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Zur schwierigen Situation von Kindern aus alkoholbelasteten Familien

Risiken und Chancen des Aufwachsens mit süchtigen Bezugspersonen

©2007 Magisterarbeit 91 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
In den vergangenen 15 Jahren ist auch im deutschsprachigen Raum ein Bewusstsein dafür entstanden, dass das Aufwachsen mit alkoholkranken Menschen sich negativ auf die Entwicklung von Kindern auswirken kann. In den Anfängen der angloamerikanischen Literatur zu Thema Alkohol und Familie wurden ausgehend von Berichten und Anklagen so genannter „erwachsener Kinder“ von Alkoholikern (Adult Children of Alcoholics) relativ einseitig die Risiken und Gefahren dieses Aufwachsens beleuchtet. Man begann zwar ein Bewusstsein für die schwierige Ausgangslage dieser Kinder zu entwickeln, es mangelte aber noch an Lösungsmöglichkeiten für deren Probleme, daher wurde bezüglich ihrer Situation ein Bild der Ausweglosigkeit gezeichnet.
Heute geht man einen anderen Weg: Das Aufwachsen mit alkoholkranken Bezugspersonen kann ein Risiko bedeuten, doch das Schicksal dieser Kinder ist nicht determiniert. Es hat sich erwiesen, dass das Vorhandensein verschiedenster protektiver und pathogener Faktoren, die sowohl im Kind selbst als auch in seiner Umgebung liegen, für das Ge- oder Misslingen von Persönlichkeitsentwicklung mit verantwortlich ist. Es besteht also kein einfacher und linearer Zusammenhang zwischen dem Aufwachsen in einer Suchtfamilie und der Ausbildung einer eigenen Sucht oder Verhaltensstörung, obwohl die Risiken dafür um ein Mehrfaches höher sind als bei Kindern aus gesunden Familien.
Diese neue Perspektive, nämlich von den gesund erhaltenden Faktoren auszugehen, lässt eine optimistische Sicht auf die Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen zu. Werden Kinder in ihrer schwierigen Situation unterstützt, indem man ihre Stärken und Ressourcen fördert und ihnen die Chance gibt, ihr Gefühl für Selbstwirksamkeit zu stärken, so kann Persönlichkeitsentwicklung trotz widriger Umstände gelingen. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit dem Resilienzkonzept und dem Konzept der Salutogenese viel Platz eingeräumt.
In dieser Arbeit wird wechselweise von alkoholbelasteten, alkoholkranken Familien oder auch von Suchtfamilien gesprochen. Dies geschieht in Anlehnung an Ehrenfried et al., die ebenfalls den Begriff Suchtfamilie wählen, obwohl sie in ihrer Konzeption eigentlich „nur“ Alkoholikerfamilien meinen. Auch in der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus „nur“ auf Menschen mit Alkoholsucht. Die Familiendynamik aller Suchtfamilien (illegale Drogen, Medikamentensucht usw.) ist zwar grundsätzlich ähnlich, aber z. B. aufgrund der Illegalität der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Katja Chiba
Zur schwierigen Situation von Kindern aus alkoholbelasteten Familien
Risiken und Chancen des Aufwachsens mit süchtigen Bezugspersonen
ISBN: 978-3-8366-0865-7
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. FernUniversität Hagen, Hagen, Deutschland, Magisterarbeit, 2007
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2008
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung...4
2. Voraussetzungen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung...5
2.1 Identität und Lebenszyklus ­ E. H. Erikson...5
2.1.1 Urvertrauen gegen Misstrauen...6
2.1.2 Autonomie gegen Scham und Zweifel...7
2.1.3 Initiative gegen Schuldgefühl...8
2.1.4 Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl...8
2.1.5 Identität gegen Identitätsdiffusion...9
2.2 Selbstbewusstsein, Selbstachtung und Selbstwirksamkeit...10
2.3 Bindungsforschung ­ J. Bowlby...11
2.4 Einfluss des individuellen Temperaments auf das Gelingen der Bindung...13
2.5 Gesundes Familienklima ­ krank machendes Familienklima...15
3. Die schwierige Situation von Kindern suchtkranker Eltern...17
3.1 Wie viele Kinder leben mit einem alkoholkranken Elternteil?...17
3.2 Der Familienalltag von Kindern aus alkoholbelastetem Umfeld...18
4. Betrachtung der Familie als System...19
4.1 Allgemeine Kriterien familiärer Systemorganisation...20
4.2 Typische familiäre Organisationsmuster in Suchtfamilien...21
4.2.1 Das Familienmuster der Unentrinnbarkeit...21
4.2.2 Der Umgang mit Konflikten...22
4.2.3 Das Suchtmittel als Organisations- und Regulationsinstrument...22
4.2.4 Die Art der Grenzziehung und Anpassung an Veränderung...23
4.2.5 Der Umgang mit Gefühlen...24
4.2.6 Der Ausdruck der Familiensituation im kindlichen Verhalten...24
4.3 Familienregeln ­ Familienrollen...25
4.3.1
Regeln...25
4.3.2
Rollen...26
4.3.2.1 Exkurs: Das falsche Selbst nach D. W. Winnicott...28
4.3.2.2
Rollenmodelle....28
5. Risikofaktoren im Aufwachsen mit alkoholkranken Bezugspersonen...30
5.1 Die direkten Auswirkungen des Alkoholmissbrauchs...30
5.2 Die indirekten Auswirkungen des alkoholbelasteten Familienumfeldes...31
5.2.1 Disposition zur Suchtentwicklung...31
5.2.2 Disposition zu psychosomatischen Erkrankungen, Angst und Depression...33
5.2.2.1 Angst bewirkt eine Verhaltensänderung...34
5.2.2.2 Angst bewirkt Bindung...34
5.2.2.3 Symbiose verhindert Individuation....36

2
5.2.2.4 Mangelhafte Individuation bewirkt Angst...36
5.2.3
Zusammenfassung und Schlussfolgerung....39
6. Kranke Familien ­ kranke Kinder?...40
6.1 Positive Aspekte einer Kindheit mit alkoholkranken Eltern?...43
7. Resilienz ­ gesunde Entwicklung trotz widriger Umstände...45
7.1 Begriffsbestimmung...45
7.2 Resilienzforschung...46
7.2.1 Resilienz ­ nature or norture...47
7.2.2 Sind resiliente Menschen immun gegenüber dem Schicksal?...49
7.2.3 Resilienz ist ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess...49
7.2.4 Resilienz ist situationsspezifisch und multidimensional...50
7.2.5 Vulnerabilität...51
7.2.6 Risikofaktoren...52
7.2.7 Schutzfaktoren...52
7.2.8 Resilienz... 53
7.2.9 Grenzen des Resilienzkonzepts....53
7.3 Abgrenzung des Resilienzkonzepts gegenüber Coping und Salutogenese...54
7.3.1 Coping ­ Problemlösungsverhalten resilienter Menschen...54
7.3.2
Salutogenese...58
8. Erlernte Hilflosigkeit ­ erlernter Optimismus (M. E. P. Seligman)...60
9. Hilfe für Kinder aus alkoholbelasteten Familien...64
9.1 Suchtprävention...65
9.2 Anforderungen an die Arbeit mit Kindern aus alkoholbelasteten Familien...66
9.3 Ausgangslage einer Arbeit mit Kindern aus alkoholbelasteten Familien...67
9.4 Zielsetzungen der Arbeit mit Kindern aus alkoholbelasteten Familien...68
9.5 Soziale Gruppenarbeit als geeignete Methode zur Unterstützung von Kindern
aus alkoholbelasteten Familien...70
10. Umsetzung der genannten Zielsetzungen in die pädagogische Praxis...72
10.1 ,,Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen aus Familien Suchtkranker" (Balingen)...72
10.1.1 Arbeit mit den Bezugspersonen...74
10.1.2 Arbeit mit den Kindern...75
10.1.3 Arbeit mit den Jugendlichen ... 76
101.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerung...77
10.2 ,,Working with Children of Alcoholics" (USA)...78
10.2.1 Zusammenfassung und Schlussfolgerung...82
10.3 Vergleich der beiden Konzeptionen...83
11. Resümee...83

