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Der Narziss Peer Gynt

Eine psychoanalytische Betrachtung von Ibsens Gedicht und seine dramaturgische Umsetzung durch die Claus Peymann-Inszenierung am Wiener Burgtheater

©2006 Magisterarbeit 113 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Peer Gynt hat in Henrik Ibsens Schaffen einen besonderen Stellenwert. Das dramatische Gedicht wird in der Sekundärliteratur immer wieder als „Übergangswerk“ bezeichnet. Die Dramaturgie ist nur schwer einzuordnen. Es gibt vergleichsweise sehr wenig Sekundärliteratur, vor allem Sekundärliteratur neueren Datums ist kaum zu finden. Dies ist erstaunlich, da es sich bei Peer Gynt um ein „Schlüsselwerk“ handelt, weil es als Vorläufer für das moderne Theater gesehen wird. Es ist, wie Ruprecht Volz schreibt, weit seiner Zeit voraus und nimmt Elemente des Symbolismus, des Expressionismus und des absurden Theaters vorweg.
Doch auch in Ibsens Schaffen ist Peer Gynt ein „Schlüsselwerk“. Es ist ein Übergangswerk von den historischen Dramen Ibsens zu seinen analytischen Gesellschaftsdramen, ein Übergangswerk von der Romantik zum Naturalismus. Auch Ibsens Persönlichkeit hat sich zu der Zeit, als er Peer Gynt schrieb, verändert. Die psychologische Dimension, die sich 100 Jahre nach Ibsens Tod daraus ergibt, mag der Grund sein, warum es so wenig neuere Sekundärliteratur dazu gibt und Peer Gynt noch immer als ein Stück gilt, das schwierig zu inszenieren ist.
Dies liegt sicher auch an dem zahllosen Szenenwechsel, der Hauptgrund dafür ist aber, dass die Interpretation des Stückes so schwierig ist. Schon Ibsen selbst hatte Zweifel, ob das Drama außerhalb Norwegens verstanden werden würde. Ibsen hat als Grundlage für Peer Gynt eine märchenhafte Gestalt aus den „Norwegischen Feen- und Volksmärchen“ verwendet. Es herrschte die Meinung, dass man, um Peer Gynt verstehen zu können, mit den Sagen und Mythen Norwegens vertraut sein müsste und auch die politischen und historischen Hintergründe kennen müsste.
Eine andere Interpretation, die teilweise heute noch vertreten wird, ist, dass es sich bei Peer Gynt um den „norwegischen Faust“ handelt. Das ist für mich nicht nachvollziehbar, da Goethes Faust nach dem Absoluten sucht, nach dem Sinn des Lebens, hingegen sucht Peer „nur“ nach sich selbst. Ibsen hat in ironischer Weise einige Passagen aus Goethes Faust einfließen lassen und die Frauen sind Schlüsselfiguren in beider Leben, dies könnte eine Erklärung für diese Interpretation sein.
Der Fokus dieser Arbeit liegt nicht auf den oben genannten Interpretationen, sondern auf der psychologischen Dimension dieses Werkes, die sich einerseits aus den Parallelen von Ibsens und Peers Leben, andererseits aus Ibsens Persönlichkeitsveränderung ergibt. Diese […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Brigitte Fochler
Der Narziss Peer Gynt
Eine psychoanalytische Betrachtung von Ibsens Gedicht und seine dramaturgische
Umsetzung durch die Claus Peymann-Inszenierung am Wiener Burgtheater
ISBN: 978-3-8366-0739-1
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. Universität Wien, Wien, Österreich, Magisterarbeit, 2006
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http://www.diplom.de, Hamburg 2008
Printed in Germany

Leben ist ­ Krieg mit Trollen in den Gewölben des Herzens und des Hirns.
Dichten ­ Gerichtstag halten über sich selbst.
1
Henrik Ibsen, Et Vers
1
Oberholzer. In: Ibsen, Dramen, 1973, S.795

1
INHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS ...1
1. VORWORT...3
2. EINE KURZE INHALTSANGABE VON PEER GYNT ...7
3. DIE BIOGRAFIE VON HENRIK IBSEN BIS ZUR ENTSTEHUNG VON
PEER GYNT ...9
3.1. F
RÜHE
K
INDHEIT
...9
3.2. L
EHRE IN
G
RIMSTAD
...12
3.3. I
BSENS
A
BKEHR VON SEINER
F
AMILIE
...13
3.4. T
HEATERERFAHRUNGEN
...15
3.4.1. Bergen...15
3.4.2 Christiania ...17
3.5. I
TALIEN
...18
3.5.1. Persönlichkeitsveränderung ...19
3.6. D
IE
E
NTSTEHUNG VON
P
EER
G
YNT
...21
4. IBSEN UND PEER GYNT...25
4.1. P
EER
G
YNT ALS
M
ASKE DES
D
ICHTERS
...25
4.2. I
BSEN
,
WIE ER SICH SELBST SAH
...31
4.2.1. Ästhetik...35
5. EINE PSYCHOANALYTISCHE SICHT AUF PEER GYNT. EIN
DRAMATISCHES GEDICHT...37
5.1. D
ER
S
TURZ IN DEN
S
PIEGELSEE
...38
5.2. D
ER
N
ARZISS
P
EER
G
YNT
...40
5.3. D
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S
ELBSTFINDUNG DES
D
ICHTERS DURCH
P
EER
G
YNT
...52
5.3.1. Ironie als Mittel der Selbstreflexion ...58
6. VOM LESEDRAMA ZUM BÜHNENSTÜCK...61
6.1. D
AS
,,L
ESESTÜCK
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RITIKEN UND
I
NTERPRETATIONEN
...61

2
6.2. M
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E
DVARD
G
RIEGS
M
USIK ZUR
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RAUFFÜHRUNG
...64
6.3. D
EUTSCHE
Ü
BERSETZUNGEN
...66
6.4. D
IE
D
RAMENSTRUKTUR
...68
7. DIE PEYMANN-INSZENIERUNG VON PEER GYNT AM WIENER
BURGTHEATER, 1993/94 ...73
7.1. P
EER
G
YNT
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EYMANN
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CHLÜSSELINSZENIERUNG
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B
URGTHEATERDIREKTION
...73
7.1.1. Die Ära Peymann...73
7.1.2 Peer Gynt: Regie Claus Peymann...75
7.2. T
EXTÄNDERUNGEN
...81
7.3. B
ÜHNENBILD
, R
EQUISITE
, V
ERSATZSTÜCKE
, K
OSTÜME
...84
7.4. M
USIK
...95
7.5. D
IE
S
CHAUSPIELER
I
NNEN
...96
8. SCHLUSSWORT...101
9. BIBLIOGRAFIE...107
10. DANKSAGUNGEN ...113

