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Individuelle Bewältigung von Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen am Beispiel Wohnortwechsel

©2006 Diplomarbeit 210 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Gesellschaftliche Veränderungen, Turbulenzen auf dem Arbeitsmarkt und der Wandel der Erwerbsarbeit führen zu immer neuen Anforderungen an den arbeitenden Menschen. Begriffe wie Flexibilität und Mobilität sind aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebersicht nicht mehr weg zu denken und erfordern hohe Anpassungsleistungen auf Seiten des Individuums.
„Mobilität im Sinne von Beweglichkeit und Flexibilität hat sich in Zeiten der Globalisierung zu einem Erfordernis entwickelt, das als Strukturmerkmal allen Organisationen abverlangt und als Persönlichkeitsmerkmal von immer mehr Menschen erwartet wird. Leitfigur der Moderne ist der ‚mobile Mensch’: flexibel, ungebunden, leistungsstark“.
Eine Reaktionsweise auf die Veränderungen des Arbeitsmarktes ist eine erhöhte Mobilitätsbereitschaft, d.h., die Bereitschaft, täglich weite Strecken zum Arbeitsplatz auf sich zu nehmen oder gar den Wohnort zu wechseln. Untersuchungen haben ergeben, dass ein Wohnortwechsel mit weniger Belastungen und mehr Zeitersparnis verbunden ist als das tägliche Pendeln. Und doch führt auch die räumliche Veränderung zu vielen Einbrüchen und Veränderungen im Leben des Menschen sowie seiner sozialen und räumlichen Umwelt.
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der individuellen Bewältigung der Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen am Beispiel Wohnortwechsel.
Die (Industrie-) Soziologie analysiert die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, lässt aber den Menschen und sein subjektives Erleben und Verhalten als Reaktion auf die Veränderungen weitgehend außer Acht. Aus diesem Grund erscheint mir die Verknüpfung von soziologischen und psychologischen Elementen in dieser Untersuchung angemessen, um das komplexe Phänomen des Wohnortwechsels, vor allem dessen Ursachen und Auswirkungen eingehend zu beleuchten.
Gang der Untersuchung:
Der erste Teil des Buches widmet sich dem theoretischen Hintergrund meiner empirischen Untersuchung „Wohnortwechsel“.
In den ersten zwei Kapiteln werden der Stellenwert von Erwerbsarbeit und dessen Wandel sowie die strukturellen und gesellschaftlichen Veränderungen, die den Menschen und sein Erwerbsleben beeinflussen, betrachtet. Hieraus ergeben sich neue Anforderungen an das Individuum, wobei insbesondere die Flexibilität und Mobilität betrachtet werden. Umzugsmobilität kann als eine Form der Arbeitskräftemobilität gesehen werden, um auf diese Anforderungen zu reagieren (Kapitel 3).
Die Auswirkungen eines Wohnortwechsels in Form von […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Anja Stippler
Individuelle Bewältigung von
Flexibilitäts- und
Mobilitätsanforderungen am Beispiel
Wohnortwechsel
Diplomica® Verlag GmbH

Stippler, Anja: Individuelle Bewältigung von Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen
am Beispiel Wohnortwechsel, Hamburg, Diplomica Verlag GmbH 2009
ISBN: 978-3-8366-5664-1
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009
Printed in Germany



Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Darstellungsverzeichnis
Einleitung ... 1
I) Theoretischer Hintergrund... 3
1. Bedeutung von Arbeit im Leben des Menschen ... 3
1.1 Arbeitsbegriff ... 3
1.2 Wert der Arbeit ... 4
1.3 Psychologischer Aspekt von Arbeit ... 7
2. Veränderungen des Arbeitsmarktes ... 8
2.1 Ausmaß und Struktur der Erwerbsarbeit ... 8
2.2 Globalisierung ... 12
2.3 Individualisierung... 19
3. Neue Anforderungen an das Individuum ... 26
3.1 Flexibilität ... 27
3.1.1 Begriff ... 27
3.2 Mobilität ... 31
3.2.1 Mobilitätskulturen im Vergleich... 35
3.2.2 Mobilitätsbereitschaft in Deutschland... 38
3.2.3 Formen der räumlichen Arbeitskräfte-Mobilität ... 42
3.2.4 Umzugsmobilität... 43
4. Wohnortwechsel - Psychologische Sichtweise der
Umzugsmobilität ... 54
4.1 Das Modell des kritischen Lebensereignisses ... 55
4.2 Stress ... 64
4.2.1 Das Stressmodell nach Lazarus... 67
4.2.2 Bewältigung von Stress... 72
4.3 Psychosoziale Auswirkungen eines Wohnortwechsels... 76
II) Empirische Untersuchung ... 80
1. Fragestellung und Hypothesen ... 80
2. Methode
... 85
2.1 Die Befragung ... 85

Inhaltsverzeichnis
2.2 Planung und Aufbau der Untersuchung ... 85
2.3 Durchführung... 90
2.3.1 Ablauf der Untersuchung... 91
2.3.2 Stichprobe ... 92
2.4 Ergebnisse ... 93
3. Diskussion und Interpretation der Ergebnisse ... 104
Stichprobe ... 105
AP 1: Stellenwert der Lebensbereiche ... 106
AP 2: Einflussmöglichkeiten ... 107
AP 2.1: Bewusstsein über eigene berufliche Mobilitätserfordernisse... 107
AP 3: Mobilitätsbereitschaft... 108
AP 4: Selbstwirksamkeit... 108
AS 1: Häufigkeit des Wohnortwechsels ... 109
AS 2: Zeitliche Distanz zum Wohnortwechsel... 109
AS 3: Entfernung vom vorigen Wohnort... 110
AS 4: Soziale Kontakte am neuen Wohnort vor dem Wohnortwechsel ... 110
Fazit und Ausblick ... 112
Literaturverzeichnis ... 113

Darstellungsverzeichnis
Darstellungsverzeichnis
Abbildung 1: Erwerbstätige im Inland nach Wirtschaftssektoren (Statistisches
Bundesamt 2005d, 68) ... 9
Abbildung 2: Mobilitätsformen (Schneider, Limmer & Ruckdeschel 2002b, 58) ... 42
Abbildung 3: Veränderungen in verschiedenen Lebensbereichen nach dem
Ortswechsel (Schweizer 1990, 119) ... 46
Abbildung 4: Anteil der Befragten, die sich durch ihre Lebensform belastet fühlen (in
Prozent) (Schneider, Limmer & Ruckdeschel 2002b, 159) ... 51
Abbildung 5: Allgemeines Modell für die Analyse kritischer Lebensereignisse in
Anlehnung an Filipp 1995, 13 ... 58
Abbildung 6: Eigene graphische Darstellung in Anlehnung an das Modell des
kritischen Lebensereignisses nach Filipp 1995, 10... 62
Abbildung 7: Stress als dreifaktorielles (biologisches, psychisches und soziales)
Geschehen (vgl. Nitsch 1981, 53) ... 65
Abbildung 8: Das Modell des Stress- und Copingprozesses in Anlehnung an
Lazarus (1991, 1993); in Schröder & Schwarzer (1997, 17) ... 68
Abbildung 9: Eigene graphische Darstellung der primären Einschätzung in Anlehung
an Lazarus (1995) ... 69
Abbildung 10: Eigene graphische Darstellung der sekundären Einschätzung in
Anlehnung an Lazarus (1995) ... 71
Abbildung 11: Eigene graphische Darstellung der Formen der Befragung in
Anlehnung an Kromrey (2002) Abbildung ... 85
Abbildung 12: Mittelwertdiagramm der Varianzanalyse (AV: Herausforderung; UV:
Stellenwert der Lebensbereiche im Vergleich zum Beruf) ... 96
Abbildung 13: Mittelwertdiagramm der Varianzanalyse (AV: Gewinn; UV:
Einflussmöglichkeiten) ... 97
Abbildung 14: Mittelwertdiagramm der Varianzanalyse (AV: Herausforderung; UV:
Selbstwirksamkeit) ... 100
Abbildung 15: Mittelwertdiagramm der Varianzanalyse (AV: Verlust; UV: zeitliche
Distanz zum Wohnortwechsel)... 101
Tabelle 1: Bereitschaft zum Wechsel der beruflichen Tätigkeit in Prozent der
Befragten... 39
Tabelle 2: Schrittweise Varianzaufklärung der abhängigen Variablen
Herausforderung ... 103
Tabelle 3: Schrittweise Varianzaufklärung der abhängigen Variablen Gewinn... 104

,,Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte
der Mobilität, des Ortswechsels und der großen Wanderungen."
(Opaschowski 2004, 54)

Einleitung
1
Einleitung
Gesellschaftliche Veränderungen, Turbulenzen auf dem Arbeitsmarkt und der Wan-
del der Erwerbsarbeit führen zu immer neuen Anforderungen an den arbeitenden
Menschen. Begriffe wie Flexibilität und Mobilität sind aus Arbeitnehmer- und Arbeit-
gebersicht
1
nicht mehr weg zu denken und erfordern hohe Anpassungsleistungen
auf Seiten des Individuums.
,,Mobilität im Sinne von Beweglichkeit und Flexibilität hat sich in Zeiten der Globali-
sierung zu einem Erfordernis entwickelt, das als Strukturmerkmal allen Organisatio-
nen abverlangt und als Persönlichkeitsmerkmal von immer mehr Menschen erwartet
wird. Leitfigur der Moderne ist der ,mobile Mensch': flexibel, ungebunden, leistungs-
stark" (Schneider, Limmer & Ruckdeschel 2002b, 9).
Eine Reaktionsweise auf die Veränderungen des Arbeitsmarktes ist eine erhöhte
Mobilitätsbereitschaft, d.h., die Bereitschaft, täglich weite Strecken zum Arbeitsplatz
auf sich zu nehmen oder gar den Wohnort zu wechseln. Untersuchungen haben
ergeben, dass ein Wohnortwechsel mit weniger Belastungen und mehr Zeiterspar-
nis verbunden ist als das tägliche Pendeln (vgl. ebd., 181). Und doch führt auch die
räumliche Veränderung zu vielen Einbrüchen und Veränderungen im Leben des
Menschen sowie seiner sozialen und räumlichen Umwelt.
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der individuellen Bewältigung der Flexibi-
litäts- und Mobilitätsanforderungen am Beispiel Wohnortwechsel.
Die (Industrie-) Soziologie analysiert die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse,
lässt aber den Menschen und sein subjektives Erleben und Verhalten als Reaktion
auf die Veränderungen weitgehend außer Acht. Aus diesem Grund erscheint mir die
Verknüpfung von soziologischen und psychologischen Elementen in dieser Unter-
suchung angemessen, um das komplexe Phänomen des Wohnortwechsels, vor
allem dessen Ursachen und Auswirkungen eingehend zu beleuchten.
Der erste Teil des Buches widmet sich dem theoretischen Hintergrund meiner empi-
rischen Untersuchung ,,Wohnortwechsel".
In den ersten zwei Kapiteln werden der Stellenwert von Erwerbsarbeit und dessen
Wandel sowie die strukturellen und gesellschaftlichen Veränderungen, die den
Menschen und sein Erwerbsleben beeinflussen, betrachtet. Hieraus ergeben sich
neue Anforderungen an das Individuum, wobei insbesondere die Flexibilität und
1
In der vorliegenden Studiewird aus Gründen der Lesbarkeit lediglich die männliche Form verwendet.
Frauen und Männer sollen dennoch gleichermaßen angesprochen werden.

Einleitung
2
Mobilität betrachtet werden. Umzugsmobilität kann als eine Form der Arbeitskräfte-
mobilität gesehen werden, um auf diese Anforderungen zu reagieren (Kapitel 3).
Die Auswirkungen eines Wohnortwechsels in Form von Stress und Bewältigung sind
Gegenstand des vierten Kapitels. In diesem werden die psychologische Sichtweise
der Umzugmobilität sowie bisherige empirische Ergebnisse zu den Folgen des Um-
zugs darstellt. Hithilfe des Modells des kritischen Lebensereignisses und des
Stressmodells nach Lazarus werden die Prozesse nach erfolgtem Wohnortwechsel
analysiert. Es werden verschiedene Vor- und Nachteile des Wohnortwechsels auf-
gezeigt, wonach dieses Ereignis je nach Bewertung auf Seiten des Individuums als
Herausforderung und persönliche Weiterentwicklung oder als Belastung betrachtet
werden kann.
Die Planung und Konstruktion eines Fragebogens zum Thema Wohnortwechsel, die
Durchführung der Untersuchung sowie die Darstellung und Interpretation der Er-
gebnisse werden im zweiten Teil der vorliegenden Studie ausführlich dokumentiert.
Ziel der Untersuchung war es, Aussagen darüber zu formulieren, wodurch sich Per-
sonen, die einen Wohnortwechsel positiv bewältigen bzw. diesen als Herausforde-
rung einschätzen, von Personen unterscheiden, die sich durch diese Ereignis be-
lastet fühlen. Dabei werden ausschließlich die Folgen des Wohnortwechsels auf das
Individuum sowie auf dessen Erleben und Verhalten nach diesem Ereignis betrach-
tet.

