Altersversorgung von Frauen als Spiegel ihrer Erwerbstätigkeit - gestern und heute
©2011
Diplomarbeit
73 Seiten
Zusammenfassung
Inhaltsangabe:Einleitung:
Der Rentenversicherungsbericht 2010, vorgelegt von der Bundesregierung an die gesetzgebenden Körperschaften, weist in seiner Übersicht der Rentenzahlbeträge einen eklatanten Unterschied bzgl. der Rentenzahlbeträge an Männer und Frauen aus: männliche Rentner erhielten im Durchschnitt fast den doppelten Betrag an Rente (1.046,58 Euro) als eine weibliche Rentnerin (556,04 Euro). Wie kommt es zu diesen Ungleichgewichten?
Gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Keiner darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden und der Staat hat die Gleichberechtigung zu fördern.
In unserem Land stehen Ehe, Familie und Kinder (eheliche und uneheliche gleichermaßen) unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung (Art. 6 GG). Kinderbetreuung ist die oberste Pflicht der Eltern. Lt. Abs. 4 dieses GG-Artikels haben Mütter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Ist dieser Anspruch einer Mutter tatsächlich in allen Bereichen unserer Gesellschaft und Wirtschaft erfüllt? Geht dieser Anspruch konform mit der Tatsache, dass eine Frau, deren Erwerbsbiografie aufgrund ihrer Familienarbeit Unterbrechungen aufweist, mit gravierenden Einschnitten in ihrer Altersversorgung rechnen muss?
Die Europäische Union sieht in der Gleichstellung von Mann und Frau ein wesentliches Prinzip für wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt. Wird dies von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik auch so gesehen, vor allem aber - wird entsprechend gehandelt?
Unter Berücksichtigung der genannten Verfassungs- und Europarechtlichen Prämissen erscheinen die o.g. Unterschiede im Hinblick auf die Rentenhöhen erstaunlich. Es ist das Ziel der nachfolgenden Arbeit, Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu finden, indem untersucht wird, auf welchen Ursachen diese Ungleichheiten beruhen und inwiefern es bereits Ansätze zur Lösung dieser Problematik gibt oder geben könnte.
Um den Leser mit der Thematik Sozialpolitik und deren Notwendigkeit vertraut zu machen, befasst sich Kapitel 2 mit den Grundzügen sozialer Sicherung unter besonderer Berücksichtigung der Altersvorsorge und deren frauenrelevanten Komponenten.
Kapitel 3 widmet sich der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), dem ältesten und wichtigsten Stützpfeiler des deutschen Alterssicherungssystems. Dargestellt werden die Entstehungsgeschichte und das geltende Rentenrecht.
Gegenwärtige Strukturen und […]
Der Rentenversicherungsbericht 2010, vorgelegt von der Bundesregierung an die gesetzgebenden Körperschaften, weist in seiner Übersicht der Rentenzahlbeträge einen eklatanten Unterschied bzgl. der Rentenzahlbeträge an Männer und Frauen aus: männliche Rentner erhielten im Durchschnitt fast den doppelten Betrag an Rente (1.046,58 Euro) als eine weibliche Rentnerin (556,04 Euro). Wie kommt es zu diesen Ungleichgewichten?
Gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Keiner darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden und der Staat hat die Gleichberechtigung zu fördern.
In unserem Land stehen Ehe, Familie und Kinder (eheliche und uneheliche gleichermaßen) unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung (Art. 6 GG). Kinderbetreuung ist die oberste Pflicht der Eltern. Lt. Abs. 4 dieses GG-Artikels haben Mütter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Ist dieser Anspruch einer Mutter tatsächlich in allen Bereichen unserer Gesellschaft und Wirtschaft erfüllt? Geht dieser Anspruch konform mit der Tatsache, dass eine Frau, deren Erwerbsbiografie aufgrund ihrer Familienarbeit Unterbrechungen aufweist, mit gravierenden Einschnitten in ihrer Altersversorgung rechnen muss?
Die Europäische Union sieht in der Gleichstellung von Mann und Frau ein wesentliches Prinzip für wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt. Wird dies von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik auch so gesehen, vor allem aber - wird entsprechend gehandelt?
Unter Berücksichtigung der genannten Verfassungs- und Europarechtlichen Prämissen erscheinen die o.g. Unterschiede im Hinblick auf die Rentenhöhen erstaunlich. Es ist das Ziel der nachfolgenden Arbeit, Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu finden, indem untersucht wird, auf welchen Ursachen diese Ungleichheiten beruhen und inwiefern es bereits Ansätze zur Lösung dieser Problematik gibt oder geben könnte.
Um den Leser mit der Thematik Sozialpolitik und deren Notwendigkeit vertraut zu machen, befasst sich Kapitel 2 mit den Grundzügen sozialer Sicherung unter besonderer Berücksichtigung der Altersvorsorge und deren frauenrelevanten Komponenten.
Kapitel 3 widmet sich der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), dem ältesten und wichtigsten Stützpfeiler des deutschen Alterssicherungssystems. Dargestellt werden die Entstehungsgeschichte und das geltende Rentenrecht.
