustand versetzen, kann als seelisch-emotionale Gewalt verstanden werden.
Diese und andere vergleichbare Handlungen untergraben das Selbstwertgefühl der
Partnerin und sollen die Abhängigkeit vom agierenden Partner zunehmend verstärken. ,,Soziale"
und ,,Ökonomische Gewalt" (bspw. das Einbinden in illegale Aktivitäten, wie die Nötigung zur
Prostitution oder die Zuhälterei (§216 StGB)) sind als Ausformungen psychischer Gewalt zu
verstehen und charakterisieren Verhaltensweisen, die darauf abzielen, das Gegenüber zu
kontrollieren und seinen Willen zu brechen (vgl. Ohl, 2005). Im weiteren Sinne kann auch das
Vorenthalten von wichtigen Informationen, die Kontrolle über das Opfer, widrigenfalls auch die
andauernde bewusste Gefühlsverletzung als psychische Gewalt angesehen werden. Auch
materieller Schaden, der durch die Zerstörung oder Beschädigung von Eigentum, Objekten oder
Sachen, die für die Frau einen besonderen (emotionalen) Wert darstellen, entsteht, zählt zur
degenerierten Form psychischer Gewalt.

34
4.
Häusliche Gewalt
,,Häusliche Gewalt" (HG) ist in der angloamerikanischen Literatur unter ,,domestic violence"
oder ,,intimate partner violence" (IPV) wiederzufinden und wird charakterisiert als Gewalt gegen
eine Person, mit der Absicht ihr Schaden zuzufügen oder Macht und Kontrolle mittels
Androhung oder Ausübung physischer, psychischer und/oder emotionaler Gewalt im
partnerschaftlichen Kontext zu erzielen (vgl. Dearing, 2005, S. 43). Zur Tätergruppe in der
häuslichen Umgebung bzw. im sozialen Nahraum gehören unter anderem aktuelle Ehegatten
(einschließlich Lebensgefährten/Lebensabschnittspartner), ehemalige Ehepartner oder vertraute
Partner aus nicht ehelichen Lebensgemeinschaften, frühere Intimpartner oder
Freunde/Freundinnen (auch jene aus ehemaligen Verabredungen (verschieden-
/gleichgeschlechtlich)), Familienmitglieder oder dem Opfer sonst näher bekannte Personen.
Eingeschlossen sind jene Freunde oder Bekannte der Familie, die ein freundschaftliches
Verhältnis zum Opfer pflegen. Ob das Opfer tatsächlich im gleichen Haushalt wohnt wie der
Täter, ist für die eigentliche Definition von Häuslicher Gewalt grundlegend nicht entscheidend;
der Begriff wird vielmehr durch die Enge und die Intimität der Beziehung und dem Missbrauch
zwischen Täter und Opfer gekennzeichnet. Häusliche Gewalt meint somit ,,Gewalt unter
Personen, die intim oder eng verwandt sind und ständig oder zyklisch zusammen wohn(t)en"
(Lamnek et al., 2006, S. 102).
Die beiden Begriffe ,,Häusliche Gewalt" und ,,Gewalt im unmittelbaren sozialen Umfeld"
werden grundsätzlich synonym verwendet und fokussieren vor allem auf die Gewalt zwischen
Erwachsenen. Sie berücksichtigen auch die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche häufig direkt
oder indirekt von Gewalt (mit)betroffen sind.
Die (indirekte) Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen (z.B. als ZeugInnen von
Gewaltereignissen) kommt in der eigentlichen Definition von Häuslicher Gewalt selten explizit
zum Ausdruck. Gewalt gegen Kinder durch Eltern (Kindesmisshandlung, sexuelle Ausbeutung
etc.) wird sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch in sozialwissenschaftlicher Forschung (z.B. bei
Kavemann & Kreyssig, 2006; Seith, 2006) als eigenständiges Problem behandelt und ist nicht in
der eigentlichen Definition von Häuslicher Gewalt enthalten. In der Regel wird Häusliche Gewalt
nicht als ein einzelnes Ereignis beschrieben, sondern bezieht sich auf ein komplexes System von
Missbrauch und kombinierter Gewalt. Trotz einer neutralen Definition von Häuslicher Gewalt
handelt es sich meist um geschlechtsspezifische Gewalt. Vielfach werden auch Begriffe wie
,,Violence Against Woman" (VAW) oder ,,Gewalt in Partnerschaften" respektive IPV verwendet.

