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Die Ballin-Stadt auf der Veddel

Ein sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag zur Erforschung der Entstehung und Funktion der Auswandererhallen

©2006 Magisterarbeit 174 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Am 18. Dezember 2004 hat der Hamburger Senat im Rahmen des städtebaulichen Konzepts „Sprung über die Elbe“1 die Realisierung des Auswanderermuseums „BallinStadt“ beschlossen. Mit seiner Eröffnung im Jahr 2007 soll im Wesentlichen die Geschichte der europäischen Auswanderung über Hamburg im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verarbeitet und vermittelt werden. Damit wird Hamburg in eine Museumsszene einsteigen, die in den letzten Jahren die Relevanz der Geschichte der europäischen Migration in einer musealen Präsentation signalisiert. Die Grundlage und den entscheidenden Ort für die Entstehung des Auswanderermuseums bildet die historische Fläche auf dem Veddeler Bogen, dort wo es einst eine der wichtigsten historischen Einrichtungen der Hansestadt residierte: die „Auswandererhallen der Hamburg-Amerika-Linie“. Hierbei handelte es sich um eine besondere „Kleinstadt in der Stadt“, die unter Beachtung aller damals als avanciert geltenden humanitären, hygienischen und technischen Gesichtspunkte die „vergleichsweise beste europäische Unterbringungsanlage für Migranten um die Jahrhundertwende“ bildete. Damit richtet sich die Aufmerksamkeit auf einen relevanten Bestandteil der hamburgischen Geschichte, der bisher am Rande der öffentlichen Wahrnehmung und der sozialhistorischen Betrachtung geblieben ist: die Geschichte einer Institution, die einst mit ihrem technokratisch durchdachten und für die damaligen Verhältnisse überaus modernen Konzept die Grundlage des Auswandererverkehrs in Hamburg bildete und in der Folge die Stadt zum bedeutendsten Auswandererhafen Deutschlands machte.
Zwischen 1896 und 1913 ließen sich über die Hansestadt ca. 1.707.953 EmigrantInnen nach Übersee befördern.5 Im Rahmen der Beförderung stellte die Unterbringung dieser Menschen zunächst eine staatliche Aufgabe dar, die im Laufe der Jahre jedoch von den Reedereien übernommen und kommerzialisiert wurde. Durch die Initiative von Albert Ballin (1857-1918), dem Generaldirektor des damals weltweit führenden Schifffahrtsunternehmens der deutschen Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt-Aktiengesellschaft (kurz „HAPAG“ genannt) wurden die Auswandererhallen im Jahr 1901 errichtet. Sein Anliegen war es, die osteuropäische Massenauswanderung über Hamburg zu organisieren und eine reibungslose und zugleich profitable Abwicklung derselben zu gewährleisten. Der leitende Gedanke bei der Konzeption dieser Einrichtung war jedoch nicht so sehr die Fürsorge für die EmigrantInnen, […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Styliani Tsaniou
Die Ballin-Stadt auf der Veddel
Ein sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag zur Erforschung der Entstehung und
Funktion der Auswandererhallen
ISBN: 978-3-8366-0480-2
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland, Magisterarbeit, 2006
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung 1
1.1
Themenstellung
und
Forschungsüberblick 1
1.2
Quellenlage/Quellenkritik
6
1.3
Aufbau
der
Arbeit
9
2. Überseeische Auswanderung über Hamburg im 19. und frühen 20. Jahrhundert
12
2.1 Soziale und wirtschaftliche Faktoren der Auswanderung
14
2.2
Osteuropäische
Auswanderung
über
Hamburg
17
2.3
Schifffahrtsinteresse
und
Auswanderung
21
2.4 Die Hamburg-Amerika-Linie- Ein kurzer geschichtlicher Abriss
23
2.4.1
Albert
Ballin
26
3. Die Entstehungsgeschichte der Auswandererstadt auf der Veddel
28
3.1 Die Cholera in Hamburg: Von den Auswandererbaracken zu den Kontrollstationen:
Der Beginn für die Auswandererstadt auf der Veddel
28
3.2
Das
Konzept
Ballins
31
3.3 Die Lage der neuen Anstalt ­ warum auf der Veddel?
35
3.4 Die Erbauung der Auswandererhallen auf der Veddel
37
3.5
Die
Gestaltung
der
Auswandererhallen
39
3.5.1 Die alte Anlage zwischen 901 und 1905. Der erste Bauabschnitt
40
3.5.1.1
Die
,,unreine
Seite"
40
3.5.1.2
Die
,,reine
Seite"
42
3.6
Bau
provisorischer
Auswandererbaracken 47
3.7
Die
Erweiterung
der
Auswandererstadt
48
4.
Das
Leben
in
der
Auswandererstadt
53
4.1
Die
Ankunft 53
4.2
Aufenthaltsbedingungen
56
4.2.1
Internierung
und
Verkehrsbeschränkungen
56
4.2.2
Isolierung
der
russischen
EmigrantInnen
58
4.2.3
Aufhebung
der
Isolierung
59
4.3
Alltag
in
der
Auswandererstadt
60
4.4
Zustände
der
Versorgung
62
4.4.1
Unterbringung,
Verpflegung
und
Ernährung
62
4.4.2 Preise für Unterbringung und Verköstigung in den Auswandererhallen
65

4.5
Fürsorge
66
4.5.1
Auswanderervereine
66
4.6
Die
Abreise 68
5.
Die
Überwachung
der
Anstalt
70
5.1
Polizeiliche
Überwachung
70
5.2
Sanitäre
Überwachung
73
5.3
Zweck
der
Überwachung
74
6. Vorkommnisse, Beschwerden in der Auswandererstadt
76
7. Die Auswandererhallen und die HAPAG in der damaligen öffentlichen Diskussion
85
8. Die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Relevanz der Auswandererhallen
93
9. Das ,,Marinelazarett" und das ,,Überseeheim der Hamburg-Amerika-Linie"
102
10.
Ausblick
107
Quellen-
und
Literaturverzeichnis
110
Anhang
Quellendokumentation
Abbildungsnachweis

1
1. Einleitung
1.1 Themenstellung und Forschungsüberblick
Am 18. Dezember 2004 hat der Hamburger Senat im Rahmen des städtebaulichen
Konzepts ,,Sprung über die Elbe"
1
die Realisierung des Auswanderermuseums
,,BallinStadt" beschlossen.
2
Mit seiner Eröffnung im Jahr 2007 soll im Wesentlichen die
Geschichte der europäischen Auswanderung über Hamburg im späten 19. und frühen 20.
Jahrhundert verarbeitet und vermittelt werden. Damit wird Hamburg in eine
Museumsszene einsteigen, die in den letzten Jahren die Relevanz der Geschichte der
europäischen Migration in einer musealen Präsentation signalisiert.
3
Die Grundlage und den entscheidenden Ort für die Entstehung des Auswanderermuseums
bildet die historische Fläche auf dem Veddeler Bogen, dort wo es einst eine der
wichtigsten historischen Einrichtungen der Hansestadt residierte: die ,,Auswandererhallen
der Hamburg-Amerika-Linie". Hierbei handelte es sich um eine besondere ,,Kleinstadt in
der Stadt", die unter Beachtung aller damals als avanciert geltenden humanitären,
hygienischen und technischen Gesichtspunkte die ,,vergleichsweise beste europäische
Unterbringungsanlage für Migranten um die Jahrhundertwende"
4
bildete.
Damit richtet sich die Aufmerksamkeit auf einen relevanten Bestandteil der hamburgischen
Geschichte, der bisher am Rande der öffentlichen Wahrnehmung und der
sozialhistorischen Betrachtung geblieben ist: die Geschichte einer Institution, die einst mit
ihrem technokratisch durchdachten und für die damaligen Verhältnisse überaus modernen
1
URL: http://www.wachsendestadt.hamburg.de/grafikversion/projekte/stadtentwicklung/
sprung_elbe_hamburg.php
[Stand: 23.2.2006].
2
URL:http://www.cdu-veddel.de/downloads/antraege/Senatsdrucksache_Ballinstadt_28.12.04.pdf
[Stand: 23.2.2006]. BallinStadt, Auswandererwelt Hamburg, URL:
http://www.ballinstadt.de/de/index.php
[Stand: 5.12.2005]. Grundlage des Museumsprojektes sind die im Staatsarchiv Hamburg aufbewahrten
Passagierlisten aus der Zeit von 1850 bis 1934. Mehr dazu: URL:
http://www.genealogus.de/emigration/linktoyourroots/index.html
[Stand: 23.2.2006].
3
Erwähnenswert ist hierbei das bereits im Sommer 2005 in Bremerhaven eröffnete ,,Deutsche
Auswandererhaus": URL:
http://www.dah-bremerhaven.de/german/hauptseite.html
[Stand: 25.2.2006].
Initiativen zur Gründung solcher Migrationsmuseen werden auch in der Schweiz und in Frankreich betrieben.
Für die Schweiz: URL:
http://www.migrationsmuseum.ch
. Für Frankreich: URL: http://www.histoire-
immigration.fr/ [Stand: 25.2.2006]. Als ,,Mutter aller Migrationsmuseen" gilt jedoch das im Jahr 1990
eröffnete Ellis Island Immigration Museum in New York, das weltweit erste Museum, das ausschließlich der
Geschichte der Einwanderung in ein Land gewidmet ist. Es folgten Gründungen in Australien, Brasilien und
Kanada. Vgl. Joachin Baur, Einwanderungsmuseen als neue Nationalmuseen, Das Ellis Island
Immigrationsmuseum und das Museum ,,Pier 21" in URL: http://www.zeithistorische-
forschungen.de/portal/alias__zeithistorischeforschungen/lang__de/tabID__40208474/DesktopDefault.aspx#p
gfId-1034457a [Stand: 25.2.2006].
4
Zitiert nach Birgit Wagner, Die Einschiffung der Auswanderer in Hamburg, in: "...nach Amerika!",
Auswanderung in die Vereinigten Staaten, Ausstellung aus Anlass der Unabhängigkeitserklärung der
Vereinigten Staaten von Amerika am 4. Juli 1776, 4. Juli ­ 26. September 1976, (hg. vom Museum für
Hamburgische Geschichte) Hamburg 1976, S. 25-28, hier: S. 28.

2
Konzept die Grundlage des Auswandererverkehrs in Hamburg bildete und in der Folge die
Stadt zum bedeutendsten Auswandererhafen Deutschlands machte.
Zwischen 1896 und 1913 ließen sich über die Hansestadt ca. 1.707.953 EmigrantInnen
nach Übersee befördern.
5
Im Rahmen der Beförderung stellte die Unterbringung dieser
Menschen zunächst eine staatliche Aufgabe dar, die im Laufe der Jahre jedoch von den
Reedereien übernommen und kommerzialisiert wurde. Durch die Initiative von Albert
Ballin (1857-1918), dem Generaldirektor des damals weltweit führenden
Schifffahrtsunternehmens der deutschen Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt-
Aktiengesellschaft (kurz ,,HAPAG" genannt) wurden die Auswandererhallen im Jahr 1901
errichtet. Sein Anliegen war es, die osteuropäische Massenauswanderung über Hamburg zu
organisieren und eine reibungslose und zugleich profitable Abwicklung derselben zu
gewährleisten. Der leitende Gedanke bei der Konzeption dieser Einrichtung war jedoch
nicht so sehr die Fürsorge für die EmigrantInnen, sondern vielmehr der Schutz der
hamburgischen Bevölkerung vor ,,der Einschleppung ansteckender Krankheiten durch die
durchreisenden Menschen".
6
Deswegen wurde die Auswandererstadt isoliert von der
Innenstadt Hamburgs errichtet, nämlich auf der Elbinsel Veddel. Die Funktion der
Auswandererhallen bestand in der strengen Gesundheitskontrolle und ständigen
polizeilichen Überwachung der EmigrantInnen, was wiederum im geschäftlichen Interesse
der HAPAG war. Die Reederei war nämlich verpflichtet, jeden in amerikanischen
Einwanderungshäfen festgestellten ,,Kranken" auf eigene Kosten in dessen Heimat
zurückzubefördern.
7
Viele Menschen erlebten diese kleine abgegrenzte Kolonie als die letzte Durchgangsstation
zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft und als das letzte Bild von Deutschland
und Europa, das sie auf ihren Weg in die Neue Welt mitnahmen. Für die HAPAG war die
Einrichtung von klarem wirtschaftlichen Vorteil, da sie mittelbar zur öffentlichen und
internationalen Anerkennung sowohl der Reederei als auch Hamburgs beitrug.
Aus dem existierenden Quellenmaterial lässt sich darauf schließen, dass es sich dabei um
die europaweit beste Unterbringungsanlage ihrer Zeit gehandelt hat. In Bremen, dem neben
Hamburg zweiten wichtigen Auswandererhafen, wurden zwar beachtliche
Auswandererhallen errichtet, dennoch fehlte ihnen ,,an der Geräumigkeit der Hamburger
5
Vgl. Jahresbericht der Behörde für das Auswandererwesen für das Jahr 1913, in: Jahresberichte der
Verwaltungsbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg für das Jahr 1914, S. 14.
6
Vgl. Birgit Gelberg, Auswanderung nach Übersee, soziale Probleme der Auswandererbeförderung in
Hamburg und Bremen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg, Beiträge zur Geschichte
Hamburgs, Bd. 10, Hamburg 1973, S. 23.
7
Ebd., S. 26.