Gegenwärtige Strukturen und […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Herta Kaltwasser
Altersversorgung von Frauen als Spiegel ihrer Erwerbstätigkeit - gestern und heute
ISBN: 978-3-8428-2879-7
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2012
Zugl. Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie Wiesbaden e.V., Wiesbaden, Deutschland,
Diplomarbeit, 2011
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2012
Inhaltsverzeichnis... ..I
Abkürzungsverzeichnis ... II
1
Einleitung ...1
2
Soziale Sicherung...3
2.1 Allgemeine Grundlagen sozialer Sicherung...3
2.1.1 Gründe für soziale Sicherungssysteme...3
2.1.2 Arten von Vorsorgemaßnahmen ...4
2.1.3 Finanzierung sozialer Sicherung ...7
2.2 Altersversorgung
als
wesentlicher
Baustein sozialer Sicherung ...9
3
Die Gesetzliche Rentenversicherung gestern und heute ...12
3.1 Entstehung und Entwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung...12
3.1.1 Von der Kaiserzeit bis nach dem II. Weltkrieg ...12
3.1.2 Rentenreformen ab 1957 bis in die heutige Zeit ...16
3.2 Die Gesetzliche Rentenversicherung heute ...20
3.2.1 Grundsätzliche
Bemerkungen ...20
3.2.2 Personenkreis
Finanzierung - Rentenberechnung ...21
3.2.3 Leistungen der Rentenversicherung ...25
3.2.4 Frauen-relevante
Regelungen...26
3.3 Rentensystem-immanente
Problematik ...32
4
Erwerbsleben von Frauen gestern und heute ...34
4.1 Allgemeine Bemerkungen zur weiblichen Erwerbstätigkeit...34
4.2 Weibliche
Erwerbstätigkeit früherer Zeiten ...35
4.2.1 Vorindustrielle Zeit (ca.14.- 19. Jahrhundert)...35
4.2.2 Die Zeit der industriellen Umwälzungen (18.- 19.Jahrhundert) ...37
4.2.3 Im 20. Jahrhundert...40
4.3 Erwerbsleben von Frauen heute ...43
4.3.1 Weibliche Erwerbstätigkeit bisher Erreichtes und die Defizite ...43
4.3.2 Berufs- und Arbeitsplatzwahl...44
4.3.3 Freiwillige und unfreiwillige Gewichtung von beruflichem
Engagement ...46
4.3.4 Zeitverwendung für Familiensorge ...48
4.3.5 Traditionelle Rollenbilder und mangelnde Dienstleistungen ...49
4.3.6 Institutionelle
Regelungen und Arbeitsmarktstrukturen ...50
5
Konsequenzen für die Altersicherung ...51
6
Maßnahmen zur Erhöhung der Altersbezüge von Frauen ...53
6.1 Zielsetzung ...53
6.2 Renten-, steuer- und sozialpolitisch notwendige Maßnahmen...55
6.3 Arbeitsmarkt- und familienpolitisch notwendige Maßnahmen...58
6.4 Ein Plädoyer für ein weiblich-orientiertes System...59
7
Ausblick und Fazit...61
Literaturverzeichnis...III
Abkürzungsverzeichnis II
Abkürzungsverzeichnis
a. a. O...am angegebenen Ort
Abs...Absatz
AlG-II ...Arbeitslosengeld II-Bezieher
DIW ...Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
et. al. ...et alii (lateinisch für ,,und andere")
EU...Europäische Union
GG ...Grundgesetz
GRV...Gesetzliche Rentenversicherung
Hrsg. ...Herausgeber
Jh. ...Jahrhundert
SOEP ...Sozio-oekonomisches Panel
1 Einleitung
1
1 Einleitung
Der Rentenversicherungsbericht 2010, vorgelegt von der Bundesregierung an die
gesetzgebenden Körperschaften, weist in seiner Übersicht der Rentenzahlbeträge einen
eklatanten Unterschied bzgl. der Rentenzahlbeträge an Männer und Frauen aus:
männliche Rentner erhielten im Durchschnitt fast den doppelten Betrag an Rente
(1.046,58 Euro) als eine weibliche Rentnerin (556,04 Euro). Wie kommt es zu diesen
Ungleichgewichten?
1
Gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt.
Keiner darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden und der Staat hat die
Gleichberechtigung zu fördern.
In unserem Land stehen Ehe, Familie und Kinder (eheliche und uneheliche
gleichermaßen) unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung (Art. 6 GG).
Kinderbetreuung ist die oberste Pflicht der Eltern. Lt. Abs. 4 dieses GG-Artikels haben
Mütter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Ist dieser
Anspruch einer Mutter tatsächlich in allen Bereichen unserer Gesellschaft und
Wirtschaft erfüllt? Geht dieser Anspruch konform mit der Tatsache, dass eine Frau,
deren Erwerbsbiografie aufgrund ihrer Familienarbeit Unterbrechungen aufweist, mit
gravierenden Einschnitten in ihrer Altersversorgung rechnen muss?
Die Europäische Union sieht in der Gleichstellung von Mann und Frau ein wesentliches
Prinzip für wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und
sozialen Zusammenhalt. Wird dies von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik
auch so gesehen, vor allem aber - wird entsprechend gehandelt?
2
Unter Berücksichtigung der genannten Verfassungs- und Europarechtlichen Prämissen
erscheinen die o.g. Unterschiede im Hinblick auf die Rentenhöhen erstaunlich. Es ist
das Ziel der nachfolgenden Arbeit, Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu finden,
indem untersucht wird, auf welchen Ursachen diese Ungleichheiten beruhen und
inwiefern es bereits Ansätze zur Lösung dieser Problematik gibt oder geben könnte.
Um den Leser mit der Thematik Sozialpolitik und deren Notwendigkeit vertraut zu
machen, befasst sich Kapitel 2 mit den Grundzügen sozialer Sicherung unter besonderer
Berücksichtigung der Altersvorsorge und deren frauenrelevanten Komponenten.
1
Vgl. o. V.: Rentenversicherungsbericht 2010, Online im Internet:
http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/rentenversicherungsbericht-
2010.pdf?_blob=publicationFile, 10.08.2011, S. 20.
2
Vgl. o. V.: Gleichstellung von Frauen und Männern 2010, Online im Internet:
http://eur-lex.europa.eu/lexUriServ/lexUriServ.do?uri=COM:2009:0694:FIN:DE:PDF,
10.08.2011,S. 3.
1 Einleitung
2
Kapitel 3 widmet sich der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), dem ältesten und
wichtigsten Stützpfeiler des deutschen Alterssicherungssystems. Dargestellt wird die
Entstehungsgeschichte und das geltende Rentenrecht.
