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Lebensphase Jugend

Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen

©2006 Diplomarbeit 94 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die in den letzten 50 Jahren in Deutschland stattfanden, haben auf den Lebensverlauf der Menschen großen Einfluss genommen. Es wurden in allen Lebensbereichen viele Chancen und individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnet. Auf der anderen Seite werden durch Enttraditionalisierungstendenzen, Individualisierungsvorgänge und Entstrukturierung der traditionellen Gesellschaft auch genauso viele Risiken sichtbar. Dies ist in Kürze die Konsequenz der postmodernen Gesellschaft.
Durch die Ablösung der industriegesellschaftlichen Lebensformen durch neue, vielfältige Arten der Lebensarten entstand die Situation, dass Individuen heute ihre Biographien selbst herstellen und inszenieren müssen, - und zwar ohne den Hintergrund eines fraglos Sicherheit bietenden Lebenszusammenhangs.
Die Motivation zu der vorliegenden Arbeit ergab sich zum Einen aus der Aktualität des Themas, die sich mir im beruflichen Zusammenhang eröffnete. Bei der Arbeit mit Jugendlichen stellte sich mir die Frage, wie Jugendliche in diesen veränderten Lebenswelten es schaffen, ihre eigene Ich-Identität stabil zu konstruieren und welche Voraussetzungen dafür vonnöten sind. Da ich hauptsächlich mit sozial benachteiligten Jugendlichen arbeite, erschien mir dieses Problem umso deutlicher.
In der Fortführung des Gedankens stellte ich die Überlegung an, dass Jugendliche vor einigen Jahren noch ganz andere Lebensbedingungen vorfanden. Es ergab sich also die Frage, was sich überhaupt verändert hat in den Lebenswelten Jugendlicher.
Auf der anderen Seite interessierte mich dieses Thema auf professioneller Ebene. Wenn Jugendliche heute ganz andere Kompetenzen und Ressourcen benötigen, woher bekommen sie die nötige Unterstützung, diese zu erlernen und welche Kompetenzen und Ressourcen ermöglichen Jugendlichen konkret, sich in der heutigen Gesellschaft zurechtzufinden?
Im zukünftigen Blick auf meine berufliche Tätigkeit, die sich im Anschluss des Studiums ergeben wird, möchte ich eine theoretische Grundlage erarbeiten, die es mir ermöglicht, mit den Auswirkungen veränderten Lebensbedingungen Jugendlicher umzugehen. Grundlegend ist dabei für mich das Verständnis der Situation. Da ich mich im Laufe des Studiums schon beginnend mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte, verstärkte dies mein Interesse nur. Die erkenntnisleitende Fragestellung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist für mich die Frage nach den Kompetenzen und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Lena Metzing
Lebensphase Jugend
Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
ISBN: 978-3-8366-0495-6
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, Wolfenbüttel, Deutschland,
Diplomarbeit, 2006
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
1
Inhaltsverzeichnis
1.
EINLEITUNG... 5
2. GESELLSCHAFTSTHEORETISCHER HINTERGRUND... 9
2.1 Definition des Begriffs Individualisierung ... 9
2.2 Individualisierung und Jugend... 13
2.3 Zusammenfassung ... 16
3.
JUGEND IM HISTORISCHEN KONTEXT ­ DER STRUKTURWANDEL DER
LEBENSPHASE JUGEND ... 17
3.1 Die erste Modernisierung... 17
3.2 Die zweite Modernisierung oder reflexive Moderne ... 19
4.
JUGEND ALS LEBENSPHASE... 21
4.1 Definition des Begriffs Jugend... 21
4.2 Abgrenzung zur Kindheit ... 22
4.3 Abgrenzung zum Erwachsenenalter ... 24
4.4 Entwicklungsaufgaben der Jugendphase ... 25
4.4.1
Persönlichkeitsentwicklung in der Jugendphase... 27
4.5 Zusammenfassung ... 28
EXKURS: IST JUGEND NOCH EINE LEBENSPHASE ODER IST JUGEND
HEUTE ZUM LEBENSSTIL GEWORDEN?... 29

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
2
5.
BIOGRAPHIEKONSTRUKTIONEN JUGENDLICHER ... 33
5.1 Definition des Begriffs Biographie ... 34
5.2 Definition des Begriffs Identität ... 35
5.3 Der wissenschaftstheoretische Ansatz des symbolischen Interaktionismus... 37
5.3.1 Grundlagen ... 37
5.3.2 Symbolischer Interaktionismus und Identitätsentwicklung ... 39
5.4 Der Ansatz der balancierenden Identität ... 40
5.4.1 Grundlagen und Identitätsbildung... 41
5.5 Patchwork ­ Identitäten... 43
5.6 Zusammenfassung ... 46
6.
LEBENSWELTEN JUGENDLICHER IN DER INDIVIDUALISIERTEN GESELLSCHAFT .. 49
6.1 Definition des Begriffs Lebenswelten... 49
6.1.1 Lebenswelt Familie ... 52
6.1.2 Lebenswelt Schule... 55
6.1.3 Lebenswelt Peer-Group... 56
6.1.4
Lebenswelt Freizeit ... 58
6.1.5
Lebenswelt Konsum... 59
6.1.6
Lebenswelt Medien... 61
6.1.7
Lebenswelt Körperbewusstsein... 63
6.2 Die Bedeutung von Lebenswelten für die Identitätsbildung ... 64
7.
DAS RESSOURCEN- UND KOMPETENZPROFIL JUGENDLICHER... 67
7.1 Identitätsfördernde Fähigkeiten nach Lothar Krappmann... 67
7.1.1
Rollendistanz... 68
7.1.2
Role-Taking und Empathie ... 69
7.1.3
Ambiguitätstoleranz und Abwehrmechanismen... 70
7.1.4
Identitätsdarstellung... 72
7.2 Ressourcen und Kompetenzen nach Heiner Keupp... 73
7.2.1
Materielle Ressourcen... 73
7.2.2 Soziale Kompetenzen ... 74
7.2.3
Die Fähigkeit zum Aushandeln... 75
7.2.4
Ambiguitätstoleranz ... 76