Theoretischer Hintergrund: Bedeutung von Arbeit im Leben des Menschen
3
I) Theoretischer Hintergrund
1. Bedeutung von Arbeit im Leben des Menschen
,,Der Arbeitsplatz ist nicht nur der wichtigste Umzugsgrund für die Mehrzahl der Be-
fragten, sondern das Handlungsfeld Arbeit ist für eine Reihe von Befragten im Alltag
nach dem Ortswechsel ein dominanter Bereich" (Schweitzer 1990, 196).
Arbeit stellt einen der wichtigsten Gründe dar, die Belastungen eines Wohnortwech-
sels auf sich zu nehmen. Warum gerade die Arbeit einen so wichtigen Stellenwert
im Leben des Menschen einnimmt, wie sich ihre Bedeutung gewandelt hat und wel-
che Funktionen sie für den Menschen besitzen kann, wird im folgenden Kapitel be-
schrieben.
1.1 Arbeitsbegriff
Bevor die Bedeutung von Arbeit im Leben des Menschen ermessen werden kann,
ist es zunächst notwendig zu klären, was unter dem Begriff der Arbeit verstanden
werden kann.
Die Definition von Arbeit hat sich in der europäischen Geschichte stark gewandelt
und es lassen sich kulturelle Unterschiede in der Bedeutung von Arbeit für den
Menschen feststellen.
2
In den Sozialwissenschaften wird Arbeit als eine ,,zweckgerichtete, planvolle und
organisierte Tätigkeit, die an materiellen [...] oder immateriellen Zielen [...] orientiert
ist und zur Deckung des eigenen Bedarfs oder zum eigenen Gewinn bzw. dem an-
derer dient" (Fröhlich 2000, 68) definiert.
Richter spricht davon, dass nicht nur Erwerbsarbeit als Arbeit zu bezeichnen sei,
sondern ebenfalls die Anstrengungen in der Freizeit und die Pflege sozialer Kontak-
te (vgl. Richter 2005, 23).
3
Den arbeitsähnlichen Charakter der Tätigkeiten in der Freizeit und im Privatleben
erklärt er durch die Fülle von Aktivitäten, die zur Kategorie der Arbeit zu zählen wä-
ren, die aber unbezahlt oder nur teilweise bezahlt würden. Zu nennen wären hierbei
die Familienarbeit (Hausarbeit und Pflege), die Eigenarbeit (wie Reparaturen und
Gartenarbeit) und Arbeiten im Non-Profit-Sektor (z.B. Ehrenamt).
2
Entstehung und Wandel des Arbeitsbegriffs in der europäischen Geschichte siehe Kocka, Offe 2000;
Liedtke 2002, 243; Kocka 2002, 251ff.
3
Weitere Ausführungen zur Systematisierung von Tätigkeiten unter den Arbeitsbegriff siehe Liedtke
2002, 197f.

Theoretischer Hintergrund: Bedeutung von Arbeit im Leben des Menschen
4
Die Eigenarbeit, die im gesamten Lebenslauf, häufig schon seit der Kindheit oder
Jugendzeit geleistet wird, übertrifft dabei zeitlich die der Erwerbstätigkeitsphase (vgl.
Richter 2005, 36ff.).
Richter konstatiert allerdings auch, dass es erst langsam zu einer Orientierung an
einem allgemeinen Arbeitsbegriff komme. Im Zentrum bleibe die Erwerbsarbeit, also
Arbeit, ,,für die man einen Lohn, ein Gehalt oder ein Einkommen bezieht" (ebd., 27).
Wenn im weiteren Verlauf der Begriff der Arbeit verwendet wird, ist dieser aus-
schließlich im Sinne der Erwerbsarbeit nach Richter zu verstehen.
1.2 Wert der Arbeit
Die Bedeutung von Arbeit hat sich im Laufe der Jahrtausende unter dem Einfluss
kultureller, politischer, sozialer und religiöser Faktoren stark verändert.
4
Studien über die Einstellungen und Werthaltungen der Bevölkerung in Bezug auf die
Arbeit Ende der achtziger Jahre (u.a. die Austrian LifeStyle Study
5
) zeigen eine brei-
te Vielfalt von Standpunkten zur Erwerbsarbeit:
,,Manche meinen, dass das Leben erst durch die Arbeit einen Sinn bekomme. Für
andere ist es Mittel zum Zweck, die berufliche Tätigkeit wird als ein Muss betrachtet,
um Geld zu verdienen. [...] Wieder andere sehen Arbeit zwar als wichtig an, messen
der Familie aber genauso Wichtigkeit zu" (Richter 2005, 34ff.).
Die österreichische Lebensstilstudie aus dem Jahr 2001 bestätigt im Wesentlichen
die Tendenz eines uneinheitlichen Bildes. So gehört der Arbeitsplatz zwar mit zu
den wichtigsten Lebensbereichen des Menschen, er steht allerdings bei einer Reihe
von elf Kategorien nach Familie, Gesundheit und Freunden auf Platz vier (vgl. Fes-
sel-GfK LifeStyle 2001, in Richter 2005, 36). Bei einer erneuten Abfrage der Ein-
schätzung von Lebensbereichen im Jahre 2003 nahmen Arbeitsplatz und Beruf in
einer Reihe von zwölf Kategorien nach Familie/Partnerschaft, Gesundheit, Einkom-
men und Freundeskreis sogar erst den fünften Platz ein (vgl. Fessel-GfK LifeStyle
2003, zit. nach Bretschneider 2005). Die Einkommenssicherung werde allerdings in
der Regel durch den Beruf erfüllt.
In einer standardisierten Fragebogen-Untersuchung von Brake u.a. wurden bei
knapp 1100 Jugendlichen im Alter von 18 - 21 Jahren Einschätzungen zu dem per-
4
Siehe hierzu Schumacher 1986, S. 22ff.
5
Die Sozialforschung der GfK beschäftigt sich seit 1987 mit Lebensstilforschung.
Die ,,Austrian LifeStyle"-Studie ist eine schriftliche Mehrthemen-Umfrage, die jährlich durchgeführt wird,
und zwar repräsentativ für die österreichische Gesamtbevölkerung ab 15 Jahren, mit einer Stichpro-
bengröße von mindestens 4000 Personen, die u.a. detaillierte Subgruppen-Analysen ermöglicht.

Theoretischer Hintergrund: Bedeutung von Arbeit im Leben des Menschen
5
sönlichen wie gesellschaftlichen Stellenwert der Lebensbereiche Arbeit, Familie und
Freizeit erhoben (vgl. Brake 2003, 121ff.).
Hier ließ sich eine deutliche Dominanz der Erwerbsarbeit gegenüber den anderen
Lebensbereichen sowohl bei den Einschätzungen des späteren Lebens, als auch
bei den Wunschvorstellungen feststellen. Diese Zentralität der Erwerbsarbeit sei im
Zusammenhang mit dem Wertewandel der Bedeutung von Arbeit zu sehen, die
nicht mehr nur als Existenzsicherung diene, sondern die Möglichkeit zur Selbstent-
faltung gebe (vgl. ebd., 155ff.).
Bei der Bewertung verschiedener Aspekte der Berufstätigkeit stehen trotz zuneh-
mender persönlicher Ansprüche an die Arbeit instrumentelle Aspekte wie Arbeits-
platzsicherheit und Existenzsicherung an erster Stelle. Erst danach äußerten die
Jugendlichen den Wunsch ,,nach der Arbeit noch Energien für andere Dinge zu ha-
ben" und ,,Familie und Beruf gut miteinander verbinden zu können" (vgl. ebd.,
154ff.).
6
In der Diskussion um die Freizeit- und Erlebnisgesellschaft wird die Abkehr von der
Erwerbsarbeit, die mit der Aufwertung des Freizeitsektors einhergeht, als Befürch-
tung deutlich.
Nach Pawlowsky & Flodell (1984) habe ,,für den deutschen Arbeitnehmer [...] die
Freizeit in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Dies heißt jedoch nicht,
dass die Arbeit als Erfüllungsort materieller und immaterieller, psychosozialer Be-
dürfnisse weniger wichtig geworden ist. Vielmehr macht der Mensch sowohl bei der
Arbeit als auch in der Freizeit bestimmte Erfahrungen, wobei sich die Erfahrungen
des einen Lebensbereiches immer stärker auf den anderen auswirken" (Schuma-
cher 1986, 28).
Durch die zunehmende Ortsungebundenheit der Arbeit und die Ausweitung der Ar-
beit ins Privatleben stehen Arbeit und Freizeit nun nicht mehr nebeneinander, son-
dern ,,verschmelzen zu einer Einheit" (Liedtke 2002, 203).
Die vorgestellten empirischen Studien belegen einen anhaltend hohen subjektiven
Stellenwert der Erwerbsarbeit. Bereits in den Vorstellungen der Jugendlichen neh-
men die drei Lebensbereiche Arbeit, Familie und Freizeit eine zentrale Bedeutung
ein (Jugendwerk der Deutschen Shell 2000, Bd. 1, nach Brake 2003, 11).
Es könne demnach nicht von einem Bedeutungsverlust, sondern eher von einem
Bedeutungswandel der Arbeit gesprochen werden.
6
Ausführungen zum zunehmenden Sicherheitsbedürfnis der Jgdl. siehe Gensicke 2004, 140 f.; Ar-
beitsplatzsicherheit als primäres Bedürfnis im Berufsleben vgl. Bretschneider 2005, 19 (Abb. 2 im An-
hang)

Theoretischer Hintergrund: Bedeutung von Arbeit im Leben des Menschen
6
Bolte (1993) beschreibt die Auswirkungen des Wertewandels auf die Arbeitswelt
anhand von fünf Entwicklungen. Diese zeigen sich in den veränderten Vorstellun-
gen, Ansprüchen und Forderungen der Beschäftigten an die Erwerbsarbeit: Neben
der Einkommenssicherung und der Arbeitsplatzsicherheit treten zunehmend Forde-
rungen an
· Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung, Kreativität, gutes Betriebsklima
und Freiräume bei der Arbeitsgestaltung; wobei Art und Intensität nach Alter,
Geschlecht und Qualifikation variieren;
· die Arbeitnehmer zu größeren Möglichkeiten der Partizipation in Tätigkeit
und Betrieb;
· veränderte Muster der Karriereplanung von Männern und Frauen im Zuge
der Individualisierung von Lebensstilen;
· die Relativierung insbesondere von Erwerbsarbeit durch stärkere Freizeitori-
entierung, wobei durchaus Leistungsorientierungen in den Nichterwerbsbe-
reich übertragen werden;
· die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen, insbesondere auch
im Bereich des Umweltschutzes (vgl. Bolte 1993, S.14ff.; Brake 2003, 57).
Die entscheidenden Faktoren für die Arbeitszufriedenheit und Motivation werden
folglich nicht nur durch die Einkommenshöhe, den Status und die Aufstiegsmöglich-
keiten bestimmt, sondern auch durch immaterielle Werte wie Attraktivität der Aufga-
ben, unmittelbare Erfolgserlebnisse sowie die soziale Anerkennung der persönli-
chen Leistung ergänzt. Wo die persönliche Entfaltung am Arbeitsplatz nicht möglich
ist, wird dieses Bedürfnis in weiteren Betätigungsfeldern oder in der Freizeit kom-
pensiert (vgl. Opaschowski 2004, 46f.).
Diesen Bewusstseinswandel der Erwerbstätigen nennt Baethge (1991) ,,normative
Subjektivierung" der Arbeit. Er belegt in eigenen empirischen Untersuchungen die
neuen Ansprüche und Forderungen der Arbeitnehmer an die Arbeit, die ein subjekti-
ves Bedürfnis nach Selbstdarstellung und ­entwicklung in der Arbeit artikulieren.
Besonders bei jüngeren Erwachsenen sei dieses veränderte Arbeitsbewusstsein zu
beobachten. Es finde sich aber darüber hinaus in ganz unterschiedlichen Berufen
und Qualifikationsniveaus. Diese Bedeutung von Arbeit bei der Identitätskonstrukti-
on spiele für einige Beschäftigungsgruppen, vornehmlich für gut ausgebildete Ar-
beitskräfte, schon immer eine große Rolle. Neu sei allerdings die breite Streuung