3
Anlage mit ihren großen Gartenanlagen, Ruheplätzen, eigenen Kranken- und
Gotteshäusern"
8
.
Wer aber weiß heute noch Näheres über die Entstehungsgeschichte dieser legendären
Einrichtung? Obwohl die ,,Ballin-Stadt" einen unschätzbaren Beitrag zur Geschichte
Hamburgs als Auswandererstadt geleistet hat, ist die Erinnerung daran beinahe erlöscht:
Der zentrale Ort des Geschehens, der erst mit dem Aufbau des Museums wieder
aufgewertet wird, war seit langem in Vergessenheit geraten. Selbst das
erinnerungspolitische Potential der damaligen Einwanderungsstation und die Möglichkeit
ihrer musealen Nutzung wurden erst spät entdeckt.
9
Die vorliegende Magisterarbeit greift damit ein Thema von bedeutender geschichtlicher
Geltung auf, dessen Aktualität für die Gegenwart jedoch noch zu entwickeln ist. Die
Entstehungsgeschichte und Funktion der Auswandererhallen war bislang noch nicht
Gegenstand einer speziellen wissenschaftlichen Untersuchung. Die Forschungslage ist
daher dürftig. In Bezug auf frühere Publikationen lässt sich konstatieren, dass die Ballin-
Stadt nur beiläufig Erwähnung findet. Ein allgemein gehaltener, knapper Überblick über
ihre Gestaltung und Organisation wurde im Jahr 1901 unter dem Gesichtspunkt der
sozialen Hygiene in der Stadt bzw. der gesundheitspolizeilichen Überwachung des
8
Ebd., S. 33; bis zur Erbauung der Bremer Anstalt lag die Unterbringung der EmigrantInnen viel länger als
in Hamburg bei den Notquartieren. Im Jahr 1907 wurde die Reederei ,,Norddeutscher Lloyd" beauftragt, im
Laufe eines Jahres vier ständige Auswandererhallen für je 250 Personen bauen zu lassen. Bereits vier Jahre
später gab es in der Bremer Auswandererhallen elf Häuser, die für die Unterkunft von 3.400 Menschen
sorgen konnten. Durchschnittlich betrug die höchste Belegungsziffer in den Schlafräumen 35,4 Personen,
vgl. Gelberg, S. 32; vgl. Michael Just, Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung 1881-1914,
Transitprobleme in Deutschland und Aufnahme in den Vereinigten Staaten, Hamburg 1988, S. 67 f.
Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die in den Jahren 1900-1902 in Cuxhaven gebauten HAPAG-
Passagierhallen, die weltweit die einzigen Auswanderungsanlagen sind, die sich noch immer in Betrieb
befinden. Dennoch verfügten sie über keine Aufenthalts- und Versorgungseinrichtungen und ließen sich
somit nicht mit der Veddeler Auswandererstadt vergleichen. Einen Überblick über die Geschichte der
HAPAG- Hallen liefert: URL:
http://www.HAPAG-halle-cuxhaven.de/geschichte.php
[Stand: 23.2.2006].
9
Die Debatte der Hamburger Bürgerschaft darüber datiert auf die vorletzte Legislaturperiode. Dennoch reicht
der Wunsch, den zentralen Ort der Auswanderung in Hamburg zu einem Museum umzuwandeln - als
Gegenstück zum 1990 eröffneten Einwanderungsmuseum auf Ellis Island in New York - ins Jahr 1995
zurück und wurde erstmals von dem damaligen rot-grünen Senat formuliert. Zur Realisierung des Projekts
war die Stadt bereit nur 200.000 Euro bereitzustellen, wenn der Bund gleichzeitig 300.000 Euro für das
Projekt zur Verfügung stellen würde. Seit 2002 will die Handelskammer Hamburg über ihren Träger
,,Stiftung Hamburg Maritim" dem ,,Rest vom Tor zur Neuen Welt" ein neues Gesicht geben. Nach
jahrelangen Planungen beschloss schließlich 2004 der Senat die Verwirklichung des Auswanderermuseums
,,BallinStadt" mit rund 9 Millionen Euro bis 2007 auf den Weg zu bringen. Vgl. Jürgen Klimke, das Tor zur
Welt, Der Insider, Politiknews aus Berlin, URL:
http://www.klimke-cdu.de/media/pdf/Insider-200501.pdf
[Stand: 5.12.2005]; Hennig Finck, Elbinsel Veddel, URL:
http://www.henning-finck.de/wahlkreis/veddel.php
[Stand 5.12. 2005]; Feierlicher Baustart für die BallinStadt, URL: http://www.stiftung-hamburg-
maritim.de/Aktuell/news_full.php?id=20 [Stand: 5.12.2005]; Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft.
Errichtung des Auswanderermuseums ,,BallinStadt" und der Dauerausstellung ,,Hamburg als
Auswandererstadt" im Museum für Hamburgischen Geschichte. URL:
http://www.cduveddel.de/downloads/antraege/Senatsdrucksache_Ballinstadt_28.12.04.pdf
[Stand:
7.12.2005].

4
Auswandererverkehrs in Hamburg veröffentlicht.
10
Nur am Rande wurde auch die Anlage
im Jahr 1914 dargestellt, als der Architekten- und Ingenieurverein zu Hamburg die
wichtigsten Bauten der Hansestadt publizistisch darbieten wollte.
11
Die beiden Veröffentlichungen stützen sich hauptsächlich auf die wichtigste gedruckte
Quelle zur Beschreibung der Anlage, auf die von dem Hamburger Rat Dr. Walter Sthamer
verfasste Broschüre, die die HAPAG unter dem Titel ,,Die Auswanderer-Hallen in
Hamburg" bereits 1900, d.h. ein Jahr von der Entstehung der Anlage und dann noch ein
zweites Mal im Jahr 1904 herausgeben ließ. Unter dem Titel ,,Die Auswandererhallen der
Hamburg-Amerika-Linie in Hamburg" ließ die Abteilung des Personalverkehrs der
Reederei eine neue, erweiterte und mit vielen Illustrationen geschmückte Ausgabe des
gleichen Textes veröffentlichen. Dieses 26-seitige Büchlein besaß auch einen Anhang mit
sehr instruktiven und ausführlichen Plänen.
12
Auch wenn in zeitgenössischen sozialhistorischen Beiträgen, die sich mit den sozialen
Problemen der Auswandererbeförderung in Hamburg bzw. in Bremen beschäftigen, die
wichtigsten Daten der Auswandererhallen kurz beleuchtet und dokumentiert werden,
13
so
mangelt es doch an weiterführenden sozial-, wirtschafts- und migrationsgeschichtlichen
Fakten und Erkenntnissen. Ebenso wenig finden sich Ausführungen zu dem Thema in
früheren und neueren Dissertationen, die den ost- und südeuropäischen
Wanderungsprozess über die deutschen Auswandererhäfen untersuchen.
14
Auch im
Rahmen der Unternehmensgeschichte der HAPAG und den Biographien Ballins wird das
Thema nur marginal gewürdigt.
15
10
Bernhard Nocht, Das Auswandererobdach und die gesundheitspolizeiliche Überwachung der Auswanderer
in Hamburg, in: Hamburg in Naturwissenschaftlicher und medizinischer Beziehung, den Teilnehmern der 73.
Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte als Festgabe gewidmet, (Hg. Versammlung Deutscher
Naturforscher und Ärzte) Hamburg 1901, S. 469-473.
11
Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg (Hg.), Hamburg und seine Bauten, unter Berücksichtigung
der Nachbarstädte Altona und Wandsbek 1914, Bd. 2, Hamburg 1914.
12
Walter Sthamer, Die Auswandererhallen in Hamburg (Hg. von der Hamburg-Amerika-Linie), Hamburg
1900; StAH, A950/0006, Walter Sthamer, Die Auswandererhallen in Hamburg (Hg. von der Hamburg-
Amerika-Linie), Hamburg 1904; StAH A902/0250, Die Auswanderererhallen der Hamburg-Amerika-Linie
in Hamburg (hg. von der Hamburg-Amerika-Linie), Hamburg o. J..
13
Birgit Gelberg, Auswanderung nach Übersee, S. 25-28; Birgit Wagner, Unterbringung und Einschiffung
der Auswanderer in Hamburg, S. 27 f.
14
Hans Weichmann, Die Auswanderung aus Österreich und Russland über die deutschen Häfen, Berlin 1913;
Detlef Hollatz, Auswanderung von Russlanddeutschen nach Amerika im letzten Drittel des 19. und zu
Beginn des 20. Jahrhunderts (unter besondere Berücksichtigung der Durchgangsstation Hamburg), Hamburg
1995; Michael Just, Ost- und südeuropäische Amerikaauswanderung 1881- 1914, Transitprobleme in
Deutschland und Aufnahme in den Vereinigten Staaten, Hamburg 1988.
15
Dazu gehören etwa folgende zeitgenössischen und früheren Arbeiten von: Birgit Ottmüller-Wetzel,
Auswanderung über Hamburg, Die H.A.P.A.G. und die Auswanderung nach Nordamerika 1870-1914, Berlin
1986; Frank Bernard Herschel, Entwicklung und Bedeutung der Hamburg-Amerika-Linie, Berlin 1912;
Susanne Wiborg/Klaus Wiborg, Unser Feld ist die Welt: 1847-1995, 150 Jahre HAPAG-Lloyd, Hamburg
1997; Lamar Cecil, Albert Ballin, Wirtschaft und Politik im deutschen Kaiserreich 1888-1918, Hamburg
1969.

5
Eine Ausnahme unter den neueren historischen Arbeiten bildet ein Aufsatz von Jürgen
Sielemann.
16
Im Rahmen seiner historischen Darstellung der Geschichte der
Auswanderung über Hamburg zwischen 1892 und 1954 hat er u. a. auch die Geschichte der
Auswandererhallen von ihrer Entstehung bis zu deren Abriss im Jahr 1961 recherchiert.
Allerdings bildet dies nur einen Nebenaspekt seiner Studie. Dieser Text hat bei der
Erstellung der vorliegenden Arbeit als Einstiegsliteratur gedient.
Erwähnenswert ist ferner die Publikation einer historischen Fotodokumentation der
Veddeler Auswandererhallen.
17
Die Fotos stammen von Johann Hamann, einem der
bedeutendsten Hamburger und zugleich deutschen Fotografen um die Jahrhundertwende.
Obwohl die Bildserie Werbezwecken diente - die Fotos wurden im Auftrag der HAPAG
angefertigt, mit der Hamann seit vielen Jahren ein Geschäftsverhältnis hatte -, ist ihr
dokumentarischer Wert als besonders hoch einzuschätzen, da sie wichtige Einblicke in
Alltagsmomente der Auswandererstadt gewährt. Der Verfasser dieser Publikation setzt sich
hierbei vielmehr mit dem Aufnahmestil des Fotografen, dem Effekt der Veddeler Fotos
und den daraus zu gewinnenden sozial kritischen Einsichten auseinander. Ein Teil dieser
veröffentlichten Fotos ist auch für die vorliegende Arbeit verwendet worden.
Es lässt sich insgesamt feststellen, dass, obwohl es an allgemeinen Informationen über die
Auswandererstadt nicht mangelt, bislang eine aufschlussreiche historische
Auseinandersetzung mit dem Thema ausgeblieben ist. An dieser Forschungslücke setzt die
vorliegende Magisterarbeit an, die sich mittels der historischen Methode bzw. der
Erschließung und Auswertung des schriftlichen Quellenmaterials darum bemüht, einen
umfassenden sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Beitrag zur Erforschung der
Entstehung und Funktion der Ballin-Stadt zu leisten. Die Schwerpunkte der Untersuchung
bilden zum einen die Baugeschichte und zum anderen die Zweckbestimmung der Anlage.
Die vorliegende Magisterarbeit ist auch als Versuch zu verstehen, die verstreuten Hinweise
mit den neuen zu erschließenden historischen Erkenntnissen zu einer Gesamtrichtung der
Geschichte der Auswandererhallen zu vereinigen. Aus den Erkenntnissen meiner
Forschung soll ferner nicht nur ein Teil der Vergangenheit der Ballin-Stadt aufgeklärt,
sondern auch ihre Relevanz für die gegenwärtigen Thematisierungs- und
Aufwertungsbemühungen aufgezeigt werden.
Zu diesem Zweck ist es zunächst erforderlich, die Untersuchung zeitlich einzugrenzen. Der
wichtigste Zeitraum für die Auswandererhallen ist zweifellos der Abschnitt zwischen den
16
Jürgen Sielemann, Haben Alle Passagiere Auch Geld, Zur Geschichte der Auswanderung über den
Hamburger Hafen 1892-1954, in: Karin Schulz (Hg.), Hoffung Amerika, europäische Auswanderung in die
Neue Welt, Bremerhaven 1994, S. 81-100.
17
Ulrich Keller, Mein Feld ist die Welt, Die Hamburger Auswandererhallen in Johann Hamanns
Fotographien (1909), Köln 1981.

6
Jahren 1901 und 1914. Seit ihrer Entstehung und bis zum 1. Weltkrieg war die Veddeler
Einwanderungsstation der wichtigste Werbeträger für alle, die an der Emigration
verdienten. Dies traf vor allem auf die HAPAG zu, die sich unmittelbar um das
internationale Ansehen der Hansestadt bemühte. Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges
1914 findet die ursprüngliche Funktion der Ballin-Stadt jedoch ein abruptes Ende, weil die
osteuropäische Massenauswanderung abbricht.
18
Der Fokus der Forschung liegt daher im
Wesentlichen auf dieser Zeit, ohne jedoch die Berücksichtigung nachfolgender
Zweckbestimmungen der Auswandererhallen auszuschließen.
Allerdings stellt die südosteuropäische Auswanderung über Hamburg nicht nur einen
Ausschnitt der europäischen Wanderungsbewegung nach Amerika am Ende des 19. und zu
Beginn des 20. Jahrhunderts dar, sondern bildet darüber hinaus auch ein
sozialgeschichtliches Kapitel der wilhelminischen Zeit (1890-1918) und insbesondere der
damaligen Wirtschaftstruktur der hanseatischen Schifffahrt. Anliegen des ersten Teils
meiner Arbeit ist es deshalb, die sozialen und wirtschaftlichen Faktoren dieser Epoche zu
beleuchten, die den Rahmen der europäischen Massenauswanderung gebildet haben.
Ferner hing die über Hamburg verlaufene überseeische Migration eng mit der
Verkehrsgeschichte zusammen, weil der Verlauf und der Umfang dieses
Wanderungsprozesses stark durch die Verfügbarkeit von neuen Verkehrsmitteln und -
verbindungen mitbestimmt wurden. Die Etablierung der Schifffahrtsgesellschaft HAPAG
1848 war für die europäische Massenauswanderung nach Übersee zweifellos von großer
Bedeutung, weil das Unternehmen eine wichtige Steuerungsrolle im Auswanderergeschäft
übernahm, indem es für einen rapiden Aufschwung der Auswandererbeförderung in
Hamburg sorgte. Aufgrund dessen erachte ich es für erforderlich, diese für mein
Untersuchungsgebiet relevanten historischen Veränderungen, Entwicklungen und Fakten
aufzuklären und darzustellen. Darum sind die folgenden Kapitel nicht nur als allgemeine
Einführung, sondern auch als Bestandteil des Hauptthemas anzusehen.
1.2 Quellenlage/ Quellenkritik
Dem heuristischen Prinzip folgend beruhen die Ausführungen zum hier behandelten
Thema auf der selbständigen Quellensuche, die hauptsächlich im Staatsarchiv Hamburg
stattgefunden hat. Die folgende Darstellung baut deswegen im Wesentlichen auf
18
Thomas M. Pitkin, Keepers of the Gate, A history of Ellis Island, New York 1975, S. 11; vgl. Klaus Bade,
Europa in Bewegung, Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S.258-260.

