Lade Inhalt...

Aus der 'Schwarzen Möwe' wird 'Elisabeth'

Entstehung und Inszenierungsgeschichte des Musicals über die Kaiserin von Österreich

©2003 Diplomarbeit 213 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Diplomarbeit entstand als Abschluss meines Magisterstudiums an der Universität Wien im Fach Theaterwissenschaft.
Sie befasst sich mit drei für Wien typischen Phänomenen: der österreichischen Kaiserin Elisabeth, dem Musical und dem Tod – in Text und Bild.
Dass Elisabeth weit mehr ist als die Kitschfigur aus den Sissi-Filmen mit Romy Scheider und Karlheinz Böhm erfährt jeder, der sich in Wien mit der historischen Persönlichkeit beschäftigt – und man begegnet ihr in der Hauptstadt auf Schritt und Tritt.
Das Musical von Michael Kunze (Buch und Libretto) und Sylvester Levay (Musik) geht dem Mythos Elisabeth nach und stellt die Figur in Beziehung zum Tod. Der Tod als personifizierte Gestalt, dem die Wiener auch noch heute sehr nahe stehen – auf dem Wiener Zentralfriedhof liegen mehr Tote als Wien Einwohner hat...
„Elisabeth“ hatte am 3. September 1992 im Theater an der Wien Uraufführung und machte von dort aus seinen Weg in die Welt. Für ein Musical zu der Zeit, als Andrew Lloyd Webber die Szene beherrschte, ein ungewöhnliches Unterfangen. Kunze und Levay gaben die Rechte an ihrem Stück frei, ließen sehr unterschiedliche Inszenierungen zu, schrieben sogar neue Songs, je nach Aufführungsort.
Die Diplomarbeit befasst sich zum ersten mit dem Genre Musical an sich, von seiner Zeit am New Yorker Broadway über das Londoner Westend bis nach Deutschland und Österreich. Die Enstehungsgeschichte, wie es dazu kam, dass das Stück in Wien – und nicht wie ursprünglich geplant am Heilbronner Theater – seine Weltpremiere feiern konnte, leitet den Hauptblock ein. Dieser beinhaltet einen Vergleich der literarischen Vorlagen mit dem Libretto – Michael Kunze hält sich dabei eng an die Elisabeth-Biografie von Brigitte Hamann. Außerdem werden die einzelnen Rollen, Musik, Kostüme und Bühnenbild (mit vielen Farbfotos!) analysiert.
Anhand der einzelnen Inszenierungen (Wien, Japan, Ungarn, Schweden, Niederlande, Deutschland) wird die Entwicklung gezeigt, die das Stück innerhalb von gut zehn Jahren durchgemacht hat. Jede Inszenierung ist auch im Zusammenhang mit dem Ort zu sehen, mit dem Land, dem Theater, der Mentalität der Zuschauer.
So gibt es ein Extra-Kapitel zum japanischen Takarazuka-Theater, das nur aus Frauen besteht und wodurch die androgyne Tod-Rolle eine besondere Note erhalten hat.
Ein Exkurs beschäftigt sich mit dem Genre Musiktheater speziell in Wien, von den Ausstattungsstücken Emanuel Schikaneders über „Cats“ bis „Jekyll & […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Birgit Rommel
Aus der 'Schwarzen Möwe' wird 'Elisabeth'
Entstehung und Inszenierungsgeschichte des Erfolgsmusicals
ISBN: 978-3-8366-0417-8
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Universität Wien, Wien, Österreich, Diplomarbeit, 2003
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die
Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine
Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

Birgit Rommel, 1968 geboren in Heilbronn, Schriftsetzer-Lehre,
Zeitungsredaktions-Volontariat, Requisiteurin bei diversen Musical-
Großproduktionen, Magister-Studium Theaterwissenschaft an der Universität Wien,
Abschluss Diplom-Theaterwissenschaftlerin.
Derzeit tätig als Redakteurin bei einer Tageszeitung in Koblenz.

I
Danksagung... 1
Vorwort ... 3
1 Einführung... 5
1.1
Von der Musical Comedy zum Drama Musical... 5
1.2
Das Musical ­ ungeliebtes Stiefkind der Theaterfamilie... 15
2
Aus der ,,Schwarzen Möwe" wird ,,Elisabeth"... 23
2.1
Der Autor Michael Kunze ... 23
2.2
Der Komponist Sylvester Levay ... 24
2.3
Die Zusammenarbeit Michael Kunzes mit dem Theater Heilbronn ... 26
2.4
Die literarischen Vorlagen... 33
2.4.1 Biografie ,,Elisabeth ­ Kaiserin wider Willen" von
Brigitte Hamann... 35
2.4.2 Die Tagebuchblätter von Constantin Christomanos... 36
2.5
Vergleich der literarischen Vorlagen mit dem Libretto ... 40
2.6
Grundstimmung der Inszenierung und Persönlichkeitszeichnung
der historischen Personen... 66
2.6.1 Kaiserin Elisabeth ­ die gefesselte Seele ... 69
2.6.2 Luigi Lucheni ­ ein Mensch des 20. Jahrhunderts... 73
2.6.3 Der Tod ­ ein Sensenmann als Popstar ... 74
2.6.4 Kaiser Franz Joseph ­ ein emotionaler Schwächling ... 79
2.6.5 Erzherzogin Sophie ­ die eiskalte Schwiegermutter... 81
2.6.6 Kronprinz Rudolf ­ der verhinderte Revolutionär... 81
3
Welturaufführung im Theater an der Wien... 83
3.1
Regisseur Harry Kupfer... 84
3.2
Bühnenbildner Hans Schavernoch ... 86
3.3
Kostümbildner Reinhard Heinrich ... 90
3.4
Choreograph Dennis Callahan ... 91
3.5
,,Elisabeth" im Spiegel der Medien... 97
3.5.1 ,,Elisabeth"-Parodien ... 100
3.6
Exkurs: Ein Musical macht einen Star: Uwe Kröger ... 103
3.6.1 Fankult: Wien contra Deutschland ... 103
3.6.2 Werdegang Uwe Kröger ... 106

