Lade Inhalt...

Wenn Eltern den Alkohol mehr lieben als ihre Kinder

Erfahrungen Jugendlicher mit Alkohol in der Familie

©1993 Diplomarbeit 67 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Nach Angaben des STATISTISCHEN BUNDESAMTES gibt es in der Bundesrepublik Deutschland 14,5 Mio. Familien (hierunter fallen Verheiratete, Geschiedene und Verwitwete) mit einem oder mehreren Kindern unter 18 Jahren. Der Bevölkerungsanteil der Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren beträgt hierbei etwa 5 Millionen.
Die DEUTSCHE HAUPTSTELLE GEGEN DIE SUCHTGEFAHREN (DHS) geht in ihrer ersten gesamtdeutschen Schätzung von etwa 2,5 Millionen behandlungsbedürftigen Alkoholkranken aus. Wenn nun die meisten alkoholkranken Menschen in einer Familie leben, und in dieser nur ein Familienmitglied Alkoholiker sei, so sind von den oben genannten Familien 17,3 Prozent vom Alkoholismus betroffen. Bei dieser Quote alkoholbelasteter Familien, kann man davon ausgehen, daß im Jahre 1992 über 860000 Jugendliche der oben genannten Altersklasse, direkte Erfahrungen mit der Alkoholkrankheit eines ihrer Elternteile hatten.
Da Alkoholismus in der Familie stets Symptom für psychische Defizite und kommunikative Störungen, sowohl des Individuums als auch des Familiensystems darstellt, sind diese Jugendlichen offensichtlich dysfunktionalen Bedingungen innerhalb der Familie hilflos ausgesetzt. Daneben stellt der Alkoholismus in der Familie für alle Betroffenen meist ein isoliertes Problem dar, mit dem sie selten nach außen dringen (wollen und/oder können). Diese Isolierung und Verheimlichung des Familienalkoholismus leistet noch immer der Tabuisierung dieses Problems innerhalb unserer Gesellschaft Vorschub und wird somit in der breiten Öffentlichkeit ungern zur Kenntnis genommen. Insofern wird unter diesem Hintergrund die Sozialisationsforschung des Kindes bzw. des Jugendlichen, bezüglich der alkoholbelasteten Familie, von den Sozialwissenschaftlern sträflich vernachlässigt (der Jugendliche wird erst dann Forschungsgegenstand, und leider dann auch Justizobjekt, wenn 'das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist', evtl. kriminell auffällt und sanktioniert werden soll); zwar wird in der Literatur meist auf die Entwicklung des Kindes in alkoholbelasteten Familien eingegangen, aber noch immer fehlen einschlägige, für Prävention und Therapie relevante Untersuchungen über die Erfahrungen und Entwicklung des Jugendlichen aus diesen Familien.
Hieraus leitet sich das Ziel meiner Arbeit ab: Durch die Befragung der betroffenen Jugendlichen, sollen, zumindest skizzenhaft, wichtige Erfahrungswerte gesammelt werden, um Anregungen zu weiteren Untersuchungen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ralf-Peter Nungäßer
Wenn Eltern den Alkohol mehr lieben als ihre Kinder
Erfahrungen Jugendlicher mit Alkohol in der Familie
ISBN: 978-3-8366-0465-9
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Fachhochschule Frankfurt am Main - University of Applied Sciences, Frankfurt am
Main, Deutschland, Diplomarbeit, 1993
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die
Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine
Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

A n m i c h ,
m e i n e F a m i l i e
u n d a n a l l
d i e v o r S c h a m S c h w e i g e n d e n