Theoretischer Hintergrund: Bedeutung von Arbeit im Leben des Menschen
7
und die Selbstverständlichkeit der Artikulation dieser eigenen Interessen gegenüber
den Betrieben (vgl. Baethge 1991, 6ff.; Baethge 1994, 245ff.).
7
1.3 Psychologischer Aspekt von Arbeit
In Anlehnung an Scharmann (1966), Fröhlich (1979), Kieselbach (1983) u.a. listet
Schumacher verschiedene Funktionen und Bedeutungen von Arbeit und Beruf auf.
8
Arbeit ermögliche mittels der finanziellen Entlohnung die Sicherung der materiellen
Existenzgrundlage und somit die Befriedigung von Bedürfnissen nach Essen, Woh-
nen, sozialer Sicherheit und Konsum. Sie trage zudem zur Formung der Persönlich-
keit, der Einstellungen und der Weltanschauung bei.
Die Entwicklung von Identität und das Gefühl der Handlungskompetenz sowie des
Selbstbewusstseins entstehe durch die in der Arbeit vermittelten Erfahrungen über
bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verfügen. Des Weiteren stelle Erwerbs-
arbeit eine der wichtigsten sozialen Kontakt- und Interaktionsfelder dar. Die Zu-
sammenarbeit mit anderen wirke sich positiv auf die Entwicklung kooperativer Fä-
higkeiten aus. Der Arbeitsplatz biete durch das Zusammentreffen mit anderen Per-
sonen die Möglichkeit eines sozialen Orientierungsrahmens zur Selbsteinschätzung
und ermögliche das Gefühl der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Zudem kom-
me es zu einer Umwelt- und Innenstabilisierung der Person durch den Aufbau eines
relativ stabilen Handlungssystems durch die Vielzahl sozialer Rollen.
Die berufliche Stellung bestimme darüber hinaus weitgehend über das soziale An-
sehen, die soziale Stellung und somit über die Bewertung einer Person.
Abschließend nennt Schumacher als eine weitere wichtige Funktion von Arbeit die
Strukturierung der Zeit wie z.B. die Tages-, Wochen-, Jahres- und Lebensplanung.
Auch die Freizeit werde durch Arbeitsbedingungen, -einkommen und -inhalte ent-
scheidend mitbestimmt (vgl. Schumacher 1986, 19ff.).
Persönlichkeitsentfaltung und Identitätsbildung sind demnach unmittelbar an Er-
werbsarbeit gebunden. Dies gilt durch die zunehmende Berufsorientierung der
Frauen für beide Geschlechter. Dieser Vielzahl an positiven psychosozialen und
materiellen Konsequenzen stehen Arbeitsbedingungen gegenüber, die nur geringe
Entfaltungsmöglichkeiten bieten und hohe Belastungsfaktoren aufweisen. Dennoch
wird nach Kieselbach (1983) die Arbeitslosigkeit mit ihren Konsequenzen in der Re-
gel viel belastender erlebt als eine Arbeitsstelle, die die oben genannten Funktionen
der Arbeit nicht in vollem Umfang ermöglicht (vgl. Schumacher 1986, 21).
7
Weitere Ausführungen zur Subjektivierung der Arbeit sind bei Brake 2003, 57ff. sowie Lohr 2003 zu
finden.
8
Weitere Erläuterungen zu Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit aus psychodynamischer, entwicklungs-
psychologischer und ganzheitstheoretischer Sichtweise siehe Schumacher 1986, 12ff.

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
8
2. Veränderungen des Arbeitsmarktes
,,Die Arbeitswelt befindet sich in einem fundamentalen Veränderungsprozess. Dieser
oft zitierte ,Strukturwandel' der Arbeit betrifft verschiedenste Aspekte: die eingesetz-
te Technologie, die Betriebsorganisation, den Arbeitsmarkt, die Berufsstruktur, die
rechtliche Regulierung von Arbeit und Beschäftigung u.v.a.m." (Voß 2004, 136).
Diese Veränderungen sowie gesellschaftliche Entwicklungen wie die Globalisierung
und Individualisierung stehen in engem Zusammenhang mit den neuen Anforderun-
gen an Mobilität und Flexibilität (siehe Kapitel 3) und nehmen Einfluss auf die indivi-
duellen Möglichkeiten der Lebensplanung und -gestaltung.
2.1 Ausmaß und Struktur der Erwerbsarbeit
In den achtziger Jahren stellten sich Soziologen (u.a. Ralf Dahrendorf) die Frage, ob
der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausginge.
9
In der heutigen Zeit sieht die Lage auf dem Arbeitsmarkt komplexer aus:
,,Was auf uns zu kommt, ist der Übergang zu einer Gesellschaft, die mehr denn je in
fast allen Bereichen von Erwerbsarbeit geprägt sein wird - aber einer Arbeit, die
weitgehend neue Formen bekommt und noch stärker als bisher ungleich verteilt sein
wird" (Voß 2004, 136).
Für die Erwerbstätigen geht die Arbeit keinesfalls aus, aber Volumen und Qualität
der künftigen Erwerbsarbeit werden sich verändern (vgl. Dettling 2000, 204; Richter
2005, 31).
Aktuelle arbeitsmarktbezogene Entwicklungen vollziehen sich in den Bereichen
a) der Entwicklung der Beschäftigungsstruktur,
b) der Entwicklung der Beschäftigten-/ Produktivitätszahlen,
c) der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und
d) des
subjektiven Stellenwerts von Arbeit (vgl. Brake 2003, 40f.)
a) Die Entwicklung der Beschäftigungsstruktur
Zur Entwicklung der Beschäftigungsstruktur zählen sektorale Verschiebungen sowie
der Wandel der Qualifikationsanforderungen (vgl. Brake 2003, 40ff.). An dieser Stel-
le soll nur auf den sektoralen Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft näher einge-
gangen werden.
Wird die Anzahl der Erwerbstätigen im Inland nach Wirtschaftssektoren betrachtet
(vgl. Abbildung 1), so ist seit den siebziger Jahren eine Entwicklung erkennbar, die
9
These zuerst 1958 von Hannah Arendt formuliert (vgl. Hradil 2004, 173).

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
9
als ,,Tertiarisierung" bezeichnet wird: Der Anteil der Erwerbstätigen im primären
(Landwirtschafts-) und sekundären (Industrie-) Sektor verringert sich und die Anzahl
der Beschäftigten im tertiären (Dienstleistungs-) Sektor nimmt stetig zu (vgl. auch
Richter 2005, 18; Geißler 2002, 197ff.; Liedtke 2002, 199). Laut dem Statistischen
Bundesamt finden mehr als zwei Drittel der Erwerbstätigen ihren Arbeitsplatz im
Dienstleistungssektor. Waren es 1991 noch 59,2%, so lassen sich im Jahr 2004
71,0% verzeichnen (vgl. Statistisches Bundesamtes 2005b), d.h. Erwerbsarbeit be-
deutet heute weniger das Herstellen von materiellen Gütern, sondern vermehrt das
Erbringen von Dienstleistungen.
10
Abbildung 1: Erwerbstätige im Inland nach Wirtschaftssektoren (Statistisches Bundesamt 2005d, 68)
Die gesellschaftliche Entwicklung von der Industrie- zur Dienstleistungsgesell-
schaft
11
verändert den gesamten Charakter der Erwerbsarbeit: Körperliche Tätigkei-
ten treten in den Hintergrund und geistig und kommunikativ anspruchsvolle Tätigkei-
ten nehmen zu. Es werden immer höhere Anforderungen an die Qualifikation der
Erwerbstätigen gestellt; Berufswege, Arbeitsinhalte, Arbeitsverhältnisse und Ar-
beitszeiten werden flexibler (vgl. Hradil 2004, 170; 185f.).
12
10
Dienstleistungen sind Tätigkeiten, ,,die keine unmittelbaren materiellen Ergebnisse haben, sondern
direkt oder indirekt für Personen verrichtet werden" (Hradil 2004, 169). Als eine ,,Dienstleistungsgesell-
schaft" wird eine Gesellschaft bezeichnet, wenn mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen im Dienstleis-
tungssektor tätig sind (vgl. ebd., 169).
11
Ausführungen zur Entstehung und empirischen Überprüfung der ,,Drei-Sektoren-Theorie" bei Hradil
2004, 169ff.
12
Eine ausführliche Beschreibung des qualifikatorischen Strukturwandels der Arbeitswelt ist bei Brake
2003, 49ff. nachzulesen.

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
10
b) Die Entwicklung der Beschäftigten-/ Produktivitätszahlen
Die Anzahl der Erwerbstätigen zwischen 1998 und 2003 ist in Deutschland insge-
samt gestiegen, auch wenn sich der verzeichnete Zuwachs fast ausschließlich im
Dienstleistungssektor ergab (vgl. Statistisches Bundesamt 2005b).
Im produzierenden Gewerbe haben technologische Innovationsschübe zu einem
massiven Rückgang der Arbeitsplätze geführt. Gleichwohl hat die Produktivität in
diesem Bereich zugenommen.
Trotz steigender Erwerbstätigenzahlen geht der Anteil der Bevölkerung, deren mate-
rielle Versorgung über bezahlte Erwerbsarbeit erfolgt, immer weiter zurück, da die
Zahl der Bewohner in Deutschland gleichzeitig zunimmt. Laut des Statistischen
Bundesamtes (2000) lebten 1991 noch 44,5% der Bevölkerung von Erwerbsarbeit,
im Jahre 1999 waren es nur noch 40,9% (vgl. Brake 2003, 41ff.).
Die Frauenerwerbstätigkeit stieg zwischen 2000 und 2004 weiter an, wohingegen
die Männererwerbstätigkeit in diesem Zeitraum sank. Dies kann durch die zuneh-
mende Erwerbsorientierung der Frauen (vgl. Schmid 2000, 288) und durch die
strukturelle Verschiebung zugunsten des Dienstleistungsbereichs erklärt werden, da
die Arbeitsplätze mit traditionell hohem Männeranteil in den ersten beiden Wirt-
schaftsbereichen zunehmend weniger werden. Der Männeranteil nimmt zwar auch
im Dienstleistungsbereich zu, doch ist dort ebenso wie bei den geringfügigen Be-
schäftigungen ein hoher Frauenanteil zu verzeichnen (vgl. Statistisches Bundesamt
2005c). Die technologischen Innovationsschübe sind weiter fortgeschritten und die
Arbeitslosenzahlen steigen weiterhin an, wobei die Arbeitslosenquote in den neuen
Bundesländern wesentlich höher ausfällt
13
. Ein Ansteigen der Rationalisierungspro-
zesse wird nicht nur für den industriellen Bereich, sondern zunehmend auch für den
Dienstleistungssektor vorausgesagt.
Trotz der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland wird es langfristig in Europa zu we-
nige Personen im arbeitsfähigen Alter geben, die den Anforderungen der Wirtschaft
gerecht werden (vgl. Richter 2005, 27).
c) Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses
Das Modell des ,,traditionellen Erwerbsarbeitsverhältnisses" meint im Kern ,,die kon-
tinuierliche (arbeits-) lebenslange, sozialrechtlich abgesicherte Vollzeitbeschäftigung
bis zum Eintritt in den Ruhestand" (Brake 2003, 43).
Diese institutionelle Form der Erwerbsarbeit befindet sich in allen Industrieländern
im Umbruch: Zwischen 1985 und 1995 sank in Westdeutschland der Anteil der Voll-
13
Durchschnittliche Zahl der Arbeitslosen im Jahr 1991: 2,6 Mio.; 2004: 4,38 Mio. (Statistisches Bun-
desamt 2005d); im Jahresdurchschnitt wird für 2005 die Zahl der registrierten Arbeitslosen von der
Bundesagentur für Arbeit auf 4,75 Mio. geschätzt (vgl. Bach, Gaggermeier & Kettner 2005).