II
4
,,Elisabeth" auf den Bühnen in aller Welt... 109
4.1
Vergabepraxis der Rechte vor und nach ,,Elisabeth" ... 110
4.2
Japan ­ zwei unterschiedliche Sichtweisen... 113
4.2.1 Takarazuka ­ Eine besondere Theaterform mit Tradition... 115
4.2.1.1 Geschichte und Gegenwart... 115
4.2.1.2 Westliche Sichtweisen und die besondere
Bedeutung der Fans ... 122
4.2.1.3 Snow-Truppe ... 133
4.2.1.4 Star-Truppe ... 145
4.2.1.5 Cosmos-Truppe... 146
4.2.1.6 Flower-Truppe... 146
4.2.1.7 Resümee... 147
4.2.2 Toho ­ ein neues Lied für Elisabeth ... 152
4.3
Ungarn ­ drei Orte, eine Inszenierung ... 158
4.3.1 Szeged ­ ein Kaiserreich entsteht auf der Freilichtbühne
vor dem Dom... 158
4.3.2 Budapest ­ lange Laufzeit im Operett Színház... 163
4.3.3 Miskolc ­ erfolgreiches Gastspiel im Nationaltheater ... 164
4.4
Schweden ­ ein Kammermusical im Musikteatern i Värmland
Karlstad... 167
4.5
Niederlande ­ zurück zur Kitsch-Version im Circustheater
Scheveningen ... 170
4.6
Deutschland ­ ein neues Duett für Elisabeth und den Tod im
Colosseum-Theater Essen ... 175
5
Exkurs: Der Kampf ums Theater an der Wien... 181
5.1
Die Ausstattungsorgien des Emanuel Schikaneder und seiner
Nachfolger... 183
5.2
Vorstadttheater, Goldene und Silberne Operettenära... 185
5.3
Eine seit 37 Jahren andauernde Erfolgsgeschichte:
Musicals im Theater an der Wien ... 187
6
Resümee: Die Bedeutung von ,,Elisabeth" für die Musicalbranche
Ende des 20. Jahrhunderts ... 193
7 Nachwort...195

III
Quellenverzeichnis... 199
Abbildungsverzeichnis... 207
Anhang... 209

1
Danksagung
Mein besonderer Dank geht an meine Eltern und Großeltern, die meine unter-
schiedlichsten Berufswünsche stets unterstützt haben. Herzlichen Dank an Prof.
Brigitte Marschall für die wissenschaftliche Förderung und kreative Unterstützung
bei der Diplomarbeit.
Für Informationen in Wort, Bild und Ton bin ich Peter Back-Vega zu Dank ver-
pflichtet, der mir als Dramaturg der Vereinigten Bühnen Wien Einblicke in die
Geschichte von ,,Elisabeth" am Theater an der Wien ermöglichte sowie bei meiner
Recherche zu den internationalen Inszenierungen eine große Hilfe war.
Hiromi Ujibe danke ich für die vielen hilfreichen Informationen über Japan und das
Takarazuka-Ensemble.
Vielen Dank an die hilfreichen Geister, die mir bei den Übersetzungen der Pro-
grammhefte und Videos geholfen haben (Domo arigato Yuko Kimoto ­ Japanisches
Informations- und Kulturzentrum der Japanischen Botschaft in Wien ­ und Hiromi
Ujibe; hartelijke dank Han Joosten) sowie ein herzliches Dankeschön an Michaela
Böhm fürs Korrekturlesen.
Abschließend möchte ich Prof. Hilde Haider danken, der es gelang, mich für The-
men zu begeistern, die mich in der Schule stets langweilten, und Harald Schmidt für
seinen Nachhilfeunterricht in griechischer Mythologie.
1
Beide sind für mich Beispiele
dafür, dass Theater und Wissenschaft nicht trocken sein müssen und es ein Comedy-
Moderator mit 45 Jahren zum besten Nachwuchsschauspieler auf Deutschlands
Bühnen bringen kann.
2
1
Zum festen Bestandteil der Harald-Schmidt-Show gehört das Nachspielen von Ereignissen aus
Literatur oder Geschichte mit Playmobil-Figuren. Die Abenteuer des Herakles waren im Oktober
2002 Thema der Sendung auf Sat1 ­ passend zur HVO Griechische Antike von Prof. Haider.
2
Auszeichnung der Zeitschrift ,,Theater heute" für seine Rolle des Lucky in ,,Warten auf Godot" im
Bochumer Schauspielhaus 2002.