3
INHALT
VORWORT... 5
EINLEITUNG... 9
I. THEORETISCHERTEIL ... 13
1.0 DIE FAMILIE ALS SYSTEM ... 15
1.1 Sozialisationstheoretische Aspekte ... 15
1.2 Familientherapeutische Sichtweisen... 15
1.2.1 Die allgemeine Systemtheorie ... 16
1.2.2 Der kommunikationstheoretische Aspekt ... 16
1.2.3 Der strukturtheoretische Aspekt ... 17
1.3 Exkurs: Sozialisationsbedingungen der Adoleszenz ... 18
1.3.1 Terminologische Begriffsbestimmung... 18
1.3.2 Entwicklungsaufgaben... 19
1.4 Jugendliche im Familiensystem ... 22
2.0 ALKOHOLISMUS IM FAMILIENSYSTEM ... 23
2.1 Merkmale der Alkoholikerfamilie ... 24
2.1.1 Phasenmodelle des Krankheitsverlaufes... 25
2.1.2 Rollenverteilungen... 26
2.2 Entwicklungsverläufe der Adoleszenz in alkoholbelasteten Familien ... 29
2.2.1 Einflüsse auf die Kindheit und auf die frühe Jugend... 30
2.2.2 Auswirkungen auf Jugendliche... 32
II. EMPIRISCHER TEIL... 39
3.0 ERKUNDUNGSSTUDIE... 41
3.1 Zielsetzung und Fragestellung ... 41
3.2 Interviewmethodik und Informationsquellen... 41
3.3 Untersuchungsgruppe und Herangehensweise... 42
3.4 Qualitative Bearbeitung der Auswertung ... 44

4
4.0 INTERVIEWAUSWERTUNG: ERFAHRUNGEN JUGENDLICHER IN
ALKOHOLBELASTETEN FAMILIEN ... 45
4.1 Wahrnehmung des familiären Alkoholproblems ... 45
4.1.1 Zeitpunkt und Ereignis... 45
4.1.2 Verhalten des alkoholkranken Elternteils ... 46
4.1.3 Verhalten des nichtalkoholkranken Elternteils ... 48
4.2 Auswirkungen und Belastungen ... 49
4.2.1 Veränderung das familiären Lebens ... 50
4.2.2 Anforderungen und Aufgaben ... 52
4.2.3 Bedürfnisse und Entwicklung ... 53
4.3 Bewältigungsversuche und Abhängigkeitsgefährdung beim Jugendlichen... 57
4.3.1 Problembewältigung des Alkoholkranken... 57
4.3.2 Problembewältigung der übrigen Familienmitglieder ... 58
4.3.3 Problembewältigung des Jugendlichen... 59
4.3.4 Einstellung gegenüber Suchtmitteln ... 62
5.0 DISKUSSION UND ZUSAMMENFASSUNG ... 64
5.1 Schlußbemerkung... 66
QUELLENVERZEICHNIS ... 67

5
VORWORT
Gemäß der Prüfungsordnung des Fachbereichs Sozialpädagogik der Fachhochschule Frank-
furt am Main vom 17. Mai 1983, lege ich mit diesem Manuskript meine Diplomarbeit mit
dem Arbeitstitel ,,Alkoholismus in der Familie - Erfahrungen Jugendlicher in alkoholbelaste-
ten Familien (Eine empirische Erhebungsstudie)" vor.
Da mir als Beobachter des Problems 'Alkoholismus in der Familie' schon von je her ein
ganz besonderes Interesse an diesem Thema zuteil wurde, ist es mir seit des Studiums der
Sozialpädagogik und hier speziell des Projektes "Sucht & Drogen" (bei Prof. Dr. Hans-Volker
Happel) möglich geworden, tiefere, aufschlußreichere und meiner Handlungskompetenz
entsprechend hilfreiche Erkenntnisse und Einsichten in diese Thematik zu gewinnen. Einen
weiteren Anstoß zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik erhielt ich von meinem guten
Bekannten Vladimir B. (er studierte vor zwei Jahren ebenfalls bei Prof. Dr. H.-V. Happel im
gleichen Projekt), der mich dazu ermutigte, dieses Thema als Diplomarbeit zu bearbeiten, um
einen wissenschaftlichen Beitrag zu dieser bislang relativ gering beachteten Thematik, hin-
sichtlich der Erfahrungen Jugendlicher in alkoholbelasteten Familien, zu leisten.
Bereits bei der Erarbeitung meines Referats zur "Systemischen Sichtweise der Sucht"
(im Oktober 1992) für das Projekt, und ganz besonders seit der Bearbeitung dieser Diplomar-
beit, wird mir immer mehr bewußt, daß jede individuelle Suchterkrankung multifaktoriell
bedingt ist und meist schon im Vorfeld wirksam wurde. Hierzu zählt, neben allen anderen
Sozialisationsinstanzen, eben auch die Familie. In ihr haben das Kind und der Jugendliche
Anteil an (annähernd) allen Verhaltensprozessen, so auch an den Verhaltensmustern des
alkoholabhängigen Elternteils und anderen, durch den Alkoholismus geprägten Rollener-
scheinungen der übrigen Familienmitglieder (z.B. Co-Abhängigkeit).
Spätestens hier stellt sich zwangsläufig die Frage nach den möglichen Auswirkungen
des Alkoholmißbrauchs der Eltern, oder eines Elternteils auf den Jugendlichen.
Um dieser Frage nachzugehen bediene ich mich zweier Vorgehensweisen: Die Erste ist
die der Wissenschaftlich-Theoretischen, bei der ich mich der gängigen Literatur zum Thema
bediene. Die Zweite ist die der empirischen Untersuchung mittels Interview. Hier befrage ich