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
11
zeiterwerbstätigen von 60% auf 56%, wohingegen der Anteil der Teilzeiterwerbstäti-
gen und geringfügig Beschäftigten von 11% auf 19% gestiegen ist (vgl. Hoffmann &
Walwei 1998, 1). Die ,,normale" Erwerbsarbeit, die sich seit den sechziger Jahren
nur wenig verändert hat, verliert zwar zunehmend an Bedeutung, wird aber nicht
durch die Vielzahl an atypischen Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, befristete
Arbeitsverhältnisse, Leih- und Zeitarbeit, Selbstständigkeit, geringfügige Beschäfti-
gung, Werksverträge etc. ersetzt bzw. vollständig verdrängt.
Vollerwerbstätigkeit ist weiterhin bei den meisten Männern im Alter von 30 -50 Jah-
ren zu finden, während bei Frauen der Anteil der Teilzeitbeschäftigung aus Famili-
engründen zunimmt.
14
Die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses wird beson-
ders bei jungen Erwachsenen beim Eintritt ins Erwerbsleben und bei älteren Perso-
nen beim Übergang in den Ruhestand sichtbar. Die Zahl der befristeten Arbeitsver-
träge steigt insbesondere bei den 20 - 30jährigen und das Phänomen der Leih- und
Zeitarbeit ist anteilig zwar noch gering, zeigt aber hohe Zuwachsraten (vgl. Schmid
2000, 271).
,,Vollerwerbstätigkeit in einem Beruf über die gesamte Spanne des erwerbsfähigen
Alters, gleichgültig ob gewünscht oder nicht, wird es in Zukunft nicht mehr geben.
Berufswechsel, Weiterbildung, verschiedene Formen von Arbeit und Arbeitszeit
werden abwechseln" (Richter 2005, 30).
Trotz der veränderten Arbeitsverhältnisse sei das Normalarbeitsverhältnis immer
noch mit Abstand die häufigste Erwerbsform und werde zunehmend durch neue
Beschäftigungsformen ergänzt (vgl. Hoffmann & Walwei 1998).
Die Arbeitszeit je Erwerbstätigem in Deutschland geht im Durchschnitt fast stetig
zurück, auch wenn sie für einige Arbeitnehmer in bestimmten Berufsgruppen oder
-positionen kurzfristig stark ansteigt (vgl. Statistisches Bundesamt, 2005a).
Trotz Verkürzung der individuellen Arbeitszeit ist eine zunehmende Ausweitung der
Betriebszeiten zu verzeichnen, die mit einer Auflösung fester Arbeitszeitstrukturen
einhergeht. Die Verkürzung der Präsenzzeiten im Betrieb gehe aber laut Liedtke mit
einer Verdichtung der Arbeitsleistung einher, was auch zu einer verstärkten Dauer-
belastung der Arbeitnehmerführen könne (Liedtke 2002, 204).
Wird das Ausmaß von Arbeit betrachtet, so nimmt die Freizeit stärker zu und der
Anteil der Arbeitszeit in der Lebensspanne wird immer geringer. Dies ist zum einen
auf den immer späteren Eintritt der Jugendlichen in das Erwerbsleben und anderer-
seits durch die gestiegene Lebenserwartung von Männern und Frauen begründet
(vgl. Richter 2005, 26ff.).
14
Der Anteil teilzeitbeschäftigter Frauen an allen weiblichen Erwerbstätigen stieg von 1985 bis 1995
auf 35% an (Hoffmann & Walwei 1998, 5).

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
12
Diskontinuierliche Beschäftigungsverhältnisse werden zunehmend auch für Männer
typisch (vgl. Schmid 2000, 288).
Ergebnisse einer Studie der IG Metall mit 120 000 Beschäftigten der Metallindustrie
im Jahre 2001 zeigen, dass ,,sich die Beschäftigten von heute zwar auf den Wandel
einstellen, dass sie jedoch die einschneidenden Veränderungen wie die Unsicher-
heit der Arbeitsplätze, die stärkere Flexibilisierung und die zunehmende gesundheit-
liche Belastung durch Stress am Arbeitsplatz entschieden ablehnen" (Johannson
2002, 214f.). Der Strukturwandel der Arbeit werde vor allem von den jüngeren Ar-
beitnehmern akzeptiert (vgl. ebd., 215).
d) Der subjektive Stellenwert von Arbeit
Arbeit nimmt weiterhin einen zentralen gesellschaftlichen und individuellen Stellen-
wert ein, obwohl die Arbeitsrealität vieler Beschäftigter mit körperlichen und psychi-
schen Belastungen verbunden ist.
Brake zeigt einige wichtige Funktionen der Arbeit auf, durch die sich deren Bedeu-
tung erklären lässt (vgl. Kapitel 1.2).
Erwerbsarbeit stellt nach wie vor für die Mehrheit der Bevölkerung trotz rückläufiger
Zahlen das zentrale Mittel zur Einkommenssicherung dar. Neben der ökonomischen
Funktion der Erwerbsarbeit lassen sich ebenso psychosoziale Funktionen ausma-
chen wie die zeitliche Strukturierung des Lebenslaufes und des Tagesablaufes (vgl.
Brake 2003, 53ff.).
Beck (1986) beschreibt die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, dessen Thesen sich aus
heutiger Sicht weitgehend bewahrheitet haben, folgendermaßen:
Das ,,standardisierte Vollbeschäftigungssystem beginnt in den aktuellen und bevor-
stehenden Rationalisierungswellen vom Rande her in Flexibilisierungen seiner drei
tragenden Säulen - Arbeitsrecht, Arbeitsort und Arbeitszeit - aufzuweichen und aus-
zufransen.
15
Damit werden die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit fließend.
Flexible, plurale Formen der Unterbeschäftigung breiten sich aus" (Beck 1986, 225).
2.2 Globalisierung
Eine weitere Entwicklung, die zu gravierenden Veränderungen des Arbeitsmarktes
geführt hat und diesen weiterhin beeinflusst, wird als ,,Globalisierung" bezeichnet.
Kessler (2003, 29) spricht sogar davon, dass ,,Globalisierung [...] die Arbeits- und
15
Beck nennt hier vielfältige Formen arbeitszeitlicher Flexibilisierungen: die räumliche Dekonzentration
der Erwerbsarbeit, die Privatisierung der gesundheitlichen und psychischen Risiken der Arbeit, die
Generalisierung von Beschäftigungsunsicherheiten und die Pluralisierung von Erwerbsarbeits-
verhältnissen (Beck 1986, 225ff.)

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
13
Lebensverhältnisse der Menschen rascher als andere wirtschaftliche Prozesse zu-
vor [verändert]".
Der Begriff ,,Globalisierung" stammt ursprünglich aus der Ökonomie und Soziologie
und tauchte 1961 zum ersten Mal in einem englischsprachigen Lexikon auf; seit
1990 ist er auch in der öffentlichen Debatte zu finden (vgl. wikipedia 2005).
Nach eingehender Literatursicht stellt sich eine einheitliche Definition dieses Phä-
nomens auf Grund der vielfältigen Betrachtungsweisen und inhaltlichen Aspekte als
äußerst schwierig dar.
Grundsätzlich verbindet sich mit diesem Begriff die Vorstellung einer weltweiten
Vernetzung von Staaten, Wirtschaften, Unternehmen und einzelnen Personen (und
deren zunehmende Abhängigkeiten).
Einige Autoren (u.a. Friedrichs 2002, 202f.) stellen bei der Definition von Globalisie-
rung die weltweite Vernetzung ökonomischer Aktivitäten wie der Kapitalströme, der
Arbeitsmärkte und der Informationen in den Vordergrund.
Andere (z.B. Beck 1997, 39ff.) unterscheiden verschiedene Dimensionen von
Globalisierung wie z.B.
· die informatorische Globalisierung
· die ökologische Globalisierung
· die ökonomische Globalisierung
· die Globalisierung von Arbeitskooperation bzw. Produktion
· die kulturelle Globalisierung etc.
Wieder andere nehmen die Ursachen oder die Auswirkungen von Globalisierung mit
in ihre Definition auf.
,,Allen Definitionsversuchen ist allerdings gemein, dass die Vorstellung, in geschlos-
senen und abgrenzbaren Räumen von Nationalstaaten zu leben und zu handeln,
der Vergangenheit angehört" (Varwick 2000, 137).
Kern der Globalisierung ist die Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung, durch
die sich weltweite Märkte bilden, auf denen Waren, Kapital und Dienstleistungen
gehandelt werden (vgl. Koopmann & Franzmeyer 2003, 12). Die internationalen
Verflechtungen und Verbindungen zwischen den Staaten haben sich langsam ent-
wickelt; beschleunigt wurde dieser schrittweise Prozess jedoch durch die technolo-
gischen Fortschritte in den Bereichen Information, Kommunikation, Transport, Ver-
kehr und Kapital sowie der zunehmenden Liberalisierung des Welthandels (vgl. von
Plate 2003, 3; wikipedia 2005). Politische Entscheidungen zur Reduzierung von

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
14
Handelsbarrieren haben somit ebenso zur Globalisierung beigetragen wie die tech-
nologischen Entwicklungen (vgl. Friedrichs 2002, 203; Klumb 2002, 44f.).
Die erste Globalisierungsphase kann bereits auf den Beginn des industriellen Zeital-
ters datiert werden.
Globalisierung stellt somit kein grundlegend neues Phänomen dar. Dennoch unter-
scheidet sich die heutige Intensität dieses Prozesses stark von ihren Anfängen (vgl.
Varwick 2000, 138)
16
:
Die Verbindungen zwischen Gesellschaften und Problembereichen, in Form von
wechselseitigen regionalen und globalen Beziehungsnetzwerken, haben empirisch
nachweisbar quantitativ zugenommen, sich qualitativ intensiviert und räumlich aus-
gedehnt.
Obwohl Globalisierung als weltumfassender Trend verstanden werden kann, ver-
läuft dieser in seinen Ausprägungen in verschiedenen Weltregionen stark unter-
schiedlich (vgl. ebd., 137; Beck 1997, 31).
Aus diesem Grund neigen einige Autoren dazu, die zunehmende Verflechtung des
internationalen Handels eher als Internationalisierung zu bezeichnen, da die ver-
stärkten transnationalen Handels- und Produktbeziehungen zu ca. 80% (noch) in-
nerhalb und zwischen bestimmten Weltregionen wie Amerika, Asien und Europa
verlaufen (vgl. Beck 1997, 199; Krätke 1999, 50). Der Beitrag der Schwellenländer
zum Export wächst zwar konstant an, nimmt aber im Vergleich zu den führenden
Industrieländern einen sehr geringen Anteil ein.
17
Globalisierung ist zwar in erster Linie ein ökonomisches Phänomen, ihre Auswir-
kungen betreffen jedoch weite Teile der Gesellschaft: die Wirtschaft, die Politik, die
Kultur, das Konsumverhalten, die Lebensformen, aber auch die Wahrnehmung und
das Bewusstsein der Menschen.
18
Durch die Komplexität dieses Phänomens und die vielseitigen Auswirkungen des-
sen, ist es nicht möglich, an dieser Stelle allen Bereichen Rechnung zu tragen.
Die Ausführungen beschränken sich deshalb auf die Veränderungen im wirtschaftli-
chen Bereich, die auf das (Arbeits-) Leben des Menschen besonderen Einfluss ha-
ben.
19
16
Analysefaktoren des Ausmaßes und der Grenzen erfolgter Globalisierung siehe Beck 1997, 30f.
17
Die Importe aus ,,Billiglohnländern" in die entwickelten Industrieländer machen nach Krugman (1995)
nur ca. 1,3% des BIP der EU und ca. 1,9% des BIP der USA aus. Der Anteil der Länder Afrikas am
gesamten Welthandel - ausgenommen Südafrika - beträgt mittlerweile unter 1% (vgl. Krätke 1999,
50f.).
18
Diskussion über die Entstehung eines ,,globalen Bewusstseins" vgl. Beck 1997, 80ff.; 100; Varwick
2000, 143.
19
Zu den Veränderungen in Politik und Kultur siehe Friedrichs 2002, 203.

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
15
In Folge der Globalisierung kommt es zu
· neuen Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften (vgl. Brüsemeister 2002,
320),
· einer Deregulierung der nationalen Märkte,
· einem verstärkten Standortwettbewerb zwischen großen Städten und Regio-
nen,
· der Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigeren Löhnen,
· Senkung der Lohn- und Nebenkosten,
· einer steigenden Tendenz zu Oligopolen (wenige Anbieter mit großen
Marktanteilen) durch Fusionen von Firmen und neuen transnationalen Un-
ternehmen und
· der zunehmenden Konzentration unternehmensbezogener Dienstleistungen
in wenigen Städten, den sogenannten ,,global cities"
(vgl. Friedrichs 2002, 203).
Daneben ermöglichen neue Kommunikationstechnologien eine neue Form der in-
ternationalen Zusammenarbeit sowie Verbindungen und verändern die Möglichkei-
ten des Arbeitens und Kommunizierens unabhängig von Raum und Zeit.
Wachsende globalisierte Märkte und internationaler Zugang zum Wettbewerb be-
deuten für das einzelne Unternehmen einerseits Vergrößerung des Absatzmarktes,
andererseits aber auch neue internationale Konkurrenten. Dies führt zu neuen An-
forderungen, mit denen sich die Unternehmen konfrontiert sehen, um im globalen
Wettbewerb bestehen zu können (vgl. Kessler 2003, 28). Unternehmen müssen sich
flexibel auf den sich verändernden Markt einstellen und Strategien entwickeln, um
bei der Preis- und Innovationskonkurrenz mithalten zu können.
Als Erfolgsfaktoren im globalen Wettbewerb nennt Klumb (2002) Kosten, Zeit, Quali-
tät und Innovationen. Diese können von den Unternehmen nur erfüllt werden, wenn
sie sich durch
a) Chancenerkennung
b) Kreativität
c) Entscheidungsschnelligkeit
d) Entscheidungsqualität
und
e) Wirtschaftlichkeit
auszeichnen (vgl. Klumb 2002, 40ff.)