3
1. VORWORT
Peer Gynt hat in Henrik Ibsens Schaffen einen besonderen Stellenwert. Das dramatische
Gedicht wird in der Sekundärliteratur immer wieder als ,,Übergangswerk" bezeichnet. Die
Dramaturgie ist nur schwer einzuordnen. Es gibt vergleichsweise sehr wenig
Sekundärliteratur, vor allem Sekundärliteratur neueren Datums ist kaum zu finden. Dies
ist erstaunlich, da es sich bei Peer Gynt um ein ,,Schlüsselwerk" handelt, weil es als
Vorläufer für das moderne Theater gesehen wird. Es ist, wie Ruprecht Volz schreibt, weit
seiner Zeit voraus und nimmt Elemente des Symbolismus, des Expressionismus und des
absurden Theaters vorweg.
2
Doch auch in Ibsens Schaffen ist Peer Gynt ein ,,Schlüsselwerk". Es ist ein
Übergangswerk von den historischen Dramen Ibsens zu seinen analytischen
Gesellschaftsdramen, ein Übergangswerk von der Romantik zum Naturalismus. Auch
Ibsens Persönlichkeit hat sich zu der Zeit, als er Peer Gynt schrieb, verändert. Die
psychologische Dimension, die sich 100 Jahre nach Ibsens Tod daraus ergibt, mag der
Grund sein, warum es so wenig neuere Sekundärliteratur dazu gibt und Peer Gynt noch
immer als ein Stück gilt, das schwierig zu inszenieren ist.
Dies liegt sicher auch an dem zahllosen Szenenwechsel, der Hauptgrund dafür ist aber,
dass die Interpretation des Stückes so schwierig ist. Schon Ibsen selbst hatte Zweifel, ob
das Drama außerhalb Norwegens verstanden werden würde. Ibsen hat als Grundlage für
Peer Gynt eine märchenhafte Gestalt aus den ,,Norwegischen Feen- und Volksmärchen"
verwendet. Es herrschte die Meinung, dass man, um Peer Gynt verstehen zu können, mit
den Sagen und Mythen Norwegens vertraut sein müsste und auch die politischen und
historischen Hintergründe kennen müsste.
Eine andere Interpretation, die teilweise heute noch vertreten wird, ist, dass es sich bei
Peer Gynt um den ,,norwegischen Faust" handelt. Das ist für mich nicht nachvollziehbar,
da Goethes Faust nach dem Absoluten sucht, nach dem Sinn des Lebens, hingegen sucht
Peer ,,nur" nach sich selbst. Ibsen hat in ironischer Weise einige Passagen aus Goethes
Faust einfließen lassen und die Frauen sind Schlüsselfiguren in beider Leben, dies könnte
eine Erklärung für diese Interpretation sein.
2
vgl. Volz, Ruprecht. In: Peer Gynt, Reclam, 2004, S.156

4
Der Fokus dieser Arbeit liegt nicht auf den oben genannten Interpretationen, sondern auf
der psychologischen Dimension dieses Werkes, die sich einerseits aus den Parallelen von
Ibsens und Peers Leben, andererseits aus Ibsens Persönlichkeitsveränderung
3
ergibt. Diese
Sichtweise wurde in der Literatur bisher kaum behandelt.
Die Idee zu dieser Diplomarbeit entstand nach der Wiener Festwochenaufführung von
Peer Gynt, einem Gastspiel des Berliner Ensembles, unter der Regie von Peter Zadek im
Juni 2004. Diese Aufführung rief mir die faszinierende Peymann-Inszenierung ins
Gedächtnis, die ich acht Jahre zuvor im Juni 1996 am Wiener Burgtheater gesehen hatte.
Im Wintersemester 2004/05 besuchte ich eine Vorlesung über Henrik Ibsen am Institut für
Skandinavistik, gelesen von Sven Hakon Rossel. Das Thema wurde für mich konkret, als
ich in dieser Vorlesung erfuhr, dass genau zu jener Zeit, als Henrik Ibsen Peer Gynt
schrieb, Ibsen nicht nur sein Äußeres verändert hat, auch seine Handschrift veränderte sich.
Diese Persönlichkeitsveränderung, kombiniert mit der Tatsache, dass Peer Gynt das
Übergangswerk in Ibsens Schaffen ist, mit dem er letztlich zu seiner Identität als Dichter
fand, hat mein Interesse geweckt.
Die Grundidee dieser Arbeit ist es, die psychologische Komponente des Werkes zu
beleuchten und im Zusammenhang mit der Persönlichkeitsveränderung, die Henrik Ibsen
während und vor der Entstehung von Peer Gynt durchlief, zu diskutieren. Daraus ergeben
sich folgende Fragen:
· Wie steht der Text von Peer Gynt mit Ibsens Leben und der zu dieser Zeit, als er
das Werk schrieb, stattfindenden Persönlichkeitsveränderung, in Zusammenhang?
· Ist Peer die Maske des Dichters Ibsen?
· Wer ist dieser Peer Gynt, wie kann man seine Persönlichkeit, aus heutiger Sicht,
psychologisch gesehen, einordnen?
· Warum ist die Dramenstruktur so schwer einzuordnen, warum wird Peer Gynt als
Übergangswerk bezeichnet?
· Wie hat Claus Peymann in seiner Inszenierung die psychologische Dimension des
Stückes umgesetzt?
3
Der Begriff Persönlichkeitsveränderung, der sich durch die ganze Arbeit zieht, beinhaltet den langen
Prozess, den Ibsen bis zum Schaffen von Peer Gynt durchlief und der durch die Veränderung seines Äußeren
und seiner Handschrift einen Höhepunkt fand. Keinesfalls ist damit eine Persönlichkeitsveränderung im
Sinne einer Persönlichkeitsstörung gemeint.

5
All diesen Fragen werde ich in dieser Arbeit nachgehen, um ähnlich, wie der Ibsen-Biograf
Robert Ferguson in seinem Vorwort schreibt, ,,[...] einen Blick auf einen der berühmtesten
Schriftsteller der Welt zu bieten, um wenigstens eine Teillösung zu finden, was mit dem
Mann geschah, der Peer Gynt schrieb"
4
.
Dem Hauptteil der Arbeit wird eine kurze Inhaltsangabe des Stücks vorangestellt.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Fragen beginnt mit Ibsens Biografie und seinen
Briefen, um den Weg zu zeigen, den der Mann ging, dessen Stücke heute noch auf allen
Bühnen der Welt (in China ist er der meistgespielte europäische Dramatiker) aufgeführt
werden.
Ich werde der Frage nachgehen, wieweit Ibsens Biografie in das Stück einfließt, um dann
im nächsten Kapitel die Parallelen aufzuzeigen. Dann werde ich die Frage behandeln, ob
man Peer Gynt als Maske des Dichters sehen kann. Von Interesse wird sein, wie Ibsen
sich selbst sah, und was unter Ibsens Ästhetik zu verstehen ist.
Im nächsten Kapitel werde ich mich der Frage widmen, welche Persönlichkeit Peer Gynt
ist. An dieser Stelle möchte ich einen Brief von Ibsen zitieren, den er an seinen Verleger
Frederik Hegel am 31. Mai 1880 schrieb: Er schreibt, dass er ein kleines Buch
beabsichtige, in dem er darlegt, unter welchen Umständen seine jeweiligen Stücke
entstanden sind, und schreibt weiter: Auf eine Auslegung meiner Bücher würde ich mich
natürlich ganz und gar nicht einlassen. Es ist besser, wenn Publikum und Kritik sich auf
diesem Gebiet nach eigenem Belieben herumtummeln dürfen ­ wenigstens bis auf
weiteres. Aber ich möchte ganz einfach von den Umständen und Verhältnissen berichten,
unter deren Einfluß ich gedichtet habe ­ alles natürlich mit der äußersten Diskretion und
so, daß ein weiter Spielraum für Mutmaßungen aller Art bleibt.
5
Diesen Spielraum werde ich, mit aller zu Gebote stehenden Vorsicht, benutzen um nach
heutigen psychoanalytischen Erkenntnissen zu zeigen, dass Peer Gynt ein Narziss ist, der
sich auf einem schmalen Grat zwischen gesundem und krankem Narzissmus bewegt.
4
Ferguson, 1998. S.12
5
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 289