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
3
7.2.5 Urvertrauen zum Leben ... 77
7.2.6
Lebenskohärenz ... 78
7.2.7
Boundary Management ... 78
7.2.8
Zugehörigkeitserfahrungen und Anerkennungskulturen
... 79
7.2.9 Interkulturelle und zivilgesellschaftliche Kompetenzen... 80
7.3 Zusammenfassung ... 82
8.
SCHLUSSGEDANKEN UND AUSBLICK ... 83
LITERATURVERZEICHNIS... 87

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
5
1.
Einleitung
Die tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die in den letzten 50 Jahren in
Deutschland stattfanden, haben auf den Lebensverlauf der Menschen großen Einfluss
genommen. Es wurden in allen Lebensbereichen viele Chancen und individuelle Wahl-
möglichkeiten eröffnet. Auf der anderen Seite werden durch Enttraditionalisierungstenden-
zen, Individualisierungsvorgänge und Entstrukturierung der traditionellen Gesellschaft
auch genauso viele Risiken sichtbar. Dies ist in Kürze die Konsequenz der postmodernen
Gesellschaft.
Durch die Ablösung der industriegesellschaftlichen Lebensformen durch neue, vielfältige
Arten der Lebensarten entstand die Situation, dass Individuen heute ihre Biographien selbst
herstellen und inszenieren müssen, - und zwar ohne den Hintergrund eines fraglos Sicher-
heit bietenden Lebenszusammenhangs.
Die Motivation zu der vorliegenden Arbeit ergab sich zum Einen aus der Aktualität des
Themas, die sich mir im beruflichen Zusammenhang eröffnete. Bei der Arbeit mit Jugend-
lichen stellte sich mir die Frage, wie Jugendliche in diesen veränderten Lebenswelten es
schaffen, ihre eigene Ich-Identität stabil zu konstruieren und welche Voraussetzungen
dafür vonnöten sind. Da ich hauptsächlich mit sozial benachteiligten Jugendlichen arbeite,
erschien mir dieses Problem umso deutlicher.
In der Fortführung des Gedankens stellte ich die Überlegung an, dass Jugendliche vor
einigen Jahren noch ganz andere Lebensbedingungen vorfanden. Es ergab sich also die
Frage, was sich überhaupt verändert hat in den Lebenswelten Jugendlicher.
Auf der anderen Seite interessierte mich dieses Thema auf professioneller Ebene. Wenn
Jugendliche heute ganz andere Kompetenzen und Ressourcen benötigen, woher bekommen
sie die nötige Unterstützung, diese zu erlernen und welche Kompetenzen und Ressourcen
ermöglichen Jugendlichen konkret, sich in der heutigen Gesellschaft zurechtzufinden?
Im zukünftigen Blick auf meine berufliche Tätigkeit, die sich im Anschluss des Studiums
ergeben wird, möchte ich eine theoretische Grundlage erarbeiten, die es mir ermöglicht,
mit den Auswirkungen veränderten Lebensbedingungen Jugendlicher umzugehen. Grund-
legend ist dabei für mich das Verständnis der Situation. Da ich mich im Laufe des Studi-
ums schon beginnend mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte, verstärkte dies mein
Interesse nur.

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
6
Die erkenntnisleitende Fragestellung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist für mich die
Frage nach den Kompetenzen und Ressourcen, die Jugendliche benötigen, um in unserer
Gesellschaft eine stabile Ich-Identität aufbauen zu können. Diese Identität ermöglicht
ihnen ein selbstbestimmtes Leben, in dem all die Chancen genutzt werden können, die die
individualisierte Gesellschaft bietet. So können Jugendliche eine sinnvolle Biographie
konstruieren, die im Laufe ihres Lebens Erfolge verspricht und zu einem befriedigenden
Ergebnis führt. Dieses Ergebnis sieht sicher für jeden anders aus, ist aber auf dem persönli-
chen Empfinden begründet, ein als sinn- und wertvoll erachtetes, angestrebtes Ziel erreicht
zu haben.
Die Eingrenzung des Themas auf die Biographiekonstruktionen Jugendlicher ergab sich
also nicht nur aus der Fülle der verschiedenen veränderten Lebensbereiche, die die Auflö-
sung der industriegesellschaftlichen Lebensformen zur Folge hatte, sondern auch aus
meinem persönlichen Interesse an der Entwicklung einer Identität bei Jugendlichen. Der
Begriff Jugendliche hat in der vorliegenden Arbeit soziologische Bedeutung. Das heißt,
Jugend wird nicht an einem zeitlichen Rahmen gemessen, sondern Jugend bezeichnet die
Zeit, die vergeht, bis die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters bewältigt sind. Diese Zeit
ist relativ unabhängig vom Alter. Der dieser Arbeit zugrunde liegende Sozialisationsbegriff
wird deshalb als lebenslanger Entwicklungsprozess des Individuums in Auseinanderset-
zung mit seiner sozialen Umwelt definiert.
Ich habe mich nicht auf Jugend in einem zeitlichen Rahmen bezogen, weil meiner Mei-
nung nach die gesellschaftlichen Verläufe so eine Definition nur noch schwerlich zulassen.
Ich gehe trotzdem von der These aus, dass Jugend als eine eigenständige Lebensphase im
menschlichen Lebenslauf angesehen werden kann, weil immer noch spezifische Entwick-
lungsaufgaben in der Jugend bewältigt werden müssen. Allerdings lässt sich hier ergän-
zend sagen, dass diese Kriterien für den Ein- und Austritt in bzw. aus dieser Lebensphase
unübersichtlich und vielfältig geworden sind.
Außerdem gehe ich in der vorliegenden Arbeit von einem Begriff der Persönlichkeitsent-
wicklung aus, der sich über das gesamt Leben erstreckt und immer wieder Veränderungen
und neuen Interpretationen unterworfen ist. Innerhalb der Lebensphase Jugend ist die
Entwicklung einer Ich-Identität jedoch einzigartig präsent, deshalb nehme ich besonders
darauf Bezug.