Gegenwärtige Strukturen und Leitbilder können besser eingeordnet und verstanden
werden, wenn man sie eingebettet in einem geschichtlichen Prozess reflektiert. Heutige
Einstellungen und Werte sind durch die Vergangenheit geprägt. Die gegenwärtige
Situation kann nicht isoliert, sondern nur in Verbindung mit den historisch kulturellen
und institutionellen Rahmenbedingungen betrachtet und verstanden werden.
Konsequenterweise verschafft Kapitel 4 dieser Arbeit einen Überblick über
Frauenerwerbstätigkeit und Altersversorgung der vergangenen Jahrhunderte.
3
Das Alterssicherungssystem in Deutschland ist eng an Erträge aus einer
Erwerbstätigkeit geknüpft, insofern ist es unausweichlich zur Erörterung von
Altersvorsorgesituationen, Strukturen und Gegebenheiten im Erwerbsleben und
Erwerbsbiografien zu analysieren. Was die weibliche Situation im Rentenalter angeht,
so spielen Themen wie Ehe und Kindererziehung für die meisten Frauen eine
bedeutende Rolle und dürfen nicht ignoriert werden. Weibliche Erwerbsbiografien und
Einkommen unterscheiden sich maßgeblich von denen männlicher. Auch diese Aspekte
werden in Kapitel 4 dargestellt.
4
Kapitel 5 schließlich befasst sich mit den Konsequenzen des weiblichen Erwerbslebens
für die Alterssicherung. In Kapitel 6 werden Modelle und Forderungen mit sozial-,
arbeitsmarktpolitischem und gesellschaftlichem Charakter vorgestellt, die dazu führen
könnten, Einkommen von Frauen während der Erwerbsphase und später im Alter für
eine eigenständige Existenzsicherung zu erhöhen ohne die Wahlfreiheit von
persönlichen Lebensentwürfen einzuengen. Kapitel 6.4 schlägt zusätzlich zu den
einschlägigen Forderungen eine eigene Modell-Idee vor.
Ausblick und Fazit in Kapitel 7 wagen Prognose und Einschätzung künftiger
Entwicklungen vor allem im Hinblick auf die demografischen Wandel und den damit
verbundenen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Arbeit wird sich vorwiegend mit dem System der Gesetzlichen Rentenversicherung
beschäftigen. Die betriebliche und private Altersvorsorge werden nur tangiert, nicht
jedoch ausführlich analysiert. Obgleich auch die Leistungen der Pflegeversicherung
insbesondere älteren Menschen zugute kommen, wird dies Thematik nicht
3
Vgl. Riedmüller, Barbara: Frauen- und familienpolitische Leitbilder im deutschen
Alterssicherungssystem, in: Alterssicherung von Frauen, Hrsg.: Schmähl, Winfried; Michaelis,
Klaus, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 36.
4
Vgl. Allmendinger, Jutta: Wandel von Erwerbs- und Lebensverläufen und die Ungleichheit zwischen
den Geschlechtern im Alterseinkommen, in: Alterssicherung von Frauen, Hrsg.: Schmähl, Winfried;
Michaelis, Klaus, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 78 f.
2 Soziale Sicherung
3
berücksichtigt werden. Frauen haben sicherlich aufgrund ihrer höheren
Lebenserwartung ein entsprechendes Pflegebedürftigkeitsrisiko. Andererseits sind es
gerade Frauen, die vorwiegend die unentgeltliche Pflege von Familienangehörigen
durchführen und aufgrund dessen Einkommensverluste hinnehmen müssen.
5
2 Soziale
Sicherung
2.1
Allgemeine Grundlagen sozialer Sicherung
2.1.1
Gründe für soziale Sicherungssysteme
Nach Art. 20 GG, Abs. 1 ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und
sozialer Bundesstaat, demzufolge basiert die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf
den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Dies impliziert, dass Unwägbarkeiten des
Lebens (z.B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität), aber auch positive Ereignisse
(z.B. Mutterschaft und Kinderbetreuung), die ggf. die materielle Grundlage gefährden,
mit Hilfe staatlicher Leistungen abgefangen werden sollen, so dass etwaige finanzielle
Belastungen vom Einzelnen nicht alleine zu tragen sind. Insofern ist es Aufgabe des
Staates, die Existenzsicherung aller Bevölkerungskreise zu gewährleisten.
6
Zu den Leitbildern der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland gehören:
-
Anreize setzen zur Eigenverantwortung
-
Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit
-
Förderung des sozialen Zusammenhalts
-
europäische und internationale Kongruenz.
7
Die Notwendigkeit sozialer Sicherungssysteme ergibt sich in arbeitsteilig organisierten
Volkswirtschaften aus der massiven Existenzbedrohung des Einzelnen, sobald er seiner
Arbeitskraft vorübergehend oder dauerhaft verlustig wird. Im Gegensatz zur
Großfamilie vergangener Generationen kann die heutige Kleinfamilie Risiken nicht
mehr abfangen. Herkömmliche kirchliche und sonstige Wohlfahrtsverbände sind
aufgrund der großen Zahl Bedürftiger nicht in der Lage ausreichenden Schutz zu bieten.
Viele Menschen, vor allem jene mit geringem Einkommen, verfügen nicht über
5 Vgl. o. V.: Neue Wege Gleiche Chancen; Gleichstellung von Frauen und Männern im
Lebensverlauf, Online im Internet:
http://www.fraunhofer.de/content/dam/zv/de/documents/Sachverstaendigengutachten_1.Gleichstellu
ngsbericht_Bundesregierung_tcm7-78851.pdf, 10.08.2010, S. 195.
6
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, 18., überarb. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag 2006, S. 438.
7
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 441.