6
Die Frage, ob Peer Ibsen in der Maske des Dichters ist, wird sich genauso wenig
vollständig beantworten lassen, wie die Frage, wie es dazu kam, dass Ibsen sein Äußeres
und seine Handschrift veränderte. In ,,Der Dichter und das Phantasieren" schreibt
Sigmund Freud, für den der Dichter ein ,,Tagträumer" wie Peer Gynt ist, wie der Dichter
und sein Werk zueinander stehen. Aus den psychoanalytischen Schriften lassen sich
Schlüsse ziehen, die einer Antwort auf diese Frage nahe kommen.
Im nächsten Kapitel werde ich zur Frage, welche Dramenstruktur Peer Gynt hat, zuerst an
Hand von Briefen beschreiben, wie das ,,Lesedrama" zum Bühnendrama wurde, mich den
Kritiken, Interpretationen, der Musik und den Übersetzungen widmen, und schließlich
betrachten, in welche Dramenkategorie Peer Gynt eingeordnet werden kann. Aus dieser
Dramenkategorie werde ich Schlussfolgerungen für meine These ziehen. Denn auch diese
Dramenform, die schwer einzuordnen ist, kann ein Beleg für Ibsens
Persönlichkeitsveränderung sein.
Am Schluss dieses Kapitels werde ich einen kurzen Überblick geben, wie sich die
Aufführungen von Peer Gynt in den letzten 140 Jahren verändert haben.
Das letzte Kapitel wird eine Analyse der Inszenierung von Claus Peymann am Wiener
Burgtheater in der Saison 1993/94 beinhalten, beginnend mit einer kurzen Betrachtung der
Direktion von Claus Peymann. Ich werde zeigen, dass Claus Peymann mit seiner Regie
das Stück vor allem aus psychologischer Sicht inszeniert hat und wie er sich selbst in die
Inszenierung eingebracht hat. Unter diesem psychologischen Aspekt werde ich die
Textänderungen, das Bühnenbild und die SchauspielerInnen beschreiben und damit den
Zusammenhang zu den vorangegangenen Kapiteln herstellen.
Ich verwende den Dramentext zu Peer Gynt aus dem Jahr 1901, Band 4, Sämtliche Werke,
in der Übersetzung von Christian Morgenstern, weil in der Peymann-Inszenierung auch
die Morgenstern-Übersetzung verwendet wurde.
Ich schreibe Ibsens Originalzitate und Texte kursiv, alle anderen Zitate unter
Anführungszeichen. Die Titel von Theaterstücken sind kursiv geschrieben, alle anderen
Titel unter Anführungszeichen.
Die Schreibweise der norwegischen Namen habe ich aus Henrik Ibsen, Sämtliche Werke,
1905, 10. Band, Briefe, übernommen.

7
2. EINE KURZE INHALTSANGABE VON PEER GYNT
6
Die Handlung von Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht, beginnt im Anfang des
19. Jahrhunderts und endigt gegen die sechziger Jahre hin, spielt teils im Gudbrandsthal
und seinen Bergen, teils an der Küste Marokkos, in der Wüste Sahara, im Tollhaus zu
Kairo, auf der See u. s. w.
7
Das Drama beginnt mit dem Ausruf von Aase, Peers Mutter: Peer, Du lügst!. Peer tischt
seiner Mutter Lügengeschichten auf, sie meint aber, er solle keine Lügengeschichten
spinnen, sondern die reiche Bauerntochter Ingrid heiraten, um den vom Vater
heruntergewirtschafteten Hof zu retten. Ingrid ist gerade dabei, einen anderen zu heiraten,
weil Peer sich so lange in den Bergen herumgetrieben hat. Die Einzige, die mit Peer auf
Ingrids Hochzeit tanzen will, ist Solvejg, doch ihre Eltern verbieten es. Nicht einmal mit
einer Kleinhäuslertochter darf Peer tanzen. Peer entführt die Braut, schickt sie nach einer
Nacht aber wieder fort. Solvejg geht ihm nicht aus dem Kopf.
Peer gelangt in das Reich des ,,Dovre-Alten" und begegnet dessen Tochter, der
,,Grüngekleideten". Peer soll sie heiraten und zum Troll werden. Er wehrt sich dagegen
und seine Mutter rettet ihn mit Glockengeläute zuerst vor den Trollen und anschließend
vor dem ,,Großen Krummen".
Solvejg sucht Peer im Gebirge, Peer baut dort eine Hütte, Solvejg will für immer bei ihm
bleiben. Da erscheint die ,,Grüngekleidete" und präsentiert Peer ein Kind, Frucht seiner
,,Gedankenbegier". Wieder flieht Peer zu seiner Mutter, die am Totenbett liegt und er
begleitet sie mit seinen Fantasiegeschichten in den Tod.
Jahre später, sichtbar gealtert, bewirtet Peer, der mittlerweile durch Sklavenhandel zu
einem reichen Geschäftsmann wurde, seine Gäste. Dies sind ein Engländer, ein Franzose,
ein Deutscher und ein Schwede. Diese ,,vornehmen" Gäste segeln mit seiner Jacht davon.
Peer Gynt ruft Gott um Hilfe an und die Jacht explodiert.
Es folgt eine orientalische Episode, die im Irrenhaus von Kairo endet, nachdem Peer in der
Begegnung mit Anitra, der Häuptlingstochter eines Wüstenstammes, zuvor den erotischen
Höhepunkt seines Daseins erlebt hat. Von den Insassen des Irrenhauses wird er zum
,,Kaiser der Selbstsucht" gekrönt.
6
Die Inhaltsangabe habe ich aus Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 8, 1996 und aus Harenberg
Schauspielführer, 2003 übernommen.
7
Ibsen, Sämtliche Werke, 1903, 4. Band, Peer Gynt. S. 208

8
Mit dem Schiff kehrt Peer als alter Mann viele Jahre später nach Norwegen zurück. Peer
Gynt wandert nun zu den Stätten seiner Jugend und erkennt schließlich beim Zerpflücken
einer Zwiebel, dass kein Kern darin ist. Alles was er erlebt hat, hat er erlebt, ohne er selbst
zu sein. Peer begegnet auf seinem Weg einigen mythischen Gestalten, den Knäueln, die ihn
fesseln wollen, dem Knopfgießer, der ihn umgießen will, dem Dovre-Alten und schließlich
dem Mageren, dem er sein Sünderleben erzählt und der seine Seele verschmäht, weil ihm
dieses Leben zu gering erscheint.
In der letzten Szene begegnet er der erblindeten Solvejg, die auf ihn gewartet hat und
immer an ihn geglaubt hat. Er bettet sein Haupt in ihren Schoß und sie singt:
Ich wiege Dich und ich wache; -
Schlaf und träum', lieber Junge mein!
8
8
Ibsen, Sämtliche Werke, 1901, 4. Band, Peer Gynt. S. 392