7
Archivmaterial bzw. auf primären, ungedruckten Schriftquellen auf. Trotz der spärlichen
Sekundärliteratur lässt sich insgesamt feststellen, dass die Quellenlage ergiebig ist.
Unter den seit 1992 in einer kommentierten Übersicht erschlossenen Archivbeständen des
Staatsarchivs hat sich der Bestand 373-7 I, Auswanderungsamt I als unverzichtbare zentrale
Quelle erwiesen. Hier finden sich Akten aus der Behörde für das Auswandererwesen, die ab
1887 die wesentlichen Angelegenheiten der Auswandererpolizei regelte und 1918 auch die
Aufsicht über die Auswandererhallen übernahm, welche bis dahin unter der Zuständigkeit der
Polizeibehörde gestanden hatten.
Aus dem Quellenmaterial des HAPAG-Archivs, Bestand 621-1, das im Hamburger
Staatsarchiv lagert, haben sich dagegen keine konkreten Erkenntnisse ergeben. Abgesehen
von einzelnen Zeitungsausschnitten zur Entwicklung der HAPAG ist darin kaum
Datenmaterial zum hier behandelten Thema enthalten.
In den schriftlichen Überresten der Auswandererbehörde finden sich beachtliche
Originaldokumente, aus denen die wichtigsten Informationen zur Entstehungsgeschichte der
Anlage und den damit zusammenhängenden Tatbeständen entnommen wurden. Einige der
Texte lagen in amtlichen zeitgenössischen Drucken vor, beim größten Teil handelte es sich
jedoch um handschriftliche Fassungen, deren Erhaltungszustand vollständig ist. Da dieser
Bestand der ergiebigste war, sind aus dem Bestand 111-1 Senat, der auch als Quelle
herangezogen wurde, nur einzelne Senatsakten herausgearbeitet worden, die den
Informationsgehalt dieser Arbeit ergänzen. Das Gleiche gilt auch für den Bestand 371-8 II,
Deputation für Handel, Schifffahrt und Gewerbe II, Bd. 2.
Wichtige Erkenntnisse stammen in diesem Zusammenhang jedoch aus den
Presseberichten, die in den oben genannten Akten und in der Zeitungssauschnitt-
Sammlung des Staatsarchivs zu finden waren. Die Zeitzeugen liefern zuerst einen
umfassenden und detaillierten Einblick in die Örtlichkeiten und Zustände in der Anstalt
und beleuchten somit die Lage ihrer Insassen. Als unschätzbare historische Quellen
dokumentieren die Zeitungsberichte diverse Situationen, Tatsachen und spannende
Ereignisse, die die ,,Vorbildlichkeit" der Auswandererstadt hervorheben und zugleich
jedoch auch in Frage stellen.
Dagegen hat sich die Materiallage bezüglich subjektiver Erfahrungsberichte der Bewohner
der Veddeler Anstalt als lückenhaft erwiesen.
19
Hierbei stütze ich mich hauptsächlich auf
19
Mit Hilfe Herrn Sielemanns habe ich meine Recherche erweitert und in andere Bestände Einsicht
bekommen. In Betracht kamen die Bestände 331-1, Politische Polizei, 611-20/22, Hamburger Verein zum
Schutze von Auswanderern, 611- 20/22, Auswanderer und 442-8, Veddel-Rothenburgsort, wobei leider
keine Erkenntnisse gewonnen wurden. Bei der Quellensuche im Karteikatalog habe ich festgestellt, dass die
Orientierung unter den Stichwörtern ,,Auswandererhallen der HAPAG", oder ,,Veddeler Auswandererhallen"
zu diesem Thema kein ergiebiges Material gebracht hat. Die Quellensuche wurde durch die Suche unter den

8
Berichte und Meldungen des Polizeibüros der Auswandererhallen ,,Generalia" und ferner
auf das dokumentarische Pressematerial des russischen Redakteurs Julius Kalisti der
sozialistischen Zeitung ,,Vorwärts". Dieser unterzog sich Ende 1904 dem Experiment, den
Weg als Auswanderer von der russischen Grenze bis zum Hamburger Hafen
zurückzulegen. In diesem Rahmen erlebte und dokumentierte er auch die Organisation und
Gestaltung der Auswandererhallen. Die Meldungen aus dem Polizeibüro der
Auswandererhallen und der oben erwähnte Artikel liefern Informationen, die diese Lücke
meiner Arbeit teilweise füllen. Die Berichte werfen einige Schlaglichter auf das
Unbehagen der eintreffenden EmigrantInnen in der Anstalt, weisen auf ihre Beziehung zu
den Angestellten der Anlage hin und beschreiben überdies Konflikte, Missstände und
Geschehnisse, von denen die Öffentlichkeit kaum Kenntnis nahm. Hier ist jedoch zu
berücksichtigen, dass die Polizeiakten die Ereignisse nicht vollständig wiedergeben,
sondern lediglich die durch die Übersetzung ohnehin schon verzerrten Aussagen der
Insassen in reduzierter Form festhalten. Gleichwohl bieten die Polizeiakten Material, aus
dem sich wertvolle Erkenntnisse ableiten lassen.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Quellenedition von Arie Goral-
Sternhein
,
20
in der einige ausgewählte Aktenstücke des Polizeibüros der
Auswandererhallen veröffentlicht sind. Das Dokumentationsmanuskript, das in erster Linie
die Aufenthaltsprobleme der osteuropäischen Juden in Hamburg zwischen 1885 und 1938
bekundet, verweist auf Aktengruppen des Bestandes Auswanderungsamt I, die hier
ebenfalls Berücksichtigung gefunden haben.
Zu den unverzichtbaren gedruckten Quellen gehören die im Rahmen der Recherche
aufgefundenen Druckschriften der HAPAG,
21
die wesentliche Informationen zur
Gestaltung der Auswandererhallen überliefern. Aus ihnen stammen auch die im Anhang
beigefügten Abbildungen und Grundrisse der Auswandererstadt. Von besonderem
Informationsgehalt waren unter den gedruckten Quellen auch die Jahresberichte der
Behörde für das Auswandererwesen 1901-1914, aus denen sich der größte Teil des hier
verwendeten Zahlenmaterials und der sich daraus ergebenden Erkenntnisse gewinnen ließ.
Für die Ermittlung der wirtschaftlichen Relevanz der Auswandererhallen wurde auf die
Jahresberichte und Bilanzen der Hamburg-Amerika-Linie zugegriffen. Festzustellen
ist jedoch, dass sich der Geschäftsgewinn der Reederei aus dem Betrieb der
Auswandererhallen nicht konkret schätzen lässt. Bei allen wirtschaftlichen Überlegungen
Stichwörtern ,,HAPAG", ,,Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt-Aktien-Gesellschaft" und ,,Ellis Island"
ergebnislos fortgesetzt.
20
Arie Goral-Sternheim, Ostjuden auf Wanderschaft - Transit Hamburg 1885-1938, Teil 4, Hamburg 1984.
21
Wie Anm. 12.

9
benötigte man dafür interne Unternehmensinformationen, die im Rahmen meiner
Recherche leider nicht aufzuspüren waren. Geringen Erkenntnisgewinn zu diesem Thema
erbrachte auch die Durchsicht der Zeitschriften der Hamburg-Amerika-Linie.
Für die Potenzierung des Erkenntniswertes meiner Arbeit wären die überlieferten
biographischen Aussagen der betroffenen Menschen, d. h. der Veddeler EmigrantInnen
erforderlich. Obwohl dieser Aspekt hier zumindest annäherungsweise berücksichtigt
werden konnte, wäre eine weiterführende Forschung in Richtung der Oral History auf
jeden Fall lohnenswert.
Der Anhang dieser Arbeit bietet schließlich einen Überblick über das wichtigste Quellen-
und Bildmaterial.
22
1.3 Aufbau der Arbeit
Der Gang der Untersuchung gestaltet sich wie folgt: Auf die Einleitung folgt mit 2. ein
Einstiegskapitel, das zunächst eine knappe Einführung in die als ,,Neue Einwanderung"
apostrophierte kontinentaleuropäische Migrationsära liefert. Es folgt die Erläuterung der
sozialen und wirtschaftlichen Faktoren der im 19. Jahrhundert entstehenden kontinentalen
Massenauswanderung nach Übersee. Als Nächstes wird ein allgemeiner geschichtlicher
Überblick über die osteuropäische Auswanderung über Hamburg und die Bedeutung der
Stadt als Transithafen geboten. Die Ausführung berücksichtigt hierbei besonders die
Situation der russischen Juden im besagten historischen Kontext. Bevor darauf folgend
knapp die Unternehmensgeschichte der HAPAG und ihre wirtschaftspolitische Bedeutung
für die deutsche Schifffahrt und Auswandererbeförderung dargestellt wird, erachte ich es
zuerst für sinnvoll, das nachhaltige und wechselseitige Verhältnis zwischen Auswanderung
und Schifffahrtsinteresse systematisch zu betrachten. Dies lässt sich auch vor dem
Hintergrund der großen technischen und wirtschaftlichen Veränderungen sowie
gesellschaftlichen Wandlungen des 19. Jahrhunderts erklären. Auf die grob skizzierte
Unternehmensgeschichte der HAPAG folgt ein Abschnitt, der der Biographie des Initiators
der Veddeler Auswandererhallen und damaligen Direktors der Reederei, Albert Ballin,
gewidmet ist. Zu bemerken ist hierbei, dass es in diesem Teil der Magisterarbeit nicht um
das Aufspüren und Prüfen von Quellen und Archivalien geht. Daher beschränke ich mich
auf eine deskriptive Darstellung der bisherigen Forschung und stütze mich in erster Linie
22
Zu dem hier verwendeten Bildmaterial zählen auch Fotos aus den folgenden Publikationen: Hans Meyer-
Veden, Hamburg, Historische Photographien 1842-1914, Berlin 1995; Walter Uka (Hg.), Johann Hamann,
Hamburg um die Jahrhundertwende, Mit einigen Farbaufnahmen von Heinrich Hamann, Berlin 1987.

10
auf die früheren Untersuchungen sowie auf publizistische Quellen, vor allem auf die
zeitgenössische und spätere Literatur.
Nach dem einführenden historischen Rückblick beginnt die Darstellung der
Forschungsergebnisse mit dem dritten Kapitel, im Rahmen dessen die wichtigsten
historischen Fakten der Entstehungsgeschichte der Veddeler Auswandererhallen zur
Sprache kommen. Zunächst wird auf ein historisches Ereignis fokussiert, mit dem der Bau
der Auswandererhallen eng zusammenhängt, nämlich der Cholera-Epidemie in Hamburg
im Jahre 1892. Hingewiesen wird auch auf das bedeutungsvolle Schreiben Albert Ballins
an den Hamburger Senat vom 25. Juli 1893, eine unschätzbar historische Quelle, in der das
bereits im Jahr 1893 artikulierte Konzept des Generaldirektors zur Errichtung der
Auswandererhallen klar umrissen wird. Hiermit werden die Hauptgedanken zu den Plänen,
den Bedingungen und den strittigen Punkten der Durchführung erläutert.
Die räumliche Auswahl und Begrenzung der Auswandererhallen auf der Veddel werfen die
Frage nach der Besonderheit des ausgewählten Ortes auf. Hierauf wird als Nächstes
eingegangen. Erläutert werden in der Folge die gesetzlichen Grundlagen und
Bestimmungen, auf deren Basis der Bau der Anlage geregelt wurde. Nachfolgend wird die
Entstehungsphase der Auswandererhallen in den Jahren 1901 und 1905 dargestellt, wobei
der Schwerpunkt auf der Beschreibung der baulichen Grundstruktur und der Räumlichkeit
der Anstalt liegt. Die Debatte um den Erweiterungsbedarf der Auswandererhallen, die
letztlich im Jahr 1906 zum Beginn eines zweiten Bauschnittes führte, wird als Nächstes
dargelegt.
Das vierte Kapitel befasst sich mit den Aufenthalts- und Lebensbedingungen, die für die
Insassen in der Auswandererstadt vorgesehen waren. Anhand von Originaldokumenten und
Presseberichten wird verdeutlicht, unter welchen Bedingungen die Menschen in der
Veddeler Einwanderungsstation ihr Dasein fristeten. Besondere Berücksichtigung finden
hierbei die im Interesse der Stadthygiene und insbesondere für EmigrantInnen russischer
Nationalität angeordneten Internierungs- und Verkehrsrestriktionen, eine der wichtigsten
Grundvoraussetzungen für die Aufnahme Letzterer in die Ballin-Stadt. Untersucht und
vorgestellt werden in diesem Abschnitt ferner die behördlichen Vorschriften und
verschiedenen Regulierungsprozesse, denen die eingewanderten Menschen von dem Tag
ihrer Ankunft in der Anstalt bis zu ihrer Einschiffung nach Übersee unterlagen.
Berücksichtigung finden hier auch die fürsorglichen Bestrebungen verschiedener
Auswanderervereine, die stark zur Verbesserung und Unterstützung der humanitären Lage
der Insassen beitrugen. Dadurch lässt sich im Rahmen dieser Ausführung der tägliche
Lebensablauf der ausreisewilligen Menschen eingehend erfassen.

11
Das fünfte Kapitel geht des Weiteren auf die sanitäre und polizeiliche Überwachung der
Einwanderungskolonie ein und schließt mit einer Analyse der Frage nach dem Zweck der
Überwachung - besonders in politischer Hinsicht - ab.
Anhand der Inhalte und Beschreibungen aus Zeitungsartikeln und Meldungen des Polizeibüros
der Auswandererhallen skizziert das sechste Kapitel die Lebensrealität in der Veddeler Anlage
eingehender und bringt Geschehnisse ans Licht, von denen die breite Öffentlichkeit kaum
oder nur am Rande Kenntnis nahm.
Anschließend befasst sich das siebte Kapitel vorwiegend mit der Wahrnehmung der
Veddeler Einwanderungsstation durch die damalige Öffentlichkeit. Hierzu werden
Pressereaktionen, öffentliche Briefe und Veröffentlichungen untersucht und vorgestellt, die
exemplarisch die Wirkung der Auswandererhallen auf die Hamburger Bevölkerung
widerspiegeln. In diesem Rahmen wird auch auf eine hitzige Pressedebatte eingegangen,
die 1904 sozialdemokratische und liberale Zeitungen führten und in deren Mittelpunkt die
Monopolpolitik der HAPAG bezüglich ihrer Methoden zur Auswandereranwerbung stand.
Ausgehend von der Kritik an der Ballin'schen Auswandererpolitik wird im achten Kapitel
die Frage nach dem Zweck der Ballin-Stadt gestellt und diese zuerst anhand amtlicher
Quellen unter sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten geprüft. Dadurch lässt sich
die soziale und wirtschaftliche Relevanz der Auswandererhallen für Hamburg bzw. die
HAPAG klären.
Den letzten Punkt der Untersuchung bildet eine knappe Darstellung der Geschichte der
Ballin-Stadt und ihrer Zweckbestimmung nach 1914 bis zu ihrem Ende im Jahr 1961. In
diesem neunten Kapitel kann es jedoch nicht darum gehen, alle Einzelheiten genau
nachzuzeichnen, vielmehr sollen die wichtigsten Fakten herausgearbeitet und vermittelt
werden.
Die Untersuchung findet in Kapitel 10 ihren Abschluss mit einem Resümee der wichtigsten
Ergebnisse der vorliegenden Arbeit. Außerdem werden die gewonnenen Erkenntnisse im
Hinblick auf ihre Relevanz für den aktuellen Forschungs- und Diskussionstand bewertet.