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
7
Die Arbeit ist gegliedert in eine grundsätzliche Beschreibung der gesellschaftlichen Gege-
benheiten (Kapitel 2), natürlich auch in Bezug auf die Lebensphase Jugend (Kapitel 2.2)
und insofern folgt eine Beschreibung der grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft
(Kapitel 3). Über die Beschreibung der Lebensphase Jugend (Kapitel 4), die deutlich
macht, welche Entwicklungsaufgaben (Kapitel 4.4) Jugendliche zu bewältigen haben und
welche Kriterien die Abgrenzung zur Kindheit bzw. zum Erwachsenenalter kennzeichnen (
Kapitel 4.2 / 4.3) komme ich zu der Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Jugendpha-
se.
Diese Entwicklung wird hier kurz an einem sozialisationstheoretischen Modell Hurrel-
manns beschrieben (Kapitel 4.4.1) bevor der Exkurs folgt. Der Exkurs beschäftigt sich mit
der Frage, ob Jugend heute überhaupt noch eine Lebensphase ist oder ob Jugend nicht
längst zum Lebensstil geworden ist. Diese Thematik überschreitet den engeren Themenbe-
reich, bietet jedoch als weiterführender Gedankengang im Gesamtkontext der Arbeit
interessante Informationen.
Die theoretische Grundlage dieser Arbeit besteht im folgenden Kapitel (Kapitel 5). Neben
der Definition von Biographie und Identität (Kapitel 5.1 / 5.2) habe ich mich für den
wissenschaftstheoretischen Ansatz des symbolischen Interaktionismus nach George Her-
bert Mead entschieden (Kapitel 5.3). Diese Theorie vereint die Widersprüchlichkeiten der
Gegenwartsgesellschaft, nämlich die Freisetzung der Individuen aus traditionellen Lebens-
bedingungen und die Abhängigkeiten von der Umwelt. Der identitätstheoretische Ansatz
des Interaktionismus bezieht sich auf diese individuellen Faktoren sowie auf das soziale
Umfeld, und definiert dadurch Identität.
Die balancierende Identität, beschrieben an einem Modell von Lothar Krappmann ist eine
Weiterführung der bereits erarbeiteten Theorie (Kapitel 5.4). Krappmann geht dort konkret
auf eine Identität ein, die sich aus der Balance der personalen und sozialen Teilidentität
ergibt. Um hier nicht nur den theoretischen, soziologischen Rahmen darzulegen, sondern
auch den Bezug zu Jugend herzustellen, wird eine Theorie Keupps vorgestellt, die Patch-
work-Identität (Kapitel 5.5). Diese Ausarbeitung beschäftigt sich mit der alltäglichen
Identitätsarbeit Jugendlicher.
Nachdem der theoretische Bezug zu Identitätsbildung und Biographiekonstruktion herge-
stellt ist, werden im Folgenden die Lebenswelten beschrieben, in denen diese Prozesse
stattfinden (Kapitel 6).

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
8
Abschließend sind nun Kompetenzen und Ressourcen angeführt, die zeigen, welche Fähig-
keiten Jugendliche in der beschriebenen Gesellschaft benötigen, um ihr Leben selbst zu
gestalten. (Kapitel 7).
Lothar Krappmann hat dazu identitätsfördernde Fähigkeiten formuliert (Kapitel 7.1),
welche die Grundlage für die Ressourcen und Kompetenzen bilden, die Heiner Keupp
vorschlägt. (Kapitel 7.2)
In den folgenden Schlussgedanken werden die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst
und es wird ein kurzer Ausblick vorgenommen, unter anderem natürlich in Bezug auf
Sozialarbeit (Kapitel 8).