9
3. DIE BIOGRAFIE VON HENRIK IBSEN BIS ZUR
ENTSTEHUNG VON PEER GYNT
9
Ibsens Biografie bis zur Entstehung von Peer Gynt ist relevant, weil man mit dieser
Biografie und an Hand von Ibsens Briefen zeigen kann, dass Ibsens Leben, natürlich mit
künstlerischer Freiheit verfremdet, wie ein roter Faden das ganze Stück durchzieht.
3.1. Frühe Kindheit
Henrik Ibsen wurde am 28. März 1828 in Skien, Norwegen geboren. Skien war eine
Handelsstadt mit ca. 3000 Einwohnern. ,,Es gab vier ausgebaute Wasserfälle und etwa
vierzig Sägewerke"
10
. Ibsen schreibt in seinen ,,Kindheitserinnerungen" 1881:
Skien ist in meinen Kinderjahren eine überaus lebenslustige und gesellige Stadt gewesen,
ganz das Gegenteil von dem, was sie später werden sollte. Viele hochgebildete
wohlhabende und angesehene Familien wohnten damals teils in der Stadt selbst, teils auf
großen Gehöften in der Umgebung. Nähere oder entferntere Verwandtschaft verband die
meisten dieser Familien miteinander, und Bälle, Diners und musikalische Unterhaltungen
lösten sich Winter und Sommer in schneller Reihenfolge ab. Auch viele Fremde besuchten
die Stadt, und da es zu jener Zeit keine eigentlichen Hotels gab, so nahm man bei
Freunden und Verwandten Quartier. Wir hatten fast immer Besuch in unserem großen
geräumigen Hause, und besonders an den Weihnachts- und Markttagen war das Haus voll
und offener Tisch von Morgen bis Abend.
11
Ibsens Mutter, Marichen, wurde bei ihrer Heirat die Erbin ihres Vaters, der einer der
reichsten Männer von Skien gewesen war. Der Besitz ging, nach den Gesetzen der
damaligen Zeit, automatisch auf den Ehemann über (das heißt, Frauen bekamen ihr Erbe
erst, wenn sie heirateten, dieses Erbe ging aber unmittelbar in den Besitz des Ehemanns
über), auf Knud Ibsen, Henriks Vater, der große gesellschaftliche und berufliche
Ambitionen hatte. Er hatte ein Geschäft für Lebensmittel, Glas, Stoffe und Sonstiges und
unterhielt Handelsbeziehungen mit England und Deutschland. Er schien sich ziemlich
übernommen zu haben, denn plötzlich ging es schnell bergab. 1833 war er noch unter den
9
Ibsens Biografie habe ich aus Rieger 2003 und Ferguson 1998 zusammengestellt. Gesondert zitiert wird
nur, wenn Textpassagen wörtlich übernommen werden.
10
Rieger, 2003, S. 9
11
Ibsen, Nachgelassene Schriften, 1909, 1.Band. S. 203, 204

10
275 Steuerzahlern der Stadt an 16. Stelle, 1835 war sein Geschäft bereits total ruiniert. Die
genauen Umstände dieses Ruins wurden nie eruiert.
Ibsen schrieb am 21. September 1882 an Georg Brandes, einen großen dänischen
Literaturkritiker: Meine Eltern gehörten väterlicher- wie mütterlicherseits den zu
damaliger Zeit angesehensten Familien Skiens an. [...] Ebenso nahe verwandt waren
meine Eltern [...] ungefähr mit allen Patrizierfamilien, die damals in Stadt und Umgebung
dominierten. Mein Vater steckte als Kaufmann in einer vielgestaltigen und weitläufigen
Thätigkeit und liebte in seinem Haus eine weitherzige Gastlichkeit. 1836 mußte er seine
Zahlungen einstellen, und wir behielten nichts weiter als einen Landsitz in der Nähe der
Stadt. Dahin zogen wir, und so kamen wir außer Zusammenhang mit den Kreisen, denen
wir bis dahin angehörten.
In ,,Peer Gynt" habe ich die Verhältnisse und Erinnerungen meiner eigenen Kindheit als
eine Art Modell für die Schilderung im ,,Hause des reichen Jon Gynt" benützt.
12
und am 28. Oktober 1870 an seinen Freund Peter Hansen, einen dänischen
Literaturhistoriker:
Zu ,,Aase" hat, mit den nötigen Übertreibungen, meine eigene Mutter Modell
gestanden."
13
In Peer Gynt 1. Akt lässt Ibsen Aase sagen:
Was blieb uns, muß ich fragen,
Seit Großvaters Wohlstandstagen?
Wie hat sich der Wein verdünnt
Seit dem alten Rasmus Gynt!
Vater brachte's Gold ins Rutschen,
Warf's hinaus wie Scheffel Sand,
Kaufte Grund im ganzen Land,
Karrte mit vergüldten Kutschen -.
Alles weg. Wo sind die Reste
Von dem großen Winterfeste,
14
12
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10.Band, Briefe. S. 319
13
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 151
14
Ibsen, Sämtliche Werke, 1901, 4. Band, Peer Gynt. S. 214

11
Oder im 2. Akt: Peer Gynt:
Laß fahren dahin! Laß fahren!
Schweig, Mutter; wir machen's nicht gut!
Der reiche Jon Gynt mag nicht sparen,-
ein Hoch auf das Gyntische Blut!
15
Marichen, Ibsens lebenslustige Mutter, litt sehr unter dem sozialen Abstieg der Familie.
Sie zog sich von ihrem Mann und ihrem Haushalt zurück und lebte in einer Welt der
Aquarellmalerei und der Holzpuppen, also in einer Welt der Fantasie. Auch verfiel sie
immer mehr in religiöse Grübeleien.
Die Autobiografie ,,Kindheitserinnerungen" hört mit Ibsens siebentem Lebensjahr auf,
genau dann, als der finanzielle Abstieg seines Vaters begann und große Auswirkungen auf
die Stimmung in der Familie und auf die Stellung in der Gemeinschaft hatte. Auffallend an
den ,,Kindheitserinnerungen" ist das Weglassen aller Hinweise auf seine drei jüngeren
Brüder und Schwestern. Das erste Kind, ein Sohn, war gestorben, somit war Henrik der
Älteste.
Ibsen war ein introvertierter Mensch, der aufmerksam alle Vorgänge um sich registrierte,
auch an den ,,Kindheitserinnerungen" fällt auf, dass Ibsens Perspektive stets die des
Zuschauers war.
,,Henrik war kein Kind, das gern mit anderen spielte. In seiner Schwester Hedvigs
Erinnerungen war er ein ungeselliger Junge, der sich lieber in einen Verschlag neben der
Küche, der sein Reich war, zurückzog; hier beschäftigte er sich mit Malen, Zeichnen und
Lesen und spielte mit seinem Puppentheater. Diese einsamen Beschäftigungen sonderten
ihn von seinen Geschwistern und anderen Kindern ab und machten aus ihm einen
introvertierten Stubenhocker, der verprügelt wurde, weil er ein aufgeblasener Angeber war.
Er war Zielscheibe des Spotts der Kinder. Eine Nachbarin berichtet, dass er ziemlich
durchtrieben und böse war, als er groß wurde. Er war ein sehr hübscher Junge, doch
niemand mochte ihn, weil er so bösartig war. Er war stets allein, auch sei er erbärmlich
eitel gewesen. Als er etwa zwölf war, richtete er sich ein Marionettentheater ein, wobei er
15
Ibsen, Sämtliche Werke, 1901, 4. Band, Peer Gynt. S. 248