3
1. Einleitung
In den vergangenen 15 Jahren ist auch im deutschsprachigen Raum ein Bewusstsein dafür
entstanden, dass das Aufwachsen mit alkoholkranken Menschen sich negativ auf die
Entwicklung von Kindern auswirken kann. In den Anfängen der angloamerikanischen
Literatur zu Thema Alkohol und Familie wurden ausgehend von Berichten und Anklagen
so genannter ,,erwachsener Kinder" von Alkoholikern (Adult Children of Alcoholics)
relativ einseitig die Risiken und Gefahren dieses Aufwachsens beleuchtet. Man begann
zwar ein Bewusstsein für die schwierige Ausgangslage dieser Kinder zu entwickeln, es
mangelte aber noch an Lösungsmöglichkeiten für deren Probleme, daher wurde bezüglich
ihrer Situation ein Bild der Ausweglosigkeit gezeichnet.
Heute geht man einen anderen Weg: Das Aufwachsen mit alkoholkranken
Bezugspersonen kann ein Risiko bedeuten, doch das Schicksal dieser Kinder ist nicht
determiniert. Es hat sich erwiesen, dass das Vorhandensein verschiedenster protektiver
und pathogener Faktoren, die sowohl im Kind selbst als auch in seiner Umgebung liegen,
für das Ge- oder Misslingen von Persönlichkeitsentwicklung mit verantwortlich ist. Es
besteht also kein einfacher und linearer Zusammenhang zwischen dem Aufwachsen in
einer Suchtfamilie und der Ausbildung einer eigenen Sucht oder Verhaltensstörung,
obwohl die Risiken dafür um ein Mehrfaches höher sind als bei Kindern aus gesunden
Familien.
Diese neue Perspektive, nämlich von den gesund erhaltenden Faktoren auszugehen, lässt
eine optimistische Sicht auf die Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen zu. Werden
Kinder in ihrer schwierigen Situation unterstützt, indem man ihre Stärken und
Ressourcen fördert und ihnen die Chance gibt, ihr Gefühl für Selbstwirksamkeit zu
stärken, so kann Persönlichkeitsentwicklung trotz widriger Umstände gelingen. Aus
diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit dem Resilienzkonzept und dem Konzept
der Salutogenese viel Platz eingeräumt.
In dieser Arbeit wird wechselweise von alkoholbelasteten, alkoholkranken Familien oder
auch von Suchtfamilien gesprochen. Dies geschieht in Anlehnung an Ehrenfried et al., die
ebenfalls den Begriff Suchtfamilie wählen, obwohl sie in ihrer Konzeption eigentlich
,,nur" Alkoholikerfamilien meinen. Auch in der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus ,,nur"
auf Menschen mit Alkoholsucht. Die Familiendynamik aller Suchtfamilien (illegale
Drogen, Medikamentensucht usw.) ist zwar grundsätzlich ähnlich, aber z. B. aufgrund der
Illegalität der Suchtmittel und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben (Haftstrafen,
soziale Ächtung usw.), ergeben sich unterschiedliche Auswirkungen, auf die hier nicht
eingegangen werden kann.
Weiters ist im Titel vom Aufwachsen mit alkoholabhängigen Bezugspersonen die Rede. Ich
habe diese Formulierung gewählt, weil nicht unbedingt das Zusammenleben mit der
alkoholkranken leiblichen Mutter oder dem alkoholkranken leiblichen Vater für die
gelingende oder gefährdete Entwicklung ausschlaggebend sein muss. Aufgrund der
unterschiedlichsten Familienkonstellationen können Großeltern, Stiefeltern usw. die

4
signifikanten Bezugspersonen für ein Kind sein. Dann sind diese Menschen diejenigen,
die die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes am stärksten beeinflussen.
2. Voraussetzungen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung
Wenn im vorliegenden Zusammenhang die spezifische Situation von Kindern mit
alkoholabhängigen Bezugspersonen und die Auswirkungen dieses Milieus auf die
Entwicklung der Kinder dargestellt werden soll, muss zuerst einerseits beleuchtet werden,
was als gesunde Entwicklung zu verstehen ist, und andererseits, was als gesundes Familienklima
gelten soll, um im Anschluss daran zu formulieren, was als krank machende, die
Entwicklung beeinträchtigende Umgebung verstanden werden soll.
Der frühkindlichen Bindungserfahrung der stabilen, emotionalen Beziehung zu einer
verlässlichen Bezugsperson kommt bei der Suche nach Faktoren für eine gesunde
Persönlichkeitsentwicklung ebenso eine zentrale Bedeutung zu wie der Möglichkeit, sich
aus dem engen Zusammenhang mit der primären Bezugsperson schrittweise zu lösen.
Ein anderer wesentlicher Faktor für gesunde Entwicklung ist darin zu sehen, dass das
Kind über Bezugspersonen verfügt, die es dabei unterstützen, seine altersadäquaten
Entwicklungsschritte zu vollführen.
Ein dritter wichtiger Punkt scheint mir zu sein, dass das Kind Bezugspersonen hat, die
ihm das Gefühl vermitteln, wertvoll und selbstwirksam zu sein.
Anhand der Arbeiten von Erikson und Bowlby möchte ich auf diese wichtigen Merkmale
für die Entwicklung, die sich aus der Interaktion des Kindes mit der Umwelt ergeben,
näher eingehen.
2.1 Identität und Lebenszyklus ­ E. H. Erikson
E. H. Erikson entwickelt seinen Ansatz vor dem Hintergrund der psychoanalytischen
Theorie, erweitert sie allerdings um die soziale Komponente, die in S. Freuds Theorie
weitgehend ausgeblendet bleibt.
Eriksons Theorie der Identitätsentwicklung beinhaltet die Grundannahmen, dass das
Wachstum der menschlichen Persönlichkeit nach einem ,,epigenetischen
Entwicklungsmodell" abläuft und von inneren und äußeren Konflikten begleitet wird. Die
einzelnen Lebensphasen gipfeln in einer Krise, die überwunden werden muss, bevor die
nächste Entwicklungsphase beschritten werden kann. Krise versteht Erikson im
medizinischen Sinn, als Wendepunkt zum Besseren oder Schlechteren
1
. Die
phasenspezifischen Krisen bedeuten für das Kind/den Jugendlichen eine
Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt; erst nach Bearbeitung der jeweiligen
Phase und Überwindung der Krise kann zur nächsten Phase übergegangen werden. Dabei
muss eine Lösung gefunden werden, sonst kehrt das Kind/der Jugendliche immer wieder
an den Punkt der unbewältigten Phase zurück, da sie aufeinander aufbauen und kein Teil
übersprungen werden kann. ,,Jede Phase kommt zu ihrem Höhepunkt, tritt in ihre
1
So hat auch das chinesische Schriftzeichen für Krise sowohl die Bedeutung von Gefahr als auch von Chance.