12
2. Überseeische Auswanderung über Hamburg im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Der kontinentaleuropäische Wanderungsprozess, der im späten 17. Jahrhundert einsetzte
23
und im 19. Jahrhundert zu einer Massenbewegung expandierte, zählt zu den wichtigsten
und am häufigsten untersuchten Forschungsgegenständen der Migrationgeschichte und der
internationalen Geschichtsschreibung. Trotz unzähliger Publikationen unterschiedlicher
Art bleiben das Bedürfnis nach weiteren Interpretationen des komplexen Phänomens und
das Interesse an dessen Erklärung groß.
Nach dem Ende der napoleonischen Kriege von 1816 bis zum Beginn des Ersten
Weltkrieges
24
im Jahr 1914 waren Millionen von Menschen dauerhaft auf der Flucht. Im
Jahr 1854, dem Jahr der größten deutschen Auswanderungswelle, immigrierten 215.000
Deutsche in die USA und im Jahre 1882 250.000. Schätzungsweise wanderten fünfeinhalb
Millionen Deutsche in die USA ein
25
und insgesamt kamen von Europa 33 Millionen
Menschen in die Vereinigten Staaten von Amerika.
26
Wohl begründet wurde das 19.
Jahrhundert als ,,Zeitalter der Migration par excellence"
27
bezeichnet, ein zutiefst
europäisches Phänomen, das mit den Ausgangsvoraussetzungen und -bedingungen in der
Alten Welt begann und mit dem Eingliederungsprozess der Europäer in die amerikanische
Gesellschaft sein Ende nahm.
Die Auswanderungsbewegung nach Übersee lässt sich nach der sozialhistorischen
Migrationsforschung in zwei Phasen gliedern. Die erste, als ,,Old Immigration" bekannte
Auswanderungswelle kam aus west-, mittel- und norddeutschen Räumen, setzte um 1820
ein und erreichte ihren Höhepunkt um 1880. Die zweite Phase von etwa 1883 bis 1914
wird den Migrationhistorikern der Vereinigten Staaten zufolge als ,,New Immigration"
23
Deutsche überseeische Auswanderung hatte es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts gegeben, ausgelöst
durch politischen Druck, religiöse Unterdrückung oder durch wirtschaftliche Notlagen. Dennoch hatten die in
der vorindustriellen Zeit entwickelten Wanderungsbewegungen nicht die Dimension einer Massenbewegung.
Die erste grenzüberschreitende Wanderung ließ sich um 1832 beobachten. Von diesem Zeitpunkt stiegen die
Zahlen der Ausreisewilligen kontinuierlich an und erreichten 1854 mit 240.000 Ausreisewilligen ihren ersten
Höhepunkt. Vgl. Christine Hansen, Die Deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert ­ Ein Mittel zur Lösung
sozialer und sozialpolitischer Probleme? in: Günter Moltmann (Hg.), Deutsche Amerikaauswanderung im 19.
Jahrhundert, Sozialgeschichtliche Beiträge, Bd. 44, Stuttgart 1976, S. 10­54, hier S. 11.
Einen kurzen Überblick über die Vorläufer der europäischen Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts
bietet Saskia Sassen, Migranten, Siedler, Flüchtlinge, Frankfurt am Main, 1996, S. 23-27.
24
Diese beiden Ereignisse, obwohl sie nicht in kausalem Zusammenhang standen, übten auf die
Wanderungsbewegung dieses Zeitraums großen Einfluss aus. Diese zeitliche Eingrenzung ist
dementsprechend sinnvoll, da sie den neuen Anfang für die deutschen Schifffahrtsverhältnisse und den
Auswanderertransport markiert, bis dieser mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Erliegen gebracht
wurde. Darauf gehe ich in Kapitel 2.3. genauer ein.
25
Vgl. Friedrich Jerchow, Hamburg als Auswandererstadt, Hamburg 1984, (= Hamburg-Portrait, Heft 19), S.
1.
26
Vgl. Dirk Hoerder/Diethelm Knauf (Hg.), Aufbruch in die Fremde, Europäische Auswanderung nach
Übersee, Bremen 1992, S. 9.
27
Ebd.

13
bezeichnet, weil sie sich von west-, mittel- und nordeuropäischen Räumen nach Süd-,
Südost-, Ostmittel- und Osteuropa verschob.
28
Der neue Massenexodus, der unvermindert bis zum Ersten Weltkrieg anhielt, war kein
punktuelles Ereignis, sondern ein langer leidvoller, schwieriger und steuerbarer Prozess,
eine strukturierte sozialgeschichtliche Erfahrung, deren Umfang und Dauer begrenzt und
deren geographische Richtung festgelegt war. Ein besonderes Kapitel der ,,New
Immigration" stellt die osteuropäische Auswanderung über die deutschen Häfen Hamburg
und Bremen, oft auch als ,,Durchwanderung"
29
bezeichnet, dar. Das große Kontingent der
Auswanderungswilligen rekrutierte sich meistens aus polnischen und russischen Juden aus
den österreichisch-ungarischen und russischen Staatsgebieten, die wegen des politischen
Antisemitismus und der gesellschaftlichen Antipathie aus dem despotischen Russland der
Zaren vertrieben wurden.
30
Von den 1,5 Millionen russischer Juden, die zwischen 1881
und 1914 nach Übersee auswanderten, wählten 50 % den Weg über Hamburg. Insgesamt
ließen sich von der Hansestadt in den 34 Jahren von 1880 bis 1914 2.507.883 Menschen
verschiffen.
31
Daher war Hamburg für die Auswanderung der russlanddeutschen Kolonisten neben
Bremen der wichtigste Transithafen. Zwischen ihrer Ankunft in Hamburg und der
Schiffsabfahrt nach Übersee mussten sich die EmigrantInnen strengen hygienischen
Maßregeln und stetigen behördlichen Vorschriften unterwerfen, in privaten
Auswandererhäusern in der Stadt oder in Auswandererbaracken übernachten, bis sie sich
schließlich mit Segel- und danach mit Dampfschiffen nach Amerika verschiffen bzw. nach
28
Die Strukturdifferenzen zwischen der Alten und Neuen Auswanderung wurden von der amerikanischen
Einwanderungskommission Dillingham im Jahre 1910 ergeben. Während die Auswanderung nach Übersee
bis 1880 fast ausschließlich aus Deutschen, Iren, Holländern, Engländern, Franzosen, Flamen, Skandinaviern,
Schotten und Walisern zusammengesetzt war, nahm die Zahl der Menschen anderer Nationalitäten, wie
Polen, Österreicher, Russen, Juden, Rumänen, Slowaken, Ungarn, Italiener u. a. nach 1883 stark zu. Vgl.
Friedrich Seidel, Die neue Einwanderung. Geschichte und Problematik der Überseewanderung von Europa
nach den Vereinigten Staaten zwischen 1880 und 1930, Köln 1955, S. 13­17.
29
Vgl. Klaus Bade, Europa in Bewegung, S. 138.
30
Trotz der Ungenauigkeit der Statistik (die Gesamtzahl der jüdischen EmigrantInnen beläuft sich etwa auf
2,5 Millionen, nach anderen Schätzungen auf 3,5 Millionen) gilt als sicher, dass der jüdische Anteil der
Auswanderungswilligen aus dem zaristischen Russland zwischen 1880 und 1914 40­60 % der
EmigrantInnen betrug. Die zweitstärkste Gruppe stellten 1899­1910 die Polen, gefolgt von Finnen, Balten
und Russlanddeutschen. Aus den ungarisch-österreichischen Teilungsgebieten wanderten an erster Stelle die
Polen aus, gefolgt von Tschechen, Slowaken und Magyaren. Vgl. hierzu Michael Just, Transitland
Kaiserreich, Ost- und südeuropäische Massenauswanderung über deutsche Häfen, in: Klaus Bade (Hg.),
Deutsche im Ausland ­ Fremde in Deutschland, Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1993, S.
294­332, hier S. 297; Dirk Hoerder, Aufbruch in die Fremde, S. 57 ff.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Autobiographie von Mary Antin, die als repräsentatives
Quellendokument für die Mehrzahl der 1894 ausgewanderten russischen Juden gilt; The Promised Land New
York 2001.
Birgit, Köhler (2001): ,,Juden im zaristischen Russland". URL:
http://www.bikonline.de/histo/russjud.html
[Stand: 1.12.2004].
31
Vgl. Walter Willcox, Willcox International Migration, Vol. I, Statistics, New York 1969, S. 703.

14
Ellis Island
32
bringen ließen. Zwischen 1892 und 1901 verbrachten die ausreisewilligen
Menschen ihre Tage und Nächte in den Massenunterkünften am ,,Amerikakai" und ab
1901 in den Auswandererhallen auf der Veddel. Initiatorin der beiden Anlagen war die
deutsche Reederei HAPAG. Der Auswanderungsverlauf bestimmte die Entwicklung des
Unternehmens, das die Entfaltung und Bedeutung der hanseatischen Stadt als
Auswandererstadt weiter hervorhob.
Bevor ich im Folgenden einen allgemeinen geschichtlichen Überblick über die
osteuropäische Auswanderung über Hamburg und dessen Bedeutung als Transithafen zur
Darstellung bringe, möchte ich zunächst auf die sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, im
Rahmen derer die räumliche Mobilität nach Übersee ermöglicht wurde, eingehen.
2.1 Soziale und wirtschaftliche Faktoren der Auswanderung
Die Frage nach dem Ort der EmigrantInnen in der Entwicklung der
kontinentaleuropäischen Auswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert geht auf die
Zeit der industriellen Revolution zurück, die durch eine Vielfalt von technischen und
sozioökonomischen Veränderungen und Entwicklungen gekennzeichnet war.
Hintergrundfaktoren der Massenwanderung nach Amerika waren infolgedessen der
Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft in ganz Europa, die Entfaltung der
atlantischen Ökonomie und der ,,Sog der Neuen Welt".
33
Angesichts des demographischen Wachstums,
34
eines der wichtigsten Charakteristika des
Industriezeitalters, des Urbanisierungsprozesses und der neuen verkehrstechnischen
Entwicklungen, wie dem Bau der Eisenbahn und der zunehmenden Bedeutung der
Fabrikarbeit entstand seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein sehr großer Bedarf an
Arbeitskräften.
35
Durch diese Veränderungen bzw. Fortschritte entwickelte sich allmählich
eine starke Form geographischer Bevölkerungsmobilität. Die kleinen, am Anfang in
Umfang und Dauer begrenzten Migrationskreise bzw. Arbeitswanderungen waren saisonal
bedingt, und hatten die Form einer ,,Land-Stadt-Wanderung", d. h. der Binnenwanderung.
32
Bevor die EmigrantInnen das amerikanische Festland betreten durften, wurden sie auf dieser so genannten
,,Insel der Tränen" durch eine visuelle Prüfung ,,gequält". Nicht nur Menschen mit ,,ekelhaften oder
gefährlichen ansteckenden Krankheiten" wurden zurückgewiesen, sondern auch Vorbestrafte, ,,Verrückte
und Idioten". Vgl. Gisela Gerdes, Auswandererhafen im 19. Jahrhundert, Hamburg 1986, S. 32.
33
Zitiert nach Klaus Bade, Europa in Bewegung, S. 59.
34
Die Bevölkerungszahlen in Deutschland stiegen zwischen 1800 und 1900 um mehr als 130 Prozent. Vgl.
Friedrich Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, ein Überblick (Enzyklopädie der Rechts- und
Staatswissenschaft), 3. erw. Aufl., Berlin 1966, S. 369; vgl. Hans Schuster, Überbevölkerung und
Auswanderungsfrage, Bremen 1951, S. 27.
35
Vgl. Sassen, S. 47.

15
Diese breiteten sich aber im Laufe der Zeit räumlich aus und wandelten sich zu einer
Massenauswanderung, die über die Landes- und Kontinentalgrenzen hinausging.
Die Industrialisierung eröffnete für einen Teil der überzähligen Bevölkerung auf dem Land
neue Arbeitsmöglichkeiten, dennoch bewirkte sie in ihrer Übergangphase eine
Verschlechterung der Lebensbedingungen der unteren Schichten. Die Mobilität wurde für
die meisten Kleinbauern und die Heimarbeiter zum Akt der Verzweiflung, als die
agrarische Wirtschaftsstruktur auf dem Lande aufgelöst wurde. Die traditionellen
landwirtschaftlichen Wirtschaftsformen und die damit verbundenen haupt- und
nebenerwerblichen Existenzgrundlagen wurden durch die Fabrik und den
Maschineneinsatz weitgehend verdrängt. Industrielle Massenproduktionen ersetzten
verstärkt die Hausindustrie der Web- und Strickwaren oder Kleineisenprodukte und
anderer Handwerksbereiche. Zur Verelendung der untersten Bevölkerungsschichten trugen
die Bauernbefreiung und die Gewerbefreiheit in Deutschland bei.
36
Die Produktionsverhältnisse wurden somit verändert und der Arbeitsbedarf in einem
räumlich begrenzten Land vergrößert und dies in einer Epoche, wo sich das Missverhältnis
zwischen der stetig zunehmenden Zahl der Bevölkerung und den begrenzten
Verdienstmöglichkeiten bzw. dem Nahrungsspielraum vermehrte. Diese Bedingungen
führten bald zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, die daher ihre Hoffnungen auf
die Auswanderung nach Übersee setzten.
Die Industrialisierung hatte die alten traditionellen Subsistenzformen zerstört, stellte aber
zugleich die Transportmittel für den Weg zu neuen und besseren Verdienstmöglichkeiten
zur Verfügung. Beschleunigt wurde folglich der Aufstieg der überseeischen
Massenauswanderung aus den werdenden Industriegesellschaften Europas in die USA
durch den Strukturwandel der Transatlantikschifffahrt. Der Passagier- und Postverkehr
wurde durch das Vordringen der Dampfschiffe und der Eisenbahn ,,modernisiert". Die
Transportbedingungen sollten durch neue größere und schnellere Schiffe verbessert
werden, die nicht nur die Überfahrt beschleunigten, sondern auch die Reise der
Auswanderer sicherer, leichter und komfortabler machten.
Eine wichtige Rolle hierbei haben die neuen wirtschafts- und handelsgeschichtlichen
Rahmenbedingungen gespielt, wie die Liberalisierung der Wirtschaft im frühen 19.
36
In Preußen war die Abschaffung der Leibeigenschaft ein Prozess, der 1807 einsetzte und sich bis zur Mitte
des Jahrhunderts erstreckte. In österreichischen Gebieten begann er nach 1848, in russischen
Teilungsgebieten zwischen 1861 und 1864. Hoerder zufolge schuf die Agrarreform bzw. die Bauernbefreiung
keine stabile Bauerngesellschaft, sondern sie legte die Grundlagen für die kapitalistische Landwirtschaft und
die weltweite Wanderung eines besitzlosen ländlichen Proletariats, vgl. Hoerder, S. 48 f. Die im Jahr 1869 in
Deutschland eingeführte Gewerbefreiheit verschärfte die Lage, indem sie zu einer Überfüllung einzelner
Handwerkszweige und zu einer verschärften Konkurrenz führte, vgl. Hansen, Die deutsche Auswanderung
im 19. Jahrhundert, in: Deutsche Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert, S. 13­15.

16
Jahrhundert und die damit verbundene Expansion des europäischen und interkontinentalen
Außenhandels durch die Abschaffung der merkantilistischen Restriktionen sowie die
Veränderung der sozialen Strukturen. Europäische Märkte öffneten sich über Grenzen
hinweg für überseeische Produkte, während sich der europäische Auswanderertransport
überseeisch ausdehnte, bis er einen wachsenden, profitablen Massenmarkt für die
Schiffsunternehmen schuf
.
Hierbei soll nicht unterwähnt bleiben, dass der Verlauf des Migrationprozesses stark durch
die amerikanische Wirtschaftskonjunktur beeinflusst wurde, die jedoch nicht immer mit
der deutschen in Einklang war. Wirtschaftskrisen im Zielland ließen die Einwanderung
abnehmen. Dagegen führten wirtschaftliche Erholung und Wohlstand in den USA wieder
zum Anstieg der Auswanderung. Die Wanderungsbewegung war somit ein Prozess, der
durch die vorhandenen politischen und ökonomischen Systeme strukturiert und geformt
wurde.
Die politischen und sozioökonomischen Existenzbedingungen des Aufnahmelandes trieben
viele Menschen zur Auswanderung. Als demokratisches, liberales Land mit erheblich
besseren Erwerbs- und Ernährungsmöglichkeiten personifizierte Amerika das Land der
Hoffnungen und der Versprechungen. Das amerikanische Land bot Überfluss an Grund
und Boden, sichere Arbeitsplätze, hohe Löhne, religiöse und politische Freiheit und somit
größere Unabhängigkeit. Diese Anziehungskräfte des Aufnahmelandes, die so genannten
Pull-Faktoren, standen mit den folgenden sozialen Erscheinungen in engem
Zusammenhang.
37
Zunächst ist die Rolle der kommerziellen Informationsträger, die latent Einfluss auf den
Einwanderungsprozess übten, nicht zu übersehen. Damit sind die ,,Auswandererbriefe" der
bereits ausgewanderten Bekannten oder Verwandten gemeint, die das ,,Amerikabild" der
NeueinwandererInnen stark geprägt und bestimmt haben. Im Grunde gab es viele sich
wandelnde Amerikabilder, die trotz der ungleichen regionalen und beruflich-sozialen
Herkunft der Auswanderer doch etwas gemeinsam hatten: Die meisten Botschaften
projizierten Hoffnungen und Wünsche der Neuen Welt als Gegenbild zur
Lebenswirklichkeit der Zurückgebliebenen. Die Informationen beschränkten sich nicht nur
auf eine elementare Beschreibung der Lebenswelt im Ansiedlungsgebiet, sondern gaben
auch Hinweise auf die günstigsten Transportmöglichkeiten und orientierten die
37
Mit dem Begriff Push-Faktoren werden in der Wanderungsforschung die Kräfte bzw. Bedingungen des
Herkunftslandes bezeichnet, die den Menschen den Anstoß zur Auswanderung geben oder sie dazu
,,zwingen", wie z. B. Armut, politische oder religiöse Unterdrückung. Die Anziehungskräfte des Ziellandes
wie z. B. soziale Aufstiegschancen nennt man Pull-Faktoren, vgl. Wolfgang Hippel, Auswanderung aus
Südwestdeutschland, Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und
19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 124.