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
16
Für die Menschen bedeutet dies, dass sie ein immer höheres Ausbildungsniveau
und innovative Fähigkeiten vorweisen müssen, um gegenüber Arbeitnehmern der
anderen Industriestaaten konkurrenzfähig zu bleiben (vgl. von Plate 2003, 4).
Zu den Qualifikationen, die auf dem globalen Markt immer bedeutsamer werden,
zählen neben einer soliden fachlichen Ausbildung u.a. Teamfähigkeit, Flexibilität,
Kreativität und sehr gute Fremdsprachenkenntnisse (vgl. Kessler 2003, 33).
Die neu entstandenen und entstehenden globalen Wirtschaftszweige bieten be-
stimmten Arbeitnehmer-Gruppen völlig neue Perspektiven, denn überdurchschnittli-
che Qualifikationen werden weltweit nachgefragt und entsprechend entlohnt. Dies
trifft besonders auf ,,Angestellte mit guter Ausbildung, weit reichenden Sprachkennt-
nissen und dem Wunsch, ihren Arbeitsplatz flexibel und mobil nach den Bedürfnis-
sen und Anforderungen ,ihrer' Unternehmen zu richten zu. Wer über viel Selbstver-
trauen und über die notwendigen beruflichen Qualifikationen verfügt, der oder dem
steht die Welt meist offen" (Kessler 2003, 29).
Trotz dieser Möglichkeiten, die die Globalisierung vielen Menschen eröffnet, haben
Umfragen ergeben, dass die ,,Menschen in den Industriestaaten [...] die Globalisie-
rung als Gefährdung ihrer sozialen Sicherheit und ihrer Zukunftschancen [sehen]"
(von Plate 2003, 4). Diese Existenzangst trifft auch auf die Mehrheit der Deutschen
zu, insbesondere auf ältere, unflexible und immobile sowie nicht genügend qualifi-
zierte Personen, die sich nicht in der Lage sehen, auf dem Arbeitsmarkt durch ihre
Einschränkungen bestehen zu können (vgl. Kessler 2003, 27; 30). Von der Verlage-
rung der Produktion in die Billiglohnländer sind beispielsweise besonders Arbeiter
mit einfachen Tätigkeiten und geringer Qualifikation betroffen.
So entsteht in Zeiten der Globalisierung eine noch größere Kluft zwischen hochqua-
lifizierten Spitzenverdienern und Niedrigerqualifizierten mit geringerem Einkommen,
deren Zugriff auf Chancen und Betroffenheit von Risiken (im Sinne von Beck 1986)
ungleich verteilt sind (vgl. von Plate 2003, 4).
Die Ausweitung des Welthandels sowie der Bedeutungsverlust von Raum und Zeit
(durch mögliche Mobilität und Informationszugriff) haben erhebliche Folgen für Iden-
titäten und Lebensstile.
Das alltägliche Leben und Handeln findet über nationalstaatliche Grenzen hinweg
statt und diese Transnationalität wird von der Bevölkerung vermehrt wahrgenom-
men - in den Massenmedien, im Konsum und im Tourismus (vgl. Beck 1997, 31f.).
Zwar nimmt die Zahl der Menschen, die über die Möglichkeit zur Nutzung weltweiter
Kommunikations- und Transportmittel verfügen können, stetig zu, aber dennoch

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
17
werden eindeutige Globalisierungsgewinner und ­verlierer erkannt: die ,,globalisier-
ten Reichen", die sich durch ihre finanziellen Mittel sowohl Technik als auch Trans-
port leisten können, und die ,,lokalisierten Armen", denen das Geld zur Mobilität fehlt
(vgl. ebd., 101ff.; Brüsemeister 2002, 327).
Globalisierung im eigenen Leben erfordert jedoch ein neues Mobilitätsverständnis
20
.
Neben der ,,externen" Mobilität wie Umzug, Berufswechsel, Scheidung, Auswande-
rung etc. kommt der ,,internen" Mobilität eine besondere Bedeutung zu.
,,Innere - im Unterschied zur äußeren - Mobilität meint also das Maß an geistiger [...]
Beweglichkeit, das nötig oder gewünscht wird, um das alltägliche Leben zwischen
verschiedenen Welten zu meistern" (Beck 1997, 132).
Neben den Qualifikationsanforderungen und Veränderungen im Arbeitsbereich
erstrecken sich die Auswirkungen von Globalisierung bis ins Privatleben hinein.
Die Befunde der internationalen Studie ,,Globalife" zeigen, dass die Lebensplanung
Jugendlicher, insbesondere beim Eintritt in den Arbeitsmarkt, von den Globalisie-
rungsprozessen beeinflusst wird. Hier spielen zunehmende Unsicherheit und Zu-
kunftsangst eine große Rolle und wirken sich besonders auf die langfristigen Ent-
scheidungen im privaten Bereich aus.
Das Ausmaß der Betroffenheit variiert je nach Ausbildung, sozialer Herkunft, Ge-
schlecht, Partnerschaftsform und Strukturbedingungen der Länder.
Als Anpassungsstrategien der Jugendlichen zur Kompensierung der Unsicherheiten
werden u.a. genannt:
· der Aufschub langfristig bindender Entscheidungen,
· die Ausbildung von Alternativrollen zur Erwerbstätigkeit (wie eine längere
Ausbildungsphase),
· die Favorisierung flexibler Partnerschaftsformen und
· der Verzicht auf Kinder
(vgl. Meise 2005, 28ff.).
Als eine Folge der absoluten Anpassungsfähigkeit beschreibt der Soziologe Richard
Sennett (1998) folgendes Szenario:
,,Der Single wird zum Prototypen des globalisierten Menschen: möglichst wenige
persönliche Abhängigkeiten, dauerhafte hohe Verfügbarkeit im Beruf" (Kessler
2003, 30).
20
Beck definiert Mobilität allgemein als ,,Bewegung einer sozialen Lebens- und Handlungseinheit (Fa-
milie, Ehe, Individuum) zwischen zwei Orten (Punkten) in der sozialen Hierarchie, Ebene, Landschaft"
(Beck 1997, 131f.).

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
18
,,Gefragt ist das ,mobile Subjekt', der Mensch, der möglichst frei ist von privaten Bin-
dungen und Obligationen und bereit, sich offen und flexibel auf immer neue Anfor-
derungen einzustellen" (Schneider, Limmer, Ruckdeschel 2002b, 13).
Der für den Arbeitsmarkt frei verfügbare Single wird sich jedoch nach Ansicht von
Schneider, Limmer & Ruckdeschel (2002b) nicht als neue Grundfigur der Moderne
durchsetzen. Sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass die Lebenszufriedenheit
nicht durch Berufserfolg, sondern in erster Linie durch die Zufriedenheit mit und in
der Partnerschaft und der Familie bestimmt wird.
Der moderne Mensch könnte seinem Bedürfnis nach partnerschaftlichen Lebens-
formen in einer mobilen Gesellschaft nur nachkommen, indem er sich ,,in gestal-
tungsoffenen und von außen respektierten Familienbeziehungen [konstituiert]"
(ebd., 21).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Globalisierung als eine Entwicklung be-
zeichnet werden kann, die äußerst kontrovers diskutiert wird:
Sie wird je nach Perspektive und Wirkungsbereich entweder als ,,Bedrohung" oder
als ,,Chance" betrachtet (vgl. Varwick 2000, 136; von Plate 2003, 3).
Die 14. Shell Jugendstudie zeigt, dass bereits aus Sicht der Jugendlichen eine diffe-
renzierte Wahrnehmung und Bewertung der Vor- und Nachteile von Globalisierung
stattfindet.
48% der Jugendlichen im Alter von 12 - 25 Jahren geben an, dass aus ihrer Sicht
Globalisierung sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringe.
Nur 13% sehen lediglich nur Nachteile und 23% der Befragten geben an, dass die
Vorteile der Globalisierung überwiegen.
21
Interessant ist, dass sowohl die Bildung als auch die Schichtzugehörigkeit diese
Einstellungen beeinflussen: Ältere, nicht erwerbstätige oder arbeitslose Jugendliche
sehen in der globalen Entwicklung eher Nachteile; Studierende und Gymnasiasten
betonen dagegen die Vorteile.
Ein weiteres Ergebnis zeigt, dass positive Zukunftserwartungen mit einer positiven
Beurteilung der Globalisierungsfolgen einhergeht (vgl. Schneekloth 2004, 33ff.;
219).
Der Psychologe J. J. Arnett geht davon aus, dass die Globalisierung es besonders
jungen Menschen erschwere, ihre eigene Identität zu finden. Als Reaktion entwickel-
ten die meisten jungen Menschen eine bikulturelle Identität, d.h., dass sie zwar in
ihrer eigenen Kultur mit ihren Ritualen verwurzelt sind, sich daneben aber ein Zuge-
21
Ähnliches ergab eine Umfrage des Bundesverbandes dt. Banken im Jahr 1997 für die gesamte Be-
völkerung: 45% sahen Vor- und Nachteile der Globalisierung, 26% der Befragten gaben mehr Nachtei-
le, 14% mehr Vorteile an (vgl. Meier 1998, 40).

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
19
hörigkeitsgefühl zu der weltweiten Kultur von Musik, Lebensstilen usw. entwickelt.
Gelingt eine Integration von traditioneller und globaler Kultur, so kann von einer glo-
balen Identität gesprochen werden.Gelingt dies nicht, entstehe ein Gefühl der Ent-
fremdung, der Orientierungslosigkeit und Verunsicherung - die Jugendlichen stün-
den dann zwischen zwei (Werte-) Welten (vgl. Nuber 2003, 25).
2.3 Individualisierung
Eine weitere Entwicklung in der heutigen Zeit zeichnet sich ebenfalls sowohl durch
Chancen als auch Risiken in der Wahrnehmung der Individuen aus: die sogenannte
,,Individualisierung".
Individualisierung ,,ist zunächst ganz allgemein die soziologische Beschreibung von
Veränderungen in der Relation von Individuum und Gesellschaft und zugleich der
Versuch der Erklärung dieser Veränderungen" (Kron 2002, 257).
Unterschiedliche Formen von Individualisierung gab es schon in der Vorzeit, doch
der sogenannte ,,Individualisierungsschub" wurde erst durch das Herauslösen aus
bestehenden Sozialformen und Versorgungssicherheiten wie den ständisch gepräg-
ten sozialen Klassen, einer allgemeinen Anhebung des Bildungsniveaus und des
verfügbaren Einkommens sowie der Verrechtlichung von Arbeitsbeziehungen mög-
lich - unter Beibehaltung wesentlicher sozialer Ungleichheitsrelationen (vgl. Bolte &
Hradil 1984; Schäfers 1985, zit. nach Beck 1986, 208).
22
Beck (1986) hat den Begriff der ,,Individualisierung" im Zusammenhang mit der so-
ziologischen Betrachtung der Gegenwartsgesellschaft nachhaltig geprägt, weshalb
zunächst die Darstellung seiner Gedanken zu diesem Prozess folgt.
In der Gesellschaftsanalyse von Beck sind sowohl Aspekte der Globalisierung als
auch der Individualisierung zu finden. Er beschreibt in seinem Buch ,,Risikogesell-
schaft" einen Modernisierungsprozess, der den Wandel von der Industriegesell-
schaft zu einer ,,Risikogesellschaft" kennzeichnet, in der alle Menschen und Natio-
nen gleichermaßen von den globalen Risiken - speziell den ökologischen Gefahren
und technologischen Entwicklungen - betroffen sind (vgl. Treibel 1994, 230). Einen
Aspekt der Modernisierung der Gesellschaft stellt die ,,Individualisierung" dar.
Beck unterscheidet zwischen der objektiven Lebenslage und dem subjektiven Be-
wusstsein, in denen der Prozess der Individualisierung stattfinden kann. Er differen-
ziert somit zwischen den gesellschaftlichen Veränderungen der Lebenslagen und
Biographiemustern sowie dem individuellen Verhalten und Bewusstsein der eigenen
22
Zur Erläuterung des ,,Fahrstuhl-Effekts" siehe Beck 1986, 124; Treibel 1994, 236

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
20
Persönlichkeit, bezieht sich bei seinen Ausführungen aber lediglich auf den gesell-
schaftlichen Aspekt der Individualisierung (vgl. Beck 1986, 206f.).
Nach Beck lassen sich drei Dimensionen von Individualisierung unterscheiden:
1) die
,,Freisetzungsdimension",
2) die ,,Entzauberungsdimension" und
3) die ,,Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension" (vgl. ebd., 206f.).
23
Individualisierung bezeichnet folglich nicht - wie umgangsprachlich angenommen
werden könnte ­ die reine Selbstverwirklichung oder Emanzipation, sondern diese
Prozesse sind nur ein Teil des gesamten Individualisierungsprozesses und werden
durch die Freisetzung aus alten Strukturen möglich (vgl. Beck 1986, 206f.).
Unter der ,,Freisetzungsdimension" wird die Herauslösung des Menschen aus histo-
risch vorgegebenen Sozialformen und traditionalen Bindungen der Industriegesell-
schaft verstanden: der Klassen und Schichten, der Familie sowie der Geschlechts-
lagen von Männern und Frauen (vgl. ebd., 115; 206f.). Diese ehemals festen sozia-
len Strukturen, die Orientierung ermöglichten, lösen sich zunehmend auf (vgl. Volk-
mann 2000, 33). Bindungen an Freunde, Partner, Arbeitgeber und -nehmer, Partei-
en, Kirchen, Gewerkschaften, Lebensstile und Werte erscheinen immer öfter als
veränderbar, wählbar, reversibel und zeitlich begrenzt (vgl. Berger 1996, 54).
Das Individuum ist durch seine Freisetzung nicht mehr Teil eines Kollektivs, mit dem
die Möglichkeit von Schutz gegeben und das Gefühl der Zugehörigkeit verbunden
war. Vielmehr steht es zunehmend für sich allein und ist innerhalb und außerhalb
der Familie für seine Existenzsicherung, seine persönliche Biographieplanung und -
organisation zuständig (vgl. Beck 1986, 119; 209).
Das historisch Neue ist, dass nicht nur wenige ein eigenes Leben führen können,
sondern dass es die meisten tun müssen, da Individualisierung eine ,,gesellschaftli-
che Dynamik [ist], die nicht auf einer freien Entscheidung der Individuen beruht"
(Beck & Beck-Gernsheim 1994, 14).
,,Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, dass die Biographie der Menschen
aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als
Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird. Die Anteile der prinzipiellen
entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab, und die Anteile der
23
Kron (2002, 258) betrachtet Individualisierung unter den Aspekten der Kultur (Pluralisierung von
Werten, Ausrichtung auf Individualismus), der Struktur (Freisetzung aus bisherigen institutionellen
Zwängen) und der individuellen Autonomie (Erweiterung des Handlungsspielraums, Selbstkontrolle
und -verantwortung), wobei diese wiederum den Dimensionen von Ulrich Beck zugeordnet werden
können.