5
kritische Phase und erfährt eine bleibende Lösung." (Erikson, 1966, zit. nach Abels &
Link, 1989, KE 1&2, 114)
Erikson beschreibt die menschliche Persönlichkeitsentwicklung als Phasen- und Stufenmodell.
Er nennt dabei acht Krisen oder Kernkonflikte in acht Phasen. Jedes Mal, wenn eine
Krisenlösung gefunden ist, entsteht ein Energieüberschuss, der dem Individuum
ermöglicht, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Die aus der Bewältigung der Krise
bezogene Stärke muss sich in der nächsten Phase bewähren. ,,Nach diesem Modell geht
jede Stärke, die aus einer erfolgreichen Krisenlösung gewonnen wurde, in alle späteren
Stärken ein, erfährt also eine qualitative Aufwertung." (Abels & Link, 1989, KE 1&2,115)
In jeder der acht Phasen erwirbt das Kind eine von acht Tugenden.
Neben der Grundannahme des menschlichen Persönlichkeitswachstums in Phasen geht
das Modell von Erikson von der Annahme aus, dass die Entwicklung sich als ,,Stufenfolge
signifikanter Wechselwirkungen" zwischen Individuum und Umwelt vollzieht (vgl. Abels &
Link, 1989, KE 1&2, 116). In acht Stufen, parallel zu den acht Phasen, weitet sich der
Kreis der Bezugspersonen immer weiter aus.
Anders als in der klassischen psychoanalytischen Theorie, die sich verstärkt mit den
menschlichen Schwächen befasst, fokussiert die Entwicklungs- und Sozialisationstheorie
Eriksons auf die in der psychoanalytischen Theorie nur schlecht beleuchteten Stärken des
Menschen. ,,Das menschliche Wachstum soll hier unter dem Gesichtspunkt der inneren
und äußeren Konflikte dargestellt werden, welche die gesunde Persönlichkeit
durchzustehen hat und aus denen sie sich immer wieder mit einem gestärkten Gefühl
innerer Einheit, einem Zuwachs an Urteilskraft und der Fähigkeit hervorgeht, ihre Sache
,gut zu machen und zwar gemäß den Standards derjenigen Umwelt, die für diese
Menschen bedeutsam ist." (Erikson 1966, zit. nach Abels & Link, 1989, KE 1&2, 115)
So findet sich in Eriksons Theorie ein erster Anknüpfungspunkt, der für das vorliegende
Thema wesentlich ist: Menschen haben individuelle Stärken, mit denen sie schwierige
Situationen, jeder auf seine spezielle Weise, zu bewältigen versuchen. Manches gelingt
besser, manches weniger gut. Wird eine Herausforderung nicht genügend gut bewältigt,
kehrt der Mensch immer wieder zu dieser Aufgabe zurück, bis er zu einer
befriedigenderen Lösung kommt. Darin liegt eine Chance, die auch pädagogisch genützt
werden kann.
Da die vorliegende Arbeit sich mit der problematischen Situation von Kindern und
Jugendlichen befasst, liegt auch der Fokus auf den ersten fünf Phasen von Eriksons
Stufenmodell, die im Folgenden dargestellt werden.
2.1.1
Urvertrauen gegen Misstrauen
In der ersten Phase, die der Säugling durchlebt, einverleibt er die Welt, zuerst passiv,
später aktiv. ,,Die Beziehung zwischen dem Säugling und der Mutter ist der Prototyp der
Beziehung zur Welt." (Abels & Link, 1989, KE 3&4,10) Der Säugling erlebt sich in
vollkommener Einheit mit der Welt. Freud beschreibt diesen Zustand, in dem der

6
Säugling die Quellen der lustvollen Bedürfnisbefriedigung in sich selbst verortet, als
,,primären Narzissmus".
Erst mit sechs Monaten beginnt der Säugling die Mutter als ein getrennt von ihm
bestehendes Objekt wahrzunehmen. Die Zeit dieser Erfahrung, dass ,,Ich" und ,,Außen"
getrennt voneinander bestehen, gleicht gewissermaßen der Vertreibung aus dem Paradies.
Die gelungene Bewältigung dieser Erfahrung stellt die erste Entwicklungsaufgabe des
Menschen dar. Das Kind kann in dieser heiklen Phase bei verlässlicher, einfühlsamer
Bedürfnisbefriedigung vonseiten der Bezugsperson die Erfahrung machen, dass es
vertrauen kann, dass es nach und nach zu der Überzeugung gelangt, in der Welt
aufgehoben und geborgen zu sein, obwohl es ein von der Mutter getrenntes Wesen ist.
Die Überwindung der Krise kann als gelungen angesehen werden, wenn das Kind auf die
emotionale Fürsorge der Mutter vertraut. Das Ausmaß des Vertrauens hängt nach Abels
& Link weniger von der Quantität der emotionalen Zuwendung als von der Qualität der
Beziehung ab. ,,Die Eltern müssen imstande sein, vor dem Kind eine tiefe, fast
körperliche Überzeugung zu repräsentieren, dass das was sie tun, einen Sinn hat."
(Erikson, 1966 zit. nach Abels & Link, 1989, KE 3&4,12)
2
,,Es ist der Grundzug der
Verlässlichkeit und Widerspruchsfreiheit, der beim Kind Urvertrauen befördert."
(Erikson, 1966 zit. nach Abels & Link, 1989, KE 3&4,12) Das Kind lernt mit Bewältigung
der ersten Phase ,,sozial-optimistisch" zu sein und nach vorn in Richtung Zukunft zu
schauen.
Die Tugend, die Erikson dieser Phase zuordnet, nennt er Hoffnung oder auch Zuversicht.
,,Hoffnung hat die Funktion, ein grundsätzliches Vertrauen in die Welt und sich selbst
über alle Unsicherheiten hinweg zu erhalten: Hoffnung ist sozusagen reine Zukunft."
(Erikson, 1988 zit. nach Abels & Link, 1989, KE 3&4,21) Hat ein Kind gelernt, Vertrauen
in die Welt zu haben, ist es auch in der Lage zu verzichten und enttäuschte Hoffnungen
besser zu ertragen.
Auf der mehr oder weniger gelungenen Bewältigung dieser Krise bauen alle
nachfolgenden Entwicklungsschritte auf.
2.1.2
Autonomie gegen Scham und Zweifel
In der nächsten, das Kleinkindalter kennzeichnenden Phase geht es um Fähigkeiten des
Festhaltens und Hergebens.
Die Entscheidung für das eine oder andere hängt vom wachsenden Willen des Kindes in
diesem Alter ab. Das Kind beginnt mit dem Verfügen über seine Körperfunktionen eine
Ahnung von Autonomie
3
zu bekommen. Unter Umständen wird diese Phase zu einer
,,Kraftprobe" zwischen Kind und Umwelt. (Das hängt sehr vom Charakter des Kindes
und den Anforderungen seiner Bezugspersonen ab.) Das Kind sucht in dieser Phase eine
Lösungsmöglichkeit, um zu einem Gefühl der Kontrolle über seinen Körper zu gelangen,
sich beherrschen zu lernen, aber dabei nicht die Autonomie über seine Körperfunktionen
abgeben zu müssen. Die Reinlichkeitserziehung wird in dieser Phase zum Feld der
Erprobung von Festhalten und Loslassen.
2
Diese Annahme Eriksons findet sich auch in Antonovskys Salutogenesekonzept wieder.
3
Autonomie gilt als zentraler Faktor bei der Herausbildung von Resilienz.

7
Je nach der Reaktion der Bezugspersonen kann das Kind sich als jemand, der seine Macht
als befriedigend empfindet, erleben, oder als jemand, dem aufgezwungen wird, was er
gern loswerden möchte, und weggenommen, was er behalten will. Diese Ignoranz dem
kindlichen Willen gegenüber (vielleicht, weil Willen als Eigenwilligkeit interpretiert wird)
stürzt das Kind in Gefühle von Scham und Zweifel.
Wille, die Tugend der zweiten Phase, ,,bedeutet die ungebrochene Entschlossenheit,
sowohl Wahl wie Selbstbeschränkung frei auszuüben, trotz der unvermeidlichen
Erfahrung von Scham und Zweifel in der Kindheit" (Abels & Link, 1989, KE 3&4, 28).
,,Die Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen Selbstüberschätzung und Verzagtheit
ist heikel. Der Erfolg hängt auch davon ab, wie sicher sich das Kind seiner selbst sein
kann. Dies wiederum ist die Folge des Urvertrauens und Ergebnis der fördernden und
fordernden Lebensumstände." (Abels & Link, 1989, KE 3&4, 33)
2.1.3
Initiative gegen Schuldgefühl
Im 3. und 4. Lebensjahr erobert das Kind die Welt. Es dringt sowohl körperlich als auch
geistig in sie ein: Es kann jetzt sicher laufen und bewegt sich geschickt auf die Welt zu.
4
Es spricht und nützt dieses neue Werkzeug der Sprache, um sich in die Welt
hineinzufragen wie der Besucher des Schlaraffenlandes sich erst einmal durch eine Mauer
aus Grießbrei essen muss, um ins Schlaraffenland zu gelangen. (M. Mahler spricht in
diesem Zusammenhang von einer Liebesaffäre des Kindes mit der Welt.) Das Kind fühlt
sich in dieser Phase mächtig, so mächtig, dass es sich sogar zutraut, mit dem
gleichgeschlechtlichen Elternteil um die Gunst des anderen Elternteils zu rivalisieren.
Doch gleichzeitig lauert hinter diesen Allmachtsfantasien die elementare Angst vor der
Rache des Rivalen.
In dieser Phase sucht das Kind eine Lösung, um von seinen mächtigen Schuldgefühlen
nicht erdrückt zu werden und sich trotzdem groß und großartig zu fühlen. Es sucht einen
Weg, um ein in die Welt hineinschreitendes Kind sein zu können, ohne sich dafür
schuldig zu fühlen. Die psychoanalytische Theorie spricht in diesem Fall von der
Überwindung des ödipalen Konfliktes, welche als gelungen zu betrachten ist, wenn das
Kind an der Macht des Rivalen (der gleichgeschlechtliche Elternteil) nicht zerbricht,
sondern seine Maßstäbe und somit seine Macht verinnerlicht. Im Prinzip wählt das Kind
einen Abwehrmechanismus (die Identifikation mit dem Aggressor) als Problemlösung.
Diese Krise ist bewältigt, wenn das Kind seine vitalen Energien nach draußen auf den
größer werdenden Kreis der Bezugspersonen ausweitet und zielstrebig seinen Weg geht.
Zielstrebigkeit ist die Tugend, die Erikson dieser Phase zuordnet. ,,Zielstrebigkeit bedeutet
also den Mut, als wertvoll erkannte Ziele ins Auge zu fassen und zu verfolgen,
unbehindert durch die Niederlagen der kindlichen Phantasie, durch Schuldgefühl und die
lähmende Angst vor Strafe." (Abels & Link, 1989, KE 3&4, 43)
2.1.4
Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl
4
Wie Hänschen Klein im gleichnamigen Kinderlied: mit den Auswirkungen des verhinderten
Entwicklungsschrittes Hänschens in die Welt zu laufen, beschäftigt sich Abschnitt 5.2.2.2.