17
Auswanderwilligen dahingehend, wo es Unterkunft und Arbeit gab. Darüber hinaus waren
die Auswandererbriefe nicht nur wichtig für den Auswanderentschluss, sondern auch für
das Auswanderungsziel.
38
Die gleiche Wirkung ist den damaligen Werbebroschüren der
Schifffahrtslinien, den Anordnungen und gesetzlichen Regelungen des Einwandererwesens
und des Agentenwesens der fremden Regierung, den in der Presse veröffentlichten
Reiseberichten und Korrespondenzen sowie den Auswandererzeitungen und
Auswandererliedern zuzuschreiben.
39
Von ihnen wird, so Mönckmeier, die deutsche
Auswanderung erst ins Leben gerufen.
40
2.2 Osteuropäische Auswanderung über Hamburg
Hinsichtlich der osteuropäischen ,,Durchwanderung" über Hamburg lässt sich konstatieren,
dass es nicht nur der technischen Fortschritt, der Sog der Neuen Welt und der Einfluss der
damaligen Medienträger, sondern auch religiöse Verfolgung und politische Repression
waren, die den Auswandererstrom stetig wachsen ließen.
An der Ost-West-Durchwanderung über Hamburg beteiligten sich viele Juden. Diese
jüdische Auswanderung, besser gesagt ,,Flucht" oder ,,Vertreibung" aus Russisch-Polen,
war die Folge der 1883 einsetzenden antisemitischen Pogrome. Die Verschärfung der
antijüdischen Gesetze von Zar Alexander III. im Jahr 1881 führte zur Einengung des
Lebensraums der jüdischen Bevölkerung und somit zur Einschränkung sowohl ihrer
wirtschaftlichen Expansion als auch ihrer sozialen und kulturellen Entfaltung.
41
Die
begrenzten Ansiedlungs- und Arbeitsmöglichkeiten, die Angst und Unsicherheit, die
Rechtlosigkeit und Verfolgung trieben viele jüdische Menschen über die Grenzen nach
Österreich und Deutschland. Soziale Distanz, kulturelle Disparität, politische und religiöse
Unterdrückung erschwerten das Leben vieler, nach der damaligen Auffassung ,,unloyaler
und nutzloser Menschen", für die ,,kein Raum" mehr existierte und die nach ,,Texas oder
nach Neu Holland" geschickt werden sollten.
42
38
Vgl. Horst Rössler, Massenexodus, Die Neue Welt des 19. Jahrhunderts, in: Klaus Bade (Hg.), Deutsche
im Ausland, S.148­157. Hier S. 155.
39
Ebd. S. 150.
40
Vgl. Wilhelm Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, ein Beitrag zur deutschen
Wanderungsgeschichte, Jena 1912, S. 31 f.
41
Die ,,Mai-Gesetze" oder ,,Rechtspogrome" leiteten die Zeit der systematischen Verarmung der Juden ein.
Sie wurden aus Dörfern und ländlichen Zentren verbannt, ihr Handel in den Städten eingeschränkt und ihre
Zulassung zu höheren Schulen erschwert. Seit 1889 war die Rechtslaufbahn für Juden versperrt. 1891
erfolgte die Verfolgung der Juden aus allen Städten außerhalb der ,,Ansiedlungsrayons". Die
Gewalttätigkeiten dauerten bis zum Ersten Weltkrieg an. Vgl. Hoerder S. 57; Hans Weichmann, Die
Auswanderung aus Österreich und Russland über die Deutschen Häfen, Berlin 1913, S. 11.
42
Vgl. Steven E. Aschheim, The East European Jew in German and German Jewish consciousness, 1800­
1923. Madison 1982. S. 34.

18
Unabhängig von den Pogromen hat wirtschaftliche Not viele Menschen zum Verlassen
ihrer Heimat getrieben. Hannah Arendt zufolge war der zunehmende Judenhass in
Osteuropa vor allem in Polen und Rumänien ökonomischen und nicht politischen Ursachen
geschuldet.
43
Als Handwerker, Kleinhändler und Ladenbesitzer standen die Juden
zwischen Adel und besitzlosen Klassen, füllten ,,scheinbar" die Funktion einer Mittelklasse
aus, die aber nach Arendt keineswegs eine Mittelklasse im bürgerlichen Sinne war. Trotz
ihrer Armut und der Monopolisierung ihres Kleinhandels wurden sie als Hindernis für die
Wirtschaftsentwicklung osteuropäischer Länder angesehen, weil sie scheinbar dort
,,saßen", wo eigentlich eine beginnende bürgerliche einheimische Klasse ,,sitzen" sollte.
44
Einheimische Bevölkerungsgruppen begannen, Ansprüche hierauf zu erheben und gerieten
mit den Juden wegen ihrer wirtschaftlichen Vormachtstellung und wegen angeblicher
Ausbeutung in Konflikt. Hinzu kam die Unfähigkeit der Regierungen, die Landfrage bzw.
die feudale Struktur des Landes zu lösen und den adligen Großgrundbesitz und seine
politische Herrschaft zu beseitigen. Daraus entstand der Judenhass, der schnell die Form
einer Epidemie nahm.
45
Ein Teil der in Hamburg ankommenden EmigrantInnen war jedoch nicht nur vor dem
zaristischen Terror oder den ökonomischen Umständen, sondern auch ,,vor den Wirren
geflüchtet, die mit der russischen Revolution und dem russisch-japanischen Krieg (1904 -
1905) ausgebrochen waren".
46
Dieser starke Flüchtlingsstrom aus Russland nach
Deutschland setzte 1905 ein.
47
Für die osteuropäischen EmigrantInnen war Hamburg eine Zwischenstation. Zwischen
1870 und 1913 wanderten über Hamburg insgesamt 1.200.000 russische Staatsbürger und
Polen nach Übersee aus.
48
Von diesen stammten 60 % aus dem zaristischen Russland und
20
% kamen aus Österreich-Ungarn.
49
Aufgrund des bestehenden russischen
Auswanderungsgesetzes war es für viele russische EmigrantInnen sehr schwierig, ins
43
Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955, S. 48 f.
44
Ebd. S. 49.
45
Für einen allgemeinen Überblick über die ostjüdische Auswanderung siehe: Michael Just, Ost- und
südeuropäische Amerikaauswanderung 1881­1914, S. 15­34; Salomon Adler-Rudel, Ostjuden in
Deutschland 1880­1949, zugleich eine Geschichte der Organisationen, die sie betreuten, Tübingen 1959;
Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers, East European Jews in Imperial Germany, New York 1987, S. 11-
74.
46
Vgl. Leo Stern, Die Auswirkungen der ersten russischen Revolution von 1905­1907 auf Deutschland,
Berlin 1956, S. 22.
47
Ebd.
48
Vor der Auswanderung lebten in den osteuropäischen Ländern über 5 Millionen Juden, davon zirka 4
Millionen in Russland. Die Übrigen wohnten in Galizien, Ungarn und Rumänien. Vgl. Detlef Hollatz,
Auswanderung von Russland nach Amerika im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
(unter besonderer Berücksichtigung der Durchgangsstation Hamburg), Hamburg, 1995, S. 2; Adler-Rudel,
Ost-Juden in Deutschland 1880­1949, S. 2.
49
Nach Willcox wanderten zwischen 1880 und 1914 insgesamt 2.507.883 Menschen über Hamburg aus, d.h.
jährlich durchschnittlich 73.761. Vgl. Willcox, Migrations, Vol 1. S. 703.

19
Deutsche Reich zu kommen. Zum Verlassen des Landes war ein vom Staat genehmigter
Pass erforderlich. Die Beschaffung eines solchen Passes war kostspielig, sie entsprach
nämlich dem Preis für eine Reise von der russischen Grenze bis nach New York und nur
10 bis 15 % aller Ausreisewilligen besaßen dieses Dokument. Diejenigen, die keinen Pass
zum Verlassen des Landes besaßen, mussten illegal und abseits der offiziellen
Grenzstationen das Land verlassen. Bis zur Eröffnung so genannter Kontrollstationen
50
an
der preußisch-russischen Grenze und der Einführung von Sonderregelungen waren auch
von deutscher Seite russische Pässe gefordert, wenn EmigrantInnen durchreisen wollten.
Die Passvorschrift für Leute russischer Nationalität wurde von den deutschen Behörden
1895 abgeschafft. Dagegen gab es keine Passpflicht zwischen der deutschen und
österreichischen Grenze.
51
Die Bevorzugung Hamburgs als Transithafen lässt sich nach Michael Just
52
aus folgenden
Umständen erklären: In erster Linie stellten die Verkehrsverhältnisse und die günstige
geographische Lage Hamburgs die wichtigsten Grundvoraussetzungen für die im 19.
Jahrhundert entstehende Massenauswanderung dar. Das seit etwa 1880 in Hamburg
ausgebaute Eisenbahnnetz bot nicht nur eine Verbindung zwischen der Hansestadt und den
osteuropäischen Grenzen, sondern auch eine regelmäßige Schiffsabfahrt zum Atlantik,
mindestens zweimal in der Woche. Die Stadt konnte daher von Prag, St. Petersburg, Kiew,
Budapest und anderen vielen Orten über Berlin schnell erreicht werden. Im Jahr 1906 ließ
die Stadt täglich durchschnittlich 500 EmigrantInnen einreisen.
53
Dagegen war die
Einschiffung in den Häfen von Odessa oder vom zu Russland gehörenden Hafen Libau
[heute: Lettland], von wo seit 1888 Verbindungen zu den Ostseehäfen bestanden, für die
Menschen, die sich keinen Pass leisten konnten keine Alternative. Auch die Seehäfen von
Antwerpen und Le Havre, die auch eine Verbindung nach Amerika boten, konnte man nur
per Bahn durch Deutschland erreichen.
54
Die geographische Lage Hamburgs diente somit
als Brücke zwischen Ost und West.
50
Darauf gehe ich in Kapitel 3.1 ein.
51
Vgl. Just, Ost- und südeuropäische Amerikaauswanderung 1881­1914, S. 26­30; Hoerder, S. 88;
Weichmann, S. 22, 34; Bernhardt Karlsberg, Geschichte und Bedeutung der Durchwandererkontrolle,
Hamburg 1922, S. 19 und 24. Neue Vorschriften hinsichtlich des Verkehrs der russischen Ausreisewilligen
über die preußisch-russische Grenze wurden 1904 und 1905 von der preußischen Regierung erlassen. Diesen
zufolge durfte man die Grenzen übertreten, wenn man einen ordnungsgemäßen Pass, eine Schiffskarte einer
in Deutschland konzessionierten Schiffsfahrtsgesellschaft, eine direkte Eisenbahnkarte nach dem
Einschiffungshafen und ausreichende Barmittel, ­ 400 Reichsmark für Erwachsene und 100 Reichsmark für
Kinder ­ besaß. Die Vorschriften galten bis zum Ersten Weltkrieg. Ministerialblatt f. d. innere Verwaltung,
1904, S. 276 und 1905, S. 48, zitiert nach: Just, Ost- und südeuropäische Amerikaauswanderung 1881­1914,
S. 104.
52
Vgl. Michael Just, Hamburg als Transithafen für die osteuropäische Auswanderung, in: ,,...nach
Amerika!", Auswanderung in die Vereinigten Staaten, S. 49­54, hier: S. 49.
53
Vgl. Just, Ost- und südeuropäische Amerikaauswanderung 1881­1914, S. 25.
54
Ebd. S. 44 f.

20
In zweiter Hinsicht waren die meisten EmigrantInnen auf die preiswerten
Passagemöglichkeiten angewiesen, die ihnen damals die größte Passagelinie der Welt, die
HAPAG, anbot. Die Etablierung dieser Reederei war für die osteuropäische Auswanderung
über Hamburg grundlegend. Diese übernahm die wichtigste Steuerungsrolle im
Auswanderergeschäft, indem sie zunächst
für einen rapiden Aufschwung der
Auswandererbeförderung in Hamburg sorgte. Der Auswanderungsverlauf bestimmte die
Entwicklung des Unternehmens, das weiter die Entfaltung und Bedeutung der
hanseatischen Stadt als Auswandererstadt hervorhob.
Ferner wurde die Durchwanderung über Hamburg von Auswandereragenten und
Repräsentanten der zuvor genannten Schiffslinie stimuliert. Die Tätigkeiten des
Auswanderungsagenten entsprachen denen eines heutigen Reisebüros. Sie sorgten für die
Anwerbung der Auswanderungswilligen, für die Buchung ihrer Schiffplätze und für den
Transfer zum Einschiffungshafen.
55
Über die Rolle und Wirkung der Agenten wurde jedoch heftig und kontrovers diskutiert.
Die Auswanderung nach Übersee solle von den Agenten ,,künstlich genährt worden sei",
,,mittels einer verbrecherischen Propaganda"
56
. Agenten allein konnten die Auswanderung
nicht begründen, stellten dennoch einen ausschlaggebenden Faktor dar, indem sie das
bestehende Bedürfnis der Auswanderungswilligen weckten und ermunterten, bis dieses
realisiert wurde.
Die Präferenz der Hansestadt ergab sich schließlich aus der Verhinderung einer direkten
Auswandererverschiffung in den Herkunftsländern aus wirtschaftlichen und politischen
Gründen. Die ,,indirekte Auswanderung", über England z. B., wurde von der Hamburger
Reederei HAPAG hingegen stark bekämpft.
57
Das bestehende Verhältnis zwischen Schifffahrt und Auswanderung wird im nächsten
Abschnitt näher betrachtet.
55
Zur Tätigkeit der Agenten vgl. Agnes Bretting/Hartmut Bickelmann, Auswanderungsagenten und
Auswande-rungsvereine im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991; Michael Just, Ost- und südeuropäische
Amerikaauswanderung 1881­1914, S. 44­61; Weichmann, S. 19­24. Abgesehen von den besseren
Verkehrsbedingungen und dem erweiterten Agentennetz in Hamburg trugen zur Verbesserung des Rufs der
deutschen Hafenstadt die neuen Auswandererschutzbestimmungen erheblich bei. Erwähnenswert sind in
diesem Zusammenhang das ab 1851 entstandene ,,Nachweisungsbüro für Auswanderer" und der später von
ihm gegründete und geleitete ,,Verein zum Schutze von Auswanderern". Die Hauptfunktion dieser privaten
Institutionen bestand in einer verantwortungsbewussten Beratung und Betreuung der EmigrantInnen und
stellte somit ein interessantes Beispiel bürgerlicher Eigeninitiative dar. Dazu siehe Birgit Gelberg, S. 13 ff.
56
Deutsches Volksblatt Nr. 311, Wien, 14.11.1889, S. 3, zitiert nach: Michael Just, Ost- und südeuropäische
Amerikaauswanderung 1881­1914, S. 59.
57
Vgl. Just, Hamburg als Transithafen für die osteuropäische Auswanderung, S. 49 f.; Vgl. Ottmüller-
Wetzel, S. 13.