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
9
2. Gesellschaftstheoretischer
Hintergrund
In der Gegenwartsgesellschaft haben die vielseitigen Modernisierungs- und Individualisie-
rungsprozesse zu erheblichen Veränderungen geführt. Da sich dieser gesellschaftliche
Umbruch besonders in der Lebensphase Jugend bemerkbar macht und untrennbar mit der
Identitätsbildung Jugendlicher verbunden ist, möchte ich hier zu Beginn einen Überblick
über diese Umgestaltungen geben, der als Ausgangspunkt unverzichtbar ist.
Dabei wird besonders auf die Bedeutung von Individualisierung in Bezug auf Biographie-
konstruktion eingegangen. Als Grundlage ist hier zum größten Teil der gesellschaftstheore-
tische Ansatz der Individualisierung von Ulrich Beck angeführt. Beck hat eine lebenswelt-
bezogene und personenorientierte Gesellschaftsanalyse geschaffen, die deutlich auf verän-
derte Biographiekonstruktion hinweist.
2.1
Definition des Begriffs Individualisierung
,,Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt"
(Jean-Paul Sartre)
Individualisierung ist einer der zentralen Begriffe, der in den letzten Jahren die gesell-
schaftliche Strukturveränderung beschreibt.
,,Als soziologischer Terminus meint Individualisierung eine Entwicklungstendenz der
modernen bzw. postmodernen Gesellschaft, die zur Auflösung tradierter Sozialstrukturen
und zur Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Lebensformen im Zuge der Modernisie-
rungsprozesse der Gesellschaft führt." (W.BAUMANN, 2002, S. 478)
1
Genauer gesagt ist Individualisierung ein zentraler Kernbestand des reflexiven Modernisie-
rungsprozesses.
1
Willi Baumann: Identität in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge: Fachlexikon der
sozialen Arbeit, 5. Auflage, Frankfurt am Main, Eigenverlag, 2002, S. 478

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
10
Darin enthalten sind drei zusammenhängende Abläufe der Gegenwartsgesellschaft:
(1) Die Auflösung industriegesellschaftlicher Lebensformen
(2) Die biographischen Verläufe, die Individualisierung bedingt und ihre Einbindung in
institutionelle Muster
(3) Die politischen und sozialpolitischen Bedeutungen und Folgen des Strukturwandels
,,Der Übergang in die Moderne kann als Individualisierungsprozess im Sinn einer
Freisetzung der Menschen aus ständischen und lokalen Bindungen, einer Pluralisie-
rung der Lebensverhältnisse und eines Geltungsverlusts traditionaler Orientierungen
verstanden werden."
( M. KOHLI, 1988, S.33)
2
Noch präziser beschreibt Ulrich Beck die durch Modernisierung bedingte Individualisie-
rung in drei Dimensionen:
- Freisetzungsdimension (,,Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen
und ­bindungen"
3
(U. BECK, 1986, S. 206))
- Entzauberungsdimension (,,Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf
Handlungswissen, Glauben und leitende Normen" (U. BECK, 1986, S. 206)
4
)
- Kontroll-
bzw.
Reintegrationsdimension (,,eine neue Art der sozialen Einbindung"
(U. BECK, 1986, S. 206)
5
)
Individualisierung darf in diesem Zusammenhang jedoch nicht mit Individuation, Emanzi-
pation oder Einmaligkeit gleichgesetzt werden. Auch die Begriffe Vereinzelung oder
Zerfall der Gesellschaft treffen nicht die Bedeutung des Begriffs im Sinne von Beck.
Vielmehr sind die oben genannten Dimensionen in Hinsicht auf die objektive Lebenslage
zu verstehen.
6
2
Martin Kohli: Normalbiografie und Individualität: Zur institutionellen Dynamik des gegenwärtigen
Lebenslaufregimes in: Brose, Hanns-Georg / Hildenbrand, Bruno (Hrsg.): Vom Ende des Individuums
zur Individualität ohne Ende, Leske + Budrich, Opladen, 1988, S. 33
3
Ulrich Beck: Risikogesellschaft, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 206
4
Ebd.
5
Ebd.
6
Vgl. ebd., S. 206 f

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
11
Das heißt, nicht der Prozess des einzelnen Individuums, sondern die historisch-
soziologische, gesellschaftsgeschichtliche Dimension wird beschrieben.
Auch der Abbau oder die Auflösung von sozialen Ungleichheiten ist hier nicht gemeint,
ebenso wenig wie das Verschwinden der altbewährten Konzepte von Klasse und Schicht.
Vielmehr meint die Theorie von Beck, dass diese klassischen Konzepte in Anbetracht der
Individualisierungstendenzen immer weniger brauchbar sind. Es findet eine Individualisie-
rung von sozialen Ungleichheiten statt.
Karl Lenz ergänzt diese Definition mit dem Begriff der Biografisierungs- und Zuschrei-
bungsdimension. Auch in der Umschreibung von Beck wird dominant auf den Faktor
selbstständiger Biographiekonstruktionen eingegangen, dieser ist jedoch in der Auflistung
der Dimensionen vernachlässigt. So sind die Biografisierungs- und Zuschreibungsdimensi-
on und die Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension kein Widerspruch, sondern beide
gehören zum Individualisierungsprozess und bilden die Gegensätze Freiheit ­ Abhängig-
keit.
7
Beck weist seinerseits ebenfalls darauf hin, dass ,,die Biographie der Menschen aus vorge-
gebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das
Handeln jedes einzelnen gelegt wird." (U. BECK / E. BECK-GERNSHEIM, 1994, S. 216)
8
Es sind demnach gegenwärtig viele risikoreiche Potentiale vorhanden, die bei der eigenen
Identitätskonstruktion berücksichtigt werden müssen. Individualisierung von Lebenslagen
oder Lebensverläufen impliziert, dass Biographien selbstreflexiv werden. Die ehemals
sozial vorgegebene Biographie wird in einen selbst hergestellten und herzustellenden
Lebenslauf verwandelt.
9
7
Vgl. Karl Lenz: Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al., Jugendarbeit als Lebensort.
Jugendpädagogische Orientierungen zwischen Offenheit und Halt, Weinheim u.a.,Juventa Verlag,
1998,S. 53
8
Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim: Riskante Freiheiten,Frankfurt/Main, SuhrkampVerlag, 1994,
S.216
9
Vgl. ebd.