8
Die Zielstrebigkeit der vorhergehenden Phase möchte sehr bald die Fantasiewelt des
Spiels verlassen und findet neue Herausforderungen in der Welt der Realität, in den
Anforderungen der Schule. Das Kind will in diesem Alter nicht mehr bloß spielen,
sondern etwas ,,Nützliches" produzieren, so wie es Erwachsene machen. Es möchte
etwas können und mit Fleiß vollenden.
Erikson nennt die Tugend, die dieser Phase entspringt, Tüchtigkeit. Tüchtigkeit vermittelt
dem Kind das Gefühl der Selbstachtung und der Selbstwirksamkeit. In einer Umgebung
aufzuwachsen, in der das Kind die Möglichkeit hat, etwas Wertvolles zu leisten, ist für die
Ausbildung von Resilienz, von Widerstandsfähigkeit, von größter Wichtigkeit. Erikson
betont den hohen Stellenwert der Arbeit für die Entwicklung der Persönlichkeit. Der
Gedanke, dass Arbeit wichtig für die Identitätsentwicklung ist, findet sich auch bei Marx:
,,Zur Bewusstwerdung des Individuums gehört, dass es sich der Wirkung seiner Kräfte
bewusst wird." (vgl. Marx, bei: Abels & Link, 1989, KE 3&4, 47)
2.1.5
Identität gegen Identitätsdiffusion
Die Adoleszenz bezeichnet Erikson als natürliche Periode der Wurzellosigkeit. ,,Wie der
Trapezkünstler muss der junge Mensch in der Mitte heftiger Bewegtheit seinen sicheren
Griff an der Kindheit aufgeben und nach einem festen Halt am Erwachsenen suchen. Ein
atemloses Intervall lang hängt er von einem Zusammenhang zwischen Vergangenheit und
Zukunft und von der Verlässlichkeit derer ab, die er loslassen muss, und derer, die ihn aufnehmen
werden." (Erikson, 1964, zit. nach Abels & Link, 1989, KE 3&4,55; Hervorhebung K. C.)
Auch wenn die Eltern diejenigen sind, gegen die der Jugendliche augenscheinlich
rebelliert, ist ihre Verlässlichkeit und Stabilität für die gelungene Bearbeitung dieser Phase
enorm wichtig. Der Jugendliche muss in dieser Lebensphase erproben, ob die bis dahin
erworbenen Krisenlösungen tragfähig sind. Die Steuerungsformen der Hoffnung, des
Willens, der Zielstrebigkeit und der Tüchtigkeit müssen sich nun verstärkt unter realen
Bedingungen als Weisen des Erfahrens, des Verhaltens und der inneren Zustände ­ des
Empfindens ­ bewähren.
Es ist eine bewegte Zeit für den jungen Menschen, der nicht mehr Kind, aber noch nicht
Erwachsener ist. Es ist ein Lebensabschnitt, in dem der Jugendliche besonders
angewiesen ist auf stabile Bezugspersonen, mit deren Welt er sich auseinandersetzen
kann, auf Bezugspersonen, die sein Ringen um eine authentische Identität aushalten
können und ihm Sicherheit und Klarheit vermitteln ­ eine schwierige Zeit nicht nur für
den jungen Menschen selbst, sondern auch für die Bezugspersonen, die es u. U. als
persönliche Ablehnung empfinden, dass der Jugendliche sie als Hintergrund braucht, von
dem er sich abzuheben sucht.
5
Erikson betont, dass die Ich-Identität nicht einfach als Akkumulation der
phasenspezifischen Tugenden zu verstehen ist, sondern ,,dass der Wendepunkt zur
eigentlichen Bildung der Ich-Identität dort zu verorten ist, wo die Brauchbarkeit der
kindlichen Identifikationen endet" (Abels & Link, 1989, KE 3&4, 60). Die Ablösung von
den Bezugspersonen ist also ein wesentlicher Bestandteil der gelungenen
Identitätsentwicklung. Der Jugendliche muss die bisher erworbenen Identifikationen
infrage stellen, ein Vorgang, der von großer Verunsicherung bis hin zum Gefühl der
5
Auf das Problem verhinderter Ablösung wird ausführlich im Abschnitt 5.2.2.4 eingegangen.

9
Auflösung des Selbstgefühls gehen kann. Erikson beschreibt dieses Gefühl der
Zersplitterung des Selbstbildes als ,,Diffusion", die dazu führt, dass der Jugendliche sich
zurückzieht und sich gegenüber seiner Umwelt abgrenzt.
Der Jugendliche hat in dieser Phase ein hohes Bedürfnis nach ,,Totalität": etwas ist
entweder zu 100 Prozent gut oder zu 100 Prozent böse, er hat fanatische
Wahrheitsansprüche und tiefe Gefühle der Fairness und Solidarität. Erikson nennt die
Tugend, die mit dieser Lebensphase einhergeht, Treue. Diese Treue bezeichnet einerseits
eine Verpflichtung nach außen (Solidarität und Loyalität) und andererseits eine
Verpflichtung nach innen (Authentizität). Ist das Gleichgewicht zwischen diesen
Verpflichtungen gestört, so kann der Jugendliche nicht zu einer befriedigenden Lösung in
dieser Phase kommen.
6
,,Mit dem Ausgleich zwischen dem, was die Umstände aus einem gemacht haben, und
dem, was man selbst aus den Umständen zu machen gedenkt, ist die Krise der
Adoleszenz markiert. Eine gelungene Krisenlösung am Ende dieser Phase führt zu einer
sich selbst vertrauenden Identität." (Abels & Link, 1989, KE 3&4, 77)
2.2 Selbstbewusstsein, Selbstachtung und Selbstwirksamkeit
Selbstbewusstsein erwächst nach Seligman, ,,aus einem kindlichen Sinn für Bewältigung
seiner Umgebung" (Seligmann, 1995, 143). Hat das Kind die Möglichkeit, die Reaktionen
der Umgebung in Abhängigkeit von seinen Handlungen verstehen zu können, kann es
Erfahrungen effektiver Kontingenzen machen, dann kann es Kompetenzen, also
Selbstbewusstsein ausbilden.
Eriksons Stufenmodell der menschlichen Entwicklung baut auf der Annahme auf, dass
Menschen Herausforderungen meistern müssen, um an der erfolgreichen Lösung dieser
Anforderung wachsen zu können. Je nach Entwicklungsstufe und Alter stellen sich dem
Kind verschiedene Hindernisse in den Weg, die es bewältigen muss. Schafft es die
Aufgabe, so geht es mit einem gestärkten Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten und dem
zuversichtlichen Gefühl, es auch mit anderen Hürden aufnehmen zu können, aus der
Situation hervor. Erlebnisse, die dem Kind das Gefühl vermitteln, es schaffen zu können,
die also Erfolg möglich machen, stärken sein Gefühl für Selbstwirksamkeit und das Kind
hat die Möglichkeit, Selbstachtung zu entwickeln, ein wesentlicher Faktor bei der Ausbildung von
Resilienz.
7
Ob Aufgaben gelingen oder nicht und ob das Kind das Gefühl hat, etwas zu
bewerkstelligen oder ein hilfloses, machtloses Geschöpf zu sein, hängt stark von der
Lenkung der Aufgaben durch die Bezugspersonen ab. Die Bezugspersonen konfrontieren
das Kind auch mit Frustrationen, ,,aber mit Frustration und Konflikten, die gelöst werden
können" (Seligmann, 1995, 139). Die Chance, sich als selbstwirksames Geschöpf
empfinden zu dürfen, liegt für jedes Kind an der schmalen Grenze zwischen elterlicher
Forderung und Überforderung bzw. Unterforderung.
6
Auf Solidarität und Loyalität gegenüber der Familie als die Individuation störender Faktor wird im Abschnitt
4.2 noch näher eingegangen.
7
Die Ausbildung von Resilienz wird im Abschnitt 7 ausführlich behandelt.