6
Jugendliche und junge Erwachsene nach ihren Erfahrungen innerhalb ihrer alkoholbelasteten
Familien. Diese Art der Vorgehensweise hat den Vorteil, daß den theoretischen Überlegungen
zum Vergleich auch praktische Erlebnisse und Erfahrungen gegenübergestellt werden können.
Bei dieser Gelegenheit bedanke ich mich nicht zuletzt für die Bereitschaft und Offenheit
der Befragten, sondern auch bei meinem o.g. Bekannten, der den Stein erst ins Rollen brachte
und ganz besonders natürlich bei meinem mich betreuenden Dozenten (Referenten) Prof. Dr.
Hans-Volker Happel und der Korreferentin Frau Angela Timper-Nittel, die beide durch ihre
Bereitschaft, meine Arbeit zu referieren, zur Verwirklichung dieser beitrugen.
Ein ganz besonderer Dank geht zuletzt natürlich an die Firma Commodore, die mir, zu-
mindest im Vergleich zur herkömmlichen Schreibmaschine, das Schreiben dieser Arbeit dank
ihrer Entwicklung und Herstellung des legendären C64 und seines Diskettenlaufwerkes VC
1541 ungemein kompliziert vereinfachte.
Frankfurt a.M., Januar - April 1993, Ralf-Peter Nungäßer

9
EINLEITUNG
Nach Angaben des STATISTISCHEN BUNDESAMTES gibt es in der Bundesrepublik
Deutschland 14,5 Mio. Familien (hierunter fallen Verheiratete, Geschiedene und Verwitwete)
mit einem oder mehreren Kindern unter 18 Jahren (vgl. S.70). Der Bevölkerungsanteil der
Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren beträgt hierbei etwa 5 Millionen (vgl. S.64).
Die DEUTSCHE HAUPTSTELLE GEGEN DIE SUCHTGEFAHREN (DHS) geht in
ihrer ersten gesamtdeutschen Schätzung von etwa 2,5 Millionen behandlungsbedürftigen
Alkoholkranken aus (vgl. 1993, S.39). Wenn nun die meisten alkoholkranken Menschen in
einer Familie leben, und in dieser nur ein Familienmitglied Alkoholiker sei, so sind von den
oben genannten Familien 17,3 Prozent vom Alkoholismus betroffen. Bei dieser Quote alko-
holbelasteter Familien, kann man davon ausgehen, daß im Jahre 1992 über 860000 Jugendli-
che der oben genannten Altersklasse, direkte Erfahrungen mit der Alkoholkrankheit eines
ihrer Elternteile hatten.
Da Alkoholismus in der Familie stets Symptom für psychische Defizite und kommu-
nikative Störungen, sowohl des Individuums als auch des Familiensystems darstellt, sind
diese Jugendlichen offensichtlich dysfunktionalen Bedingungen innerhalb der Familie hilflos
ausgesetzt. Daneben stellt der Alkoholismus in der Familie für alle Betroffenen meist ein
isoliertes Problem dar, mit dem sie selten nach außen dringen (wollen und/oder können).
Diese Isolierung und Verheimlichung des Familienalkoholismus leistet noch immer der
Tabuisierung dieses Problems innerhalb unserer Gesellschaft Vorschub und wird somit in der
breiten Öffentlichkeit ungern zur Kenntnis genommen. Insofern wird unter diesem Hinter-
grund die Sozialisationsforschung des Kindes bzw. des Jugendlichen, bezüglich der alkohol-
belasteten Familie, von den Sozialwissenschaftlern sträflich vernachlässigt (der Jugendliche
wird erst dann Forschungsgegenstand, und leider dann auch Justizobjekt, wenn 'das Kind
bereits in den Brunnen gefallen ist', evtl. kriminell auffällt und sanktioniert werden soll); zwar
wird in der Literatur meist auf die Entwicklung des Kindes in alkoholbelasteten Familien
eingegangen, aber noch immer fehlen einschlägige, für Prävention und Therapie relevante
Untersuchungen über die Erfahrungen und Entwicklung des Jugendlichen aus diesen Famili-
en.