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
12
Dies drückt auch aus, dass die ,,Normalbiographie (...) damit zur »Wahlbiographie«
(wird), zur »reflexiven Biographie«, zur »Bastelbiographie«. Das muß nicht gewollt sein,
und es muß nicht gelingen." (U. BECK / E. BECK-GERNSHEIM, 1994, S. 13)
10
Bastelbiographie ist immer zugleich auch ein Risiko für das Individuum, es befindet sich
fortwährend in einem, teilweise latenten ,,Zustand der Dauergefährdung" (U. BECK / E.
BECK-GERNSHEIM, 1994, S. 13)
11
. Es wird eine aktive Eigenleistung der Individuen
gefordert und wenn dabei etwas misslingt oder ferner nur falsch entschieden wird, dann ist
jeder selbst verantwortlich für das eigene Versagen. Auch dafür, den entstandenen Schaden
wieder gutzumachen.
Weiter sagt Beck, dass statt der traditionalen Bindungen und vorhandenen Sozialformen
sekundäre Instanzen und Institutionen in den Vordergrund der Lebenslaufplanung rücken
und so die vermeintliche individuelle Verfügung letztlich abhängig machen von Moden,
Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten.
12
Zusammenfassend beschreiben dieses Paradox der Individualisierung van der Loo und van
Reijen:
,,Erlöst von den drückenden Bindungen traditioneller sozialer Beziehungen und mit
immer mächtiger werdenden bürokratischen Strukturen konfrontiert, glaubt sich das
moderne Individuum immer selbständiger in seiner Entscheidungsfreiheit, während es
gleichzeitig auch immer stärker unter dem Zwang steht, diese Entscheidungen über-
haupt zu treffen. Der Aufbau einer individuellen Identität, (...), läuft notwendigerweise
parallel zum Aufbau immer umfassender Kollektive."
( H.VAN DER LOO / W.VAN REIJEN, 1992, S. 194 f)
13
Heiner Keupp beschreibt das Individualisierungstheorem mit ähnlichen Begrifflichkeiten.
Der Wandel der ehemals vorherrschenden Werte, also der maßgeblichen Bezugspunkte für
unsere Lebensführung, bezieht sich nicht nur auf Identität, sondern auch auf Werte wie
Familie, Geschlechterrollen, Religiosität oder die traditionelle Gesellschaft.
Die untenstehende Abbildung fasst diese Veränderungen in einem Dreischritt zusammen.
Meist wird diese Veränderung der Lebensziele als persönlicher, eigener Zugewinn von
Freiheit beschrieben und empfunden. Wichtig dabei ist aber, dass diese Freisetzung den
Zugang zu bestimmten Ressourcen verlangt. Wenn diese Ressourcen für das Individuum
10
Ebd., S. 13
11
Ebd.
12
Ebd., S. 211
13
Hans van der Loo/ Willem van Reijen: Modernisierung, München, Deutscher Taschebuch Verlag,
1992, S. 194f

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
13
nicht verfügbar sind, wird die Bewältigung der eigenen Lebensprojekte schwierig.
14
(Vgl.
Kapitel 7)
Abb.1 : Dreischritt im Wertewandel
Außenorientierung
Das Selbst passt sich an.
· Gebote und Verbote
· Rangordnungen und
Herrschaftsbeziehungen
· Konventionen, Institutionen
· Pflichterfüllung und
Anpassungsbereitschaft
· Tugendhaftigkeit und Verzicht
Außenorientierung
Das Selbst passt sich an.
· Gebote und Verbote
· Rangordnungen und
Herrschaftsbeziehungen
· Konventionen, Institutionen
· Pflichterfüllung und
Anpassungsbereitschaft
· Tugendhaftigkeit und Verzicht
Innenorientierung
Das Selbst emanzipiert sich.
· Erweiterung der
Optionsspielräume
· Enttraditionalisierung
und Individualisierung
· Emanzipation
· Autonomie
· Individualismus
· Genuss, Erlebnis, Wellness
Innenorientierung
Das Selbst emanzipiert sich.
· Erweiterung der
Optionsspielräume
· Enttraditionalisierung
und Individualisierung
· Emanzipation
· Autonomie
· Individualismus
· Genuss, Erlebnis, Wellness
Innen/Außen-Orientierung
Neue Vermittlung zwischen
Selbst und Umwelt
· Steigende Wertigkeit
persönlicher Ressourcen
· Neues Sozialbewusstsein
· Leitbilder wie Balance,
Stimmigkeit, Souveränität,
Synergie, Third Way
· ,Vermittlungs-Schlüssel`
im Boundary-Management
werden zentral
Innen/Außen-Orientierung
Neue Vermittlung zwischen
Selbst und Umwelt
· Steigende Wertigkeit
persönlicher Ressourcen
· Neues Sozialbewusstsein
· Leitbilder wie Balance,
Stimmigkeit, Souveränität,
Synergie, Third Way
· ,Vermittlungs-Schlüssel`
im Boundary-Management
werden zentral
Maxime:
Selbst-Kontrolle
Maxime:
Selbst-Verwirklichung
Maxime:
Selbst-Management
50er
60er
70er
80er
90er
2000er
Quelle: Barz, H., Kampik, W.,Singer, T.& Teuber, S.: Neue Werte. Neue Wünsche. Future Values
(2001), online unter: http://www. lrz-muenchen.de
2.2
Individualisierung und Jugend
,,"Individualisierung von Jugend" heißt, dass zumindest eingeschränkt von der Vorstellung
altersspezifischer Lebenslagen Abschied genommen werden muß."
(B. ZIEHLKE, 1993, S.44)
15
Individualisierung ist eng mit der Bildung von Lebensläufen und Biographien verknüpft,
demnach ebenso eng mit der Lebensphase Jugend. Denn in dieser Phase werden bereits
erworbene, individuelle Fähigkeiten weiterentwickelt, Kompetenzen erarbeitet und die
Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Umwelt wird zunehmend eigenständig.
Der gesellschaftliche Platzierungsprozess tritt in eine ausschlaggebende Phase und die
biographischen Konzepte Jugendlicher werden erprobt und verfestigt.
Der Lebenslauf bezeichnet die Abfolge von Ereignissen im Leben eines Menschen. Er ist
charakterisiert durch die jeweiligen typischen Anforderungen an die Entwicklung in ein-
zelnen Lebensphasen.
14
Vgl. Heiner Keupp: Sich selber finden - Identitätskonstruktionen heute, www.ipp-
muenchen.de/texte/sich_selber_finden.pdf, S.7 f
15
Brigitte Ziehlke: Deviante Jugendliche, Leske + Budrich, Opladen, 1993, S. 44