3
Vorwort
Wie ein Großteil der deutschen Bevölkerung hatte auch ich meine erste Begegnung
mit der österreichischen Kaiserin Elisabeth im Fernsehen: Die ,,Sissi"-Trilogie bann-
te die ganze Familie vor der Mattscheibe. Mein Interesse an der historischen Persön-
lichkeit abseits der süßlichen Filmgeschichte war geweckt worden. Fast gleichzeitig
mit der Ausstrahlung im deutschen TV erschien 1981 die Biografie ,,Elisabeth ­
Kaiserin wider Willen" von Brigitte Hamann, die ich in wenigen Tagen und Nächten
verschlang. Von da an ließ mich ihre Geschichte nicht mehr los. Urlaube in Wien auf
den Spuren von Elisabeth waren die logische Folge. Schließlich die Nachricht, dass
ein Musical über die Kaiserin im Entstehen ist. Als ich einen Tag vor der Premiere
von ,,Elisabeth" im Theater an der Wien mit Sylvester Levay und Michael Kunze für
ein Zeitungsinterview zusammentraf, dachte noch keiner daran, dass das Stück ein
weltweiter Erfolg werden würde, und ich mich zehn Jahre später dazu entschließen
würde, eine Diplomarbeit über genau dieses Musical zu schreiben.
3
Dass das Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien
ausgerechnet in der Hofburg (Michaelertrakt) untergebracht ist und ich sozusagen
drei Jahre Tür an Tür mit Elisabeths ,,Geist" studieren durfte ­ die Zimmer waren
als Repräsentationsräume für Kronprinz Rudolf geplant, der sie aber nie beziehen
konnte ­ kann wohl als Schicksal bezeichnet werden. Hinzu kommt, dass die Entste-
hungsgeschichte von ,,Elisabeth" eng mit dem Theater meiner Heimatstadt verbun-
den ist und somit nicht nur Kleists ,,Käthchen" aus Heilbronn stammt.
Mein Anliegen ist es, in der vorliegenden Diplomarbeit die Entstehung und Inszenie-
rungsgeschichte von ,,Elisabeth" nachzuzeichnen. Einen Großteil der Inszenierun-
gen habe ich selbst gesehen (Wien, Szeged, Budapest, Essen), die anderen konnten
aufgrund von Videos, CD-Aufnahmen, Programmheften oder Gesprächen mit
Beteiligten rekonstruiert werden. In zweiter Linie geht es mir in der Arbeit auch
darum, die Akzeptanz des Genres Musical im allgemeinen zu stärken und am Beispiel
des erfolgreichsten deutschsprachigen Werks zu zeigen, dass es ,,das" Musical
schlechthin nicht gibt.
3
Trotz intensiver Bemühungen meinerseits war es nicht möglich, im Laufe der aktuellen Recherche
einen erneuten Kontakt mit dem Autorenteam herzustellen.

4
Verwendete Abkürzungen:
ÖE = Österreichische Erstaufführung
DE = Deutsche Erstaufführung
DsE = Deutschsprachige Erstaufführung
UA = Uraufführung / Welturaufführung
Wenn von den Stücken ,,Das Phantom der Oper", ,,Les Misérables", ,,Der Glöckner
von Notre Dame" und ,,Die Schöne und das Biest" die Rede ist, dann sind jene
Versionen von Andrew Lloyd Webber, Claude-Michel Schönberg bzw. dem Disney-
Konzern gemeint (es gibt von all diesen Stücken auch Versionen anderer Komponis-
ten, die jedoch weitaus geringeren Erfolg hatten oder fälschlicherweise auf der
Erfolgswelle mitschwammen).