10
Hieraus leitet sich das Ziel meiner Arbeit ab: Durch die Befragung der betroffenen Ju-
gendlichen, sollen, zumindest skizzenhaft, wichtige Erfahrungswerte gesammelt werden, um
Anregungen zu weiteren Untersuchungen bezüglich dieses Themas geben zu können.
Um einen allgemeinen Zugang zur Problemstellung zu bekommen, ist es zunächst
zweckmäßig den Begriff "Alkoholismus" zu erläutern, wie er in der Literatur begriffen wird:
Mit der Definition des Begriffes Alkoholismus haben sich in den letzten Jahren eine Reihe
von Autoren beschäftigt, die sich teilweise erheblich voneinander unterscheiden. Gängige
Definitionen werden unter anderem von der WHO (1952) geliefert. Sie beschreibt Alkoholis-
mus vom Gesundheitsaspekt her, bei der das exzessive Trinken mit körperlichen, geistigen,
und damit einhergehend zu sozialen und wirtschaftlichen Verfall führen kann. Von Seiten der
Statistiker, wie z.B. EDWARDS u.a., wurde empfohlen, Alkoholismus allein nach Kriterien
des Alkoholkonsums zu definieren (vgl. FEUERLEIN, 1984, S.6). JELLINEK wiederum
beschreibt die Krankheit Alkoholismus sowohl typologisch (Gelegenheits-, Quartal-, Kon-
flikttrinker etc.; vgl. S.154), als auch in seinen Verlaufsphasen, wie prodromale, kritische und
chronische Phase (vgl. S.158). Nach BURR (1985) wird akuter oder chronischer Alkoholis-
mus vom symptomatologischen Aspekt her beschrieben, wie Persönlichkeits-, Moralitäts- und
Sozialverfall (vgl. S.15f). Daneben werden Erklärungsansätze für süchtiges Verhalten unter
Zuhilfenahme diverser Suchttheorien entwickelt, wie sie z.B. von BÖLLINGER (1987) in
seinem 'Leitfaden für Drogenberater u.a.' zusammengefaßt werden (medizinisch-naturwissen-
schaftliche, individualpsychologische, lerntheoretische, gesellschaftszentrierte Aspekte etc.;
vgl. S.21ff). Daneben soll für das weitere Verständnis des Begriffes Alkoholismus innerhalb
dieser Arbeit, auch vom "Vollbild der Alkoholkrankheit" ausgegangen werden, wie sie die
HESSISCHE LANDESSTELLE GEGEN DIE SUCHTGEFAHREN (HLS) beschreibt: "Bei
Beobachtung des 'Kontrollverlustes' oder der anhaltenden 'Daueralkoholisierung' müssen wir
eine Alkoholkrankheit annehmen" (S.16), die behandlungsbedürftig ist, um psychische und
kommunikative Störungen beim Individuum und, bei gemeinsamer Behandlung der Famili-
enmitglieder, im Familiensystem beheben zu können.
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll im 'Theoretischen Teil' die Familie als System
aus familientherapeutischer Sicht, d.h. ihre psychosozialen Mechanismen untersucht werden.
Daneben werden in einem Exkurs die Sozialisationsbedingungen der Adoleszenz, die die
Entwicklungsaufgaben beschreiben, dargestellt, um im Anschluß die Stellung des Jugendli-
chen im Familiensystem bezüglich seiner Entwicklung beschreiben und darstellen zu können.