2 Soziale Sicherung
4
ausreichend finanzielle Mittel, sich privatrechtlich abzusichern, sei es durch Ansparen
größerer Geldwerte oder mit Hilfe einschlägiger Versicherungen. Zudem versagt das
private Versicherungswesen bei konjunkturbedingter Massenarbeitslosigkeit oder im
Falle von Kriegsfolgen. Versicherungsmärkte sind zudem aufgrund ihrer In-
Transparenz unvollkommen hinsichtlich Umfang und Qualität. Im Rahmen eines
Sozialvertrages und auf staatlichen Regelungen beruhende Kollektive jedoch verfügen
aufgrund der großen Zahl ihrer Versicherten und der damit einhergehenden breiten
Verteilung von Mitteln und Risiken über die besseren Kapazitäten zur Risikovorsorge.
Zudem ersparen sie dem Einzelnen erhebliche Transaktionskosten, die für langwierige
und zeitintensive Informationssuche aufgewendet werden müssten.
8
,
9
Soziale Sicherungssysteme helfen nicht nur den unmittelbar Betroffenen, sondern
tragen auch erheblich zum sozialen Frieden einer Gemeinschaft bei. Es verschafft einer
Volkswirtschaft Vorteile, wenn sie die Erwerbsfähigkeit all ihrer Mitglieder fördert und
sichert, da leistungsfähiges Humankapital zu Erfolg und Wachstum führt.
10
,
11
Eine grundlegende Gefahr, die von sozialer Sicherung ausgeht, sind die falschen
Anreize, die entstehen, wenn finanzielle Mittel ohne Gegenleistung über einen längeren
Zeitraum bewilligt werden. Dem Leistungsempfänger kann die Motivation verloren
gehen, eigenverantwortlich zu handeln und gerät er ggf. in eine (un-)gewollte
Abhängigkeit staatlicher Fürsorge. Daher unterstehen soziale Systeme auch dem
Subsidiaritätsprinzip, nach dem staatliche Hilfe immer erst dann einsetzt, wenn die
bedürftige Person sich nicht selbst und auch die nächst höheren Ebenen, z.B.
Angehörige, nicht helfen können. Es sollte prinzipiell Hilfe zur Selbsthilfe angeboten
werden, um Leistungsanreize nicht zu beeinträchtigen.
12
,
13
2.1.2
Arten von Vorsorgemaßnahmen
Maßnahmen zur Vorsorge allgemein und insbesondere zur Altersvorsorge - können
entweder in Eigeninitiative, d.h. nach dem Individualprinzip, oder durch kollektive
Vorsorge, also dem Sozialprinzip getroffen werden.
8
Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, 8. überarb. u. vollst. akt. Aufl.,
Berlin et. al: Springer 2007, S. 276.
9 Vgl. Mankiw, N. Gregory; Taylor, Mark P.: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 4., überarb. u.
erw. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag 2008, S. 239 f.
10
Vgl. Dobner, Petra: Neue Soziale Frage und Sozialpolitik, Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2007, S. 40.
11
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 438.
12 Vgl. Mankiw, N. Gregory; Taylor, Mark P.: Grundzüge der Volkswirtschaftlehre, a. a. O., S. 495.
13 Vgl. Bartling, Hartwig; Luzius, Franz: Grundzüge der Volkswirtschaftlehre, 16., verb. u. erg. Aufl.,
München: Franz Vahlen Verlag 2008, S. 204.
2 Soziale Sicherung
5
Das Individualprinzip herrscht in Gesellschaften oder in Situationen vor, in denen der
Einzelne für sich alleine verantwortlich ist und durch eigene Leistung seine
Lebensbedingungen prägt. Die Vorsorge kann in diesen Fällen entweder durch
Ansparen finanzieller Mittel (Sparprinzip) oder in Form von individual-vertraglichen
Versicherungen nach dem Äquivalenzprinzip erreicht werden. Das Äquivalenzprinzip
drückt das Verhältnis des Eintritts eines individuellen Versicherungsfalles zum
Gesamtrisiko aller Versicherten aus. (äquivalent = gleichwertig). Auf dieser Grundlage
errechnet sich der entsprechende Versicherungsbeitrag: Je höher die Wahrscheinlichkeit
des Eintritts des Versicherungsfalles, desto höher die zu zahlende Prämie. Die Eintritts-
Wahrscheinlichkeit bestimmt demnach die Kosten für den jeweiligen
Versicherungsnehmer. Bezogen auf eine private Altersvorsorge muss eine ältere Person
einen wesentlich höheren Beitrag einzahlen als ein junger Mensch.
14
Unabdingbar zur Durchführung des Sparprinzips ist ein entsprechend hohes
Einkommen, das zulässt, finanzielle Mittel vom Haushaltsbudget des Einzelnen
abzuzweigen. Auf dem Finanzsektor müssen sichere und lukrative Anlageoptionen zur
Verfügung stehen, damit sich Kapital für das Alter (oder für Krisensituationen) in
ausreichender Höhe kumulieren kann. Oftmals fehlt einem jungen Menschen der
Weitblick für Krisen oder spätere Bedürfnisse, so dass z. B. die Notwendigkeit einer
Altersvorsorge nicht erkannt oder verdrängt wird. Hinzu kommt die völlige
Ungewissheit bzgl. der Lebenserwartung und die damit verbundene voraussichtliche
Dauer bzw. Höhe etwaiger Altersbezüge. Unsicher sind auf jeden Fall konjunkturelle
Einbrüche, Zeiten der Arbeitslosigkeit, Kriege, Krisen im Finanzsektor und damit
einhergehende Renditeverluste. Diese Ungewissheiten lassen sich auch mit intelligenten
mathematischen Modellrechnungen noch nicht vollständig lösen. All diese Aspekte
führen letztendlich zur Einsicht, dass individuelle Vorsorge nicht ausreichend ist und
zwingend durch kollektive Maßnahmen ergänzt werden muss.