12
das Fensterbrett als Bühne verwendete und im Raum dahinter stand, um die Schnüre zu
bedienen und den Figuren seine Stimme zu leihen."
16
Ibsen kannte das Theater vor allem durch dänische Theatergruppen, die durchs Land zogen
und auch in Skien Station machten. Besonders en vogue waren Stücke der Franzosen
Eugène Scribe und Alexandre Dumas sowie die der Dänen Johan Ludvig Heiberg und
Adam Oehlenschläger.
Henrik ging auf die Bürgerschule in Skien, die weiterführende Lateinschule konnte sich
sein Vater nicht leisten. Er besuchte eine kleine Privatschule, im Frühjahr 1843 war er mit
der Schule fertig, wurde konfirmiert und das war der Zeitpunkt, an dem er das Elternhaus
verlassen und seinen Lebensunterhalt selbst verdienen musste.
3.2. Lehre in Grimstad
Ibsen wurde als Lehrling zu einem Apotheker nach Grimstad vermittelt. Wie es zu dieser
Berufsentscheidung kam, kann man nur vermuten, möglicherweise sah Henrik in dieser
Lehre einen Weg zum Medizinstudium. Er war also noch keine sechzehn Jahre alt, als er,
ganz auf sich allein gestellt, sich selbst durchbringen musste. Er musste mit den Söhnen
des Hauses in einem Zimmer schlafen. Das Zimmer der Dienstmädchen lag gleich
daneben.
Als Apothekerlehrling blieb er der Einzelgänger und mit seinem introvertierten Wesen
fand er keinen Anschluss an die einheimische Jugend. Die Dienstmädchen im Haus
entwickelten mütterliche Gefühle für ihn, bei ihnen konnte er einerseits darüber klagen,
wie sehr sein Vater ihn vernachlässigt habe, andererseits waren sie gute Zuhörerinnen für
ihn, wenn er darüber sprach, dass er seinen ihm zustehenden Platz in der Welt finden
würde. Mit einem der Dienstmädchen, sie war 10 Jahre älter als er, ging er eine Liaison
ein, aus der ein Kind hervorging. Den kleinen Jungen brachte das Dienstmädchen diskret
zu Hause bei ihren Eltern zur Welt. Per Gerichtsbeschluss wurde er zu Unterhalt verurteilt,
den er vierzehn Jahre lang bezahlen musste, damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein,
denn in keinem seiner Briefe wurde das Kind je erwähnt. Wahrscheinlich wusste niemand
aus seiner Familie und unter seinen Bekannten davon. Dieses Kind, das Produkt der
,,dunklen, niederen Triebe", war offenbar unter seiner Würde, unter seinem Niveau.
16
Ferguson, 1998, S. 21

13
Möglicherweise findet sich dieses Kind als Trollkind wieder, das Peer Gynt mit der
Grüngekleideten, der Tochter des Dovre-Königs gezeugt hat und nicht als seines erkennt.
Ibsen wollte aus den engen Verhältnissen in Grimstad ausbrechen und in eine bessere
Zukunft gelangen. So verbrachte er die Nächte mit Lesen und versuchte sich das Wissen
anzueignen, das er für das Medizinstudium brauchte. Er schrieb sein erstes Drama,
Catilina, das 1850 unter dem Pseudonym Brynjolf Bjarme veröffentlicht wurde.
3.3. Ibsens Abkehr von seiner Familie
1850 besucht Ibsen sein Elternhaus zum letzten Mal. Wie aus einigen Briefen hervorgeht,
wollte er danach unter keinen Umständen nach Skien zurück. Ibsen hatte ein gestörtes
Verhältnis zu seiner Familie. Er vollzog mit 22 einen vollkommenen Bruch mit ihr, der nie
revidiert wurde. So schreibt er in einem Brief an Björnson am 9. Dezember 1867:
[...] denn ich weiß, daß ich unter der Kruste von Unsinn und Schweinerei ernst gewesen
bin in meiner Lebensführung. Weißt Du, daß ich mich fürs ganze Leben von meinen
eigenen Eltern, von meiner ganzen Familie fortgemacht habe, weil ich nicht in dem
Zustand eines halben Verständnisses verharren wollte?
17
Einer der Gründe, warum er sich von seiner Heimatstadt abwandte, mag auch sein, dass es
in Skien religiöse Eiferer gab, die die Unterwerfung unter den Willen Gottes forderten.
Auch seine Mutter Marichen hing diesen Kreisen an. Damit konnte er sich nicht
identifizieren. Viele Jahre später, 1877, anlässlich des Todes seines Vaters, schreibt er in
einem Brief an seinen Onkel Christian Paus:
Von meinem vierzehnten Jahr an war ich darauf angewiesen, für mich selbst zu sorgen. Ich
habe hart kämpfen müssen, oft und lange, um mir Bahn zu brechen und das Ziel zu
erreichen, an dem ich stehe. [...] Während meines letzten Besuches in Norwegen habe ich
starke Lust verspürt, Skien und namentlich meine Familie zu besuchen. Aber ich verspürte
auch starken Widerwillen, in nähere Berührung mit gewissen dort herrschenden
Geistesrichtungen zu kommen, mit denen ich mich durchaus nicht verwandt fühle, und ein
Zusammenstoß mit ihnen hätte leicht Unannehmlichkeiten oder wenigstens
Mißstimmungen hervorgerufen, die ich lieber vermeiden wollte.
18
17
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 99
18
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 267, 268

14
Ferguson schreibt, dass man ,,von Hedvig weiß, dass die Bibel zu seinem frühesten
Lesestoff gehörte. Die Ereignisse in seiner Pubertät machten es ihm jedoch unmöglich, als
Christ zu leben. Da Gott für Ibsen abwesend war, pflegte Ibsen einen ,,Darwinkult", da er
jenes Gefühl des biologischen Determinismus brauchte, das ihm gestattete, die Erbsünde
durch ein nicht minder unerbittliches genetisches Erbe zu ersetzen."
19
Wenn man Ibsens Suche nach seinem Selbst betrachtet, scheint hier ein Widerspruch
vorzuliegen. Denn wenn Ibsen den Glauben durch den biologischen Determinismus
nahtlos ersetzt hätte, hätte er sich nicht auf die Suche nach seinem Selbst begeben müssen.
In diesem Zwiespalt zwischen der Abwendung vom Glauben einerseits und dem
biologischen Determinismus andererseits, der offensichtlich auch nicht die ,,ultima ratio"
war, ist auch einer der Gründe für Ibsens schwierige Suche nach seinem Selbst zu sehen.
Für Ibsen war der Ersatz des Glaubens durch den Darwinkult auch ein gutes Mittel, für
seine eigenen Taten nicht bedingungslos verantwortlich zu sein, denn so kann er
Leichtsinn und Prahlsucht genauso ererbt haben, wie seine übersteigerte Fantasie - so wie
mit Peer zuerst gleichsam alles ,,geschah", was er tat. Erst im hohen Alter, bei seiner
Rückkehr besinnt er sich auf sich selbst und sucht im Gleichnis mit der Zwiebel nach
seinem Kern.
Es geht aus den Briefen und Aufzeichnungen nicht klar hervor, warum er diesen
endgültigen Bruch mit seiner Familie vollzogen hat, aber wahrscheinlich musste er
zumindest versuchen, sich von seiner eigenen Vergangenheit zu befreien, um an sein Ziel ­
den Platz in der Welt zu finden, der ihm seiner Meinung nach zustand - zu kommen.
,,Eine Erinnerung von Hedvig an das Jahr 1850, Ibsens letztem Besuch in der Heimat: Es
ging ihm um nichts weniger als ,die größte und vollkommenste aller möglichen Formen
von Größe und Vollkommenheit' Und danach? Danach würde er sterben."
20
In einem Brief an Hedwig, vom 26. September 1869, den er erst Monate nach der
Mitteilung vom Tod seiner Mutter beantwortete, schreibt er:
Monate sind vergangen, seit ich Deinen liebevollen Brief erhalten habe, - und erst jetzt
antworte ich. Aber es steht so vieles zwischen uns, zwischen mir und der Heimat. Dies
mußt Du einsehen und nicht glauben, daß ich in den langen Jahren und letzthin im Sommer
19
Ferguson, 1998, S. 400
20
zit. nach Ferguson, 1998, S. 49, 50