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
14
Es besteht heute, in der enttraditionalisierten Gesellschaft die Chance, einen ganz eigenen
Lebensstil aufzubauen und selbstständig zu sein.
Dabei gibt es im Sinne der Individualisierung nicht nur die Aspekte der ,,riskanten Freihei-
ten" und Optionenvielfalt, sondern gerade die Ambivalenzen der postmodernen Gesell-
schaft müssen im Blick behalten werden.
16
Jugendliche müssen gegenwärtig ,,Wandel, Widersprüche und Veränderungen bewältigen,
aber die Erwachsenenwelt bietet ihnen hierfür kaum hinreichende Hilfen und Orientierun-
gen" (P.ZIMMERMANN, 2003, S.64)
17
. Der kulturelle Wandel ist so auf jeden Fall ein
Einflussfaktor für die Persönlichkeitsentwicklung.
An dieser Stelle ist der Begriff der Individualisierung auch kritisch zu sehen.
,,Die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Strukturumbrü-
chen und individuellen Bewältigungschancen sind, zumal im Jugendalter, mit die-
sem Begriff kaum zu erfassen"
(B. SCHÄFERS, 2001, S. 99)
18
.
Weiter sei die personenbezogene Seite der Individualisierung, d.h. wie verläuft die indivi-
duelle Sozialisation, welche Ressourcen stehen zur Verfügung und was gibt es für tatsäch-
liche Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Jugend, nicht hinreichend thematisiert.
19
Unverkennbar ist jedoch, dass die Veränderung hin zur Gegenwartsgesellschaft die gesell-
schaftliche Funktion der Lebensphase Jugend und damit auch ihre jeweilige biografische
Bedeutung verändert hat.
Die Grenzziehung zwischen Jugend und Erwachsenenalter wird im Gegensatz zu der
industriellen Gesellschaft schwierig, weil die ehemals eindeutigen Merkmale mehr und
mehr einer individuellen Lebenslaufplanung unterworfen sind und eine Normalbiographie
nicht mehr vorhanden ist.
20
16
Vgl. Wilhelm Heitmeyer / Thomas Olk: Individualisierung von Jugend, Juventa Verlag, Weinheim /
München, 1990, S. 13
17
Peter Zimmermann: Grundwissen Sozialisation, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2003,
S. 64
18
Bernhard Schäfers: Jugendsoziologie, Leske + Budrich, Opladen, 2001, S. 99
19
Vgl. ebd.
20
Vgl. Brigitte Ziehlke: Deviante Jugendliche, S. 32 f