15
Mit Hilfe der kollektiven Vorsorge können nicht nur Risiken abgesichert werden, die
vom privaten Versicherungsmarkt nicht oder nicht ausreichend abgedeckt werden,
sondern es werden auch diejenigen Bürger versorgt, die nicht in der Lage oder nicht
bereit zur Eigenvorsorge sind. Der Staat fungiert hier als Institution der Distribution und
Allokation. Kollektive Maßnahmen können nach dem Versicherungs-, dem
Versorgungs- oder dem Fürsorgeprinzip funktionieren.
16
14
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 438.
15
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 438.
16
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 439 f.
2 Soziale Sicherung
6
Menschen, die Notlagen aus eigener Kraft nicht bewältigen können, erhalten
steuerfinanzierte Transferzahlungen des Staates. Diese unter das Fürsorgeprinzip
fallenden Leistungen stellen einen Rechtsanspruch des Bedürftigen gegenüber dem
Staat dar und die erhaltenen Sach- oder Geldleistungen sind nicht rückzahlungspflichtig.
Allerdings gilt das Subsidiaritätsprinzip, d.h. staatliche Hilfe setzt nur dann ein, wenn
der Einzelne nachweislich nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen Ein Beispiel
hierfür ist das Arbeitslosengeld II. Es besteht zwar ein Rechtsanspruch ,,dem Grunde
nach", jedoch kein Anspruch auf eine bestimmte Art von Hilfe. Die Entscheidung,
welche Hilfe in welcher Höhe gewährt wird, obliegt der zuständigen Behörde. Dieses
Prinzip ist für entwickelte Gesellschaften nicht unumstritten, insbesondere wegen der
Bedürftigkeitsprüfung, aber auch weil die Leistungen unbestimmt sind, den Charakter
von Fremdhilfe haben und nicht zur Eigenhilfe anregen.
17
,
18
Das Versorgungsprinzip basiert ebenfalls auf staatlichen, aus Steuern finanzierten
Leistungen. Die Ansprüche beruhen hier allerdings auf für den Staat erbrachten
Tätigkeiten (z.B. Dienstleistungen als Beamte oder Wehrdienst). Die im Zuge des
Versorgungsprinzips gewährten Mittel stehen - anders als Fürsorgeleistungen - auch
denjenigen zu, die für sich selbst sorgen können (z.B. die Gruppe der Kriegsopfer). In
Skandinavien beruht die Altersversorgung als eine für alle Bürger garantierte
einheitliche Grundversorgung auf dem Versorgungsprinzip.
19
,
20
In Deutschland werden Sozialleistungen sowohl von den öffentlichen
Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden) als auch von den
Sozialversicherungen erbracht. Die öffentlichen Gebietskörperschaften verantworten
ca. 40% der Ausgaben und die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung zusammen
etwa 60%. Hierzu zählen die Gesetzliche Arbeitslosenversicherung, die Gesetzliche
Unfallversicherung, die Gesetzliche Pflegeversicherung, die Gesetzliche
Krankenversicherung und die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV).
21
Der größte Teil der sozialen Sicherung (60 %) basiert demnach auf dem Sozial-
Versicherungsprinzip, d.h. staatlichen Zwangs-Versicherungen. Man spricht deshalb
von ,,Zwangsversicherungen", weil einerseits für bestimmte Bevölkerungsgruppen die
Pflicht zur Versicherung besteht und andererseits die Träger der Versicherungen einem
Kontrahierungszwang unterstehen, der ihnen gebietet, niemanden auszugrenzen, der per
17
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 440.
18 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 280.
19 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 279.
20
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 440.
21
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 438.
2 Soziale Sicherung
7
Gesetz zu den zu versicherten Personen gehört. Finanzierungsgrundlage sind die
Einnahmen aus den Beiträgen der Versicherten, deren Arbeitgebern sowie Zuschüsse
des Bundes. Das den privaten Versicherungen innewohnende Äquivalenzprinzip, findet
insbesondere auch bei der GRV Anwendung, als die Höhe der später ausgezahlten
Rente nach der vom Brutto-Verdienst abhängigen Beitragshöhe bemessen wird. Es
werden jedoch nach dem Solidaritätsprinzips auch Beitrags-unabhängige Leistungen
ausbezahlt.
22
,
23
2.1.3
Finanzierung sozialer Sicherung
Grundsätzliche Probleme des deutschen Sozialsystems sind die hohen Ausgaben bzw.
deren Finanzierung. Innerhalb von rund 40 Jahren (1960 2003) kam es zu Ausgaben-
Steigerungen um das 20fache. Das Sozialbudget ist in Deutschland seit 1960
kontinuierlich gewachsen, so dass die Sozialquote - also das Verhältnis der
Sozialleistungen zum Bruttoinlandsprodukt - 1960 noch bei 21 % lag, 2008 bereits
29,0 % und 2010 30,4 % betrug. Die Finanzierung von Sozialleistungen erfolgt über
Beiträge der Erwerbstätigen und deren Arbeitgeber zu den Sozialversicherungen
(Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) sowie durch Zuschüsse des
Bundes. In den vergangenen Jahren hat sich der relative Anteil der Sozialbeiträge an der
Finanzierung der Gesamtausgaben allmählich verringert, d. h. der Anteil der
öffentlichen Mittel ist gestiegen von 31,4 % im Jahr 1991 auf 36, 4 % im Jahr 2010
(geschätzter Datenstand im Mai 2011). Insbesondere die GRV (aber auch die
Arbeitslosenversicherung) bedürfen zur Deckung ihrer Ausgaben vermehrt
Bundeszuschüssen. Insgesamt werden die Ausgaben der Sozialversicherungen nur noch
zu 80 % durch Beiträge der Versicherten finanziert. Den größten Anteil an den
Gesamtausgaben des Sozialbudgets hat die Rentenversicherung. Nach den Angaben des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales betrug 2010 der Anteil der
Rentenversicherung am Sozialbudget 31.9 % - es wurden 292,7 Mrd. Euro für Alters-
und Hinterbliebenenrenten ausbezahlt.