21
2.3 Schifffahrtsinteresse und Auswanderung
Zwischen der überseeischen Auswanderung und der deutschen Seeschifffahrt bestand eine
nachhaltige Wechselwirkung, die sich vor dem Hintergrund der großen wirtschaftlichen
und technischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts erklären lässt. Ohne den Ausbau der
Industrie und die Anwendung neuer Wirtschaftsformen wäre die Expansion der deutschen
Schifffahrt nicht zustande gekommen.
Den Beginn des Auswanderertransports markiert das Ende der napoleonischen Zeit 1815.
Die unterbrochene Schifffahrt zwischen deutschen und überseeischen Häfen wurde wieder
in Gang gesetzt.
58
Der Schiffsverkehr war zunächst vom Warenhandel bestimmt, der zum
großen Teil mit amerikanischen Schiffen abgewickelt wurde. Bis 1847/57
59
wurden die
deutschen Migranten in der Regel von westeuropäischen Häfen wie Amsterdam,
Antwerpen, Le Havre, und zwar auf amerikanischen Schiffen, nach Amerika gebracht. Im
Passagierverkehr spielte der Hafen Hamburgs
60
zu der Zeit keine große Rolle und
außerdem hatte er in der deutschen Öffentlichkeit als Auswandererhafen einen schlechten
Ruf.
61
Außerdem war die Passagierförderung im frühen 19. Jahrhundert der
Frachtbeförderung untergeordnet. Die EmigrantInnen mussten warten, bis Platz für
Passagiere vorhanden war und sogar mitunter selbst vor Ort Kompromisse mit dem
Kapitän der Frachtschiffe abschließen.
62
58
Zum Aufschwung der deutschen Schifffahrt vgl. Frank Bernard Herschel, HAPAG, Entwicklung und
Bedeutung der Hamburg-Amerika-Linie, Berlin 1912, S. 1­5.
59
Zur Entwicklung des transatlantischen Verkehrs der Hansestädte bis zur Mitte der 40er Jahre des 19.
Jahrhunderts vgl. Hermann Wätjen, Aus der Frühzeit des Nordatlantikverkehrs, Leipzig 1932, S. 3­23.
60
In Bremen bestand schon seit 1826 eine regelmäßige Verbindung nach Amerika für Passagiere und
Postpaketsendungen. Der Stadt-Staat sorgte seit 1832 durch strenge Verordnungen für das Wohl der
EmigrantInnen. Das Auswanderungsgesetz trat in Bremen am 10.10.1832 in Kraft, vgl. Ernst Hieke, Robert
M. Slogan jr.: errichtet 1792, Hamburg 1968, S. 43. Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt
dennoch auf Hamburg. Für Bremen liegen die folgenden Monographien vor: Rolf Engelsing, Bremen als
Auswandererhafen 1683­1885, Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen; 29,
Bremen 1961; Ludwig Beutin, Bremen und Amerika, zur Geschichte der Weltwirtschaft und der
Beziehungen Deutschlands zu den Vereinigten Staaten, Bremen 1953.
61
Eine regelmäßige und behördliche Beförderung der EmigrantInnen mit Hamburger Seeschiffen begann mit
der ersten Verordnung des Senats vom 9.11.1836. Bis dahin war kein öffentliches und kommerzielles
Interesse an Auswanderung vorhanden. Die ,,Deputation für das Auswandererwesen" wurde in Hamburg am
25.4. 1855 eingesetzt. Nach mehrfachen zweckentsprechenden Regelungen wurde schließlich am 14. Janus
1885 das ,,Gesetz betr. das Auswandererwesen" verkündet, das Vorschriften für die Beförderung der
Auswanderwilligen und genaue Bestimmungen über die Einrichtung der Auswandererschiffe bestimmte, vgl.
Ernst Baasch, Gesetzgebung und Einrichtungen im Interesse des Auswandererwesens in Hamburg, in: Eugen
von Philippovich (Hg.), Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Auswanderung und Auswanderungspolitik in
Deutschland, Leipzig 1892, S. 390­413.
Eine andere Schwäche des Auswanderungswesens in Hamburg lag auch darin, dass die Hamburger
Expedienten keine reisenden Agenten beschäftigten, wie es in Bremen üblich war. Dies stellt in seiner
Denkschrift der von der bremischen Handelskammer beauftragte Schiffsmakler F. Hederich fest; vgl. Wätjen,
S. 118 -120.
62
Vgl. Michael Just, Schifffahrtsgesellschaften und Amerika-Auswanderungen im 19. und frühen 20.
Jahrhundert, in: Michael Just/Agnes Bretting/Hartmut Bickelmann, Auswanderung und Schiffartsinteresse,

22
Die Entwicklung der transatlantischen Linienschifffahrt der Schiffsunternehmen wurde
nach der rückläufigen Entwicklung des Warenexportes (zwischen 1830 und 1840) stark
intensiviert und bestimmt durch das Passagiergeschäft, das damals meistens aus den
Auswanderungswilligen bestand. Die ersten Versuche zum Aufschwung der deutschen
Schifffahrt konzentrierten sich zunächst auf die Einrichtung eines regelmäßigen
Liniendienstes zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. Der zweite Fortschritt
kam mit der Einführung des Dampfschiffes, das die Dauer der Fahrt beträchtlich verkürzte
und die Zahl der beförderten Passagiere vergrößerte. Die relative Unabhängigkeit vom
Wind und die genaueren Finanzierungsmöglichkeiten waren das entscheidende Kriterium
für den Durchbruch der Dampfschifffahrt.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Auswanderung für die Hafenplätze und Reeder war,
trotz der Schwierigkeit, sie genau zu messen, zweifellos ganz erheblich, nicht nur für die
Reeder selbst, sondern auch für andere an der Auswanderung wirtschaftlich interessierte
Gruppen, wie die der privaten Beherbergungsunternehmer, der Kaufleute, Groß- und
Kleinhändler sowie auch der Eisenbahngesellschaften und deren Mitarbeiter.
Der Einfluss der Schifffahrtsunternehmen auf die Auswanderungsverordnungen und -
gesetze ist unbestritten.
63
In Bezug auf die osteuropäische Auswanderung über Hamburg
war die aktive Rolle der HAPAG bei der staatlichen Organisation des
Auswandererverkehrs von großer Bedeutung. Das Cholerajahr 1892 in Hamburg
intensivierte das wirtschaftliche Interesse des Schiffsunternehmens an der Auswanderung
und verdeutlicht den Einfluss der Reedereien auf staatliche Entscheidungen.
64
Bezüglich
der Veddeler Auswandererhallen ist es zu bemerken, dass das wirtschaftliche Interesse der
HAPAG nicht nur einseitig dem Unternehmen diente, sondern auch den EmigrantInnen:
Die Unterbringung der Menschen in der Veddeler Anlage ab 1902, war, wie es im
Folgenden nachgewiesen wird, besser und angenehmer als in privaten
Auswandererhäusern, vor allem weil die EmigrantInnen dort vor der Ausplünderung durch
Stellenvermittler, Geldwechsler, Fremdführer usw. geschützt waren.
65
Durch diese
Unternehmenspolitik, darin folge ich Just, konnte man sich von der Konkurrenz abheben
und zudem war es erwünscht ,,die Bewohner der Hansestadt von den Auswanderern
möglichst unbehelligt zu lassen".
66
Little Germanies in New York, Deutschamerikanische Gesellschaften. Von Deutschland nach Amerika, zur
Sozialgeschichte der Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 5, Stuttgart 1992, S. 9­54, hier: S. 11.
63
Ebd. S. 39­45.
64
Siehe Kap. 3.1.
65
Vgl. Herschel, S. 104; zur Unterbringung der EmigrantInnen in Hamburg bei privaten
Auswandererhäusern vgl. Otttmüller-Wetzel, S. 40­44.
66
Vgl. Just, Schifffahrtsgesellschaft und Amerika-Auswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, S. 22.

23
Seit dem großen Massenexodus aus Osteuropa seit 1880 ließen sich erhebliche
Rückwirkungen auf die Organisation des Schiffsverkehrs bzw. des Auswanderertransports
beobachten. Die Reedereien stellten Unterbringungs- und Transportfragen, wie eine
angenehme Beherbergung der EmigrantInnen in der Stadt sowie ihre sichere Anfahrt in
den Vordergrund ihrer Unternehmenspolitik. Angesichts des zunehmenden
Passagierverkehrs wurden die Werften dazu gezwungen, größere und schnellere Schiffe zu
bauen, wobei hier neue Maßstäbe wie Geräumigkeit, Bequemlichkeit, Sicherheit,
Servicestandard und Kapazität an erster Stelle rangieren sollten. Großer Wert wurde auch
auf die gesundheitliche Überwachung des Schiffsverkehrs gelegt. Forderungen nach
Gesundheitspflege und Krankenfürsorge sowie Beaufsichtigung des Gesundheitszustandes
an Bord des Schiffes stellten einige der wichtigsten Aspekte der Gesundheitsvorsorge der
hamburgischen Politik für die Durchwanderung am Anfang des 20. Jahrhunderts dar.
67
Wie einflussreich die wirtschaftliche Bedeutung der Transitwanderung für die deutschen
Schifffahrtsunternehmer war, lässt sich am deutlichsten am Beispiel des
Schiffsunternehmens HAPAG zeigen. Im Folgenden werden die wichtigsten Punkte ihrer
unternehmensgeschichtlichen Entwicklung nachgezeichnet. Bei dieser Zusammenstellung
beziehe ich mich hauptsächlich auf die Werke von Susanne Wiborg, ,,Unser Feld ist die
Welt" und Otto Seiler, ,,Brücke über den Atlantik".
68
2.4 Die Hamburg-Amerika-Linie- Ein kurzer geschichtlicher Abriss
Der erste Versuch zur Beförderung der EmigrantInnen mit Schiffen wurde von dem
Hamburger Schiffsmakler Robert Miles Sloman unternommen. Die Sloman-Linie (1839­
1866)
69
war nicht nur die erste hamburgische Reederei, die eine Paketfahrtlinie zwischen
Hamburg und New York errichtete, sondern auch das erste Schiffsunternehmen, das sich
darum bemüht hat, die Fahrt nach New York mit Dampfschiffen durchzuführen. Die
Einführung des Dampfschiffs und die Einrichtung dieses regelmäßigen Linienverkehrs
dienten der Förderung der Auswanderung, die wiederum eine Intensivierung der
67
Hierzu vgl. Bernhard Nocht, Die gesundheitspolizeiliche Überwachung des Schiffsverkehrs im Hamburger
Hafen, in: Hamburg in naturwissenschaftlicher und medizinischer Beziehung (hg. von der
Gesundheitsbehörde Hamburg), Hamburg 1901, S. 465­468.
68
Susanne Wiborg/Klaus Wiborg, Unser Feld ist die Welt, 1847­1997, 150 Jahre HAPAG-Lloyd, Hamburg
1997; Otto Seiler, Brücke über den Atlantik, Hamburg; Bremen 1983; zu den grundlegenden Bibliographien
der Geschichte der HAPAG gehören auch: Hans-Jürgen Witthöft, HAPAG, Hamburg-Amerika-Linie, 3.
Aufl., Hamburg 1997; Kurt Himmer, 75 Jahre Hamburg-Amerika-Linie, Hamburg 1922.
69
Genaue Daten über die Gründung der Sloman-Reederei lassen sich nicht ermitteln. Ein amtliches
Schiffsregister gab es in Hamburg erst 1866. Bis dahin führte der Senat ein nach Schiffsnamen geordnetes
Verzeichnis über die auf Antrag ausgegebenen Seepässe. Ferner ist zu beachten, dass die Firma die Schiffe
weiter unter englischen Flaggen fahren ließ, auch nach dem Erwerb des hamburgischen Bürgerrechts. Mehr
dazu in Hieke, S. 31.

24
hanseatischen transatlantischen Schiffsverbindung auslösen sollte. Der Betrieb der
Sloman-Linie blieb bis zur Gründung der HAPAG 1848 ohne ernstzunehmende
Konkurrenz. Trotz aller Versuche der hamburgischen Reederei behielt aber Bremen seinen
Vorsprung weiter und galt bis 1888 als vorbildlicher Auswandererhafen und somit als der
wichtigste Einschiffungshafen in Deutschland.
Die ,,Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt-Aktien-Gesellschaft" wurde am 27. Mai des
Jahres 1848 von 41 angesehenen Hamburger Kaufleuten und Reedern gegründet, unter
ihnen der Schiffsmakler Adoph Godeffroy, der gleichzeitig und für die nächsten 33 Jahre
die Stelle des Vorsitzenden des Vorstandes der HAPAG übernahm, August Bohlen, der
1871 die zweitgrößte Reederei, die Hamburg-Südamerikanische
Dampfschifffahrtsgesellschaft gründete (heute: Hamburg Süd) und schließlich der Reeder
Ferdinand Laeisz, der Begründer der Reederei gleichen Namens.
70
Zusammen mit
Schiffsagenturen, Firmen und Fracht-Passagegeschäften hielten sie das Gründungskapital
des Unternehmens, welches damals 300.000 Mark betrug. Zweck der Gründung war, durch
Qualitätsleistungen in der Auswandererbeförderung den Ruf der Hamburger Seefahrt zu
heben und der Stadt einen respektablen Anteil an dem wachsenden Verkehr mit den
Vereinigten Staaten zu sichern.
71
Da sich die Dampfer damals noch in ihrer ersten Entwicklungsphase befanden und
aufgrund der bescheidenen finanziellen Mittel des Unternehmens eröffnete die HAPAG
den Betrieb zunächst mit Segelschiffen. Die Auswanderersegler waren kombinierte Fracht-
und Passagierschiffe. Die EmigrantInnen wurden in dem zwischen dem Oberdeck und dem
Laderaum eingebauten so genannten ,,Zwischendeck" regelrecht eingepfercht; in engen,
kleinen, zugleich als Schlaf-, Ess- und Aufenthaltsräumen genützten Hallen, den damals so
genannten ,,schwimmenden Särgen".
72
Ihre Sicherheit und Bequemlichkeit konnte aber
aufgrund der geringen Größe der Schiffe nicht gewährleistet werden. Hohe Ansprüche an
Bedienung und Service wurden auch nicht gestellt.
Die Unternehmenspolitik der HAPAG hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Für
einen starken Impuls zur Intensivierung und Verwirklichung ihrer Ziele bzw.
Leistungsstandards sorgte die harte Konkurrenz zwischen ihr und der neuen nachbarlichen
Schiffslinie der Hansestadt Bremen, dem Norddeutschen Lloyd (ab 1857), sowie auch
gegenüber ausländischen Reedereien in Liverpool, Le Havre und Southampton. Mitte der
fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts stellte sie die ersten Dampfer in Dienst, was für den
70
Vgl. Seiler, S. 8.
71
Vgl. Herschel, S. 6.
72
Zitiert nach Seiler, S. 22.