11
Im Anschluß daran soll im zweiten Kapitel die Wirkungsweise des Alkoholismus im Famili-
ensystem aufgezeigt werden, welche Rollen die Familienmitglieder und vor allem die Kinder
einnehmen und welche Auswirkungen der elterliche Alkoholismus auf Kinder, insbesondere
aber auf Jugendliche haben.
Im 'Empirischen Teil' dieser Arbeit sollen mittels Interviews wichtige Aussagen über
die Beeinflussung des Alkoholismus auf die Entwicklung Jugendlicher gewonnen werden.
Hierbei gehe ich den Fragen nach, wie der elterliche Alkoholismus von den Jugendlichen
wahrgenommen wurde, welche Auswirkungen das Alkoholproblem auf sie hat, welchen
Belastungen sie ausgesetzt sind, wie die Probleme von Jugendlichen und der Familie bewäl-
tigt werden und welche Einstellung sie durch ihre Erfahrungen mit der familiären Suchtprob-
lematik gegenüber Suchtmitteln bzw. gegenüber Alkohol haben.

13
I. THEORETISCHERTEIL

15
1.0 DIE FAMILIE ALS SYSTEM
In diesem Kapitel sollen die differenzierten Aspekte der in der Familie vorherrschenden
psychosozialen Mechanismen und die Rolle des Jugendlichen im Familiensystem beschrieben
werden.
1.1 Sozialisationstheoretische Aspekte
Die Familie stellt die kleinste soziale Einheit innerhalb der Gesellschaft dar. Ihr werden in der
sozialisationstheoretischen Literatur die Sozialisationsfunktionen zugeschrieben, sich einer-
seits an die Erfordernisse der Gesellschaft anzupassen und andererseits das Wachstum ihrer
Mitglieder, sowie Potentiale des Individuums zu fördern (Individuation). So sorgt die Familie,
nach KREFT und MIELENZ (1988), für das "Finden der personalen und sozialen Identität"
(S.183), d.h. zum einen für das Zugehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder zum Familienbund und
zum anderen, für das Gefühl des Individuums sich voneinander zu unterscheiden; wobei die
Erwachsenen ihre Identität bereits gefunden haben sollten und die Kinder ihre persönliche
Identitätsfindung noch als Aufgabe vor sich haben.
TIPPELT und BECKER (1984) sprechen in diesem Zusammenhang, in ihrem Bericht
im Auftrag des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, von Reproduktions-,
Plazierungs-, Haushalts-, Freizeit- und Kompensationsfunktionen, die der Familie als Haupt-
aufgaben zuteil wird (vgl. S.40).
1.2 Familientherapeutische Sichtweisen
Bei der Betrachtung der Familie als System, geht ANDERSON (1971) von fünf Hauptansät-
zen aus: dem psychodynamischen, dem strukturellen, dem kommunikationstheoretischen,
dem erlebniszentrierten und dem verhaltenstherapeutischen Ansatz. "Diese fünf Ansätze
haben einander so sehr beeinflußt, daß sie sich inzwischen beträchtlich aneinander angegli-
chen haben" (KAUFMAN & KAUFMANN, 1986, S.215). Im Folgenden sollen die wichtigs-
ten und einflußreichsten Systemtheorien vorgestellt werden.