24
,
25
In öffentlichen Diskussionen wird daher vor allem die Art und Weise der Finanzierung
von Sozialversicherungen, insbesondere die der GRV, thematisiert. Infrage gestellt wird
22 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 280.
23
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 440.
24
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 445, 449, 459.
25 Vgl. o.V.: Sozialbudget 2010, Online im Internet:
http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a230-10-sozialbudget-
2010.pdf;jsessionid=7BE86B4E7101F33CE48FF050E5374D92?__blob=publicationFile
10.08.2011, S. 5 und 29.
2 Soziale Sicherung
8
z. B. die Eingrenzung der Gruppe der Beitragszahler: Warum nur abhängig Beschäftigte
und nicht alle Erwerbstätigen (also auch Beamte und Selbständige)? Es wird aber auch
darüber nachgedacht, ob die Verwertung der Beiträge die richtige ist, denn
altersabhängige Risiken können sowohl durch Kapitaldeckungs- als auch durch
Umlageverfahren abgedeckt werden. Bis 1957 war die GRV in Deutschland
kapitalgedeckt und wurde dann auf eine Umlagenfinanzierung abgestellt. In Anbetracht
der Probleme, die aufgrund der Altersstrukturänderungen auf die Bevölkerung
zukommen, wird u.a. auch gefordert, das kapitalgedeckte Verfahren wieder einzuführen.
Daher eine kurze Gegenüberstellung der beiden Finanzierungsarten:
26
Kapitaldeckungsverfahren beruhen auf Ansparen und Akkumulieren der
Versichertenbeiträge in der Erwartung, der Kapitalstock möge zusammen mit
rentierlichen Zinserträgen (hoffentlich) ausreichen, um die Leistungsansprüche der
Rentenbezieher abdecken zu können. Die Herausforderung hierbei besteht darin, einen
hinreichend hohen Kapitalstock gewinnbringend anzulegen und ihn gegen Risiken auf
Finanzmärkten abzusichern. Es entstehen Abhängigkeiten vom Marktzins, den
Bedingungen auf dem Kapitalmarkt und unzureichender Transparenz auf der
Angebotsseite. Ungewissheiten im Hinblick auf Inflations- und Ertragsentwicklungen
kommen hinzu. Inwieweit sich zukünftige demografische Gegebenheiten langfristig
ungünstig auf die Finanz- und Kapitalmärkte auswirken werden, ist ebenfalls
weitgehend offen. Das Kapitaldeckungsverfahren wird seit der Rentenreform von 1957
in der GRV nicht mehr angewandt. Es beruhen jedoch betriebliche und private
Altersvorsorgeprodukte auf dieser Finanzierungsform. Bedenken sollte man bei dieser
Art der Finanzierung die steigende Lebenserwartung und die damit verbundene längere
Bezugsdauer der Rentenbezüge. Was passiert, wenn der Leistungsempfänger nicht
lange genug und nicht in ausreichender Höhe Beiträge angespart hat und/oder, wenn er
wider Erwarten viel länger lebt?
27
Das Umlageverfahren umgeht diese Problematik insofern alle Einnahmen aus
Versichertenbeiträgen der heutigen Arbeitnehmer sofort wieder an die
Leistungsempfänger ausgezahlt werden. Es werden so gut wie keine Gelder angespart,
weil man annimmt, dass die Einnahmen immer die Ausgaben decken werden. Dieses
Verfahren untersteht aber der direkten Abhängigkeit demografischer und
konjunktureller Bedingungen einer Volkswirtschaft. Problematisch wird diese Form der
sozialen Sicherung, wenn die Ausgaben aufgrund einer steigenden Anzahl von
Leistungsberechtigten stark anwachsen und einer verhältnismäßig kleinen Zahl von
26 Vgl. Gründinger, Wolfgang: Wir haben ein Luxusproblem Demografischer Wandel, eine
Podiumsdiskussion aus der Reihe ,,Literatur und Wirtschaft" der Unternehmensberatung Roland
Berger, in: WirtschaftsWoche Nr. 41, 10.10.2011, S. 140.
27 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 285 f.
2 Soziale Sicherung
9
Leistungserbringern aufgebürdet wird. Nach einschlägigen Berechnungen sind die
deutschen Sozialkassen schon heute ungedeckte (weil nicht angesparte)
Verpflichtungen in Höhe von 5 Billionen Euro eingegangen (sog. implizite
Staatsschulden). Diese Leistungsversprechen der Kranken-, Pflege, und
Rentenversicherung drohen zukünftige Generationen zu überfordern, weil der Zahl der
Empfänger schlicht eine zu geringe Zahl von Beitragszahlern gegenübersteht. Es
entsteht eine sog. Nachhaltigkeitslücke, die zu schließen ein noch ungelöstes Problem
darstellt.
28
,
29
Abgesehen von dieser außerordentlichen Form der Belastung für künftige Generationen
kann die Kopplung der Sozialbeiträge an Löhne und Gehälter grundsätzlich auf Seiten
der Arbeitnehmer aufgrund der hohen Abgaben zu Frustration und damit zu
verminderter Leistungsbereitschaft führen. Dieser Effekt könnte sich künftig bedingt
durch steigende Beitragssätze wegen des ungleichen Verhältnisses
Beitragszahler/Leistungsempfänger sogar noch verstärken. Was die Arbeitgeber betrifft,
so könnten zuweilen die hohen Lohnnebenkosten die mangelnde Bereitschaft
begründen, im Inland Arbeitsplätze zu schaffen. Eine Folge davon sind dann wiederum
weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, was zu einem Anstieg der
Leistungsempfänger und dann ebenfalls konsequenterweise zu höheren
Sozialversicherungsbeiträgen führen könnte. Um dieses Dilemma zu umgehen, wird
empfohlen, alle Erwerbseinkommen in die Versicherungspflicht einzubeziehen und
versicherungsfremde Leistungen grundsätzlich über Steuergelder zu finanzieren. Man
erhofft sich damit auf ein erträgliches Maß begrenzte Sozialversicherungsbeiträge, die
den Faktor Arbeit so wenig als möglich belasten.