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
21
entscheidungsoffenen, selbstherzustellenden Biographien nehmen zu" (Beck 1986,
216).
Mit ,,Entzauberung" wird der u.a. aus der Freisetzung resultierende Verlust traditio-
neller Werte und Normen, die im Hinblick auf das Handeln Verhaltenssicherheit bo-
ten, verbunden. Dieser Wegfall allgemeingültiger Wertvorstellungen, die das Den-
ken und Handeln des Einzelnen bestimmten, führt nicht nur zu Entscheidungsmög-
lichkeiten und -zwängen in Bezug auf Konsumgüter und Freizeitgestaltung, sondern
es entsteht zugleich eine wachsende Vielfalt alternativer Lebenswege, beruflicher
Karrieren und biographischer Optionen in Bezug auf Beruf, Familie und Kinder (vgl.
ebd., 206f.).
Es gibt keine Rezepte für die Vielzahl an Entscheidungssituationen. Die Sinngebung
und Orientierung ist eine private Angelegenheit, bei der aus den vielfältigen, bereits
existierenden Lebensstilen gewählt wird, die eigene Lebensweise aus verschiede-
nen Teilen zusammengestellt werden kann und somit wieder neue Lebensstile krei-
ert werden. Es findet eine Pluralisierung von Werten und Lebensstilen statt (vgl.
Hitzler & Honer 1994, 310; Richter 2005, 94).
Durch die vielfältigen Entscheidungsmöglichkeiten und ­zwänge findet ein Über-
gang von der ,,Normal- zur Wahlbiographie" statt (Ley, zit. nach Beck 1986, 217)
und Gross (1985) spricht von einem Typus der ,,Bastelbiographie" (zit. nach ebd.,
217). In dieser Wahlmöglichkeit sieht Beck sowohl Chancen als auch Risiken. Neue
Formen der Schuldzuweisung bei Ereignissen, wie z.B. ,,Arbeitslosigkeit", können
auf das individuelle Versagen einer Person zurückgeführt werden, anstatt sie als
kollektives Schicksal wahrzunehmen. Daraus resultieren Zwänge zur Selbstverar-
beitung, Selbstplanung und Selbstverantwortung der eigenen Biographie (vgl. Beck
1986, 218). ,,Biographische Wahlen und Lebenslaufentscheidungen werden damit
aber in erhöhtem Maße rechtfertigungsbedürftig und begründungspflichtig. Sie kön-
nen sich weder am Modell der Eltern orientieren, noch einfach aus einem sicher
geglaubten Bestand kultureller Normalitätsunterstellungen abgeleitet werden" (Ber-
ger 1996, 286). Das Individuum erfährt zunehmend weniger institutionelle Entlas-
tung bei seinen Entscheidungen und den daraus folgenden Konsequenzen. Seine
Individualmotive werden nunmehr zu einer ,,legitimen Handlungsbegründung" (vgl.
Kohli 1994, 233). Selbst wenn die Entscheidungen den ,,Standardmodellen" ent-
sprechen, müssen diese bewusst getroffen, gegen Alternativen abgegrenzt und im-
mer wieder ,,in einer Art biographischer Dauerreflexion" auf ihre ,,Richtigkeit" über-
prüft werden (Berger 1996, 286).

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
22
,,Sich suchen, zu sich finden, zu sich stehen ist das, was die Orientierung in der Welt
verbürgen soll" (Kohli 1994, 233). Die eigene Individualität tritt an institutionelle Stel-
le.
Als letzten Aspekt von Individualisierung nennt Beck (1986, 206f.) die ,,Kontroll- bzw.
Reintegrationsdimension", unter der er eine neue Form der sozialen Einbindung und
Kontrolle versteht. Die durch die Freisetzung neu gewonnene Unabhängigkeit wird
auf der anderen Seite durch die ,,institutionenabhängige Kontrollstruktur" wieder
eingeschränkt (vgl. Beck 1986, 210; Treibel 1994, 236). Anstelle der traditionellen
Vorgaben entstehen neue institutionelle Anforderungen, Kontrollen und Zwänge des
Arbeitsmarktes, des Wohlfahrtsstaates und der Bürokratie, die sich in Form von Re-
gelungen und neuen Ansprüchen zeigen (vgl. Beck & Beck- Gernsheim 1994, 12).
Am Beispiel der Medien wird deutlich, dass mit einer Ausdifferenzierung der Indivi-
duallagen gleichzeitig eine hochgradige Standardisierung einhergehen kann. Neu
entstandene Lebensformen können mittels der Verbreitung durch die Medien zum
Standard und zur neuen Normalität werden.
Beck drückt dies so aus:
,,An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfami-
lie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen
prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewusst-
seinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und
Märkten machen" (Beck 1986, 211).
Neu an der Entwicklung der Individualisierung ist die übergreifende Wirkung auf die
getrennten Bereiche Privatleben und Öffentlichkeit. Die Individuallagen sind nicht
mehr nur private, sondern immer auch institutionelle Lagen, sodass von ,,institutio-
nenabhängigen Individuallagen" gesprochen werden kann.
Die freigesetzten Individuen werden nunmehr verstärkt arbeitsmarktabhängig und
deshalb auch bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen
Regelungen, Versorgungen usw. Die durch diese Entwicklungen entstehenden Kon-
flikt-, Risiko- und Problemlagen des privaten Bereichs müssen die Individuen wie-
derum selbstständig lösen (vgl. ebd., 210).
Trotz erkennbarer Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft und in den ein-
zelnen Lebensentwürfen gibt es nicht ,,die" individualisierte Gesellschaft, in der die
Entwicklung flächendeckend stattgefunden hat, sondern es muss je nach Gruppe,
Milieu und Region geprüft werden, inwieweit Individualisierungsprozesse ausge-
prägt und fortgeschritten sind (vgl. Beck & Beck- Gernsheim 1994, 16).

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
23
Eine Person kann sich z.B. in einer Dimension aus alten Lebensmodellen herauslö-
sen, während sie in anderen Bereichen nach traditionellen Mustern lebt (vgl. Berger
1996, 285). Das bedeutet, dass beide Lebenslaufmodelle, das ,,normale" und das
,,risikoreiche", ohne weiteres nebeneinander existieren können in einer Gesellschaft,
in einer Familie und auch innerhalb der verschiedenen Lebensbereiche einer Per-
son (vgl. ebd., 287).
Individualisierung und Arbeit
,,Die Erwerbsarbeit und die um sie herum entstandenen wohlfahrtsstaatlichen Siche-
rungssysteme prägen die Struktur des modernen Lebenslaufs und bilden die Grund-
lage für Individualisierung" (Kohli 1994, 219). Arbeit ist aber auch selbst von den
Prozessen der Individualisierung betroffen.
24
Unter Arbeitsmarktindividualisierung ist zu verstehen, dass das Individuum auf dem
Arbeitsmarkt ebenso von ,,Freisetzung" (wie Auflösung alter Strukturen und Flexibili-
sierungsprozesse), ,,Entzauberung" (Werteveränderung) und ,,Reintegration" betrof-
fen ist.
Werden die Veränderungen der Erwerbsarbeit betrachtet und findet die Orientierung
dabei an den drei Dimensionen von Beck statt, so kann durchaus von einer Indivi-
dualisierung der Erwerbsarbeit gesprochen werden.
In Bezug auf die ,,Freisetzungsdimension" ist auch im Bereich der Arbeit in Ansätzen
eine Freisetzung aus alten Strukturen, wie z.B. des Normalarbeitsverhältnisses,
erkennbar (Berger 1996, 130f.):
In historischer Perspektive finden Entstandardisierungstendenzen in Erwerbsverläu-
fen und Auflockerungserscheinungen in der Mobilität aufgrund längerfristiger struk-
tureller Wandlungen statt (insbesondere berufliche Strukturveränderungen, Bil-
dungsexpansion, Veränderungen in kulturellen Wertvorstellungen, Rollenzuschrei-
bungen und Geschlechterstereotype) (vgl. ebd., 246). Werden die geschlechtsspezi-
fischen Erwerbsverläufe sowie die intra- und intergenerationale berufliche Mobilität
betrachtet, lassen sich Hinweise auf eine steigende Vielfalt von Verlaufsformen und
sich häufende Erfahrungen von Statusdiskontinuität finden (vgl. ebd., 279).
,,Entzauberung" wird in der Lockerung starrer Rollenzuschreibungen von Männern
und Frauen in Bezug auf die Erwerbsbeteiligung sichtbar bzw. in der Zuordnung der
Geschlechter zu den Bereichen ,,Beruf" und ,,Familie". Dies führt zu einer neuen
Selbstplanung der Biographie bezüglich Berufswunsch und Familiengründung.
Aber auch die ,,Subjektivierung" der Arbeit stellt einen neuen Wertehorizont dar.
25
24
Detaillierte Beschreibung der Veränderungen in der Struktur und im Ausmaß der Erwerbsarbeit, die
z.T. auf die zunehmende Individualisierung zurückzuführen sind, siehe Kapitel 2.1
25
siehe Kapitel 1.2

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
24
Durch den Wertewandel der letzten Jahrzehnte ergibt sich das Bild einer neuen Ar-
beitspersönlichkeit, deren wichtigste Aufgabe die ,,Selbstständigkeit" ist (vgl. Opa-
schowski 2004, 53).
Die ,,Reintegrationsfunktion" zeigt sich in den neuen Zwängen und Mechanismen
des Marktgeschehens sowie der Entstehung neuer Institutionen zur Regelung neu-
artiger Erwerbsarbeitsverhältnisse wie z.B. Zeitarbeitsfirmen.
Einige Konsequenzen der (Arbeitsmarkt-) Individualisierung lassen sich sowohl auf
der objektiven Ebene der Lebensführung als auch im subjektiven Erleben erkennen.
Berger (1996) hat aufgrund qualitativer Befragungen eine Vielfalt von Biographien
und Lebensläufen festgestellt, die von Standardmodellen abweichen (vgl. Berger
1996, 52). Er vertritt die Annahme, dass ,,die gesteigerte Beweglichkeit von Indivi-
duen und Familien, die zugehörige Vielfalt von Lebensverlaufsformen und die dar-
aus resultierenden Statusungewissheiten mittlerweile den ,Normalzustand' moder-
ner Industriegesellschaften darstellen" (ebd., 53). Statuswechsel und Unstetigkeiten
sind für viele ein selbstverständlich erwarteter Bestandteil ihrer Lebenslauf- und
Biographieplanungen geworden.
Voß (1991); Jurzcyk (1991) und Rerrich (1991) (zit. n. Berger 1996, 66f.) unter-
scheiden typische Formen moderner Lebensführung
26
, die nebeneinander existie-
ren:
1) die
,,traditionale" Lebensführung,
2) die
,,strategische" Lebensführung und
3) die
,,situative" Lebensführung
Besonders interessant erscheint dabei der Typus der situativen Lebensführung, der
als optimaler Lebensentwurf flexibel auf die neuen Anforderungen des modernen
Lebens reagiert - im Gegensatz zu der früher gängigen traditionalen Lebensführung
mit ihren starren Routinen. Typisch moderne Anforderungen an die Identitätskon-
struktion und die alltägliche Lebensführung sind das Wahrnehmen und Erlernen
neuer Situationen und Lebensentwürfe sowie die selbstständige Planung und Ge-
staltung des eigenen Lebens (vgl. Berger 1996, 73).
Die situative Lebensführung beruhe ,,in besonderem Maße auf den Ressourcen der
Personen, nicht auf fixen Strukturvorgaben, wobei Flexibilität [...] zugleich als Vor-
26
Zum Begriff der Lebensführung aus Sicht versch. Autoren und in Abgrenzung zu ,,Lebenslagen",
,,Lebensstilen" und ,,Lebensläufen" siehe Berger 1996, 60ff.; 69. Detaillierte inhaltliche Beschreibung
der traditionalen, strategischen und situativen Lebensführung siehe ebd., 66f.