35
Als sogenannte IPV wird in der Literatur, wie schon erwähnt, die tatsächliche oder angedrohte
physische, sexuelle oder psychische (seelischer/emotionaler Missbrauch) Gewalt gegen einen
aktuellen oder ehemaligen Lebensgefährten/Partner, Freund/Freundin oder Ehepartner
verstanden (Saltzman et al., 1999; Wolfe et al, 2001). Der Terminus ,,Gewalt" bezieht sich hierbei
grundsätzlich auf konkrete Handlungen während eines partnerschaftlichen Missbrauches, wobei
dies vielfach mit schädlicher Dominanz und Kontrolle über den Partner konnotiert ist (O'Keefe,
1997; Wekerle & Wolfe, 1999). Nicht jede Gewalt zwischen Partnern kann als missbräuchlich
eingestuft werden, da solche Handlungen auch in Notwehrsituationen auftreten können
(Saunders, 1988). Dabei zeigen sich auch Unterschiede in den jeweiligen Formen
geschlechtsspezifischer Gewalt. In einer Pilotstudie von Jungnitz et al. zum Thema ,,Gewalt
gegen Männer" zeigte sich, dass Männer besonders anfällig sind, Opfer von Gewalt im
öffentlichen Raum zu werden, wohingegen Frauen Gewalt häufiger in engen sozialen
Beziehungen erleben (Müller & Schröttle in BMFSFJ, 2004). Um die Dynamik
zwischenmenschlicher Beziehungen im häuslichen Kontext zu verstehen, wird im Folgenden
näher auf unterschiedliche theoretische Erklärungsansätze dieses Phänomens eingegangen.
a.
Erklärungsansätze für das Phänomen der Häuslichen Gewalt
Die Frage nach den Ursachen von Gewalt in der Familie bzw. im sozialen Nahraum lässt sich
nicht bloß durch eine einfache Aufzählung und Beschreibung von möglichen Faktoren
beantworten. Neben den Erklärungsansätzen für Gewalt und Aggression im Allgemeinen, finden
sich auch einige Theorien zur Entstehung von Gewalt in der Familie und häuslicher Gewalt im
engeren Sinne (vgl. Gelles, 2002; Godenzi, 1993). Einige Aspekte dieser Ansätze, die für das
Verständnis des Phänomens Häuslicher Gewalt hilfreich erscheinen, sollen im Folgenden kurz
dargestellt werden. In Anlehnung an Gelles und Straus (1979) können diese in drei
Theorieebenen aufgeteilt werden:
x Personenzentrierte Theorieansätze,
x Sozialpsychologische Ansätze und
x Soziostrukturelle/-kulturelle Theoriegebilde.
Personenzentrierte Theorieansätze
Diese Ansätze sehen die Ursachen für die Entstehung von Gewalt im sozialen Nahraum in den
individuellen Eigenschaften von Personen begründet. Die Gewalt wird dabei durch innere
Abweichungen oder Abnormalitäten erklärt.

36
In diesen psychopathologischen Erklärungsansätzen wird untersucht in welchem Zusammenhang
charakterliche Auffälligkeiten (Persönlichkeitsdefizite etc.), psychische Störungen und
Intelligenzdefizite des Täters/der Täterin mit der zu Tage getretenen Beziehungsgewalt stehen.
Diese psychopathologischen Erklärungsmodelle wurden vor der intensiven wissenschaftlichen
Betrachtung der Beziehungsgewalt häufig herangezogen. Obwohl in vielfachen klinischen
Untersuchungen charakterliche Auffälligkeiten misshandelnder Männer, Väter und Mütter
diagnostiziert wurden, konnten bisher keine überzeugende Nachweise erbracht werden, dass
Gewalt in der Familie auf besondere Persönlichkeitsfaktoren rückführbar ist (Pflegerl & Cizek,
2001, S. 37). Schon Gelles (1987) und Schneider (1990) wiesen in vergangenen Untersuchungen
daraufhin, dass Gewalt im sozialen Nahraum in ihren massiven Formen zu weit verbreitet ist, um
sie als Folge unklarer pathologischer oder psychiatrischer Krankheitsbilder zu betrachten.