16
1.2.1 Die allgemeine Systemtheorie
Grundlage für die familientherapeutische Behandlung der Familie ist die von
v.BERTALANFFY (1968) begründete Systemtheorie. Hinweisend darauf, daß sich die Auf-
merksamkeit des Beobachters nicht primär auf das Individuum richtet, sondern auf das ge-
samte Familiensystem, geht v.BERTALANFFY von vier grundlegenden Annahmen aus (vgl.
v.BERTALANFFY in v.VILLIEZ, 1986, S.5):
- Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile.
- Jedes Teil wird am besten im Kontext des Ganzen verstanden.
- Findet eine Änderung in einem Teil statt, so beeinflußt dies jedes andere Teil.
- Das Ganze hat das Bestreben zur Homöostase. Hierunter wird das Bestreben von Gleich-
gewicht und Stabilität innerhalb des Familiensystems verstanden, das nur einen begrenz-
ten Spielraum für Veränderungen zuläßt.
1.2.2 Der kommunikationstheoretische Aspekt
Der kommunikationstheoretische Ansatz von WATZLAWIK, BEAVIN und JACKSON
(1969) geht, in einer der fünf Kommunikationsregeln, von der grundlegenden Annahme aus,
daß es Menschen unmöglich ist, nicht zu kommunizieren und somit menschliche Kommuni-
kation Ausdruck eines gegenseitigen Interesses oder Desinteresses ist (vgl. S. 50ff). RICCI
und PALAZZOLI (1984) erweiterten den hauptsächlich auf Dyaden bezogenen Kommunika-
tionsansatz um den systemischen Aspekt. "Jede dyadische Kommunikation kann wiederum
Teil eines unterschiedlichen großen Personennetzes sein. Mit jeder hinzukommenden Person
erhöht sich die Komplexität des Kommunikationssystems und das dyadische Erklärungsmo-
dell muß durch ein komplexeres ersetzt werden" (v.VILLIEZ, 1986, S.5).
Daneben unterscheiden WATZLAWIK u.a. (1969) bei der Betrachtung des Kommuni-
kationssystems in "geschlossene" und "offene Systeme" (S.117ff). Das offene System wird
von SATIR (1988) als ein auf Veränderung eingestelltes System beschrieben, das ein erfolg-
reiche Auseinandersetzung mit der Realität ermöglicht und das Selbstwertgefühl des Einzel-
nen an die höchste Stelle setzt. Das geschlossene System hingegen hat das Bestreben zur
rigiden Homöostase: Veränderungen wird Widerstand entgegengesetzt. In ihm herrschen

17
autoritäre Strukturen und es funktioniert nur durch Anwendung von Macht; Pflichterfüllung
wird als vorrangig angesehen (vgl. S.143).
1.2.3 Der strukturtheoretische Aspekt
Nach MINUCHIN und FISHMAN (1988) stellt die Familie eine Gruppe dar, "die im Laufe
der Zeit bestimmte Interaktionsmuster entwickelt hat. Diese Muster bilden die Familienstruk-
tur, die ihrerseits das Verhalten der Familienmitglieder lenkt, ihren Verhaltensspielraum
absteckt und ihre Interaktion ermöglicht" (S.27). KAUFMAN & KAUFMANN (1986) nen-
nen die Familie ein soziales System, "daß durch transaktionale Muster gesteuert wird. Das
sind wiederholte Interaktionen (zwischen den Mitgliedern), die Muster einschleifen - wie,
wann und zu wem in Beziehung getreten wird (...). Wiederholte Interaktionen schaffen Mus-
ter, und diese Muster unterstützen das Familiensystem" (S.23). Die sich bildenden Muster von
Aktion und Reaktion werden vertraut, sie werden als das Selbst empfunden und man gibt
ihnen den Vorrang (vgl. S.23f).
Insgesamt sieht sich jeder Mensch als Einheit, als ein Ganzes, das mit anderen Ganzhei-
ten in Interaktion steht, d.h. daß sich jeder Mensch in erster Linie nicht als Teil einer Famili-
enstruktur erlebt, sondern als individuelle Einheit. Die Familie ist demnach ein System, das
sich als Ganzes aus seinen Elementen und den Beziehungen zwischen ihnen zusammensetzt
(vgl. MINUCHIN und FISHMAN, 1988, S.27), wobei eine wechselseitige Beeinflussung
jeder Einheit im System stattfindet.
In diesem Zusammenhang entscheidet jede individuelle Einheit, im situativen Kontext
des Familiengeschehens, in welcher Weise sie in Beziehung zu den anderen Einheiten treten
möchte. Auf diese Art bilden sich im Familiensystem Subsysteme, die jeweils verschiedene
Aufgaben ausführen und wiederum untereinander in Interaktion stehen. "Subsysteme in der
Familie können einzelne oder auch Dyaden sein - wie etwa Ehemann und Ehefrau - und
größere, durch Generation, Geschlecht oder Aufgaben (sowie Rollen) gebildete Untergrup-
pen. Die Grenzen von Subsystemen werden durch Regeln definiert, die festlegen, wer auf
welche Weise an ihnen teilnimmt" (KAUFMAN & KAUFMANN, 1986, S.25). So sollen
einerseits die Grenzen ausreichend definiert sein, damit es den Mitgliedern des Subsystems
gestattet ist ihre Aufgaben zu erfüllen. Andererseits sollen sich Subsysteme jedoch nicht von