5
1 Einführung
Über die Entstehungsgeschichte und Entwicklung der Musiktheater-Gattung Musi-
cal ist in den letzten knapp 40 Jahren im deutschsprachigen Raum viel geschrieben
worden. Der älteste sachkundige Musical-Führer aus dem Jahr 1965 stammt von
Siegfried Schmidt-Joos, der in dieser Arbeit verwendete aktuellste aus dem Jahr 2002.
Ein Großteil der Fachliteratur arbeitet die Geschichte des Genres von seinen Anfän-
gen Ende des 17. Jahrhunderts in Amerika bis ins beginnende 21. Jahrhundert her-
aus. Aus diesem Grund fasse ich mich in diesem Kapitel kurz und stelle anhand der
aktuellen Entwicklungen die Verbindungen zur Geschichte dar.
Eine ausführliche Arbeit zur Entwicklung des Genres von der Balladenoper bis zur
Operette und den Formen Musical Play beziehungsweise Musical Comedy hat Betti-
na Watzke in ihrer Diplomarbeit ,,Literarische Vorlagen zu Musicals. Eine Doku-
mentation zur Adaptierung. Die Theaterstücke Pygmalion, Liliom als musical plays"
(1992) bereits vorgelegt. Ich werde hier ansetzen und die weitergehenden Formen
anfügen.
1.1 Von der Musical Comedy zum Drama Musical
,,Das" Musical gibt es nicht. Der Begriff wird im deutschen als Bezeichnung für die
gesamte Kunstform benutzt, obwohl kein Zweig des Musiktheaters so unter-
schiedlich ist und deshalb auch sehr differenziert zu betrachten ist.
Wandlung der Definition ,,Musical" im Laufe der Zeit:
1965, Schmidt-Joos, ,,Das Musical":
4
,,Es ist um so besser, je mehr es dem Alltag
seines Publikums entspricht. Seine Probleme sind die der Menschen von heute: von
den kleinen Sorgen des Herrn Jedermann bis zu den Fragen der großen Politik. Das
Musical spielt vor der aktuellen Kulisse der Zeit. Es bezieht Stellung zu politischen
Skandalen, zum Krieg, zu Streiks und Gewerkschaftsfragen, zum Halbstarken-
problem und zur Rassenfrage. Seine Gestalten unterhalten sich in der Umgangs-
sprache und agieren möglichst realistisch. Das Musical ist weniger Operette als
4
S. Schmidt-Joos: ,,Das Musical", München 1965, S. 13.

6
Schauspiel mit Musik. Eine Aufteilung in Fächer, wie sie die Operette hat, würde
seinem Wesen widersprechen."
1989, ,,Duden Herkunftswörterbuch":
5
,,Gattung des Musiktheaters mit Elementen
aus Schauspiel, Operette und Revue (20. Jh.: aus gleichbed. engl.-amerik. musical
[comedy oder play], eigentlich ,musikalische Komödie' oder ,musikalisches Stück')"
1997, Bering, ,,Musical Schnellkurs":
6
,,Ursprünglich war der Begriff ,Musical' eine
Verkürzung von Musical Comedy, aber nicht erst seit Claude-Michel Schönbergs Miss
Saigon kann ein Musical Play oder Musical Drama auch eine dramatische oder gar
tragische Geschichte erzählen. Historische Sujets finden genauso Verwendung wie
Märchenstoffe; die Gegenwart kann naturalistisch, stilisiert oder satirisch widerge-
spiegelt werden."
Ich werde am Beispiel von ,,Elisabeth" und anderen bekannten Musicals die ver-
schiedenen Kategorien darstellen und folge dabei weitgehendst der vorbildlichen und
bisher im deutschsprachigen Bereich einzigartigen Aufarbeitung des Themas durch
Hubert Wildbihler in seinem Werk ,,Das internationale Kursbuch Musicals"
7
.
1. Musical Comedies
Lässt man die frühen Vorformen des Musicals beiseite (,,The Beggars Opera", Lon-
don 1729, ,,The Black Crook", New York 1866, sowie die Ministrel Shows, Vaude-
ville-Shows und Revuen), so entstanden die ersten Musical Comedies ab 1910 in
New York. Komik, die sich aus der Situation entwickelte, und eine einigermaßen
plausible Handlung waren die Kernpunkte dieser Musical-Form.
8
Die Musical Comedies sind bis heute Bestandteil der Branche und haben in Stücken
wie ,,La Cage aux Folles" oder ,,Joseph and the amazing technicolor dreamcoat"
thematisch ernstere, aber nicht weniger witzige Nachfolger gefunden.
Weitere Musical Comedies sind ,,Kiss me Kate", ,,Lady Be Good", ,,No No
Nanette", ,,The Rocky Horror Show".
5
G. Drosdowski (Hrsg.): ,,Duden Band 7 Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache",
Mannheim / Wien / Zürich 1989, S. 475.
6
R. Bering: ,,Musical Schnellkurs", Köln 1997, S. 7.
7
Vgl. H. Wildbihler: ,,Das internationale Kursbuch Musicals", Passau 1999, S. 333ff.
8
Vgl. ebenda, S. 9.