Vielmehr lässt sich aggressives Verhalten in einer Reihe von psychischen Störungen, durch
neurologische und hormonelle Faktoren (z.B. durch Läsionen im Limbischen System oder im
Frontallappen), nachweisen und kann unter anderem zur Beziehungsgewalt führen (Riggs &
O'Leary, 1989). Obwohl Wissenschaftler nicht eindeutig feststellen konnten, ob psychische
Störungen schon vor dem Auftreten der Häuslichen Gewalt vorlagen, und damit als ursächliche
Erklärung für deren Zustandekommen herangezogen werden könnten, wurden in späteren
Untersuchungen trotzdem einige psychopathologische Ansätze besonders hervorgehoben. Nach
Holtzworth-Munroe lassen sich die Täter in drei grundlegende Typologien einordnen, in welchen
sich, im Kontext mit Partnergewalt, überzufällig Symptome von Persönlichkeitsstörungen gezeigt
haben (Holzworth-Munroe et al., 1990):
x Family-only offender (FO): Täter, welche Gewalthandlungen grundsätzlich nur gegen die
Partnerin richten. Die Psychopathologie des Mannes kennzeichnet sich im Grunde
unauffällig. Es sind keine negativen Einstellungen gegenüber den Frauen vorhanden.
Defizite, wie geringe soziale Fertigkeiten im Umgang mit Stress und veränderter
Anpassungen, sind Ursachen für die Eskalation eines Beziehungskonflikts und die daraus
resultierende Gewalt. Entsprechende Einsicht und Empathie sind nach der
Gewalthandlung vorhanden.
x Borderline/dysphoric batterers (DB): In dieser Tätergruppe wird mittel bis stark
ausgeprägte Gewalt eingesetzt. Häufig geht dies mit psychischem und sexuellem
Missbrauch an der Partnerin einher. Der Mann ist womöglich auch selbst Opfer von
Missbrauch und Vergewaltigung in der Kindheit oder im Jugendalter gewesen und daher
psychiatrisch auffällig. Diese Männer sind meist mit einer Persönlichkeitsstörung vom
Borderline-Niveau betroffen.

37
Sie können selbst keine tragfähigen Beziehungen etablieren, sind dependent, eifersüchtig
und haben enorme Angst, erneut verlassen zu werden bzw. Angst vor der Trennung mit
dem Partner. Sie besitzen eine eingeschränkte Konfliktlösungs- und
Kommunikationsfähigkeit.
x Generally violent/antisocial batterers (GV): Diese Tätertypologie weist grundsätzlich
dieselben Anzeichen auf wie dysphorische Täter, jedoch ist ihre Gewaltbereitschaft
zunehmend auch außerhalb der Familie erhöht. Diese Tätertypen verfügen über
mittelgradig bis deutlich ausgeprägte, dissoziale Persönlichkeitseigenschaften und sind
durch impulsive und unkontrollierte Handlungen und auch besonders durch eine
feindselige Einstellung gegenüber Frauen gekennzeichnet. Sie verfügen über ein geringes
Maß an sozialen Fertigkeiten und setzen für die Bewältigung von Konflikten Gewalt als
legitimes Mittel ein.
In Untersuchungen von Monson und Langhinrichsen-Rohling (2002) fanden die Autorinnen
neben den klaren Hinweisen zu psychopathologischen Auffälligkeiten, die durch Symptome einer
Borderline- und Antisozialen Persönlichkeitsstörung oder durch depressive Symptome geprägt
sind, auch noch ausgeprägte Symptome von Alkoholabusus als Prädiktor zur Vorhersage von
psychischer und physischer Beziehungsgewalt.
Da bisher kein überzeugender Nachweis erbracht werden konnte, dass Gewalt im familiären
Kontext allein auf charakteristische Persönlichkeitsmerkmale/-störungen zurückzuführen ist und
Gewalt im Allgemeinen allzu weit verbreitet ist, um als Folge unklarer psychiatrischer
Krankheitsbilder betrachtet zu werden, konnten sich monokausale Modelle und die alleinige
Fokussierung auf intrapsychische Dispositionen nicht dauerhaft bewähren. Auch wenn
psychopathologische Ansätze wertvolle Beiträge zur interpersonalen Gewaltforschung liefern,
sollten sie vorwiegend in interaktive, situationale und umweltbezogene Faktoren bzw. Umstände
eingebettet werden und die verhaltensbeinflussenden Variablen innerhalb der gesamten Familien-
und Paarkonstellation berücksichtigen.