15
aus Gleichgültigkeit geschwiegen habe. [...] Mein Blick ist in mein Inneres gewandt: da
habe ich meinen Kampfplatz, wo ich bald siege, bald Niederlagen erleide. Doch über all
dies läßt sich nicht in einem Briefe schreiben. Mache keinen Versuch mit einem
Bekehrungswerk. Ich will wahr sein; was kommen soll, das kommt schon.
Unsere liebe Mutter ist also tot. Habe Dank, daß Du so liebevoll die Pflicht auf Dich
genommen hast für uns andere. [...] Wer weiß ob ich im nächsten Sommer nach Norwegen
komme, und dann will ich die alte Scholle wiedersehen, auf der ich doch noch mit so vielen
Wurzeln hafte. [...] nun reise ich über Dresden und Paris nach Ägypten, wohin ich, wie Du
vielleicht aus den Zeitungen erfahren hast, vom Vizekönig eingeladen bin.
21
,,Selbst in so einem wichtigen Moment im Leben, wie es der Tod seiner eigenen Mutter
war, blieb Ibsen von den Dämonen des Karrieremachens besessen."
22
Ibsen hat zwar die äußeren Bande durchschnitten, in seinem Inneren ist aber der
,,Kampfplatz" geblieben. Mit Peer Gynt und der Veränderung seines Äußeren, von dem im
Kapitel ,,Persönlichkeitsveränderung" noch die Rede sein wird, hat er zwar teilweise sein
altes Ich hinter sich gelassen, aber ganz befreien konnte er sich davon nicht, wie aus dem
oben zitierten Brief hervorgeht: [...] die alte Scholle, auf der ich doch noch mit so vielen
Wurzeln hafte.
3.4. Theatererfahrungen
Dieses Kapitel zeigt Ibsens mühsamen Weg, den er beschreiten musste, um zu dem
Dramatiker zu werden, der Peer Gynt schrieb.
3.4.1. Bergen
1850 ging Ibsen nach Christiania, dem heutigen Oslo, um sich in der ,,Abiturientenfabrik",
den letzten Schliff für das Abitur zu holen. Sein Ziel war ein Studium, daraus wurde aber
nichts. Er schaffte mit Mühe das Abitur, aber für ein Studium wären weitere Prüfungen
nötig gewesen.
Er schrieb für revolutionäre Studentenzeitungen, es ging ihm aber wahrscheinlich mehr
ums Schreiben als um die Politik, denn er begann sich bald wieder von der Politik zu
21
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 129
22
Ferguson, 1998, S. 192

16
distanzieren und hat zeitlebens vermieden, sich auf eine bestimmte politische Richtung
festlegen zu lassen.
Sein zweites Stück, Das Hünengrab, 1850, ein Einakter, wurde vom Christiania-Theater
zur Aufführung angenommen.
Dies war ein großer literarischer Erfolg für den Dichter, aber seinen Lebensunterhalt
konnte er davon nicht bestreiten. Der berühmte norwegische Geiger Ole Bull gründete das
norwegische Nationaltheater in Bergen und engagierte Ibsen als Theaterdichter und
Dramaturg (sceneinstructör). Ibsen blieb sechs Jahre in Bergen und wurde dort mit allen
Belangen des Theaters vertraut. Er war vertraglich verpflichtet, alle Stücke, die aufgeführt
wurden, einzustudieren und zu inszenieren. Zum Stiftungsfest des Theaters wurde jedes
Jahr ein Stück Ibsens aufgeführt.
Durch seine Tätigkeit in Bergen erwarb sich Ibsen Bühnenkenntnisse, aus denen er als
Theaterdichter für den formalen Aufbau seiner Stücke großen Nutzen zog.
1852 wurde ihm ein Reisestipendium zum Studium europäischer Theater gewährt. Die
Reise führte ihn zuerst nach Kopenhagen, wo er zwei Monate blieb und Stücke von
Holberg, Shakespeare und von dänischen Nationaldichtern sah. Seine Studienreise führte
ihn weiter nach Dresden. Er verschaffte sich zwar Zutritt hinter die Bühne, bekam aber
keine Freikarten wie in Kopenhagen, also war sein Reisegeld bald aufgebraucht.
Die Jahre in Bergen waren für Ibsen in jeder Hinsicht eine Lehrzeit. Die Erfahrungen, die
er aus seiner täglichen Arbeit zog ­ noch heute werden die Regiebücher in Bergens
Theaterarchiv aufbewahrt ­ schlugen sich in seinen Stücken nieder, die zu verfassen er
verpflichtet war. Die Themen nahm Ibsen aus der Geschichte Norwegens. Er schrieb, wie
seine Zeitgenossen historische Dramen, wie Frau Inger auf Östrot, 1854 oder das Fest auf
Solhaug, 1855.
Aber die Jahre in Bergen brachten ihm nicht den Durchbruch, den er für seine Dichtung
erhofft hatte. Das Entscheidende, das ihm von der Bergener Theaterarbeit blieb, war die
reiche Theatererfahrung, die er sich aneignete. Er hatte mehrere hundert Dramen gelesen
und über hundert einstudiert. So erwarb er sich jene technische Fertigkeit, ohne die sein
ganzes Schaffen nicht denkbar wäre. ,,In Ibsens frühen Stücken haben die dänische
Romantik und das französische Intrigenstück ihre Spuren hinterlassen. Dennoch ist nicht
zu verkennen, daß hier ein Dichter ­ auf der Suche nach seinem Ich ­ dabei ist, sich seiner
Ausdrucksmöglichkeit zu vergewissern. Dies geschieht im vorgegebenen Rahmen des

17
nationalen Dramas, aber gleichzeitig auch in der Auseinandersetzung mit dieser
Kunstform."
23
3.4.2 Christiania
Im Sommer 1857 übernahm Ibsen die Leitung des Norwegischen Theaters in Christiania.
Als künstlerischem Direktor war ihm ein regelmäßiges Jahreseinkommen von 600 Talern
zugesichert. Das war für ihn wichtig, weil er 1856 die neunzehnjährige Suzannah
Thorensen kennen gelernt hatte, ein theaterbegeistertes junges Mädchen, das dem eher
zurückhaltenden Dichter sehr entgegenkam. Im Juni 1858 heiratete er sie, und am 23.
Dezember 1858 wurde Sohn Sigurd geboren. Suzannah lehnte es ab, weitere Kinder zu
bekommen. Ibsen war stets darauf bedacht, sein Privatleben vor der Öffentlichkeit
verborgen zu halten, doch scheint ihm Suzannah auch in schweren Zeiten stets den nötigen
Rückhalt gegeben zu haben, sie war stets solidarisch mit ihrem Mann, hat für ihn die
optimalen Bedingungen geschaffen, die er zum Schreiben brauchte, ganz anders als Ibsens
Frauengestalten in seinen späteren Stücken.
In der 30 000 Einwohner Stadt wurde das Norwegische Theater von Ibsen als das zweite
Haus nach dem Christiania-Theater angesehen. Ibsen bot sein Stück Die Helden auf
Helgeland, 1857, dem Christiania-Theater an. Es wurde Ibsen zwar zugesagt, das Stück
aufzuführen, die Aufführung wurde aber immer wieder hinausgeschoben, solange bis er es
zuletzt an seinem eigenen Theater aufführte. Es wurde kein Erfolg. In der Folge verfasste
Ibsen vor allem Gedichte wie In der Bildergalerie und Auf den Höhen, aus denen
hervorgeht, dass er sich durch den mangelnden Erfolg seiner Stücke in einer Identitätskrise
befand. ,,In den Gedichten kommt zum Ausdruck, daß alles Angeschaute und Erlebte durch
die Umsetzung in künstlerische Form in seiner Existenz aufgehoben wird. Dieser
Bedrohung sich ständig bewußt zu sein, macht den ethischen Gehalt des künstlerischen
Wollens aus. Hier hat der Dichter eine Saite angeschlagen, die nicht mehr verstummen
wird."
24
Der Freiheitsdrang des Gedichts Auf den Höhen kam, wie Ibsen es später formulierte, erst
in der Komödie der Liebe zum Ausdruck. Aber auch hier erlebte Ibsen wieder eine
Enttäuschung, das Stück wurde von Publikum und Kritik abgelehnt.
23
Rieger,2003, S 32
24
Rieger, 2003, S. 38, 39