7
2. Book Musicals
Die so genannten Buch-Musicals umfassen als Überbegriff alle (meist klassischen)
Musicals mit Handlungsfaden, gesprochenen Dialogen und in die Handlung integ-
rierten Gesangs- und Tanznummern.
9
Als erstes Meisterwerk und Meilenstein der Musical-Geschichte gilt ,,Show Boat"
von Jerome Kern und Oscar Hammerstein II. (1927). ,,Gesungen wird, wenn die
Gefühle so groß, die Situationen so zugespitzt oder die Stimmungen so stark sind,
daß Worte nicht mehr genügen."
10
Vertreter dieses Musicals sind u. a. ,,Hello Dolly", ,,Kiss Me Kate", ,,Man of La
Mancha", ,,My Fair Lady".
3. Musical Plays
Einen weiteren großen Schritt in Richtung einer modernen Musiktheatertradition
machten Richard Rogers und Oscar Hammerstein II. mit ,,Oklahoma!" (1943), dem
ersten bedeutenden Musical, das nach einer literarischen Vorlage geschrieben wurde
(Lynn Riggs Theaterstück ,,Green Grow the Lilacs"). Eines der bekanntesten Musical
Plays ­ und von vielen ein Synonym für die Sparte Musical schlechthin ­ ist ,,My Fair
Lady" von Alan Jay Lerner und Frederick Loewe (1956).
Sieht man den Begriff ,,Play" nicht dramatisch eng sondern literarisch weit, dann
dürfen bei den aktuellen Stücken z. B. ,,Cats" (nach Gedichten von T. S. Elliot),
,,Jesus Christ Superstar" (nach der Bibel) oder ,,Les Misérables" (nach dem Roman
von Viktor Hugo) mit in diese Kategorie gezählt werden. Auch ,,Elisabeth" zählt,
weil hier eine Biografie über die österreichische Kaiserin zu Grunde liegt, zu den
Musical Plays.
Wie man in der weiteren Auflistung sehen wird, sind die unterschiedlichen Stücke
größtenteils in mehrere Kategorien einzuordnen.
Neben der literarischen Vorlage ist die Ernsthaftigkeit der ganzen Inszenierung ein
wichtiger Bestandteil des Musical Plays. ,,Die Schöpfer eines musical play bemühen
sich um inhaltliche Substanz, universelle Themen, tiefgehende Schilderung von
9
Vgl. H. Wildbihler, a. a. O., S. 24.
10
R. Bering, a. a. O., S. 52.

8
Charakteren, Einhaltung von musikalischem Niveau und motiviert eingesetzte Ballet-
te."
11
Zu den Musical Plays zählen auch ,,Cyrano", ,,Hello Dolly!", ,,Das Phantom der
Oper".
4. Musical Dramas
Einer Tragödie gleich steuert das Musical Drama auf eine Katastrophe zu. Lovesto-
ries und andere Katastrophen (wie der Untergang des Luxusdampfers in ,,Titanic")
führen zu einer starken Emotionalisierung des Publikums.
Mit dem umgekehrten Begriff Drama Musical bezeichnet Michael Kunze seine
Arbeit ,,Elisabeth" (siehe Punkt 24) .
,,Kuss der Spinnenfrau", ,,Les Misérables" oder die ,,West Side Story" passen in diese
Kategorie.
5. Konzept-Musicals
Populär wurde diese Art des Musicals in den 70er Jahren, anstatt einer linear erzähl-
ten Geschichte wird in losen Sequenzen die Variation eines Themas oder einer
Metapher auf die Bühne gebracht.
12
Mit der Nummern-Revue ,,Hair" wurde 1968 gegen den Vietnam-Krieg aufbegehrt,
1975 gewährten die Musical-Darsteller im Seelen-Strip ,,A Chorus Line" den Blick
hinter die Kulissen.
Weitere Stücke sind z. B. ,,Assassins", ,,Cats", ,,Freudiana", ,,Linie 1".
6. Musical Revuen / Anthologien
Mit dieser Form werden z. B. Komponisten, Choreographen, Stücke einer bestimm-
ten Ära gewürdigt. Die Handlung steht im Hintergrund, es geht darum, bekannte
Songs oder Tanznummern als eine Art ,,Best of"-Show zu verbinden.
1978 wurde so erstmals der Komponist und Pianist Fats Waller mit ,,Ain't Misbeha-
vin'" geehrt.
Aus neuerer Zeit stammen ,,Five Guys Named Moe" und ,,Fosse".
11
B. Watzke: ,,Literarische Vorlagen zu Musicals. Eine Dokumentation zur Adaptierung. Die
Theaterstücke Pygmalion, Liliom als musical plays", Diplomarbeit, Wien 1992, S. 38.
12
Vgl. H. Wildbihler, a. a. O., S. 13, 24.

9
7. Kammer-Musicals
Anfang der 60er Jahre war die Geburtsstunde der Off-Broadway-Szene. In kleineren
Theatern und mit geringerem szenischen Aufwand wurde von den Machern der
künstlerische Aspekt in den Vordergrund gestellt. ,,The Fantasticks" machten 1960
den Anfang, und noch heute finden manche dieser Off-Broadway-Stücke den Weg
auf große Bühnen. So wurden z. B. ,,Little Shop of Horrors" (1982) oder ,,Nunsen-
se" (1985) zu viel gespielten Stadttheater-Erfolgen.
Zu den Kammer-Musicals gehören auch ,,By Jeeves", ,,I do! I do!", ,,Linie 1".
8. Thriller, Horror, Science Fiction
Wie im Fernsehen und Kino werden auch auf der Bühne spannend-gruslige oder
auch komisch-schaurige Geschichten gern gezeigt. Bei ,,Little Shop of Horrors" und
,,Tanz der Vampire" sind die Bühnenversionen mindestens genauso erfolgreich wie
die Original-Filme.
Typische Thriller-Stücke sind ,,The Black Rider", ,,Jekyll & Hyde", ,,Sweeney Todd".
9. Tanz-Musicals
Im Vordergrund der Tanz-Musicals steht klarerweise der Tanz. In den älteren Stü-
cken wie ,,42nd Street", das nach dem legendären Film-Musical von 1933 mit zusätz-
lichen Liedern ausgestattet 1980 auf die Bühne kam, spielt der Stepptanz eine große
Rolle. Bei ,,Saturday Night Fever" ordnet sich die belanglose Story den bekannten
Hits der Bee Gees und einer modernen Disco-Tanz-Choreographie unter.
Bedeutende Tanz-Musicals sind ,,Cats", ,,Chicago", ,,A Chorus Line", ,,Grease".
10. Intellektuelle, innovative Werke
Abseits der unzähligen Herz-Schmerz-Stories ist vor allem der Komponist Stephen
Sondheim für seine thematisch und musikalisch außergewöhnlichen Stücke bekannt.
So stellt z. B. ,,Assassins" in sarkastischer Weise neun Menschen vor, die durch
Attentate auf US-Präsidenten wenig schmeichelhafte Popularität erlangten, während
in ,,Into the Woods" Grimms Märchenfiguren als skurrile Helden inhaltlich mitein-
ander verknüpft sind.
Zu dieser Kategorie zählen ,,The Black Rider", ,,Linie 1", ,,Passion", ,,The Secret
Garden".