10
,,Das Gefühl von Selbstwirksamkeit beinhaltet die subjektive Überzeugung, selbst etwas
bewirken und ändern zu können. Die Annahme, selbst Kontrolle über die jeweilige
Situation zu haben, mit seinen eigenen Handlungen die Situation beeinflussen zu können,
und die Zuversicht, in stressreichen Situationen nicht hilflos zu sein, gehören ebenso dazu
wie das Gefühl, kompetent im Umgang mit Schwierigkeiten zu sein." (Skof, 2003, 29)
Kinder, die die Erfahrung gemacht haben, etwas bewirken zu können, erwarten auch bei
zukünftigen, schwierigeren Aufgaben, dass sie diese lösen können werden. Doch sie
gehen dabei nicht unrealistisch vor: Sie wählen sich Aufgaben und Situationen aus, die zu
bewältigen scheinen und ihr Selbstwertgefühl weiter steigern. Menschen, die sich auf ihre
Selbstwirksamkeit verlassen, schaffen sich also Situationen, die ihnen diese
Selbstwirksamkeit bestätigen. Im Gegensatz dazu bringen sich Menschen, denen die
Hoffnung fehlt, immer wieder in Situationen, die ihnen bestätigen, dass sie in der
Opferrolle gefangen sind (Selffullfilling Prophecy). ,,Die Erfahrung, eine Krise selbst
gemeistert zu haben, sollte Selbstvertrauen im Sinne des Vertrauens in die eigenen
Handlungsmöglichkeiten stärken. Der Aufbau eines Repertoires verschiedener
Bewältigungsstrategien würde im Sinne einer Stressimmunisierung wirken." (Montada, zit.
nach Göppel, 1997, 286)
Die Forderungen, die sich aus dem bisher Gesagten für die pädagogische Praxis ergeben,
sind allerdings nicht in einem einfachen Rezept zusammenzufassen: Resilienz ist nicht
einfach herzustellen. ­ Rutter meint dazu: ,,Ich denke, die Qualitäten, die wir den Kindern
wünschen, ist erstens ein Gefühl von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit ­ ein Gefühl
sowohl vom eigenen Wert sowie
ein Gefühl, dass man mit den Dingen klar kommt, dass
man kontrollieren kann, was mit einem passiert. Eines der auffälligsten Merkmale von
Problemfamilien ist, dass sie das Gefühl haben, gänzlich vom Schicksal abhängig zu sein,
welches ihnen immer übel mitspielt. Eine wichtige Qualität ist also das Gefühl, tatsächlich
Herr des eigenen Schicksals zu sein." (Rutter, zit. nach Göppel,1997, 286 f.)
2.3 Bindungsforschung ­ J. Bowlby
In der Bindungstheorie von John Bowlby und ihrer späteren Erweiterung durch seine
Mitarbeiterin Mary Ainsworth wird auf einen Zusammenhang zwischen psychischen
Störungen und belastenden familiären Verhältnissen hingewiesen. Anders als in der
klassischen psychoanalytischen Theorie, die zwar ebenfalls den Ursprung von
Persönlichkeitsstörungen in frühkindlichen Erfahrungen verortete, allerdings im Konflikt
libidinöser und aggressiver Triebenergien oder angeborener Urfantasien vermutete, ging
es Bowlby um die realen Lebenserfahrungen der Kinder, die er als maßgeblich für die
Ausgestaltung der kindlichen Fantasieszenarien sah. Die liebevolle, verlässliche und
kontinuierliche Beziehung zu einer Bezugsperson wird bei Bowlby als zentrale
Vorraussetzung für die gesunde psychische Entwicklung des Kindes postuliert (vgl.
Göppel, 1997, 151).
Die zentralen Merkmale der Bindungstheorie sind (nach Göppel, 1997, 153):
· Das Bindungsverhalten hat den Sinn, Nähe zu einer Sicherheit verbürgenden
Bindungsfigur herzustellen oder aufrechtzuerhalten.
· Das Bindungsverhalten steht im Wechselspiel zu einem anderen elementaren
Antriebssystem des Menschen ­ dem Explorationsverhalten. Wird durch

11
Bedrohung von außen das Bindungsverhalten aktiviert, wird das
Explorationsverhalten unterbrochen (vgl. Abschnitt 5.2.2.2).
· Das Bindungsmotiv ist nicht nur während der Kindheit von Bedeutung, sondern
stellt ein lebenslanges Thema dar. Es hat die Funktion, Nähe und Vertrautheit
herzustellen und emotionale Sicherheit zu vermitteln.
· Das Bindungsverhalten des Kindes kann als Ausdruck eines instinktgesicherten
Verhaltenssystems betrachtet werden, das darauf abzielt, eine Homöostase im
Bereich des eigenen Empfindens von Sicherheit und Wohlbefinden und damit in
der Nähe-Distanz-Regulation mit der bedeutenden Bindungsperson
aufrechtzuerhalten.
· Die frühkindlichen Bindungserfahrungen haben maßgeblichen Einfluss darauf, wie
das erwachsene Individuum Bindungen erlebt, da diese frühen Erfahrungen in
Form von Arbeitsmodellen (,,inner working models") verinnerlicht werden. Diese
Modelle enthalten generalisierte Vorstellungen über Verlässlichkeit, Verfügbarkeit
und Wohlwollen der Bindungspartner, als auch Überzeugungen von Vertrauens-
und Liebenswürdigkeit der eigenen Person, sowie von der prinzipiellen
Möglichkeit, Einfluss auf das Verhalten der bedeutenden Bezugsperson nehmen
zu können.
Resilienz bedeutet für Bowlby keineswegs Unverwundbarkeit, sondern ,,die Fähigkeit
oder Unfähigkeit, anderen gegenüber Gedanken und Gefühle auszudrücken und deren
Trost und Unterstützung zu suchen, welche sich als entscheidende Variable erweist.
Diejenigen, die in ihrer Kindheit unter schwierigen Umständen mit einer
verständnisvollen Antwort rechnen konnten, werden auch in gegenwärtigen Krisen auf
etwas ähnliches hoffen, während diejenigen, die in ihrer Kindheit Zurückweisung und
Verachtung erfuhren, auch im Erwachsenenleben etwas ähnliches erwarten werden, wenn
sie in Belastungssituationen geraten" (Bowlby, zit. nach Göppel, 1997, 157). Um Resilienz
entwickeln zu können, müssen Kinder gemäß der Bindungstheorie ein Mindestmaß an
Zuwendung und empathischer Betreuung erfahren haben. Sind die primären
Bezugspersonen dazu nicht in der Lage, so ist es auch möglich, dass andere signifikante
Erwachsene diese Aufgabe übernehmen.
Betrachtet man diese Aussage Bowlbys im vorliegenden Zusammenhang, nämlich der
Situation von Kindern in alkoholbelasteten Familien, so kann man sie als Hinweis darauf
verstehen, wie wichtig gerade für diese Kinder verlässliche, liebevolle Bezugspersonen
außerhalb der Familie für die Persönlichkeitsentwicklung und Sozialentwicklung dieser
Kinder sind. Personen die das Kind außerhalb der Familie unterstützen, können
Verwandte genauso wie Lehrer und Berater sein.
Grossmann und Grossmann (vgl. Göppel, 1997, 181) konnten mithilfe empirischer
Studien Zusammenhänge zwischen frühkindlicher Sozialerfahrung, daraus resultierenden
frühen Beziehungsmustern und späteren Problembewältigungsstrategien darstellen.
Betrachtet man das kindliche Bindungssystem als ,,instinktiv verankerten Mechanismus
der Schutzsuche" (ebd.) bei potenziellen Gefahren, so kann man aus der Qualität der
Bindung auf die Qualität des ,,Stressmanagements" schließen. Unsicher gebundene
Kinder, die in der Beziehung zur primären Bezugsperson erfahren, dass ihr Weinen ihre
Bezugsperson ärgerlich oder abweisend stimmt, statt sie zu Zuwendung zu bewegen,