18
In der Saison 1862/63 musste das Norwegische Theater Konkurs anmelden, Ibsen verlor
Stellung und Einkommen. Er war mit Schulden nach Bergen gekommen und lebte in
Christiania vom Schuldenmachen, um seine Familie ernähren zu können. Auch Ibsen lebte
wie sein Vater über seine Verhältnisse, er nahm ein Darlehen auf und war 1862 fast soweit
wie sein Vater dreißig Jahre zuvor, er musste eine detaillierte Liste seines Hab und Guts
abliefern, die zur Begleichung der Schulden nötig war
Er schrieb unzählige Gesuche um Stipendien, wie aus seinen Briefen hervorgeht. Er erhielt
ein Universitätsstipendium für eine Reise ins Westland, bei der er Sagen, Märchen und
Volksüberlieferungen sammeln sollte. Auf dieser Reise kam er durch das Gudbrandstal,
das später in Peer Gynt eine Rolle spielt.
Mit seinem Gesuch an die norwegische Regierung vom 27. Mai 1863 hatte Ibsen endlich
Erfolg und erhielt ein Reisestipendium bewilligt.
,,Es gibt eine Schilderung aus dem Ibsenjahrbuch 1952, wie Ibsen vor seiner Abreise nach
Südeuropa lebte. Er wohnte in einem verfallenen Haus, seine Frau hatte nicht einmal das
Geld für das tägliche Brot. Er war so arm, daß er buchstäblich hungerte. Die
Erniedrigungen eines Lebens als Schuldner wirkten sich nachhaltig auf sein Werk aus.
Ibsen, mit seinem starken Drang zur Dramatisierung seiner Lage und seinem Verlangen,
als Außenseiter zu gelten, verstand stets den Eindruck zu vermitteln, daß seine Abreise aus
Norwegen erzwungen gewesen sei."
25
In seinem autobiografischen Brief an Peter Hansen,
dem Literaturhistoriker, fasste er diese Erfahrung zusammen und schrieb: So wurde ich
denn in Acht und Bann gethan; alle waren wider mich.
26
.
Am 2. April 1864 verließ er Norwegen.
3.5. Italien
Mit dem öffentlichen Reisestipendium und nachdem Ibsens Freund, der Dichter Björnson,
den er aus seiner Studentenzeit in Christiania kannte, der aber in seiner Heimat immer
mehr Erfolg hatte als Ibsen, eine größere Summe für ihn gesammelt hatte, konnte Ibsen die
Reise nach Italien antreten. Abgesehen von einigen kurzen Besuchen blieb Ibsen 27 Jahre
seinem Heimatland fern.
25
Ferguson, 1998, S. 132, 133
26
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 150

19
Italien, das Land selbst und die Kunst Italiens machten einen gewaltigen Eindruck auf
Ibsen. So schreibt er am 16. September 1864 in einem Brief an Björnson, in dem zuerst
über die Bildhauer schreibt und dann:
Die Architektur hat mich mehr gepackt. Doch weder die Antike noch ihre späteren Erben
sprechen mich so an wie die Gotik. Für mich ist der Mailänder Dom das
Überwältigendste, was ich mir auf diesem Gebiet denken kann. Der Mann, der den Plan
eines solchen Werkes aushecken konnte, der hätte auch in seinen Freistunden auf den
Einfall geraten können, einen Mond zu machen und in den Himmelsraum
hinauszuschleudern.
27
Noch Jahrzehnte später schildert der 70 jährige Ibsen seine Eindrücke der ersten Reise
nach Italien:
Über den hohen Bergen hingen die Wolken wie große, dunkle Hüllen, und darunter fuhren
wir durch den Tunnel und sahen uns plötzlich bei Miramara, wo die Schönheit des Südens,
ein wundersam lichter Schimmer, strahlend wie weißer Marmor, sich auf einmal mir
offenbarte und meiner ganzen späteren Produktion das Gepräge gab, auch wenn in ihr
nicht alles Schönheit war.
28
Ibsens Aufenthalt in Italien war der Grundstein für seinen späteren Erfolg. So schreibt er
am 25. März 1865 an Björnson: Alles ist jetzt gut und schön, und im Grunde war es immer
so, ausgenommen jener vereinzelten Stunden, da ich nicht aus noch ein wußte ­ nicht in
der Geldfrage allein, sondern weil meine Arbeit nicht vom Fleck wollte. Da trat ich eines
Tages in die Peterskirche ein ­ ich hatte in Rom etwas zu besorgen ­ und da ging mir mit
einem Mal eine kraftvolle und klare Form für das auf, was ich zu sagen hatte.
29
3.5.1. Persönlichkeitsveränderung
In Italien schrieb er Brand, 1865, und mit Brand begann sein wirtschaftlicher Aufstieg. Es
gab bereits einen Verleger, der auf das Stück wartete. Den Kontakt hatte Björnson
hergestellt, der ihm die Reise nach Italien überhaupt erst ermöglicht hatte. Björnson lobte
gegenüber seinem eigenen Verleger in Kopenhagen, Frederik Hegel, dem Leiter des
Gyldendal-Verlages, Ibsens Talent und sein entstehendes Werk in höchsten Tönen. Hegel
braucht es nicht zu bereuen. Als Brand 1866 erschien, wurde das Stück sofort ein Erfolg,
27
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 31
28
Ibsen, Sämtliche Werke, o.J., 1. Band, S. 464
29
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 39

20
und zwar sowohl in kommerzieller Hinsicht als auch bei der Kritik. Hegel hat vermutlich
Ibsens berufliche Entwicklung am meisten beeinflusst.
Außerdem wurde ihm endlich, nachdem er unzählige erfolglose Bittbriefe geschrieben
hatte, nach dem Erfolg von Brand, eine ökonomische Grundlage gewährt, in Form einer
jährlichen Dichtergage.
Es ist wichtig, diesen finanziellen Erfolg zu erwähnen, denn er ist ein Teil von Ibsens
Persönlichkeitsveränderung, da er seit seiner Kindheit am finanziellen Niedergang seines
Vaters gelitten hatte.
,,Nach Brand verfolgte Ibsen ein umfassendes Programm der Selbststilisierung, das im
Frühjahr und Sommer 1866 begann. Er riskierte eine teilweise Entblößung seines Gesichts,
indem er den Vollbart aufgab, den er seit der Pubertät getragen hatte, und die Oberlippe
und das Kinn rasierte, um eine priesterliche Haarkrause unter dem Kinn und einen dichten
buschigen Backenbart zu kultivieren. Diese neue Barttracht ließ das Gesicht wuchtiger
erscheinen und betonte die nach unten gerichtete Krümmung der Lippen. Aus dem etwas
verkommenen Bohemien wurde der auf seinen Status bedachte Nationaldichter. Damit
kündigte er sich selbst und seiner Umgebung gegenüber seinen Wiedereintritt in die
Mittelschicht an, aus der er seit seiner Kindheit in Skien und dem finanziellen Ruin seines
Vaters vertrieben gewesen war. Er legte sich mit großem Bedacht ein Image zu, das er für
den Rest seines Lebens beibehielt und das ihn bald zu einer unverwechselbaren
Berühmtheit in Europa machte. In der Serie der photographischen Porträts, mit denen er
sein Leben fortan dokumentierte, altert das veröffentlichte Bild zwar, verändert sich aber
nicht. Psychologisch gesehen stilisierte er sich damit zu einer menschlichen Statue, dem
Ideal viktorianischer Selbstsicherheit. [...]
Ibsens Prozeß der erneuten Selbsterfindung reichte sogar bis in seine Handschrift hinein;
im Laufe dieser zwei-, dreijährigen Phase begann er ihre bislang unsicheren Schlingen und
Schweife zur zuchtvollen geraden Lesbarkeit umzudressieren. Die Ausrottung der
Spontaneität führte dazu, daß er handschriftliche Briefe quasi im Blocksatz schrieb, sogar
Wörter trennte, um seiner Handschrift etwas von der Unpersönlichkeit und Autorität der
gedruckten Seite zu verleihen. Die Vermutung liegt nahe, daß die Veränderung seiner
Handschrift ihrem Wesen nach fast auf eine psychologische Manifestation der neuen
Gewißheit über Sinn und Richtung in seinem Leben nach Brand hinauslief."
30
30
vgl. Ferguson, 1998, S. 161,162