Theoretischer Hintergrund: Veränderungen des Arbeitsmarktes
25
aussetzung für die Stabilität dieser Lebensführungsform erschein[t]" (ebd., 66). Es
lassen sich zwei wichtige Untertypen unterscheiden:
Zum einen eine privilegierte Form situativer Lebensführung, die auf ,,Unabhängig-
keit" gründet, ein hohes Maß an ,,gestalterischen Leistungen und personaler Stabili-
tät" sowie die ständige Bereitschaft zur Revision von Entscheidungen erfordert (vgl.
Hörning et al. 1990 zit. nach Berger 1996, 66), zum anderen eine deprivierte Form,
die durch kurzfristige ,,Reaktivität" gekennzeichnet ist (ebd., 66f.).
Die Beobachtungen Bergers verweisen darauf, dass die Lockerung von Statusbe-
stimmungen keineswegs für alle Menschen und in allen Konstellationen zu Verunsi-
cherungen führen muss:
So lange sich Veränderungen nur auf wenige Dimensionen beschränken, scheinen
,,moderne Formen der Lebensführung - insbesondere in der ,situativ-privilegierten'
Ausprägung - durchaus in der Lage zu sein, die dabei auftretenden Belastungen
aufzufangen und produktiv zu verarbeiten" (Berger 1996, 296).
Das ändert jedoch nichts daran, dass das Fehlen eindeutiger und allgemeingültiger
Normalmodelle u.a. dazu führt, dass ,,Berufslaufbahnen vom Standpunkt der betei-
ligten Männer und Frauen in wesentlich stärkerem Maße als Ergebnis eigener Ent-
scheidungen und Leistungen erscheinen - ein Prozess, der noch durch die steigen-
de Bildungsabhängigkeit beruflicher Karrieren verstärkt wird, da nun Erfolge wie
Misserfolge in zunehmendem Maße den Individuen selbst zugerechnet werden"
(ebd., 290).
Planungskompetenzen und Fähigkeiten zur flexiblen Lebensführung ,,erscheinen
dann selbst als eigenständige, individuengebundene ,Ressourcen', die, wie alle Fä-
higkeiten und Ressourcen, ungleich verteilt sein können" (ebd., 73, in Anlehnung an
Diezinger 1991). Die unterschiedliche Zugänglichkeit von Ressourcen bestimmt
neben gesellschaftlichen Angeboten und individuellen Kompetenzdifferenzen u.a.
die Ergebnisse lebensbewältigender Aktivitäten daher. ,,Lebensführung wird dabei
um so mehr zur Aufgabe und zu einer den Individuen direkt abgeforderten Lei-
stung " (Berger 1996, 67f.).
Im Erleben des Individuums zeigen sich Statusunsicherheit und Erfahrungsvielfalt
als Folgen des Individualisierungsprozesses, die sowohl zu einer erhöhten Toleranz
gegenüber anderen Lebensformen als auch zu Identitätszweifeln und Entwurze-
lungsängsten führen können (vgl. Berger 1996, 280).
Individualisierung kann somit sowohl als Risiko (Orientierungsverlust, Verunsiche-
rungen und Identitätskrisen) wie auch als Chance (Erfahrungsvielfalt, Lern- und

Theoretischer Hintergrund: Neue Anforderungen an das Individuum
26
Selbstverwirklichungschancen) erscheinen. ,,[M]it ihnen verbindet sich die Gefahr
tiefgreifender Verunsicherungen und Identitätskrisen ebenso wie die Möglichkeit,
neue Erfahrungen zu sammeln, daraus zu lernen und ,psychische Mobilität' zu ent-
wickeln" (ebd., 288).
Das Gefühl der Kompetenz entsteht in einer individualisierten Lebensform dadurch,
,,schon eine Reihe von Umstrukturierungen und Brüchen bewältigt zu haben" (Kohli
1994, 234). ,,Psychische Mobilität" wird damit zu einem zentralen Bestandteil eines
modernen ,,Sozialcharakters" (vgl. Berger 1996, 286).
3. Neue Anforderungen an das Individuum
Die Individualisierungsthese betont die neuen Herausforderungen an die alltägliche
Lebensführung und die biographischen Entscheidungen. Daneben treten in einer
globalisierten Wirtschaft - durch den häufigen Wechsel von Arbeitszeit und Arbeits-
ort, dynamisch gestalteten Arbeitsprozessen und dem permanenten Zwang zur ra-
schen Anpassung individueller Qualifikationen - höhere Anforderungen an das
menschliche Arbeitsvermögen (vgl. Anzinger 2002, 169).
Kastner (2002) zählt als zukünftige Belastungen und Anforderungen auf individueller
Ebene u.a. folgende Komponenten auf
27
, die auf Veränderungen des Arbeitsmark-
tes und neue Formen der Arbeitsorganisation zurückzuführen sind:
· fließende Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben;
· körperliche Belastungen wie Lärm, Raumklima, Zeitverschiebungen bei Aus-
landsterminen etc.;
· steigende Komplexität und Dynamik in fast allen Bereichen;
· Zeit-, Kosten-, Qualitätsdruck;
· Flexibilität, Mobilität;
· Wechsel zwischen verschiedenen Berufen;
· individuelle Qualifizierung und lebenslanges Lernen (vgl. Kastner 2002, 263).
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit und in Bezug auf das Thema Wohnortwechsel
erscheinen mir die Faktoren Flexibilität und Mobilität besonders relevant und werden
aus diesem Grund im Folgenden ausführlich dargestellt.
27
Zukünftige Belastungen und Anforderungen auf gesellschaftlicher und organisationaler Ebene siehe
Kastner 2002, 262f.

Theoretischer Hintergrund: Neue Anforderungen an das Individuum
27
3.1 Flexibilität
3.1.1 Begriff
Die Bedeutung von ,,Flexibilität"
28
wurde ursprünglich aus einer Beobachtung der
Natur abgeleitet: dem Bild eines Baumes, der sich im Wind zwar biegen und nach-
geben kann, sich anschließend aber wieder erholt und seine ursprüngliche Form
annimmt.
,,Im Idealfall sollte menschliches Verhalten dieselbe Dehnfestigkeit haben, sich
wechselnden Umständen anpassen, ohne von ihnen gebrochen zu werden" (Sen-
nett 1998, 57).
Flexibilität wird in der Psychologie definiert als ,,allgemeine und umfassende Be-
zeichnung für die Bereitschaft des Organismus, auf neue Gegebenheiten schnell zu
reagieren bzw. das Verhalten zu verändern" (Fröhlich 2000, 185).
Flexibilität im Sinne von Anpassungsfähigkeit und Biegsamkeit steht somit im Ge-
gensatz zu Rigidität, Starrheit, Routine und Leblosigkeit (vgl. ebd., 185; Sennett
1998, 58).
Flexibilität kann sich auf die unterschiedlichsten Kontexte beziehen. In dieser Arbeit
wird dieser Begriff vorrangig für den Bereich der Arbeitswelt gebraucht, in der fast
alle Bereiche flexibler gestaltet werden sollen. Besonders betroffen sind hierbei die
Komponenten
· Arbeitszeit,
· Arbeitsform,
· Arbeitsbeziehungen,
· berufliche Mobilität,
· regionale Mobilität und
· betriebliche Organisationsstrukturen (vgl. Hochgerner 1998, 176f.).
Als ,,Flexibilisierung" ist allgemein ein Prozess zu verstehen, der das Ziel der ,Flexi-
bilität' verfolgt. Dies kann als Zustand oder Eigenschaft einer Sache, einer Struktur
oder einer Persönlichkeit verstanden werden.
An dieser Stelle wird zunächst kurz auf einige Formen der Flexibilisierung des Ar-
beitsmarktes und der Erwerbsarbeit eingegangen, um anschließend intensiver die
Flexibilität als geforderte Persönlichkeitseigenschaft eines Menschen zu betrach-
ten.
29
28
,Flexibilität' leitet sich aus dem lateinischen Wort ,flectere' = beugen, biegen ab. Der Begriff 'flexibel'
geht auf das französische ,flexible' zurück und bedeutet ,biegsam' (vgl. Kluge 2002, 272).
29
Weitere Ausführungen zu unterschiedlichen Formen von Flexibilisierung vgl. Kreimer 1998, 137ff.;
verschiedene Ebenen von Flexibilität siehe Erlinghagen 2004, 74ff.

Theoretischer Hintergrund: Neue Anforderungen an das Individuum
28
Bezogen auf die Arbeitsmärkte bedeutet Flexibilität ,,das Ende der überlieferten Ar-
beitsorganisation: Zeitverträge, Kettenverträge oder gar keine Verträge, Anstellun-
gen ohne soziale Absicherung und unbestimmte ,Bis­auf­Weiteres'- Vereinbarun-
gen" (Bauman 2004, 31). Die moderne Unternehmensstruktur hat sich zum Bürokra-
tieabbau hin gewandelt und zu flacheren und flexibleren Organisationen, die mit
ihren innerbetrieblichen Netzwerken leichter zu verändern und aufzulösen sind als
starre Hierarchien (vgl. Sennett 1998, 26f.). Die auf Langfristigkeit ausgelegte tradi-
tionelle Berufslaufbahn sowie das Ausreichen einer einzigen Ausbildung geraten
zunehmend ins Schwanken. ,,Heute muss ein junger Amerikaner mit mindestens
zweijährigem Studium damit rechnen, in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die
Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisse wenigstens dreimal auszutauschen"
(ebd., 25).
In den Forderungen der Arbeitgeber nach Flexibilisierung geht es in der Regel um
die Lenksamkeit und Anpassungsfähigkeit der Arbeitskraft, die zeitlich, räumlich und
auf ihre Kenntnisse und Qualifikationen bezogen flexibel sein soll (vgl. Bohmann
1998, 196). Wenn Arbeitskräfte ,,flexibel" sein müssen, handelt sich dabei nicht nur
um Qualifikationsanforderungen. Sie sollen vielmehr offen für kurzfristige Verände-
rungen sein, ständig Risiken eingehen und den Anordnungen der Betriebe Folge
leisten, also ,,biegsam" sein (vgl. Flecker 1998, 217; Sennett 1998, 10).
30
Ganz allgemein kann also die Art und Weise, wie Arbeitnehmer ihr Verhalten an die
gewandelten Anforderungen anpassen (können) als ,,Flexibilität" bezeichnet werden,
wobei diese Flexibilität durch einen gewissen Handlungsspielraum begrenzt wird
(vgl. Erlinghagen 2004, 73).
Flexibilisierung sieht zwar nach Macht- und Bürokratieabbau aus, doch die Macht-
strukturen nehmen lediglich andere, undurchschaubarere Formen an, die zu perma-
nenten Unsicherheiten auf Seiten der Beschäftigten führen können. ,,Jederzeit kann
es neue Zielvorgaben geben, die [...] tief in persönliche Lebenskonzepte eingreifen.
Eine ,moderne' Organisation braucht dabei Macht nicht mehr wie früher offen aus-
zuüben. Sie beobachtet nur die Bereitschaft zur Flexibilität. Wer sich ihr nicht unter-
wirft, ist ,draußen' "(Brüsemeister 2000, 313).
Die Flexibilität eines Betriebes und auch des Arbeitsmarktes hängt von der Flexibili-
tät bzw. der Flexibilitätsbereitschaft der Arbeitsmarktakteure bzw. der Arbeitnehmer
ab. Der Arbeitsmarkt als Institution kann allein nicht flexibel reagieren, sondern nur
seine jeweiligen Komponenten. Der einzelne Betrieb ist zwar in der Lage Bereiche
30
Aus der Sicht der Unternehmen stehe Jugend häufig für Flexibilität und Alter für Erstarrung. Die
Jugend erscheine gegenüber Personen mittleren Alters formbarer - sowohl beim Eingehen von Risiken
als auch beim fraglosen Gehorsam (vgl. Sennett 1998, 124f.).