25
zunehmenden Auswandererstrom ein Katalysator war. Nicht alle Auswanderungswilligen
waren jedoch finanziell dazu bereit, die teure Reise mit dem Dampfschiff zu machen.
Abgesehen von manchen mäßigen Erfolgserlebnissen verlief das Wachstum des
Unternehmens in den folgenden Jahren aufgrund politischer Ereignisse und
Wirtschaftsrezessionen dennoch sehr langsam. Neue Entfaltungsmöglichkeiten wurden der
deutschen Schifffahrt nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871
gegeben. Der Zugang zur Weltwirtschaft wurde eröffnet. Die Auslandsbeziehungen
wurden ausgeweitet, so ergaben sich auch neue Chancen für eine Intensivierung und
Verbreitung des Handels in Import und Export. Die Wohlstands- und Blüteperiode nach
dem Sieg Deutschlands gegen Frankreich führte gleichzeitig zu einem Boom von
Firmengründungen, darunter auch von kleinen Reedereien, die auf eine Förderung der
Auswanderung durch niedrige Preise abzielten. Hierbei ist die aus Hamburger und
Altonaer Kaufleuten zusammengesetzten ,,Adler- Linie" zu nennen, an deren Spitze Robert
M. Sloman Jr., der Sohn des Gründers der Sloman-Linie, stand und die seit 1873 einen
direkten Dienst von Hamburg nach New York bot. Bald führte aber der Wiener
Bankenkrach (1873) wieder zu einer Stagnation und Reduzierung des Fracht- und
Passagenverkehrs. Trotz der Senkung der Passagierpreise schaffte die Schiffslinie es nicht,
sich von ihren finanziellen Schwierigkeiten zu erholen. Schließlich hielt sie dem
Tarifkampf mit der HAPAG nicht mehr stand und wurde 1875 von ihr übernommen.
Nach vier Jahren angemessener finanzieller Erholung wurde die Existenz der HAPAG
noch einmal, diesmal von der neuen Außenseiterlinie ,,Edward-Carr"(1880), unter Druck
gesetzt. Auf Initiative und Überredung des 24-jährigen Albert Ballin, des Leiters der
Auswandereragentur Morris
&
Co., sollten die nur zur Unterbringung der
Auswanderwilligen ausgebauten Dampfschiffe des kleinen Schiffskonzerns mit
Auswanderern regelmäßig voll ausgelastet werden. Neben den günstigen Preisen, 82 Mark
pro Zwischendeckpassagier, gegenüber 120 Mark bei HAPAG, war es den Passagieren
gestattet, sich frei auf dem Schiff zu bewegen, statt ihre Reise in den schmalen Räumen
eingeengt zu verbringen. Der Verzicht auf Kajüten und sonstigen Luxus ermöglichte
außerdem eine wesentlich höhere Zahl von Reisenden, denen schließlich ein günstiger
Passagepreis angeboten werden konnte.
73
Dies war der erste Zugang zum direkten
Geschäft mit der Auswanderung.
Der Kampf um die Tarifsenkungen hatte begonnen. HAPAG und Norddeutscher Lloyd
folgten der Politik der Carr-Linie und senkten ihre Preise 1882 erst auf 90 und 1883 auf 80
73
Vgl. Olaf Matthes, die HAPAG ­ Ein historischer Streifzug in: Olaf Matthes/Carsten Prange (Hg.),
Hamburg und die HAPAG, Seefahrt im Plakat, Hamburg 2000, S. 6­17. Hier: S. 11.

26
Mark. Die Konkurrenz zwischen den beiden Schifffahrtsgesellschaften wurde immer
größer, für die Beteiligten war sie destruktiv und destabilisierend. Aus diesem Grund
wurde 1886 vereinbart, dass die HAPAG die 1886 aus der Fusion von Carrs und Slomans
Reederei entstandene ,,Union-Linie" übernahm. Als Leiter der Passagierabteilung wurde
Albert Ballin eingesetzt. Mit seinen progressiven geschäftspolitischen Ideen eröffnete er
eine neue Epoche in der Geschichte der HAPAG.
2.4.1 Albert Ballin
Der im Jahr 1857 in Hamburg geborene Albert Ballin
74
war das dreizehnte Kind einer
unauffälligen jüdischen kleinbürgerlichen Familie. Der Vater, ein Auswandereragent, war
Mitinhaber der Auswandereragentur Morris & Co. und sorgte für die Anwerbung der
Auswanderwilligen aus Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Hamburg und dem Ausland
nach Amerika.
75
Nach dem Tod seines Vaters musste Albert Ballin mit 17 Jahren die Leitung der Agentur
übernehmen, um für die Unterstützung der vielköpfigen Familie zu sorgen. Seine
Kenntnisse über Arbeit und Organisation der Agenten brachten der Firma schnell einen
gewissen Erfolg ein. Der Denkspruch seines Vaters, dass ,,ein unfaires Geschäft immer ein
schlechtes Geschäft ist", prägte sich ihm ein und bestimmte ihn bis zum Ende seiner
Laufbahn.
76
Als Ballin im Jahr 1886 in die HAPAG eintrat, war diese noch durch ihre zögerliche
Politik und schwache organisatorische Leitung gekennzeichnet. Er kritisierte, dass sie sich
zu sehr auf den Verkehr mit dem Nordatlantik und Westindien konzentrierte. Die
Gesellschaft müsse vielmehr die ganze Welt zur Grundlage ihrer Politik machen. Sein
kolonialistisches Motto ,,Mein Feld ist die Welt" erscheint erst im letzten Jahrzehnt des 19.
Jahrhunderts durch Werk und Leistung gerechtfertigt.
Neue unternehmerische Zielrichtungen sollten eingesetzt werden. Der erste Strukturwandel
sollte bei der Passagierabteilung und im Frachtverkehr erfolgen. Spezielle Schiffe für die
beiden Bereiche sollten gebaut werden, die alten durch neue moderne Dampfschiffe ersetzt
74
Eine umfassende Nachzeichnung aller Phasen von Ballins Leben bieten die zeitgenössischen Beobachter
Bernard Huldermann, Albert Ballin, fünfte Auflage, Oldenburg 1921; Peter Franz Stubmann, Mein Feld ist
die Welt, Albert Ballin; sein Leben, erw. Aufl. der 1926 erschienenen Ballin-Biographie, die 1933 vernichtet
wurde, Hamburg 1960. Erwähnenswerte weitere biographische Werke: Lamar Cecil, Albert Ballin,
Wirtschaft und Politik im deutschen Kaiserreich 1888­1918, Hamburg 1969; Susanne Wiborg, Albert Ballin,
Hamburg 2000 (= Hamburger Köpfe, hg. von der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius); Eberhardt Staub,
Albert Ballin, der Reeder des Kaisers, Berlin 2001.
75
Vgl. Wiborg, Unser Feld ist die Welt, S. 70.
76
HAPAG-Archiv, Akte 3171, Zeitungsausschnitte zur Entwicklung der HAPAG, Ausschnitt aus dem
Hamburger Abendblatt vom 21.5. 1965, Nr. 117, ,,Albert Ballin, ein liberaler Patriot".

27
werden, um die HAPAG wieder konkurrenzfähig zu machen. Er gab dem Schiffbau
Anregungen und Impulse, indem er immer größere, komfortable und elegant eingerichtete
Schiffe bauen ließ. Er trug zur weiteren Entwicklung des Schiffbaus bei, indem er den
Betrieb mit der Einführung des Doppelschraubenantriebes (um die 80er Jahre des 19.
Jahrhunderts) und der Turbinenschiffe verstärkte. Sicherheit an Bord stand an erster Stelle
und sollte dabei das vorrangige Werbemittel der HAPAG werden. Abgesehen von dem
Einsatz neuer Schiffe sollte eine ,,humane Strategie" die Unternehmensführung
charakterisieren. Hohe Anforderungen bezüglich Auswahl und Qualität der Mitarbeiter an
Bord und an Land, höfliche Behandlung, einwandfreie Unterkunft und Bewegungsfreiheit,
sichere Verpflegung sowie Häufigkeit und Regelmäßigkeit der gebotenen Abfahrten
sollten die Passagiere, die jetzt als Kunden ernst genommen werden sollten, für die
HAPAG einnehmen.
Vor allem bemühte sich Ballin um eine sorgfältige und systematische Organisation des
Auswandererverkehrs. Einer der ersten und wichtigsten Vorsätze, die er sich für seine
künftigen Aufgaben gesetzt hatte, war die Einschränkung des britischen Einflusses auf den
Markt und weiter die Erhaltung guter Kontakte und die Zusammenarbeit mit der
Konkurrentin Lloyd. Um dies zu erreichen, schloss er 1886 ein Abkommen mit der
britischen Linie, wobei er eine ,,Kanalisierung der Fahrtgebiete, eine Quotierung des
Auswandererverkehrs und allgemein gültige Tarife festlegen" konnte.
77
Nach Ballin war
ein vernünftiger Kompromiss lohnender als ein Kampf. Es gelang ihm, die fremden
Konkurrenten durch faires Spiel und vernünftige Absprachen zu besänftigen und zu
gewinnen. Bereits während der Wirtschaftskrise von 1891, die den Frachtverkehr stark
beeinträchtigte, glichen die durch ,,Poolverhandlungen"
78
einigermaßen gesicherten
Einnahmen aus der Personenbeförderung die Verluste auf dem Gebiet der
Frachtenbeförderung aus. 1889 wurde Ballin Generaldirektor der HAPAG.
Seine Diplomatie und kaufmännische Intuition zeigte er auch bei seiner Entscheidung, die
Schiffe auch im Winter auszunutzen. Mit Pauschalpreisen organisierte er ab 1891 luxuriöse
Kreuzfahrten durch das Mittelmeer und damit wurde die Ära der ,,Vergnügungsreise" bzw.
der Seetouristik geboren.
Obgleich unterschiedlicher Herkunft, schaffte es Ballin durch seinen Erfolg und Einfluss,
Kontakt zu Kaiser Wilhelm II. zu knüpfen und zu pflegen, was ihm die Bezeichnung
Reeder des Kaisers einbrachte. Als Gegner des Ersten Weltkrieges versuchte er immer
wieder auf diplomatischer Ebene, diesen Krieg abzuhalten und friedliche Gespräche mit
77
Wie Anm. 73, S. 11.
78
Vgl. Seiler, S. 33 f.

28
England zu führen. Leider scheiterten alle seine Anstrengungen. Als ,,liberaler Patriot"
konnte er die Niederlage des über alles geliebten Vaterlandes, die Zerstörung seines
Werkes und die Abdankung des Kaisers nicht ertragen. Er starb am 9. November 1918 an
einer Überdosis Tabletten.
79
Die internationale Anerkennung der Reederei kam mit der von ihm konzipierten und
realisierten Idee einer eingerichteten Auswandererstadt auf der Veddel; die beste
europäische Unterbringungsanlage dieser Art.
3. Die Entstehungsgeschichte der Auswandererstadt auf der Veddel
3.1 Die Cholera in Hamburg: Von den Auswandererbaracken zu den
Kontrollstationen: Der Beginn für die Auswandererstadt auf der Veddel
Im Zusammenhang mit der osteuropäischen ,,Durchwanderung" über Hamburg gegen
Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die aktive Rolle der Reeder bzw.
der HAPAG bei der staatlichen Organisation des Auswandererverkehrs besonders deutlich.
Entscheidendes Ereignis dafür war die Choleraepidemie des Jahres 1892, die die
Diskussion über die wirtschaftliche Bedeutung der Transitmigration außerordentlich
intensivierte.
Was den Anlass für den Ausbruch der Epidemie betrifft, so ließe sich diese mithilfe
verschiedener zeitgenössischer Theorien erklären: Es wurde erstens behauptet, dass die
Krankheit mit einem Schiff aus Le Havre in die Stadt gekommen sei.
80
Es war eventuell
die damalige Globalisierung, da Hamburg einen der größten Häfen Deutschlands besaß,
die den Ausbruch der Seuche auslöste. Die herrschende öffentliche Meinung war aber
davon überzeugt, dass die Seuche von den osteuropäischen EmigrantInnen, die über
Hamburg nach Amerika fuhren, eingeschleppt wurde.
81
Andere hielten sich an Robert
Koch Theorie, derzufolge die Krankheit durch das Wasser und dessen Leitungssystem
übertragen wurde. Spätere Untersuchungen bestätigten mehr oder weniger Kochs
Theorie.
82
Die Epidemie breitete sich schnell aus, was höchstwahrscheinlich auf die
schlechten hygienischen Zustände in der Stadt zurückzuführen war. Auf Anordnung des
79
Wie Anm. 76.
80
Vgl. Wiborg, Unser Feld ist die Welt, S. 96, Theodor Deneke, Die Hamburger Choleraepidemie 1892, in:
Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, (hg. vom Verein für Hamburgische Geschichte), Bd.
40, Hamburg 1949, S. 124­158. Hier S. 140.
81
Vgl. Richard J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1839­1910,
Hamburg 1996, S. 362.
82
Ebd. S. 340 ff.

29
hamburgischen Senats wurden die folgenden Einschränkungen beschlossen; die aus
choleraverdächtigten Ländern kommenden EmigrantInnen, d.h. jene aus Ungarn, Galizien,
Rumänien, Dalmatien, Serbien sowie auch Italien musste sich einer fünftägigen
Quarantäne und Desinfektion im Auswandererquartier am Amerika-Kai unterwerfen.
83
Ihnen war auch aus sanitärer Rücksicht der freie Verkehr in der Stadt nicht gestattet. Auf
diese Weise konnte verhindert werden, dass ein Erkrankter von Hamburg befördert wird.
Für die russischen EmigrantInnen war zudem das Betreten des hamburgischen
Staatsgebietes verboten; beim Betreten der Stadt waren sie direkt auf preußisches Gebiet
zurückzuschicken.
84
Die vom Medizinalkollegium vorgeschlagene und von Senat und HAPAG finanzierte
Massenunterkunft am Amerika-Kai bzw. am O'Swald-Kai wurde einen Monat vor dem
Ausbruch der Epidemie eröffnet, d. h. am 20. Juli 1892.
85
Zu deren Errichtung hat auch die
Tatsache geführt, dass die Auswandererhäuser in der Stadt den Strom der
,,Durchwanderer" nicht fassen konnten.
86
Die dort gebauten Baracken, jede mit getrennten
Schlafsälen mit je 140 Betten eingerichtet, boten Unterkunft für 1.400 Menschen und
dienten hauptsächlich als sanitäre Einrichtungen zur Isolierung der EmigrantInnen von der
Stadt. Der Preis für Unterbringung, Verpflegung, Desinfektion, ärztliche Behandlung inkl.
Medikamente war auf 1 Mark pro Tag normiert. Diese als eine Art Massenquartier erbaute
provisorische Anstalt war unter staatliche und ärztliche Oberaufsicht gestellt und mit
nötigen Bade- und Desinfektionsräumen versehen.
87
Jedoch waren die Konsequenzen aus der Ausbreitung der Cholera-Epidemie sowohl für die
Schifffahrt, den Handel und das Gewerbe in der Stadt als auch für die EmigrantInnen
selbst beträchtlich. Die strengen Restriktionen des Hamburger Senats gegen die russischen
EmigrantInnen, die Verschärfung des Einwanderungsgesetzes in Amerika und schließlich
die Sperrung der deutsch-russischen Grenzen brachten die Geschäftsinteressen der
HAPAG in Gefahr, erschütterten das Image des Hamburger Hafens und entmutigten
schließlich alle EmigrantInnen, die jetzt mehrheitlich Bremen, Antwerpen und Rotterdam
bevorzugten.
88
Die HAPAG hatte unter Ballins Leitung versucht, die Bedenken der
Regierungen abzuschwächen, die Aufhebung der Einschränkungen zu erreichen und sich
somit das Auswanderergeschäft zu erhalten. Es folgte ein heftiger Kampf mit der Behörde
83
Vgl. StAH, Senat, CL VII Lit. Ke Nr. 9z, Vol. 40, Akten betr. Anforderungen der Vereinigten Staaten von
Amerika in Bezug auf die gesundheitliche Kontrolle der dahin bestimmten Auswanderer (1893­1906),
Schreiben vom 2.12.1893.
84
Ebd.
85
Vgl. Sielemann, S. 85.
86
StAH, A950/0006, Walter Sthamer, Die Auswandererhallen in Hamburg, Hamburg 1904, S. 10.
87
Ebd. S. 11.
88
Vgl. Evans, S. 467­474; Stubmann, Mein Feld ist die Welt, S. 72.