10
11. Optisch / technisch aufwändige Shows
Egal ob man es Event, Show oder ganz deutsch Ereignis nennt: Mit den Musicals
von Andrew Lloyd Webber begann eine neue Zeitrechnung der optischen Umset-
zung von Bühnenstücken. Während der Webber/Rice-Erstling ,,Joseph" (1968) noch
als Schüleraufführung inszeniert wurde, waren ,,Jesus Christ Superstar" (1971) und
,,Evita" (1978) Probeläufe für den ganz großen Wurf: ,,Cats" startete seine weltweite
Erfolgsgeschichte 1981 im Londoner West End und brach alle bis dahin aufgestellten
Ausstattungsrekorde. Eine überdimensionale Müllhalde wurde von Darstellern in
Katzenkostümen bevölkert. ,,[...] what Lloyd Webber proved was the existence of a
deep-seated desire to be transported into another realm, where emotions are spun
out in music, words, and movement amid wondrous decor."
13
Oder wie Hubert
Wildbihler es ausdrückt: ,,Die neusten Produkte totalen Theaters [...] zielen mit ihren
suggestiven optischen und akustischen Wirkungen mitten ins Herz eines aufnahme-
bereiten Publikums."
14
Hinzuzufügen ist, dass sich seit einigen Jahren zeigt, dass viele bisher aufwändig
produzierte Stücke auch in kleinerer Umsetzung funktionieren.
15
Große Ausstattungsstücke sind ,,Die Schöne und das Biest", ,,Elisabeth", ,,Jekyll &
Hyde", ,,Les Misérables", ,,Das Phantom der Oper", ,,Starlight Express".
12. Partituren mit klassischer amerikanischer Show Music
Trotz ihres landestypischen Musikstils feierten Stücke wie ,,Annie get your Gun",
,,Fiddler on the Roof", ,,42nd Street", ,,Man of La Mancha", ,,Oklahoma!" oder
,,Show Boat" auch in Europa große Erfolge.
13. Partituren mit klassischer britischer Show Music
Typisch britische Stücke kamen auf dem europäischen Festland stets besser an als in
Übersee. Dazu gehören ,,By Jeeves", ,,Me and my Girl", ,,Oliver".
14. Partituren im Stil der europäischen Operette
Die Operette hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des amerikanischen Musicals
und ihr musikalischer und dramaturgischer Stil wird auch heute noch gerne verwen-
13
H. Alpert: ,,Broadway ­ 125 years of musical theatre", New York 1991, S. 243.
14
H. Wildbihler, a. a. O., S. 8.
15
Siehe Seite 16f.

11
det, z. B. bei ,,Die Schöne und das Biest". Verwandte der Operette sind auch ,,The
King and I", ,,My Fair Lady", ,,The Sound of Music".
15. Pop-Musik-Partituren
Nicht selten fanden Songs aus den Pop-Musicals ihren Weg in die europäischen
Hitparaden. ,,Memories" aus ,,Cats" oder die Bee-Gees-Songs aus ,,Saturday Night
Fever" sind auch Nicht-Musical-Kennern ein Begriff. Pop-Partituren liegen bei-
spielsweise ,,Blondel", ,,Buddy", ,,Grease", ,,Starlight Express" oder ,,Whistle down
the Wind" zu Grunde.
Durchkomponierte Pop-Opern
Die Annäherung von Oper und Musical begann schon 1935 mit George Gershwins
,,Porgy and Bess".
,,In kommerziell äußerst erfolgreicher Form manifestiert sich die Synthese
klassischer Stilistik mit ihren Arien und Rezitativen und den Klangfarben der
Pop-und-Rock-Musik in den durchkomponierten Pop-Opern der Gegenwart
aus der Feder des Briten Andrew Lloyd-Webber [...] oder des Franzosen
Claude-Michel Schönberg [...]."
16
Weitere Stücke sind ,,Aspects of Love", ,,Elisabeth", ,,Jekyll & Hyde", ,,Les Misé-
rables", ,,Miss Saigon", ,,Das Phantom der Oper", ,,Sunset Boulevard".
16. Rock-Opern
Die Hippies und ihre Musik fanden 1968 in ,,Hair" ihren Weg auf die Bühne. Erst
mit Webbers ,,Jesus Christ Superstar" und ,,Evita" wurde die härtere Gangart der
Rockmusik ins Musical aufgenommen, blieb jedoch eine Ausnahmeerscheinung. Die
Rockgruppe ,,The Who" lieferte 1993 mit dem blinden Flipper-Automaten-Spieler
,,Tommy" ein Erfolgsstück ab. Zum letzten Mal wurde es 1996 mit ,,Rent" von
Jonathan Larson richtig heavy im Theater.
17. Opernhafte Partituren
Wenn sich Opernhäuser an Musicals vergreifen, dann gerne bei Stücken wie Leonard
Bernsteins ,,Candide" (1956) oder Stephen Sondheims ,,Sweeney Todd" (1979). Die
Besetzung mit Opersängern lässt jedoch schnell das große Problem solcher Inszenie-
16
H. Wildbihler, a. a. O., S. 13.