38
Sozialpsychologische Ansätze
Innerhalb der Ursachenforschung zu partnerschaftlicher Gewalt sieht man die Gründe für das
Gewaltauftreten in diesen Ansätzen in externen Umgebungsfaktoren und in spezifischen
Sozialisationsbedingungen, die auf die Familie, die Partnerschaft und einzelne Mitglieder
einwirken. Schwerpunkte dieser Ansätze liegen dabei in lerntheoretischen Sichtweisen und im
Einfluss der Herkunftsfamilie.
Dieser Einfluss und der Umstand, dass aggressiv geprägtes Verhalten unter anderem auf
Lernprozesse, die durch gewaltbegünstigende Sozialisationserfahrungen gefördert werden,
zurückzuführen ist, erhöhen unter anderem das Risiko im Erwachsenenalter schwere Gewalt
auszuüben und zu erfahren. Besonders Familien sind ein bevorzugter Ort und Übungsplatz, um
Gewalttätigkeiten zu beobachten und zu erleben. Klinische Studien haben gezeigt, dass
Individuen, die Gewalthandlungen begehen, oft einen Familienhintergrund haben, der durch
extreme Gewalt geprägt ist. Schon die Gewaltbereitschaft der Kinder wird durch aggressive
Interaktionsmuster der Eltern, durch bestrafende Erziehungsstile oder durch die Billigung von
Gewalt als legitime Konfliktstrategie gefördert und an nachfolgende Generationen durch eine
sogenannte ,,intergenerationelle Transmission" weitergegeben (Straus et al., 1980; Steinmetz,
1977; Schröttle et al. 2004; Kindler 2005, 2008). ,,Gewalterfahrung erhöht die Wahrscheinlichkeit
von Delinquenz, und Delinquenz erhöht die Wahrscheinlichkeit von Gewalt in Beziehungen, in
denen typischerweise Sozialisation erfolgt" (Albrecht, 2002; zitiert nach Dlugosch, 2010, S. 32).
Dies geschieht nicht nur durch Erfahrung von Misshandlung in der Kindheit, sondern auch
dadurch, dass gewalttätige Personen Zeugen physischer Gewalt zwischen den Eltern geworden
sind (vgl. Böhm, 2006, S. 65). In dieser Phase wird nicht nur die Täterrolle, sondern auch die
Opferrolle gelernt. Straus et al. (1980) fanden heraus, dass in Beziehungen von Personen, die
sowohl Zeuge von Gewalttätigkeit ihrer Eltern, als auch selbst Opfer von Misshandlung in der
Kindheit gewesen sind, am häufigsten physische Beziehungsgewalt vorkommt (vgl. ebd., S. 65).
Zudem stellten sie fest, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Ehedauer und
dem Auftreten von Gewalt gibt. In jungen Partnerschaften scheint das Auftreten von Gewalt
häufiger vorzukommen als in länger bestehenden Partnerschaften. Selbst Eltern, die sich auf
Grund eigener Erfahrungen in der Kindheit fest vorgenommen haben, ihre eigenen Kinder
gewaltfrei zu erziehen, neigen dazu, in Stresssituationen auf die in der Kindheit erlernten
Reaktionsmuster zurückzugreifen (Habermehl, 1994; zitiert nach Pflegerl & Cizek, 2001, S. 40).
Die Übertragung von Stresserlebnissen im Zuge gewalttätiger Verhaltensmuster auf nachfolgende
Generationen konnte auch in einer bemerkenswerten Studie von der ETH Lausanne mit
Rattenmännchen aufgezeigt werden (Cordero et al., 2012).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783842839465
Dateigröße
3.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt – Kulturwissenschaften, Psychologie
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
häusliche gewalt partnerschaftliche angriff risikoeinschätzung odara sara svg-5
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Titel: HÄUSLICHE GEWALT/DOMESTIC VIOLENCE: Eine Untersuchung von bedeutsamen risikorelevanten Merkmalen zur Ermittlung der Rückfallwahrscheinlichkeit inhaftierter Gewaltstraftäter unter Verwendung des Ontario Domestic Assault Risk Assessment (ODARA)
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