21
Von seiner Berufung als Dichter war Ibsen zutiefst überzeugt. So schrieb er mit der Bitte
um ein Stipendium, gestärkt durch seinen Erfolg am 15. April 1866 an König Oskar II. von
Schweden und Norwegen:
Ich kämpfe hier nicht für ein sorgenfreies Auskommen, sondern für das Lebenswerk, zu
dem, wie ich unverbrüchlich glaube und weiß, Gott mich berufen hat ­ für die, wie mir
scheint, in Norwegen wichtigste und dringlichste Aufgabe, das Volk zu wecken und groß
denken zu lehren.
31
,,Auch wenn er sich äußerlich unter Kontrolle hatte, dauerte es doch noch lange, bis er
innerlich soweit war, und so blieb er seiner Eigenliebe ausgeliefert, die ihn zuweilen zu
skandalösem Verhalten verleitete. Er glaubte, daß er nun über uneingeschränkte Autorität
verfüge, und versuchte diese Autorität auch zu erzwingen. (Edvard Grieg berichtet, dass
bei einer Feier, als alle um einen jungen Mann trauerten, er die Leute zum Tanzen zwingen
wollte).[...]
Auch erfuhr er in dieser Zeit etwas, das ihm klargemacht haben muss, wie schwer es war,
sein altes, verachtetes Ich loszuwerden. [...] Ibsens Habe wurde nach seiner Abreise
versteigert, da sich niemand bereit erklärte, sein Darlehen zu tilgen. Als Ibsen zwei Jahre
später davon erfuhr, nahm er dies mit großer Gelassenheit hin.[...] Es tat ihm nur leid, daß
seine Papiere und Briefe verschwunden waren.[...] Dies erklärt auch, warum Ibsens
Geburtsschein 30 Jahre später als Einwickelpapier in einem Bergener Uhrmacherladen
auftauchte."
32
Zu Beginn des Jahre 1867 begann er mit der Arbeit zu Peer Gynt.
3.6. Die Entstehung von Peer Gynt
Nachdem Ibsen mit dem Erfolg von Brand und dem damit verbundenen bescheidenen
Wohlstand einen Teil seines ,,verhassten" Ichs losgeworden war, also die Armut, die ihm,
einem bedeutenden Dichter, seiner Meinung nach nicht adäquat war, wollte er sich mit
Peer Gynt, wie Gerd Enno Rieger meint, seiner norwegischen Vergangenheit entledigen.
Gerd Enno Rieger hält ,,Peer Gynt für eine Abrechnung Ibsens mit seiner norwegischen
Vergangenheit."
33
Ich gehe in dieser Arbeit nicht auf die Abrechnung mit Norwegen ein,
denn die Geschichte Norwegens ist hier nicht im Fokus und ist, aus meiner Sicht, für diese
31
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 34
32
zit. nach Ferguson, 1998, S. 163 -165
33
Rieger, 2003, S. 52

22
Arbeit nur bedingt relevant. Mir erscheint im Zusammenhang mit Peer Gynt der
historische Bereich, den Rieger hier mit dem Wort Abrechnung anspricht, eher sekundär,
denn ich bin der Meinung, dass Ibsen nicht so sehr an seiner norwegischen Vergangenheit,
sondern mehr an sich selbst gelitten hat, also dass es in Peer Gynt mehr um Aufarbeitung,
als um Abrechnung geht. Durch die Befreiung von seinen Geldproblemen wurde er auf
sich selbst zurückgeworfen und hat sein eigenes Leben durch Peer Gynt sichtbar gemacht.
Im fernen Italien hatte Ibsen die Distanz, die für das Schreiben notwendig war, um sein
Leid und seine Erfahrungen in einen kreativen Prozess umzusetzen.
Am 4. Mai 1866 schreibt Ibsen an seinen Freund, den Reichsarchivar Michael Birkeland:
Hier ist es wundervoll ­ märchenhaft schön! Ich habe eine Arbeitsfähigkeit und eine Kraft,
daß ich Bären töten könnte! [...] Was meinen inneren Menschen betrifft, so ist er, glaube
ich, in gewissen Beziehungen sehr verändert; trotzdem aber meine ich, daß ich mehr als je
zuvor ich selbst bin.
34
,,Anfang Januar begann Ibsen in Rom mit der Arbeit an Peer Gynt. Als er im Mai mit
seiner Familie nach Ischia übersiedelte, arbeitete er bereits am dritten Akt. Mitte Oktober
schickte Ibsen das fertige Manuskript an seinen Verleger Hegel und kehrte nach Rom
zurück."
35
Ibsen bezeichnet Peer Gynt in seinem Brief an Hegel vom 5.1. 1867 als eine halb
mythische, halb märchenhafte volkstümliche Gestalt der neueren Periode des niederen
Volkes in Norwegen
36
.
Diese märchenhafte Gestalt entnahm Ibsen aus den ,,Norwegischen Feen- und
Volksmärchen", erzählt von Peter Christian Asbjörnsen und Jörgen Moe aus dem Jahr
1844. In dieser Märchensammlung kann man nachlesen, dass nicht nur Peer Gynt ­ das
Märchen schließt mit den Worten: Peer Gynt das war einer, ein richtiger Lügenschmied
und Aufschneider: der erzählt auch die ältesten Geschichten so, als wär' er selbst dabei
gewesen.
37
- darin vorkommt, sondern auch der Krumme (Böig = Bogig) und Spuk- und
Koboldwesen, die Trolle aus den ersten drei Akten. Stecher schreibt in seinen
Erläuterungen, ,,daß norwegische Märchen anders zu lesen seien als deutsche
Volksmärchen, die edler und sittiger im Ton gehalten sind. Der mythische Gegenstand
34
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 65
35
Ferguson, 1998, S. 168ff.
36
Ibsen, Sämtliche Werke, 1905, 10. Band, Briefe. S. 88
37
zit. nach Stecher, 1924, S. 8

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836607391
DOI
10.3239/9783836607391
Dateigröße
598 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien – Philosophie, Theater- und Filmwissenschaft
Erscheinungsdatum
2007 (Dezember)
Note
2,0
Schlagworte
ibsen henrik peer gynt narzissmus motiv psychoanalyse persönlichkeitsveränderung peymann- inszenierung wiener burgtheater
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Titel: Der Narziss Peer Gynt
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