30
,
31
2.2
Altersversorgung als wesentlicher Baustein sozialer Sicherung
Das Alter bringt es mit sich, dass der Mensch allmählich körperliche und geistige
Vitalität einbüßt und nur noch bedingt für seinen Lebensunterhalt sorgen kann. Hinzu
kommen ggf. Invalidität, chronische Erkrankungen, Demenz u.v.a.m. Infolgedessen ist
Alterssicherung einer der wichtigsten Aspekte sozialer Sicherung. Lt. einer Umfrage der
Arbeiterwohlfahrt hat jeder dritte bzw. bei den 18 29jährigen sogar jeder zweite
28 Vgl. Lampert, Heinz, Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 284.
29
Vgl. Heilmann, Dirk; Schrinner, Axel: Staatsverschuldung - Die unbequeme Wahrheit,
Sonderbeilage Handelsblatt, Nr. 185, 23./24.09.2011, o.S.
30
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 459.
31 Vgl. o.V.: Die Zukunft der Arbeit denken, Online im Internet:
http://ftp.iza.org/compacts/iza_compact_de_12.pdf, 10.08.2011, S. 17.
2 Soziale Sicherung
10
Deutsche Angst vor Altersarmut, ein Zeichen für die Brisanz der Thematik und die noch
ungelösten Aufgaben auf diesem Gebiet der sozialen Sicherung.
32
Per Definition umfasst Altersvorsorge alle Maßnahmen, die eine Person im Laufe ihres
Lebens trifft, um ihren Lebensunterhalt im Alter (möglichst auf gleichbleibendem
Niveau) sicher zu stellen. Die gegenwärtig in Deutschland von staatlicher Seite als
optimale Alterssicherung propagierte Strategie stützt sich auf drei Säulen:
Säule 1 ist die Umlagen-finanzierte gesetzliche Vorsorge in Form von Beiträgen
aller unselbstständig Beschäftigten und deren Arbeitgeber zur Gesetzlichen
Rentenversicherung. Die GRV ist so konzipiert, dass die Beitragszahlung nicht nur
dem Grunde nach, sondern auch entsprechend der Beitragshöhe einen
Leistungsanspruch begründet.
Säule 2 ist die betriebliche Altersvorsorge. Diese wird entweder gemeinsam von
Arbeitnehmer und Arbeitgeber oder von letzterem allein getragen und wird in ein
vom Arbeitgeber verwaltetes Sparprodukt eingezahlt. Ein Arbeitsplatzwechsel kann
unter Umständen zum Verlust des Kapitalstocks für den Arbeitnehmer führen.
Säule 3 ist die von der Politik immer stärker propagierte private Vorsorge. Sie setzt
eigenverantwortliches Ansparen von Kapital voraus (s. Individualprinzip),
beispielsweise in Form von Aktienfonds/Sparplänen, staatlich geförderter Riester-
Rente, staatlich geförderter Rürup-Rente, Lebensversicherungen oder als Erwerb
von Immobilienbesitz.
Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden 80 % der Alterssicherungsausgaben
über die umlagenfinanzierte GRV, 10% über betriebliche Alterssicherung und 10 %
durch private Altersvorsorge erbracht. Die GRV ist nach wie vor die wichtigste Art der
Altersvorsorge in Deutschland.
33
,
34
,
35
,
36
Das Thema Alterssicherung wird in naher und ferner Zukunft vermehrt an Bedeutung
gewinnen. Nach den im Statistischen Jahrbuch 2011 veröffentlichten Zahlen gehört
Deutschland weltweit zu den Ländern mit der ältesten Bevölkerung - gleichauf mit
Italien und direkt hinter Japan, das den 1. Platz dieser Rangliste belegt. 1950 waren nur
10 % der deutschen Bevölkerung älter als 65 Jahre, 2010 waren es bereits ca. 20 %.
Demgegenüber hat sich die Geburtenrate deutlich verringert: Während in Indien auf
32 Vgl. o.V.: Angst vor Altersarmut, Süddeutsche Zeitung, Nr. 229, 05.10.2011, S. 6.
33 Vgl. o. V.: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Das Renten-ABC, Nr. 108, 3. Aufl. Berlin:
3/2010, S. 7.
34 Vgl. Schmähl, Winfried: Soziale Sicherung: Ökonomische Analysen, Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2009, S. 218.
35 Vgl. o. V.: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Die Renteninformation mehr wissen,
Nr. 104, 7. Aufl., Berlin: 2/2011, S. 15.
36 Vgl. Schmähl, Winfried: Soziale Sicherung: Ökonomische Analysen, a. a. O., S. 227.
2 Soziale Sicherung
11
1.000 Einwohner 23 Neugeborene kommen und in Frankreich immerhin noch 13, sind
es in Deutschland nur noch 8. Die Lebenserwartung dieser derzeit geborenen Menschen
hat sich beträchtlich erhöht und ist ca. 14 Jahre höher als derjenigen Menschen, die
1950 zur Welt kamen. Diese Zahlen offenbaren nicht nur die Relevanz funktionierender
Altersicherungssysteme, vielmehr auch die Dringlichkeit von Maßnahmen, die es
Familien und vor allem Frauen ermöglichen, Kinder (künftige Beitragszahler für die
Rentenkassen) aufzuziehen. Die nach dem Prinzip der Umlagenfinanzierung
funktionierende GRV beruht auf einem Generationenvertrag, d.h. einer
gesellschaftlichen Vereinbarung, nach der die jeweils beitragszahlenden Erwerbstätigen
den in Rente befindlichen Personen durch ihre Produktivität das Alter finanzieren in der
berechtigten Erwartung, dass nachfolgende Generationen qualifizierter Arbeitskräfte
dies ebenso für sie tun werden. Neben den im Erwerbsleben stehenden und durch ihre
Produktivität die Beiträge erwirtschaftenden Personen, haben folglich diejenigen
erheblichen Anteil an der Alterssicherung, die eine neue Generation von Arbeitskräften
aufziehen - dies sind derzeit zumeist Frauen.