Theoretischer Hintergrund: Neue Anforderungen an das Individuum
29
zu flexibilisieren, die erfolgreiche Umsetzung hängt allerdings entscheidend von der
Anpassungsbereitschaft der Mitarbeiter ab; und der Handlungsspielraum für Flexibi-
lität wird durch die betrieblichen Vorgaben festgelegt. Es besteht also eine gegen-
seitige Abhängigkeit der organisatorischen und subjektiven Flexibilität (vgl. Erling-
hagen 2004, 82).
Ein weiterer Punkt unterscheidet zwischen der Flexibilität für den Arbeitnehmer in
Form von freier Zeit- und Ortsbestimmung und der Flexibilität des Unternehmens in
Form von flexibler Verfügbarkeit über die Arbeitnehmer.
Flexibilität in Form von ,,Zeitsouveränität" wird durch die Einführung von neuen Be-
schäftigungsmodellen zwar propagiert, kommt aber längst nicht für jeden und in
gleichem Umfang zum Tragen. Flexible Arbeitszeiten für Männer und Frauen bedeu-
ten nicht nur mehr Freiheiten, sondern auch andere, neue Formen von Kontrolle und
schwächere Anbindung an ein Unternehmen, wie am Beispiel der Heimarbeit deut-
lich wird. Die Arbeitnehmer dürfen zwar den Ort der Arbeit frei wählen, gewinnen
aber nicht mehr Kontrolle über den Arbeitsprozess, der in den meisten Fällen wei-
terhin vom Unternehmen überwacht wird
31
(vgl. Sennett 1998, 73f.). Hinzu kommt
die Angst, Arbeit und Freizeit aufgrund flexibler Arbeitszeiten nicht mehr trennen zu
können und immer verfügbar sein zu müssen (vgl. Kern & Klein 2002, 182f.).
,,Je höher die zeitliche Flexibilität im beruflichen Leben, desto geringer ist die Plan-
barkeit des privaten Lebens" (Opaschowski 2004, 69). Das bedeutet, dass sich die
gemeinsamen Freizeit- und Arbeitszeiten von nahestehenden Personen nicht mehr
gleichen müssen und somit der Kontakt zu Freunden und Verwandten immer
schwieriger herzustellen ist. Auf der anderen Seite ist durch die zeitliche Flexibilität
auch die Möglichkeit gegeben, sich anderen Zeitmustern kurzfristig anzupassen, um
gemeinsame Freizeit zu gewinnen.
32
Der Wandel der Familie, die Individualisierung und die Pluralisierung der Lebens-
formen ermöglichen es, tatsächlich mobil zu sein und die private Lebensführung den
dynamischen Arbeitsmarktverhältnissen anzupassen, auch wenn es aufwändige
Arrangements benötigt, um gemeinsame Zeit zu ermöglichen (vgl. Schneider, Lim-
mer & Ruckdeschel 2002b, 14).
Partnerschaft und Familie sind somit ebenfalls von der Flexibilisierung des Arbeits-
marktes betroffen. Die Balance zwischen Arbeit und Privatleben wird zukünftig größ-
tenteils individuell hergestellt werden müssen - obwohl es durchaus Bestrebungen
31
Die abwesenden Arbeitnehmer werden laut Hinweisen verschiedener Studien häufig intensiver
(durchs Telefon und Internet) überwacht als das Personal in den Büroräumen (vgl. Sennett 1998, 74).
32
Mittendorfer stellt diesbezüglich eine interessante Frage in den Raum, nämlich ob der Mensch die
irregulären und flexibilisierten Arbeitsformen/ Zeitstrukturen fordert und sucht, weil sie seinen Bedürf-
nissen und Vorstellungen der modernen Lebensführung entsprechen, oder ob er diese Strukturen
hinnehme und sich ihnen anpasse, weil es von ihm gefordert werde (vgl. Mittendorfer 1998, 225).

Theoretischer Hintergrund: Neue Anforderungen an das Individuum
30
einzelner Unternehmen zu einem ,,Work-Life-Balance"
33
Konzept gibt (vgl. Nickel,
Frey & Hüning 2003, 540).
Flexibilisierung bzw. Flexibilität heißt demnach nicht ,,Verfügbarkeit über die eigene
Zeit", sondern ,,individuelle Verfügbarkeit für eine flexibilisierte Arbeitswelt" (vgl.
Kreimer 1998, 138).
Flexibilität im Sinne von ,,biegsam", ,,wendig", ,,findig", ,,verfügbar" zeigt, dass die
Anforderungen für den Einsatz an verschiedenen Arbeitsplätzen oder in verschiede-
nen Jobs neben den fachlichen Voraussetzungen außerfachliche Qualifikationen,
Persönlichkeitsmerkmale, Leistungsbereitschaft und Belastbarkeit betreffen (vgl.
Flecker 1998, 217f.). Eine zentrale Anforderung bestehe darin, ,,mehrere Berufe
aus[zu]üben, um sich mit besonders hoher Wendigkeit an sich bietende Gelegenhei-
ten anpassen zu können. Dazu zählt nicht zuletzt die parallele Tätigkeit in Jobs mit
unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen und sozialem Status" (ebd., 218). Die
Beschäftigten sollen sich selbst umorientieren können und höhere psychische Be-
lastungen bewältigen. Diese Forderungen müssen vor allem Beschäftigte im mittle-
ren und höheren Qualifikationsbereich auf sich nehmen (vgl. Schmid 2000, 278).
Qualifikationsmängel aufgrund fehlender betrieblicher Weiterbildung oder Grenzen
der Belastbarkeit werden als Mangel an persönlicher ,,Flexibilität" wahrgenommen
und damit die Probleme bei der Bewältigung neuer Anforderungen individualisiert
(vgl. Flecker 1998, 217f.).
Flexible Persönlichkeit
Sennett zeigt ein eher düsteres Szenario in Bezug auf die Folgen von Flexibilität für
den Menschen auf, welches empirisch nicht gesichert ist, sondern sich auf Fallbei-
spiele beruft.
Der neue globale Kapitalismus verändere nicht nur die betrieblichen Strukturen,
sondern auch die Persönlichkeit des Menschen. Sein Buch ,,Der flexible Mensch"
heißt im Original ,,The corrosion of character", was wörtlich übersetzt bedeutet ,,Die
Zerstörung/Aushöhlung der Persönlichkeit".
Die Charakterbildung des Menschen sei nur durch langfristige Ziele und dauerhafte
mitmenschliche Beziehungen möglich, die in der modernen Gesellschaft durch
ständige berufliche und geographische Mobilität und flexible Zielanpassung nicht
gegeben seien (vgl. Brüsemeister 2000, 307).
33
Mit diesem Schlüsselwort ist eine authentische und ausbalancierte Integration von Leben und Arbei-
ten gemeint, die dem modernen Menschen und seinen Bedürfnissen eine ,,Ausgewogenheit von Sach-
zwang und Selbstverwirklichung, von Leistungsdruck und Spaßorientierung" ermöglichen soll (Schnei-
der, Limmer, Ruckdeschel 2002b, 9).

Theoretischer Hintergrund: Neue Anforderungen an das Individuum
31
Sennett beschreibt den Typus einer flexiblen Persönlichkeit, die sich anpassen
kann, der die langfristigen Bindungen (auch zu ihrem bisher Erreichten) fehlen, die
ohne feste Ordnung auskommt und sich von ihrer Vergangenheit lösen kann (vgl.
Sennett 1998, 79f.).
,,Ein nachgiebiges Ich, eine Collage aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich
immer neuen Erfahrungen öffnet ­ das sind die psychologischen Bedingungen, die
der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, ständigen
Risiken entsprechen" (ebd., 182).
34
Es geht aber in der Wirtschaft nicht mehr um Persönlichkeiten, sondern um Profile,
die jederzeit von anderen erfüllt werden können und somit den einzelnen Menschen
austauschbar machen. Von einem flexiblen Menschen wird verlangt, dass er ein
,,Profil" ausbildet, welches in das vorgegebene Anforderungsmuster passt (vgl. Gro-
nemeyer 2004, 159).
,,Die moderne Kultur des Risikos weist die Eigenheit auf, schon das bloße Versäu-
men des Wechsels als Zeichen des Misserfolgs zu bewerten. Stabilität erscheint
fast als Lähmung. Das Ziel ist weniger wichtig als der Akt des Aufbruchs" (Sennett
1998, 115). Von der Wirtschaft wird suggeriert: wer sich nicht bewegt und dement-
sprechend flexibel zeigt, ,,ist draußen".
3.2 Mobilität
,,Flexibilisierung bezeichnet nicht nur die Veränderungen der Arbeitszeitformen und
die Entstehung neuer Teilzeitmodelle [...]. Die Forderung nach mehr Flexibilität
schließt auch die Bereitschaft oder den Zwang zu beruflicher, sozialer und regiona-
ler Mobilität seitens der Beschäftigten mit ein" (Hochgerner 1998, 176f.).
In diesem Zitat wird bereits deutlich, dass Mobilität als Ausdruck von Flexibilität zu
sehen ist und dass unterschiedliche Formen von Mobilität unterschieden werden
können.
Allgemein bezeichnet Hradil (2002) Mobilität als ,,die Bewegungen von Personen
über Strukturen hinweg, d.h. den Wechsel von Stellungen" (Hradil 2002, 368). Diese
Bewegungsvorgänge von Individuen oder Gruppen finden innerhalb einer Gesell-
schaft statt.
Mobilität kann als Grundbedürfnis des Menschen gesehen werden, da sich der
Mensch durch Mobilität räumlich, geistig und sozial in Bewegung hält und diese Be-
34
Sennett beschreibt in diesem Zusammenhang das Problem des ,,Drift": einem Zustand des Dahin-
treibens ­ ohne jede innere Sicherheit - der durch häufigen Arbeitsplatzwechsel zustande komme (vgl.
Sennett 1998, 22f.; Brüsemeister 2000, 309).

Theoretischer Hintergrund: Neue Anforderungen an das Individuum
32
weglichkeit als Antriebskraft für individuelle Erfahrung und als Motor für gesellschaft-
lichen Fortschritt gilt (vgl. Opaschowski 2004, 54). Andere Autoren hingegen sehen
Mobilität nicht als Grundbedürfnis des Menschen, sondern als Mittel, um deren
Grundbedürfnisse nach Sicherheit und auch Neugier zu befriedigen (vgl. Schneider,
Limmer & Ruckdeschel 2002b, 42).
Je nach Art der Strukturen wird zwischen
a) sozialer
und
b) räumlicher Mobilität
unterschieden.
Die soziale Mobilität, als Wechsel von sozialen Positionen, kann sowohl in vertikaler
als auch in horizontaler Richtung stattfinden. ,Vertikale Mobilität' bezeichnet Ab- und
Aufstiege im sozialen Rang wie z.B. in der Berufsposition, im Bildungsgrad o.ä., die
sich beispielsweise im Vergleich zu der Elterngeneration oder innerhalb des eigenen
Lebenslaufes ereignet haben. Bei ,horizontaler Mobilität' verändert sich nicht der
Rang, aber die Art der sozialen Position wie bei einem Berufs- oder Branchenwech-
sel, dem Wechsel der Konfession, der Staatsangehörigkeit oder auch der Lebens-
form (vgl. Hradil 2002, 368; Hillmann 1994, 565).
Neben dem klassisch soziologischen Verständnis erweitern Schneider, Limmer &
Ruckdeschel den Begriff der sozialen Mobilität in dem Sinne, dass soziale Mobilität
,,mit Prozessen der Einbindung, des Verlassens und der Wiedereinbindung in sozia-
le Netzwerke" (2002b, 25) einhergeht. Sozial mobil ist nach den Autoren, wer in der
heutigen Zeit häufig seine Netzwerke wechselt und diese immer neu konfiguriert,
wobei dabei nicht unbedingt ein sozialer Auf- und Abstieg erfolgen muss (vgl.
Schneider, Limmer & Ruckdeschel 2002b, 25).
Räumliche Mobilität bezeichnet eine Ortsveränderung von Menschen ohne oder mit
Wohnsitzwechsel. Die Mobilität ohne Wohnsitzwechsel wird auch als ,zirkuläre Mo-
bilität' beschrieben, da sie immer wieder zum Wohnsitz zurückführt - wie alltägliche
Alltagswege, Berufspendeln, Urlaubsreisen. Mobilitätsbewegungen mit Wohnsitz-
wechsel werden auch ,Wanderungen' (Migration) oder ,residentielle Mobilität' ge-
nannt. Dies kann von regionalen Umzügen bis hin zu Auswanderungen über die
Staatsgrenzen hinweg reichen (vgl. Hradil 2002, 368).
Die dargestellten Mobilitätsformen schließen sich nicht unbedingt aus, denn ein
Wohnortwechsel (räumliche Mobilität) geht häufig mit beruflichen und privaten Ver-
änderungen (vertikale Mobilität) oder sogar sozialen Auf- oder Abstiegen einher

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2006
ISBN (eBook)
9783836606646
DOI
10.3239/9783836606646
Dateigröße
1.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig – Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2007 (November)
Note
1,1
Schlagworte
wohnortwechsel arbeitsmarkt flexibilität mobilität wohnort umzug
Produktsicherheit
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Titel: Individuelle Bewältigung von Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen am Beispiel Wohnortwechsel
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