12
rungen erkennen: Das Schauspiel kommt zu kurz, was den inhaltlich kuriosen oder
tragischen Stücken ihre Ausstrahlung nimmt.
Opernhaft sind auch Stücke wie ,,Into the Woods", ,,Passion", ,,The Secret Garden",
,,Sunday in the Park with George".
18. Melodramatisch-romantische Partituren
Kann sowohl in die opernhafte Richtung gehen als auch Pop- und Bigband-Sounds
beinhalten.
Folgende Musicals zählen dazu: ,,Brigadoon", ,,Carousel", ,,Martin Guerre", ,,Das
Phantom der Oper", ,,The Sound of Music", ,,Sunset Boulevard".
19. Jazz- & Swing-beeinflusste Partituren
Gibt es seit Anfang der 20er Jahre, als Broadway-Komponisten neue und aktuelle
Musikströmungen wie den Jazz in ihre Werke aufnahmen.
Vertreter dieser Kategorie sind z B. ,,Ain't misbehavin'", ,,City of Angels", ,,Five
Guys named Moe", ,,Sweet Charity".
20. Partituren mit Country Music
In Europa weniger gespielte Stücke wie ,,Big River" oder ,,The best little Whore-
house in Texas" bedienen sich der Klänge der nordamerikanischen Nationalmusik.
Da seit der Veröffentlichung von Hubert Wildbihlers Kursbuch mehr als drei Jahre
vergangen sind (und nur Premieren bis 1998 beinhaltet), bin ich der Meinung, dass
diesen Kategorien weitere hinzugefügt werden müssen. Die Begriffe sind von mir
definiert und treffen die Machart der Stücke.
21. Hitparade-Partituren
,,Durch das Plündern der Tresorkammern der Popgeschichte sind schon einige
Musicals entstanden."
17
Ein wahrer Boom setzte 1999 mit ,,Mamma Mia!" ein, für
das bekannte Hits der schwedischen Popgruppe ABBA recycelt wurden. Die Kunst
liegt darin, die Inhalte der Songs mit Dialogen so zu verbinden, dass sie die Ge-
schichte vorantreiben.
Während ,,Mamma Mia!" und ,,Closer to Heaven" (mit Musik der Pet Shop Boys)
lediglich die Musik, aber nicht die Lebensgeschichte der Popstars inszenierte, konnte
17
J. M. Snelson: ,,We will rock you", in: Musicals 96/2002, S. 8.

13
man 2002 mit ,,Taboo" tatsächlich die Erlebnisse von Boy George, dem ehemaligen
Lead-Sänger von Culture Club und bunten Vogel der 80er Jahre, auf der Bühne
sehen und hören.
Diese Art des Musicals blieb bisher ein europäisches Phänomen, lediglich ,,Mamma
Mia!" schaffte den Sprung an den Broadway.
In diese Kategorie gehören auch Musicals wie ,,F@lco ­ A Cyber Show", ,,Miami
Nights" (Latino-Hits), ,,We will rock you" (Hits von The Queen), ,,Wind of Change"
(Hits von The Scorpions, UA 2003 geplant in Berlin).
22. Vom Kino ins Theater
Was schon mit Stücken wie ,,42nd Street" (Film 1933, Bühne 1980) oder ,,Fame"
(Film + Fernsehserie 1980, Bühne 1988) gelang, setzte Disney in Perfektion um.
Dem Trickfilm ,,Beauty and the Beast" (1991, Musik Alan Menken) folgte 1994 die
Bühnenversion. Beinahe 1:1 wurden Kostüme und Bühnenbild aus der gezeichneten
Vorlage übernommen. Entflammbare Kerzenleuchter, wandelnde Standuhren und
eine magische Verwandlung von Biest in Prinz verzauberten lange Jahre das Publi-
kum in aller Welt.
1999 folgte drei Jahre nach der Zeichentrick-Version in Berlin die Welturaufführung
von ,,Der Glöckner von Notre Dame", die bisher jedoch keine internationale Wie-
deraufnahme erreichte.
2000 eroberte ,,The Lion King" (Kinopremiere 1994) den Broadway in einer bis
dahin nie gesehenen Mischung aus Puppenspiel, Comic-Strip und Ethno-Pop (Musik
unter anderem von Elton John, Texte Tim Rice).
Den Weg in die umgekehrte Richtungen gingen die Produzenten von ,,Evita", das
mit Madonna in der Titelrolle und Antonio Banderas als Che erfolgreich in die Kinos
kam und für den neu komponierten Song ,,You must love me" 1997 mit einem
Oscar ausgezeichnet wurde. Noch weitaus erfolgreicher ist die aktuellste Musical-
Verfilmung aus dem Jahr 2003: ,,Chicago" mit Renée Zellweger, Catherine Zeta-
Jones und Richard Gere erhielt drei Golden Globes und wurde für 13 Oscars nomi-
niert (Stand Februar 2003).
23. Drama Musical
Drama Musicals nennt Michael Kunze die von ihm geschriebenen Stücke. Während
die bisher genannten Kategorien die Werke nach Eigenheiten der Partitur, den