37
,
38
Die Zahlungsversprechen der Rentenkassen (sog. implizite Schulden) belasten künftige
Generationen. Folglich muss eine Gesellschaft, die ihre älteren Mitglieder versorgen
möchte, in Kindererziehung investieren oder sie muss Geld sicher und gewinnträchtig
auf einem stabilen und ergiebigen Kapitalmarkt anlegen: ,,Eine Gesellschaft, die im
Alter gut leben will, muss entweder Kinder haben oder sparen. Wenn sie beides nicht
tut, muss sie hungern."
39
Auch die für die betriebliche Altersvorsorge auf dem Kapitalmarkt angelegten Gelder
und die der privaten Kapitalanleger können nur dann eine vernünftige Rendite
erwirtschaften, wenn es eine mengenmäßig und/oder äußerst produktive Generation von
Erwerbstätigen gibt, die für ausreichend hohes Wirtschaftswachstum sorgt. Geldanlagen
jedweder Art können immer nur dann rentierliche Erträge abwerfen, wenn das Kapital
in Kombination mit menschlicher Arbeitskraft Gewinne erwirtschaftet Wert schöpft
bzw. Werte schafft.
40
,
41
Aus der Perspektive des Individuums sind bei einer weitgehend lohnabhängigen
Alterssicherung Ertrag und Dauer einer Erwerbstätigkeit Voraussetzung für ein
37 Vgl. Öchsner, Thomas: Schöner wohnen, länger leben Statistiker ermitteln, wie sich das Leben der
Deutschen in den vergangenen 60 Jahren ziemlich verändert hat, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 230,
06.10.2011, S. 19.
38
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 450 und 462f.
39 Sinn, Hans-Werner im Gespräch mit Heilmann, Dirk: ,,Es kommen große Lasten auf Deutschland
zu", in: Handelsblatt Nr. 185, 23./24.09.2011, S. 34.
40 Vgl. Schmähl, Winfried: Soziale Sicherung: Ökonomische Analysen, a. a. O., S. 406 f.
41 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 286.
3 Die Gesetzliche Rentenversicherung gestern und heute
12
gesichertes Leben im Alter. Aus gesamtgesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher
Sicht betrachtet, funktioniert Altersicherung jedoch nur, wenn ausscheidendes
Arbeitskräftepotential kontinuierlich durch nachfolgendes ersetzt wird.
42
Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind es somit vor allem Frauen bzw. Mütter, die dafür
Sorge tragen, dass unsere Wirtschaft und unser Alterssicherungssystem auch künftig
funktionieren kann. Einschlägige Studien und Untersuchungen belegen, dass Frauen
ihre Erwerbstätigkeit mit Eintritt der Mutterschaft erheblich reduzieren, auf diese Weise
der Gesellschaft einen wichtigen Dienst erweisen, sich selbst damit aber schaden, wie
die Rentenauszahlungen an Frauen mit familienbedingten Erwerbsunterbrechungen
belegen. An den niedrigeren Altersbezügen der Frauen lässt sich erkennen, dass es noch
nicht gelungen ist, die Leistung der Familienarbeit angemessen zu honorieren, vor allem
im Alter. Der europäische Vergleich zeigt, dass Länder, die die Bedingungen für
Frauenbeschäftigung verbessert haben (z. B. durch ausreichende Kinderbetreuung und
familienfreundliche Arbeitszeiten), höhere Geburtenraten aufweisen. Dies scheint zu
belegen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Entscheidung für Kinder
positiv beeinflusst. Frauen- bzw. Kinder-freundliche Verhältnisse in Wirtschaft und
Gesellschaft können folglich als entscheidende Faktoren für Wirtschaftswachstum und
als Gewähr für Altersvorsorgung gesehen werden.
43
,
44
,
45
3
Die Gesetzliche Rentenversicherung gestern und heute
3.1
Entstehung und Entwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung
3.1.1
Von der Kaiserzeit bis nach dem II. Weltkrieg
Die GRV ist nach wie vor die wichtigste Säule der Altersversorgung in Deutschland. Es
ist daher hilfreich zur Beurteilung des heutigen Alterssicherungssystems, die
gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umstände zu kennen, die zu einer
ersten staatlich institutionalisierte sozialen Sicherung führten. Die durch die
Industrialisierung bedingten gravierenden Umwälzungen und die damit in
Zusammenhang stehenden sozialen Probleme machten zur Stabilisierung des
politischen und gesellschaftlichen Status Quo die Einführung einer sozialen Sicherung
notwendig. Bei der Ausgestaltung dieser neuen Institution wurden die geltenden
42
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 463.
43 Vgl. o. V.: Neue Wege Gleiche Chancen, a. a. O., S. 166.
44 Vgl. Köcher, Renate: Anreize setzen, in WirtschaftsWoche Nr. 38, 19.09.2011, S. 48.
45 Vgl. o. V.: Gleichstellung von Frauen und Männern, a. a. O., S. 6.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2011
- ISBN (eBook)
- 9783842828797
- Dateigröße
- 508 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie Wiesbaden e.V. – Studiengang Betriebswirtschaftslehre
- Erscheinungsdatum
- 2014 (April)
- Note
- 1,3
- Schlagworte
- altersversorgung frauen arbeit erwerbsleben soziale sicherung rentenversicherung
- Produktsicherheit
- Diplom.de