18
der übrigen Familie isolieren und die Möglichkeit einschließen, andere Familienmitglieder für
die Lösung spezieller Probleme des Subsystems - oder des Gesamtsystems - mit einzubezie-
hen (vgl. S.25f).
1.3 Exkurs: Sozialisationsbedingungen der Adoleszenz
Um nachvollziehen zu können welche Rolle Jugendliche im Familiensystem spielen und um
darzustellen welchen Realitäten sie ausgesetzt sind, sollen in diesem Unterkapitel die Ent-
wicklungsbedingungen Jugendlicher aufgezeigt werden.
1.3.1 Terminologische Begriffsbestimmung
Das Jugendalter ist, neben der Entwicklung des Kindes, ein wichtiger Lebensabschnitt in der
menschlichen Entwicklung, während dieser der Mensch physisch und psychisch zum Erwach-
senen heranreift. So läßt sich Jugend zwar formal als Lebensabschnitt zwischen Kindheit und
Erwachsenenalter einordnen, es ist jedoch noch nichts darüber gesagt, über welchen Zeitraum
sich dieses Zwischenstadium erstreckt. Da die Übergangsgrenzen zwischen Kindheit und
Jugend, Jugend und Heranwachsender, in physischer und psychischer Hinsicht fließend sind,
sind die terminologischen Begriffsbestimmungen und die Zeitraumbestimmungen in der
Literatur sehr ungenau. EWERT (1983) z.B. verwendet den Begriff "Adoleszenz" für den
Zeitraum zwischen dem 10. und dem 21. Lebensjahr und differenziert diesen in das "Jugend-
alter" (11 bis 17 Jahre) und in die "späte Adoleszenz" (18 bis 21 Jahre; vgl. S.13). CRISAND
u. KIEPE (1989) wiederum sprechen vom "Jugendalter" als die Zeit zwischen dem 11. und
dem 20. Lebensjahr. Dieses teilen sie in die Phasen der Pubertät (etwa zwischen 9 und 13
Jahren) und Adoleszenz (als das Ende der geschlechtlichen Reife) ein, ohne weitere zeitliche
Festlegungen (vgl. S.16ff). DREHER & DREHER (1985b) gehen bei der Bestimmung der
Adoleszenz vom 12. bis 18. Lebensjahr aus und nennen den Zeitraum von 18 bis 30 Jahre als
"Frühes Erwachsenenalter" (vgl. S.59). Wissenschaftler die sich mit dem Gegenstand Jugend
befassen, behandeln das Abgrenzungsproblem gegenüber Kindheit und Erwachsenenalter in
unterschiedlicher Weise: So setzt die Psychologie in ihrer biologisch-physiologischen und
entwicklungs-psychologischen Betrachtung den Beginn der Jugend mit dem Eintreten der
biologischen Geschlechtsreife und den damit verknüpften psychischen Umstrukturierungen

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1993
ISBN (eBook)
9783836604659
DOI
10.3239/9783836604659
Dateigröße
446 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main – Sozialpädagogik, Studiengang Sozialpädagogik
Erscheinungsdatum
2007 (August)
Note
1,0
Schlagworte
eltern alkoholismus jugend entwicklung sucht drogen adoleszenz
Zurück

Titel: Wenn Eltern den Alkohol mehr lieben als ihre Kinder
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
67 Seiten
Cookie-Einstellungen