12
lernen ihre Bedürfnisse zu verbergen. Sie tun so als ob sie die Zuwendung gar nicht
brauchen.
Sichere Bindung kann nach Grossmann und Grossmann zur Ausbildung von Resilienz
beitragen, da sie emotionale Integrität und Kohärenz herstellt. ,,Emotionale Integrität und
Kohärenz ist die Fähigkeit, negative und positive Gefühle auf ihre externen Ursachen
zurückzuführen, als gegeben zu akzeptieren und die erlebten Konflikte durch aktives,
wirklichkeitsbezogenes Handeln und Kommunizieren, z. B. indem man um Hilfe bittet,
zu lösen." (Grossmann u. a. zit. nach Göppel, 1997, 182) Dieses Bindungsgefühl als
internalisiertes Ordnungsgefüge im Menschen kann als Grundlage des Vertrauens in das
soziale Miteinander, die eigenen Fähigkeiten und die Zuversicht, dass alles gut gehen wird,
interpretiert werden. Diese Annahmen sind verwandt mit dem Konzept der Salutogenese
von Antonovsky und können als das Gegenteil dessen, was Seligman als ,,erlernte
Hilflosigkeit" beschrieb, bezeichnet werden (vgl. Göppel, 1997, 182).
Dennoch kann auch bei der frühkindlichen Bindungsqualität nicht von einer Prägung im
Sinne eines determinierenden Faktors für das restliche Leben ausgegangen werden:
Sichere Bindung im ersten Lebensjahr ist ebenso keine Garantie für eine geglückte
Entwicklung wie auch unsichere Bindung nicht zwangsläufig zur Verhaltensstörung führt.
,,Sichere Bindung an die primäre Bezugsperson kann nicht das alleinige Kriterium für eine
gesunde psychische Entwicklung sein." (Nuber, 1995, 60, Hervorhebung K. C.)
Darüber hinaus ist eine starke, sichere Bindung ein Schutzfaktor in der frühen Kindheit,
die nach Nuber ihre Schutzfunktion im Erwachsenenalter aber auch verlieren kann.
Nuber interpretiert dabei sichere Bindung aber eher als Verwöhnung, die den
Heranwachsenden daran hindert, selbstverantwortlich zu handeln und seine
Frustrationstoleranz herabzusetzen. ,,Ein kleines Mädchen, das in Boston heranwächst
und eng an seine Mutter gebunden ist, die ihm Passivität, Abhängigkeit, Unterdrückung
intellektueller Neugier und übertriebene sexuelle Zurückhaltung nahe bringt, wird
Eigenschaften besitzen, die für Frauen im Amerika von heute nicht adaptiv sind." (Kagan,
J. zit. nach Nuber, 1995, 61) Ich sehe allerdings die Gefahr übertrieben starker Bindung
nicht darin, dass das Kind zu sehr verwöhnt wird und daher als erwachsene Person Strategien
aufweist, die handlungshemmend sind, sondern dass übertrieben starke Bindung zur
falschen Zeit entwicklungshemmend sein kann. Ebenso schädlich wie mangelnde Bindung
zu seiner primären Bezugsperson für ein Kleinkind sein kann, kann eine zu starke
Bindungsaufforderung an einen Jugendlichen sein, der sich aufgrund seines
Entwicklungsalters von den Bezugspersonen ablösen muss. Die Bindungsstärke ist
demnach nur ein Kriterium für Resilienz, wenn sie synchron zum Entwicklungsalter des
Menschen erfolgt, andernfalls kann sie genau das Gegenteil bewirken (vgl. Abschnitt
5.2.2.3 und 5.2.2.3).
2.4 Einfluss des individuellen Temperaments auf das Gelingen der Bindung
Die Bindungsforschung rückt die Wichtigkeit der Bezugspersonen für die Gestaltung der
Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind und dessen gesunde Entwicklung des
Kindes in den Vordergrund.
Damit verbunden ist allerdings die Gefahr der Annahme einer omnipotenten Rolle der
Eltern bei der Herausbildung der kindlichen Persönlichkeit. Diese Annahme steht im

13
Gegensatz zur heute allgemein verbreiteten Überzeugung, ,,dass das Kind selbst ein
wichtiger und aktiver Agent in der Schöpfung seiner eigenen Umgebung ist" (Chess, zit.
nach Göppel, 1997, 227). Auch Alan Sroufe betont die aktive Rolle des Kindes beim
Gelingen von Bindung.
Stella Chess und Alexander Thomas begleiteten beginnend in den 1950er-Jahren in einer
groß angelegten Longitudinalstudie 133 Menschen vom Säuglingsalter bis ins junge
Erwachsenenalter und dokumentierten ihre Entwicklungsverläufe. Die ,,New York
Longitudinal Study" wird als Ausgangsstudie der modernen Temperamentsforschung
gesehen. Sie untersuchte unterschiedliches Temperament der Kinder, die Kontinuität des
Temperaments im Entwicklungsverlauf und die Auswirkungen des Temperaments auf die
Persönlichkeitsentwicklung. Temperament definieren Chess und Thomas als ,,die Art des
Verhaltens eines Individuums" (Chess/Thomas, zit. nach Göppel, 1997, 229) also wie
etwas gemacht wird ­ im Gegensatz zu was, wie gut oder warum etwas getan wird. Die
Temperamentsforschung untersucht die menschlichen Verhaltensstile, die sich aus neun
verschiedenen Temperamentsdimensionen hochkomplex zu einem typischen Muster
zusammensetzen. Chess und Thomas identifizierten aufgrund ihrer Untersuchungen drei
Temperamentsprofile, sie sprechen von ,,einfachen", ,,schwierigen" und ,,langsam
auftauenden" Kindern. Dabei betonen sie ausdrücklich, ,,dass, während bestimmte
Verhaltensmerkmale und -muster eine wichtige Rolle bei der Genese von
Verhaltensstörungen in der Kindheit spielen, das Temperament als solches keine
psychischen Störungen hervorbringt. Vielmehr resultiert die abweichende Entwicklung
aus der dissonanten Interaktion zwischen dem Kind mit seinen gegebenen Merkmalen
und den bedeutsamen Aspekten seiner familiären und außerfamiliären Umwelt.
Bestimmte temperamentsbedingte Reaktionsweisen mögen ein Risiko für das Kind
darstellen, indem sie es ungewöhnlich verwundbar für Stress machen. Aber
Verwundbarkeit bedeutet nicht Unausweichlichkeit" (Chess, zit. nach Göppel, 1997, 234).
Umgekehrt kann man daraus auch schließen, dass bestimmte temperamentsbedingte
Reaktionsweisen die Chance bieten, mit Stress besser umgehen zu können als andere. Auch
bei E. Werner wird das kindliche Temperament als ein schützender Faktor für die
kindliche Entwicklung neben Schutzfaktoren in der Familie und der Umgebung genannt.
So ist damit zu rechnen, dass ein Kind mit einfachem Temperament in einer
problembelasteten Familie eher positive, freundliche Reaktionen befördern kann und so
Zuwendung und emotionale Nahrung evozieren kann, die einem Kind mit schwierigem
Temperament in der gleichen Situation verwehrt blieben.
Die Erkenntnisse der Bindungsforschung können ­ auch wenn sie teilweise im
Widerspruch zueinander zu stehen scheinen (vgl. Göppel, 1997, 233) ­ durch die der
Temperamentsforschung ergänzt werden, da die Qualität und das Gelingen der Bindung
nicht einseitig von der Bezugsperson ausgeht, sondern Ausdruck eines komplexen
Ineinandergreifens des kindlichen Temperaments und des Eingehens darauf vonseiten der
Bezugsperson ist. Die Klassifikationen der traditionellen Bindungsforschung in ,,sicher",
,,unsicher", ,,unsicher-ambivalent" und ,,unsicher-vermeidend" gebunden, können
teilweise durch Unterschiede im kindlichen Temperament verursacht sein.
Chess und Thomas verorten in der ,,Passung" (Goodness-of-fit) zwischen kindlichem
Temperament und sozialer Umgebung den Grund für das Gelingen von gesunden
Entwicklungsverläufen. Sind die ,,erzieherische Haltung, Erwartungen, Ansprüche der