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
15
,,Während das herkömmliche sozialwissenschaftliche Verständnis von Jugend eine (...)
Standardabfolge von Übergangsereignissen (...) und auf der sozialpsychologischen
Ebene die Konfrontation mit bestimmten Entwicklungsaufgaben (...) unterstellen konn-
te, muß heute sowohl von zunehmend individuell verlaufenden Übergangsprozessen als
auch von veränderten Abfolgen der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben gespro-
chen werden."
(W. HEITMEYER / T. OLK, 1990, S.22)
21
Die Individualisierung in Bezug auf Jugend vollzieht sich eindeutig auf ambivalenten
Ebenen. Einerseits sind viele neue Möglichkeiten, andererseits aber auch viele neue Risi-
ken vorhanden.
,,Die Individualisierung von Jugend geht (...) mit "neuen" Kontrollformen und Einbin-
dungen einher; daneben sind nicht alle "alten" Zwänge und Benachteiligungen aufge-
hoben."
(B. ZIEHLKE, 1993, S.33)
22
Jugendliche finden heute viele individuelle Entscheidungsmöglichkeiten (aber auch Ent-
scheidungszwänge) vor, die keine vorangehende Generation jemals zur Auswahl hatte. Ihre
Identitäts- und Alltagsprobleme dagegen müssen sie weitgehend allein bewältigen.
Individualisierung erweist sich daher als wesentliches Kennzeichen moderner Sozialisati-
on. Entwicklungsaufgaben sind immer weniger an die Phase Jugend im Lebenslauf ge-
knüpft, sondern ergeben sich in veränderter Reihenfolge und sind keiner Ordnung nach
Wichtigkeit mehr unterworfen. Teilweise werden sie erst im Erwachsenenalter erfüllt.
Dementsprechend gibt es keine verbindlichen Lebenslaufbilder zur Orientierung mehr und
die eigene Persönlichkeitsentwicklung gerät in die Gefahr, vorbildlos und damit orientie-
rungslos zu werden.
23
Anders sagt es Heinz Abels:
Jeder Einzelne muss ein gewisses Maß an strategischem Denken vorweisen können. Denn
es gibt aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten, seinen Lebenslauf zu gestalten, auch
viele alternative Laufbahnen. Bisweilen sind für Jugendliche mehrere Laufbahnen relevant,
d.h., sie stecken gleichzeitig in mehreren Rollen und müssen die damit verbundenen Er-
wartungen bewältigen, um nicht zu scheitern.
24
21
Wilhelm Heitmeyer / Thomas Olk: Individualisierung von Jugend, S. 22
22
Brigitte Ziehlke: Deviante Jugendliche, S. 33
23
Vgl. ebd., S 42 ff
24
Vgl. Heinz Abels: Jugend vor der Moderne. Soziologische und psychologische Theorein des 20.
Jahrhunderts, Leske + Budrich, Opladen, 1993

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
16
Ob Jugendliche zu den Verlierern oder Gewinnern des Individualisierungsprozesses gehö-
ren, hängt somit entscheidend von den vorhandenen individuellen Ressourcen ab.
2.3 Zusammenfassung
Zusammenfassend kann hier gesagt werden, dass gerade Jugendliche von den gesellschaft-
lichen Prozessen besonders betroffen sind, weil sie mitten in einer Phase der Identitätsbil-
dung und Biographiekonstruktion mit den Veränderungen umgehen müssen. Es gibt un-
endlich viele Möglichkeiten aber auch genauso viele Risiken, die Jugendliche aktiv beur-
teilen und lösen müssen. Ohne feste Werte und Normen, die Orientierung verschaffen, ist
es schwierig, diese Herausforderung zu bewältigen. So stellt sich in den vergangenen
Kapiteln auch jeweils zum Schluss die Frage, welche Kompetenzen Jugendliche benötigen,
um mit diesen Gegebenheiten umzugehen. Da an anderer Stelle diese Frage ausführlich
beantwortet werden wird, wird hier nicht weiter darauf eingegangen (Vgl. Kapitel 7). Es
sei gesagt, dass sich diese Kompetenzen im Gegensatz zu früher grundsätzlich gewandelt
haben, da sich auch die Lebensphase Jugend grundlegend verändert hat.

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
17
3.
Jugend im historischen Kontext ­ Der Strukturwandel der Lebensphase Ju-
gend
Durch die bereits beschriebene Entwicklung hin zu einer individualisierten Gesellschaft
veränderte sich die Lebensphase Jugend nicht nur im Hinblick auf Biographie. Erst im
Zuge der Individualisierungstendenzen entwickelte sich überhaupt eine Jugendphase,
abgrenzbar von Kindheit und Erwachsenenalter. Noch zur Jahrhundertwende war Jugend
als eine eigenständige Phase im menschlichen Lebenslauf nicht bekannt. Jugend ist im
Prinzip ein Produkt der modernen Industriegesellschaft. In der traditionellen Gesellschaft
konnten Jugendliche nicht mit einem Begriff zusammengefasst werden, sie waren entspre-
chend ihres Standes Knechte, Mägde oder Lehrling und Geselle. Erst im Verlauf der Mo-
dernisierung kam es zu einer Ausbildung der Jugendphase und dann nach und nach zu
einer einheitlichen Bedeutung von Jugend über Geschlecht und Klasse hinweg. Besondere
Beachtung findet hierbei die Veränderung des Lebenslaufes, der die Entwicklung einer
Jugendphase überhaupt erst ermöglichte.
3.1
Die erste Modernisierung
Die erste Moderne hatte allgemein die Ablösung traditioneller durch industriegesellschaft-
liche Lebensformen zum Inhalt. Der Höhepunkt dieses Prozesses liegt in den Jahren um
1960. Lenz bezeichnet diese Form der Gesellschaft als eine ,,halbmoderne Gesellschaft".
Das heißt, traditionelle Elemente waren nicht verschwunden, sondern wurden in moderner
Art und Weise weiterhin gelebt.
25
In dieser halbmodernen Gesellschaft hat sich laut Martin
Kohli eine Institutionalisierung der Lebensläufe vollzogen. Die zentralen Merkmale des
Lebenslaufes sind nun die Verzeitlichung und Chronologisierung. Verzeitlichung bedeutet
konkret, dass das Alter zum wesentlichen Strukturprinzip des Lebens wird. Chronologisie-
rung drückt aus, dass der Lebenslauf nicht mehr geprägt ist von zufälligen Ereignissen,
sondern vorhersehbar wird. Ereignisse wie Heirat oder Geburt eines Kindes werden für
jeden beliebige Möglichkeiten der Lebensplanung. So wird eine, für Frauen und Männer
unterschiedliche, Normalbiographie erzeugt.
25
Vgl. Karl Lenz: Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al., Jugendarbeit als Lebensort,
S.53f