30
und dem Senat, bis Ballin schließlich ohne Zögern dem Senat drohte, den Sitz der HAPAG
nach Bremen zu übertragen, was für die Hamburger Wirtschaft, zu der die HAPAG
schätzungsweise jährlich 60 Millionen Mark beisteuerte, einen offensiven Schlag
bedeutete.
89
Nach der konkreten und deutlichen Drohung Ballins die HAPAG nach Bremen zu
verlegen, nahm der Senat einen Teil der Restriktionen zurück.
90
Man wollte die
Durchwanderung nicht verbieten, sondern sie kontrollieren. Statt deren völliger
Unterbindung wurde beschlossen, den Reedereien die Verantwortung für die Gesundheit
der angekommenen EmigrantInnen zu übertragen. In Zusammenarbeit mit den preußischen
Behörden und mit dem ,,Norddeutschen Lloyd" in Bremen ließ die HAPAG ab 1894 an der
deutsch-russischen Grenze ,,Kontrollstationen" und später die so genannten
,,Registrierstationen" auf eigene Kosten bauen.
91
Die Kontrollstellen waren auf eine gründliche medizinische Untersuchung, die Reinigung
der russischen EmigrantInnen und eine Desinfektion ihres Gepäcks gerichtet, während in
den Registerstellen Wert auf eine angemessene Organisation des Auswandererverkehrs
gelegt wurde. Dort wurden die EmigrantInnen registriert und von Angestellten der, wie es
hieß, ,,vereinigten Dampfschiffsgesellschaften"
92
nach ihren Einreisenpapieren, wie Pass,
Schiffsbillet und Eisenbahnfahrtkarte, gefragt, bis sie schließlich weiterbefördert wurden.
Einzige Bedingung: Zu den Kontrollstationen sollten nur diejenigen EmigrantInnen
zugelassen werden, die mit den Schiffen einer der beiden Gesellschaften zu fahren
beabsichtigten.
93
Somit wurde die erwünschte lukrative Monopolstellung für die beiden
Reedereien erreicht.
Selbst wenn die EmigrantInnen untersucht worden waren, bestand in den meisten
Kontrollstationen ein strenges Ausgangsverbot; manche warteten tagelang auf das
Eintreffen ihres Gepäcks oder Geldes und durften die von hohen Zäunen umgebenen
Baracken bis zur Abfahrt nicht verlassen. Charakteristisch für diese Massenabfertigung
waren auch Eile und entsprechend unhöfliche Benehmensformen seitens des Personals.
89
Vgl. Stubmann, S. 70 ff.; Lamar Cecil, Albert Ballin, Wirtschaft und Politik im deutschen Kaiserreich
1888­1918, S. 52.
90
Vgl. Cecil. S. 52.
91
Vgl. Sielemann, S. 88 f.; Kontrollstationen wurden in Bajohren, Tilsit, Insterburg, Eydtkuhnen, Prostken,
Illowo, Ottlotschin, Posen, Ostrowo und Ruhleben bei Berlin errichtet, während Registerstationen in
Myseowitz, Ratibor, Leipzig und Bingerbrück entstanden, vgl. StAH, Auswanderunsgamt I, II E I 1, Akte
betr. Grenzkontrollstationen und Registerstationen, Landkarte.
Das Passieren der Kontrollstation konnte man nach den Vorschriften von 1904 und 1905 vermeiden, wenn
man die entsprechenden Bedingungen erfüllte. Siehe Anm. 51.
92
Vgl. Wiborg, S. 98; zu den Kontrollstationen allgemein, Bernhard Karlsberg, Geschichte und Bedeutung
der deutschen Durchwandererkontrolle, Hamburg 1922.
93
Vgl. StAH, Auswanderungsamt I, II E I 1a 7, Akte betr. Grenzsperre, Schreiben des preußischen Ministers
des Innern vom 18.9.1894.

31
Der Ruf der Kontrollstationen war für die osteuropäischen EmigrantInnen kaum
werbewirksam. Das Deutsche Reich wurde bald der Vorposten von Ellis Island und es
waren nicht wenige, die die ausländischen Einschiffungshäfen bevorzugten.
94
Im Laufe der Zeit wurden in Bezug auf die Transitwanderung über Hamburg die
Gesundheitsvorsorge und polizeiliche Überwachung in den Vordergrund der
hamburgischen Politik gestellt. Dazu trug das am 9. Juni 1897 neu geregelte Gesetz über
das Auswandererwesen bei, das neue Bestimmungen und Vorschriften über den
Geschäftsbetrieb der Auswanderungsunternehmer und Agenten sowie über die Einrichtung
und Ausrüstung der Auswandererschiffe enthielt.
95
Die gesamte Transitwanderung stand unter der Aufsicht der Schifffahrtsgesellschaften, die
seit 1895 nicht nur im Beförderungssektor dominierten, sondern auch im Bereich des
Sozial- und Gesundheitsdienstes, der mit dem Auswanderertransport zusammenhing.
96
Am
augenscheinlichsten hat sich dies am Beispiel der Auswandererhallen der Hamburg-
Amerika-Linie demonstrieren lassen.
Als die Baracken am Amerika-Kai sich als ungenügend erwiesen und aufgrund heftiger
Kritik seitens der Kirche und der Medien über mangelnde Hygiene und Umgangsweisen
des Beamtenapparates mit den Unterzubringenden
97
begannen in der HAPAG die
Planungen für eine große, in sich abgeschlossene Anlage für die EmigrantInnen. Diese
sollte hygienisch ,,einwandfrei" und ,,mustergültig" sein.
98
Diese Pläne waren die Grundlage für die moderne, zu großer Bedeutung gelangte
Auswandererstadt, die bis 1901 auf dem Gelände südlich des Hamburger Freihafens, der so
genannten Veddel, entstehen sollte.
3.2 Das Konzept Ballins
,,Die schwere Schädigung, welche unsere Gesellschaft durch die vorherige Epidemie und
durch das in diesem Jahr erlassene Hausverbot des Durchzuges russischer Auswanderer
durch Hamburg erlitten hat, lässt es uns notwendig erscheinen, Vorkehrungen zu treffen,
94
Vgl. StAH, Senat, CL. VII Lit Ke Nr. 9z, Vol. 62, Akte betr. Gemeinschaftliche Besichtigung der
Auswandererkontroll- und Registrierstationen an der russischen und österreichischen Grenze sowie in
Ruhleben und Leipzig durch bremische und hamburgische Kommissare unter Beteilung von Vertreter des
Norddeutschen Lloyds und der Hamburg-Amerika-Linie, Bericht über die Besichtigung der
Auswandererkontroll- und Registrierstationen vom Juli 1906.
95
Vgl. Amtmann Lübcke, Die Überwachung des Auswandererwesens in Hamburg, in: Hygiene und soziale
Hygiene in Hamburg, Hamburg 1928, (hg. von der Gesundheitsbehörde Hamburg), S. 483­485, hier: S. 483.
96
Vgl. Just, Schifffahrtsgesellschaften und Amerika-Auswanderungen im 19. und früheren 20. Jahrhundert,
S. 35.
97
StAH, Auswanderungsamt I, II E II 4, Akte betr. Unterbringung von Auswanderern in der Baracke am
Amerikakai, Hamburger Freie Presse, Nr. 309 vom 26.1.1894 und vom 10.10.1893.
98
Vgl. Wiborg, S. 98.

32
welche geeignet sind, der Wiederkehr solcher Verfügungen möglichst vorzubeugen. Wir
haben infolgedessen die Pläne für die Errichtung einer größeren Anlage zur Unterbringung
von Auswanderern anfertigen lassen und bitten um die Erlaubnis, einem Hohen Senate
diese Pläne in der beifolgenden Mappe zur geneigten Kenntnisnahme übersenden zu
dürfen".
99
Dieses Schreiben der HAPAG an den Senat am 25. Juli des Jahres 1893, d. h. ein Jahr nach
dem Ausbruch der Epidemie, kündigte den Beginn der Verhandlungen über das Projekt der
neuen Unterbringungshallen auf der Veddel an. In der beigefügten Mappe beschrieb die
HAPAG die angefertigten Pläne für die Errichtung der neuen Anlage zur Unterbringung
der EmigrantInnen und bat den Senat um dessen Kenntnisnahme.
Das von Ballin vorgeschlagene, eindrucksvolle Projekt unterschied sich von den
Auswandererbaracken am Amerika-Kai erheblich. Die vorliegenden Pläne beabsichtigten
die Unterbringung der EmigrantInnen in vielen kleinen Gebäuden, gebaut nach dem so
genannten ,,Pavillonsystem".
Geplant war zunächst eine geräumige Empfangshalle, welche ca. 600 Personen
aufzunehmen vermochte. Rechts davon sollten die Expeditions- und Verwaltungsgebäude
liegen, links die Räume für das ankommende und abgesendete Gepäck mit zwei
dazwischen liegenden Desinfektionskammern. Die Passagiere sollten von der linken Seite
der Empfangshalle nach außen durch einen Wandelgang in die verschiedenen Baracken
geführt werden, welche sich um einen geräumigen Hof gruppieren sollten. Strenge
Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemien waren auch vorgesehen: ,,Unsaubere werden
von der Einquartierung sofort in die Bäder abgeführt und die Kleider derselben hier in
einem weiteren Desinfektionsraum gereinigt". In der Mitte der ganzen Anlage sollten die
geräumigen Speisesäle mit den daran anschließenden Kantinen und Küchen errichtet
werden. Vorgesehen waren auch Dampfbäckerei, Wäscherei, Trockenräume und ferner ein
Maschinenhaus. Die ganze Anlage, die schließlich mit elektrischem Licht und
Zentralheizung versorgt sein sollte, würde auch über ein eigenes wirksames
Desinfektionssystem verfügen; das wichtigste Problem der Beseitigung sämtlicher
Abwässer und Fäkalien könnte nach Ballin durch zwei vor dem Maschinenhaus zu
errichtende getrennte Gruben gelöst werden. In diesen Gruben, deren Größenbestimmung
150 Liter pro Person zu Grunde legen sollte, würden die Abwässer und Fäkalien gelangen
und dort ,,durch Dampfstrahl und vom Kesselhaus aus gekocht und so immun gemacht"
werden. Damit würden sie nicht ungeklärt in die Elbe geleitet werden.
99
Vgl. StAH, Auswanderungsamt I, II E III 2, Akte betr. Erbauung der Auswandererhallen, Schreiben
Ballins vom 25.7.1893 an den Senat. Leider ist die Mappe mit den vollständigen Plänen nicht erhalten.
Dennoch wird im weiteren Brieftext ausdrücklich gezeigt, worum es eigentlich ging. Anhang 1.

33
Nach den vorgelegten Plänen sollte ein zu bebauender Platz von 57.000 m² eingeplant
werden. Dieser sollte nach Ballin für die Unterbringung von 2.080 Menschen sorgen. Zu
diesem Zweck sollten 26 Baracken angefertigt werden mit je 80 übereinander gestellten
Betten. Die Baracken sollten für unverheiratete Männer sowie für Frauen und Familien mit
Kindern getrennt gebaut werden und so angeordnet sein, dass zwei Baracken je unter
einem Dach im Massivbau aufgeführt und durch eine Mauer getrennt werden. Der
Innenausbau der Baracken schien aber nicht sehr fortschrittlich durchdacht zu sein. Die
Schlafsäle hatten eine Grundfläche von je 160 m², d. h. bei voller Belegung standen dem
Bewohner lediglich 2 m² Flächenraum und ein Luftraum von 10,5 m³ zur Verfügung.
Abgesehen davon sollten die Betten ,,nach amerikanischem System nur mit Drahtmatratzen
versehen" sein. Um die Schlafräume in Aufenthaltsräume zu verwandeln, sollten sie am
Tag hochgeklappt werden. Außerdem war für die Bewohner vorgesehen, in einem breiten,
mittleren Gang Tische und Bänke aufzustellen.
Für die Reinigung der Menschen war ,,durch eine genügende Anzahl von Waschtrögen mit
Kalt- und Warmwasserzufluss in einem hinteren Raum Sorge getragen". Die Abortanlage
und Tröge zum Reinigen der Wäsche im Sommer waren auf dem Hofplatz hinter den
Baracken geplant.
Für den Fall eines Epidemieausbruchs wurde Folgendes vorgestellt: ,,Jede der Baracken ist
durch eine ca. 2,50 m hohe solide Bretterwand von der anderen abgeschlossen und somit
können die Bewohner, wenn es wünschenswert erscheint, voneinander getrennt werden.
Ebenso ist es zu ermöglichen, dass größere Abteilungen, etwa Nationalitäten, voneinander
geschieden werden. Sind nur im Fall einer Epidemie einzelne Baracken oder ganze Teile
als verdächtigt abgesperrt, so können, [...] die Baracken mit Speisen von hinten an der
Hofseite auf einer Gleisanlage mittels kleiner Speisewagen von der Küche aus versorgt
werden".
Abgesehen von den hohen Bretterzäunen und Massenschlafsälen sollte das Projekt den
Insassen auch etwas Angenehmes anbieten. Geplant waren ein überdachter breiter
Wandelgang für Promenaden bei schlechtem Wetter sowie ,,grüne Rasenplätze und
Ruhebänke, die der ganzen Anlage ein freundliches Gepräge geben werden und den
Bewohnern angenehmen Aufenthalt bieten". Mit Rücksicht auf die Befriedigung der
religiösen Bedürfnisse der EmigrantInnen war auch ,,ein großer Raum vorgesehen, für alle
Konfessionen benutzbar". Durch die Einrichtung von Verkaufsläden, die auch von den
Straßen aus zugänglich werden sollten, sollte den Insassen der Anstalt Gelegenheit geboten
werden, erforderliche Einkäufe zu machen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836604802
Dateigröße
10.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hamburg – Philosophie und Geschichtswissenschaft, Studiengang Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
hamburg ballinstadt auswanderung auswanderer betreuung geschichte ballin transitstation veddel
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Titel: Die Ballin-Stadt auf der Veddel
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