14
Umgebung verträglich (...) mit den individuellen Möglichkeiten, Fähigkeiten und
Temperamentsmerkmalen des jeweiligen Kindes", (Göppel, 1997, 235) so ist die Passung
gelungen. Erst wenn ausgeprägte Diskrepanzen zwischen Temperament und Umgebung
vorliegen, besteht nach Chess und Thomas die Gefahr einer Fehlentwicklung (ebd.).
2.5 Gesundes Familienklima ­ krank machendes Familienklima
Gelingende Individuation ist laut dem bisher Gesagten von der Interaktion mit einer
gesunden Umgebung abhängig. Diese Umgebung muss verlässlich sein, Schutz und die
Möglichkeit bieten, sich mit den altersadäquaten Entwicklungsaufgaben
auseinandersetzen zu können. Die geglückte Auseinandersetzung mit der Umwelt und die
gelungene Bewältigung von Problemen bewirkt beim Kind ein Gefühl von
Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen.
Doch um sich mit Entwicklungskrisen auseinandersetzen zu können, braucht es
Bezugspersonen, die dem Kind positive Erfahrungen ermöglichen. In Suchtfamilien sind
die Bezugspersonen aber so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie dem Kind den
,,Rücken" für seine Krisenbewältigung nicht ,,freihalten", sondern ihm im Gegenteil sogar
noch eigene Probleme aufbürden.
Timmen Cermak listet die Merkmale einer gesunden Familie auf und stellt sie den
Merkmalen einer durch elterlichen Alkoholismus gestörten Familie gegenüber (siehe
nächste Seite). Wesentliche Merkmale, die als Voraussetzung für gesundes Aufwachsen
gelten, sind demnach in der durch Alkoholabhängigkeit gestörten Familie nicht
vorhanden. So werden in der Theorie von Erikson genauso wie in der Bindungstheorie
von Bowlby z. B. die Merkmale Sicherheit, Beständigkeit und emotionale Präsenz der
Bezugspersonen als wesentliche Grundlagen für gelingende Persönlichkeitsentwicklung
genannt. Auch R. Spitz betonte, ,,dass (...) Hinwendung zur äußeren Welt, ein
Mindestmaß an emotionaler Sicherheit voraussetzt" (Göppel, 1997, 93). Da diese
Faktoren in alkoholbelasteten Familien nicht oder nur partiell vorhanden sind, können die
Kinder kein Vertrauen zur Welt und damit gleichzeitig zu sich selbst aufbauen. Sie
reduzieren ihre Ansprüche und schreiten nicht in dem Maße in die Welt aus, wie es ihrem
Alter entsprechen würde.
Um sich und ihr wahres Selbst zu schützen, konstruieren sie ein falsches Selbst,
übernehmen eine rigide Rolle. Darauf gehe ich dann im Abschnitt 4.3.2 genauer ein.

15
Charakteristiken von
gesunden Familien:
Sicherheit
Offene Kommunikation
Eigenverantwortlichkeit
Individualisierte Rollen
Beständigkeit
Respektierung der Privatsphäre
Konzentrierte Aufmerksamkeit
(zeitlich/qualitativ)
Emotionale Präsenz
Störungen verursacht durch
elterlichen Alkoholismus:
· Emotionale Unverfügbarkeit der Eltern
· Kontrollverlust der Eltern
· Unfähigkeit, Kinder vor Gefahren zu
schützen
· Direkter physischer, sexueller,
emotionaler Missbrauch
· Geheimnisse des Friedens wegen
· Fassade der Normalität nach außen
· Kinder werden zu Vertrauten
· Limitierte Selbst-
regenerierungsmöglichkeiten
· Bedürfnisse des Abhängigen sind
vorrangig
· Probleme anderer sind wichtiger als die
eigenen
· Familienbedürfnisse diktieren Rollen
· Rollen werden starr, besonders in
Stresssituationen
· Chaos/Willkür/Unvorhersehbarkeit
· Auflösung der Familie
· Eltern verletzen Grenzen der Kinder
· Geheimnisse werden mit Privatsphäre
verwechselt
· Nichtrespektieren der individuellen
Besonderheiten
· Bestimmt durch die Bedürfnisse des
Abhängigen, nicht des Kindes
· Begrenzte emotionale Erlebnisfähigkeit

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· Alkoholbeeinflusste Emotionen bleiben
unverarbeitet
(vgl. Cermak, 1990, zit. nach Eckstein, 1999)
3. Die schwierige Situation von Kindern mit suchtkranken Eltern
Um die Entwicklungsrisiken der Kinder aus alkoholbelasteten Familien vor der weiter
oben beschriebenen Folie der hinreichend gesunden sozialen Umgebung beschreiben zu
können, gehe ich im Folgenden auf die spezifische Familiensituation dieser Kindern ein,
beschreibe ihren Alltag und die Mängel ihres Aufwachsens.
3.1 Wie viele Kinder leben mit einem alkoholkranken Elternteil?
Die Zahlen, die bezüglich der Alkoholabhängigen und deren Angehörigen und damit
indirekt Betroffenen genannt werden, sind, besonders was die Zahl der betroffenen
Kinder betrifft, alarmierend. Brakhoff spricht 1987 von zwei Millionen Suchtkranken in
Deutschland (dabei sind Alkoholiker, Medikamentenabhängige und Abhängige von
illegalen Drogen bereits eingerechnet) und mindestens vier bis fünf Millionen
Angehörigen (Brakhoff, 1987, 7). Alfred Uhl geht für Österreich davon aus, dass fünf
Prozent der über 16-Jährigen ,,chronische AlkoholikerInnen" und weitere 13 Prozent der
ÖsterreicherInnen zu den AlkoholmissbraucherInnen zu zählen sind (Gschwandtner,
2002, 4).
Im Jahr 1998 lebten in Deutschland ca. 2,5 Millionen alkoholabhängige Menschen (RIAS-
Information, 1998, 1), wobei laut einer Statistik der ambulanten Suchtkrankenhilfe EBIS
zum Zeitpunkt der Untersuchung 45 Prozent der alkoholkranken Frauen und 32 Prozent
der Männer in einem gemeinsamen Haushalt mit ihren Kindern lebten. Viel höher war die
Zahl der Menschen, die zwar Kinder hatten, mit ihnen aber nicht zusammen wohnten. 75
Prozent der alkoholabhängigen Frauen und 63 Prozent der alkoholabhängigen Männer
waren Mutter oder Vater von zumindest einem Kind. Dabei handelt es sich um rund
22.000 Kinder von alkoholkranken Eltern, die ein Angebot der Suchtkrankenhilfe in
Anspruch nehmen. Jedoch nur zehn Prozent der Beratungsstellen haben ein Angebot für
diese Kinder (vgl. Klein, M. 2001, 120). Die Gesamtzahl der Kinder, die in
alkoholbelasteten Haushalten in unmittelbarer Umgebung ihrer kranken Eltern
aufwachsen, wird auf 2 Millionen geschätzt. ,,Die Gesamtzahl der Kinder aus einer
suchtbelasteten Familie in Deutschland beläuft sich auf ca. 8 Millionen Personen aller
Altersstufen, davon 2 Millionen jünger als 18 Jahre." (Vgl. RIAS-Information, 1998, 1)
2003 spricht M. Klein bereits von 2,6 Millionen betroffenen Kindern
(Familiengeheimnisse, 2003, Klein, M.).
In Österreich rechnet man nach einer konservativen Schätzung mit mindestens 100.000
Kindern, die mit einem manifest suchtkranken Elternteil in einem Haushalt
zusammenleben. Bezieht man in diese Überlegungen neben den alkoholkranken Eltern
noch die Alkohol missbrauchenden Eltern mit ein, so bedeutet dies, dass weitere 420.000
Kinder zumindest ein Elternteil haben, dessen Alkoholkonsum über der
,,Gefährdungsgrenze" liegt (siehe Gschwandtner, 2002, 5).