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
18
Die zentralen Lebensereignisse finden hier in einer vorgegebenen Reihenfolge statt und
sind gebunden an ein angemessenes Alter.
Kohli bezieht dies ebenfalls auf Individualisierungsprozesse, denn die Individuen verlagern
ihre dadurch verloren gegangene Stabilität nun auf ihren Lebenslauf. Der moderne Lebens-
lauf zeichnete sich außerdem durch eine Ausrichtung auf das Erwerbssystem aus.
26
Die
untenstehende Grafik soll noch einmal verdeutlichen, wie sich die Jugendphase im histori-
schen Rückblick entwickelt hat. Hier wird deutlich, wie sich besonders auch die zeitliche
Ausdehnung der einzelnen Lebensabschnitte im Lebenslauf mit der Ausbildung der Ju-
gendphase verändert haben.
Abb. 2: Lebensphasen während der Lebensspannen im historischen Vergleich
Quelle: Klaus Hurrelmann: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendfor-
schung, Juventa Verlag, Weinheim / München, 1999, S. 23
Hurrelmann zeigt, dass die Lebensphase Jugend im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeu-
tung gewinnt. Dies zeigt sich deutlich an der zeitlichen Ausdehnung, die immer mehr
zunimmt. 1910 bestand der Lebenslauf aus einem relativ einfach strukturierten Ablauf von
Kindheit und Erwachsenenalter. 1950 hat das Jugendalter schon einen bedeutenden Stel-
26
Vgl. Martin Kohli: Lebenslauftheoretische Ansätze in der Sozialisationsforschung in: Klaus Hurrel-
mann / Dieter Ulich (Hrsg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, Beltz Verlag, Wein-
heim/Basel, 1991, S.310 ff

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
19
lenwert. Er nimmt außerdem einen Ausblick ins Jahr 2030 vor, der diese Tendenz bestä-
tigt.
27
Jugend wurde so nach und nach zu einer Vorbereitungsphase auf das Erwachsenenleben.
In diesem ersten Modernisierungsprozess kam es zu einer Verallgemeinerung des Begriffs
Jugend, man kann jedoch nicht von einer Homogenisierung der Jugend sprechen. Auf-
grund der sozialen Ungleichheiten hatte Jugend trotz ihrer Bedeutung als spezifische
Durchgangsphase immer noch unterschiedliche Gestalt.
28
3.2
Die zweite Modernisierung oder reflexive Moderne
Wenn man von der zweiten Moderne oder auch reflexiven Moderne spricht, sind damit
allgemein die Anfänge des 21. Jahrhunderts gemeint. Kohli spricht hier von einer ,,Deinsti-
tutionalisierung der Lebensläufe".
,,Die Ehe hat ihren doppelten Monopolanspruch, die einzig legitime Form einer auf
Dauer gestellten Mann-Frau-Beziehung und der einzig legitime Ort sexueller In-
teraktion zu sein, verloren.(...) Normalarbeitsverhältnisse sind rückläufig und wer-
den in der Zukunft immer mehr abnehmen."
(K. LENZ, 1998, S.58)
29
Man muss sich darauf einstellen, dass Arbeitsverhältnisse nicht ein Leben lang gegeben
sind, dass ein lebenslanges Lernen grundlegend ist und dass eine Berufsbiographie geprägt
ist von ,,Phasen der Arbeitslosigkeit und das Angewiesensein auf staatliche Transferzah-
lungen" (K. LENZ, 1998, S. 58)
30
Diese Tendenzen wirken sich natürlich entsprechend auf die Jugendphase aus. Sie wird
immer länger, richtet sich nicht mehr nach Alterszeitangaben, zerfasert zum Ende hin (Vgl.
Abb.2). Jugend muss von Jugendlichen immer individueller bewältigt werden.
Die Veränderungstendenzen der Jugendphase beziehen sich vor allem auf die zeitige
Möglichkeit für eine eigenständige Lebensführung. Jugendliche nehmen sich frühzeitig als
eigene Person wahr und haben eine höhere Kompetenz zur Eigenverantwortung, obwohl
sie länger auf materielle Unterstützung angewiesen sind.
27
Vgl. Klaus Hurrelmann: Lebensphase Jugend, S. 23
28
Vgl. Karl Lenz:Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al.,Jugendarbeit als Lebensort, S.
56 f
29
Ebd., S. 58
30
Ebd

Lebensphase Jugend - Biographiekonstruktion und individuelles Kompetenzprofil von Jugendlichen
20
Sie verbleiben länger im Bildungssystem, machen früher sexuelle Erfahrungen ­ Sexualität
ist längst zum Gegenstand familialer Kommunikation geworden ­ und spielen eine bedeu-
tende Rolle als Konsument. Bildungsabschlüsse sind relevant für das spätere Leben und so
wird der Erwerb möglichst hoher Bildungsbescheinigungen zur sozialen Norm.
31
Durch
diese immer weiter ,,fortschreitende Auflösung einer festen Verankerung in einem sozialen
Milieu verblassen auch verbindliche Orientierungsmuster, die gerade in krisenhaften
Lebenssituationen Stabilität und Rückhalt stiften können."( K. LENZ, 1998, S. 63)
32
31
Vgl. ebd., S. 59 ff
32
Ebd. S.63

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836604956
DOI
10.3239/9783836604956
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel – Sozialwesen
Erscheinungsdatum
2007 (August)
Note
1,0
Schlagworte
identität symbolischer interaktionismus individualisierung lebenswelten ressourcen
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