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Man kann jedoch meiner Meinung nach davon ausgehen, dass die Dunkelziffern von
alkoholbelasteten Familien noch wesentlich höher sind.
3.2 Der Familienalltag von Kindern aus alkoholbelastetem Umfeld
,,In einer Familie mit einem Alkoholproblem kann sich kein Mitglied dem Geschehen
entziehen, da die Abhängigkeit eines Elternteils das tägliche Leben der Familie
grundlegend verändert." (Zobel, 2001, 38) ,,Die nicht kranken Familienmitglieder ändern
ihr Verhalten innerhalb des Familiengefüges und gegenüber außenstehenden Personen
entsprechend dem Fortschreiten und den unterschiedlichen Auswirkungen der
Krankheit." (Bertling, 1993, 50) Bis allen klar ist, dass ein Familienmitglied abhängig ist,
vergehen Jahre der Hoffnung, der Bagatellisierung und der Geheimhaltung. Die Kinder
befinden sich in diesen Jahren in einer Situation der Ungewissheit und der steten
Anspannung. ,,Das einzig Zuverlässige ist die Unzuverlässigkeit", umreißt Ingrid Arenz-
Greiving diesen Zustand.
M. Klein spricht von ,,Duldungsstress", wenn die Situation als nicht veränderbar
wahrgenommen wird, und von ,,Katastrophenstress", wenn es zu krisenhaften, bisweilen
traumatischen Ereignissen kommt (vgl. Klein, M. 2001, 2). Beide Formen von Stress sind
in Suchtfamilien an der Tagesordnung:
Die Atmosphäre in einer Alkoholikerfamilie ist gespannt, die Beziehung zwischen den
Eltern leidet unter der Sucht des abhängigen Elternteils, Streit und (oft auch körperliche)
Auseinandersetzungen kommen häufig vor. Die Kinder versuchen sich auf die
Stimmungsschwankungen der Eltern einzustellen, dabei kommen Gefühle der
Entspannung und das Gefühl, geliebt zu werden als der, der man ist, eindeutig zu kurz.
Kaum beruhigt sich die Atmosphäre zwischen den Eltern, kommt Hoffnung auf und wird
schon im nächsten Moment wieder zunichte gemacht. Das Leben mit alkoholbelasteten
Bezugspersonen bedeutet ein ständiges Wechselbad der Gefühle.
Die Kinder erleben ihre Bezugspersonen bisweilen in extremen körperlichen Zuständen
(Rauschzustände, Bewusstlosigkeit, Entzugserscheinungen) oder mit beängstigenden
psychischen Symptomen (Suizidalität, Halluzinationen).
Der trinkende Elternteil wird sehr widersprüchlich wahrgenommen; ist er in einem
Moment noch der liebevolle Vater/die liebevolle Mutter, so ist der gleiche Mensch im
nächsten Moment ungehalten, ausfällig und aggressiv. Die Kinder sind häufig
Misshandlungen ausgesetzt (sowohl körperlich, sexuell oder psychisch) und/oder werden
vernachlässigt.
Die Stimmung innerhalb der Familie droht allerdings nicht nur wegen elterlicher
Streitigkeiten zu kippen, sondern auch, weil die Launen des Alkoholkranken an sich
unberechenbar sind. Versprechungen und Vorhersagen werden nicht eingehalten. Die
Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit des Abhängigen geht so weit, dass die Kinder
das Gefühl bekommen, es mit zwei verschiedenen Menschen zu tun zu haben, da der
nüchterne und der betrunkene Elternteil mitunter völlig verschieden sind. Kinder
entwickeln in dieser Situation empfindliche Antennen, um rasch herauszufinden, in

18
welchem Zustand sich der Alkoholiker momentan befindet, damit sie bei Gefahr
möglichst ,,in Deckung gehen" können. Die Unberechenbarkeit bezieht sich auch auf das
Erziehungsverhalten: Was heute belohnt wird ­ oft eine Folge des schlechten Gewissens,
sobald der Alkoholiker nüchtern ist ­, kann morgen bestraft werden. Eine unerträgliche
Situation für Kinder, die für ihr gesundes Aufwachsen Stabilität und Strukturen
benötigen.
Da die Bedürfnisse des Süchtigen in seiner Familie an erster Stelle stehen, kümmert sich
auch der nicht trinkende Elternteil unzuverlässig um die Kinder oder versucht sie gegen
den Alkoholiker für sich zu gewinnen ­ oder der Alkoholiker geht in Koalition mit einem
der Kinder, was das Kind in schwere Loyalitätskonflikte bringt, da es so zwischen beiden
Elternteilen steht oder für einen Partei ergreifen soll, obwohl es doch beide liebt.
Die Kommunikation ist in Alkoholikerfamilien schwer gestört. Durch unausgesprochene
Gesprächsverbote wird das Thema Alkohol aus der Kommunikation ausgespart, obwohl
dieses Thema doch alle anderen Bereiche überschattet. ,,Stattdessen sind Unehrlichkeit,
Lüge, doppeldeutige Aussagen, Beschimpfungen, Drohungen an der Tagesordnung (...),
nicht feste Regeln bestimmen die Kommunikation, sondern die Macht des Stärkeren.
Worte verlieren ihre Bedeutung und ihren Wert, so dass besonders die Kinder sich nur
noch auf Tatsachen verlassen und dem gesprochenen Wort misstrauen." (Bertling, 1993,
53)
Das Nicht-Sprechen-Dürfen führt die Familie in immer größere Isolation, die vor allem
von den Kindern als Belastung empfunden wird. Die Kinder ziehen sich zurück und
trauen sich nicht, Freunde mit nach Hause zu bringen, da sie nicht möchten, dass jemand
bemerkt, was zu Hause los ist.
4. Betrachtung der Familie als System
Um analysieren zu können, wieso alle Personen in der Familie von der Sucht eines
Familienmitgliedes betroffen sind, ist die Betrachtung der Familie aus systemischer Sicht
geeignet. Besonders für das Verständnis der Entstehung von Angst, niedrigem
Selbstwertgefühl und psychosomatischen Erkrankungen erscheint mir die Beleuchtung
der suchtbelasteten Familie aus systemischer Perspektive sehr aufschlussreich.
Die systemisch orientierte Familientherapie sieht als Grundeinheit des Lebens und der
Entwicklung nicht den individuellen Organismus, ,,sondern das gesamte Öko-System, in
das er eingebettet ist und auf das er ebenfalls selbst einwirkt" (Schmidt, 1987, 27). Dabei
wird Familie als ein offenes, lebendes, soziales, sich selbst regulierendes System
verstanden. Betrachtet man die Familie als System, so basiert diese Annahme auf
kybernetischen Gesichtspunkten. ,,Die Kybernetik beschreibt die nichtlineare
Bezogenheit aller Dinge miteinander, die durch Rückkopplung das Aufrechterhalten eines
Gleichgewichtes anstreben." (V. Schlippe, zit. nach Ehrenfried et al. 2001, 121) Auch eine
Familie stellt ein vielfältiges System von Beziehungen dar. In diesem System sind alle
Individuen miteinander wechselseitig verbunden. So stellt z. B. eine Familie mit fünf
Mitgliedern ein System mit zehn Beziehungen dar. Dieses Streben nach Gleichgewicht
(Homöostase) lässt sich anhand eines Vergleiches mit einem Mobile (vgl. Zobel, 2001;

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836608657
DOI
10.3239/9783836608657
Dateigröße
733 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
FernUniversität Hagen – Kultur- und Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaft
Erscheinungsdatum
2008 (Januar)
Note
2,0
Schlagworte
familie alkoholismus kind entwicklungsgefährdung sucht resilienz soziales system
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Titel: Zur schwierigen Situation von Kindern aus alkoholbelasteten Familien
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