14
Inhalten oder inszenatorischem Aufwand einordnen, geht es beim Drama Musical
um die Machart. ,,Ich arbeite seit über zehn Jahren mit diesem Modell, was ich mir
selbst geschaffen habe."
18
Kunze geht es um die Architektur des Musicals, die eher einem Hollywood-Film
ähnelt als einem klassischen Drama. Äußerlich sind die Stücke Zweiakter, getrennt
durch eine Pause. Innerlich haben sie aber einen dreiaktigen Aufbau mit Exposition,
Konfrontation und Resolution. ,,Die Konfrontation wiederum ist in zwei Sequenzen
unterteilt. Vor der Pause ist bei mir der so genannte ,Punkt ohne Umkehr', in dem
die Geschichte unumkehrbar wird. Dann gibt es zum Beispiel im ersten Drittel der
Resolution den Höhepunkt, und die Krise, und danach gibt es die Realisierung."
19
Was mir jedoch an der Arbeit von Kunze als Besonderheit auffällt ist, dass sich hier
ein Autor einen passenden Komponisten für seine Werke sucht. Dreimal war es
Sylvester Levay (,,Hexen Hexen", ,,Elisabeth", ,,Mozart!". Mit ,,Rebecca" ist ein
viertes Stück in Planung), einmal Jim Steinman (,,Tanz der Vampire").
Im modernen Musical stehen üblicherweise die Komponisten an vorderster Front
(sowohl vom Bekanntheitsgrad her, als auch beim Nennen der Namen in Pro-
grammheften etc.). Andrew Lloyd Webber hatte seine Anfangserfolge zusammen mit
dem Texter Tim Rice (,,Joseph and the amazing technicolor dreamcoat", ,,Jesus
Christ Superstar", ,,Evita"), aber wer kennt die Librettisten z. B. von ,,Cats", ,,Das
Phantom der Oper" oder ,,Sunset Boulevard"? Die Franzosen Claude-Michel
Schönberg und Alain Boublil (,,La Révolution Francaise", ,,Les Misérables", ,,Miss
Saigon", ,,Martin Guerre") sind ein ähnlich erfolgreiches Team wie Webber/Rice
und Levay/Kunze. Und aus der Zeit des klassischen Musicals kennt man Jerome
Kerns ,,Show Boat" (Buch und Songtexte Oscar Hammerstein) oder Frederick
Loewes ,,My Fair Lady" (nach George Bernard Shaws ,,Pygmalion" mit Texten von
Alan Jay Lerner) ­ die Texter werden stets an zweiter Stelle genannt.
Ein Grund für die ­ zumindest nach außen hin ­ vorrangige Stellung des Autors
Kunze vor dem Komponisten Levay liegt sicher in der größeren Bekanntheit von
Michael Kunze in Deutschland.
20
Allerdings ist es tatsächlich so, dass die Anregun-
18
A. Reinhardt im Gespräch mit Michael Kunze, in: Musicals 88/2001, S. 21.
19
Ebenda, S. 22.
20
Siehe Kapitel 2.1.

15
gen zu einem Stück und die Suche nach einem Stoff von der Seite des Autors und
Texters kommen und mit dem Komponisten weiterentwickelt werden.
,,Das ist der Idealfall einer Zusammenarbeit. Wir sitzen wirklich zusammen
und schreiben zusammen. Die meisten Komponisten sind dazu nicht bereit,
weil sie Hemmungen haben."
21
1.2 Das Musical ­ ungeliebtes Stiefkind der Theaterfamilie
Wenn wir von der ,,Dreigroschenoper" (die Brecht selbst nicht in der populären
Kategorie Musical hätte eingeordnet sehen mögen), und dem wenig gespielten ,,Lady
in the Dark" (deutscher Titel ,,Das verlorene Lied", von Hart/Ira Gershwin/Weill,
erstaufgeführt am 24. 5. 1951 in Kassel) absehen, so hob sich der Vorhang für das
erste ,,richtige" Musical in Deutschland mit der Erstaufführung von ,,Kiss me Kate"
(19. 11. 1955 in Frankfurt/Main). Ein erster Boom setzte jedoch erst sechs Jahre
später mit der Berliner Fassung von ,,My Fair Lady" (25. 10. 1961) ein. Im Vergleich
dazu Wien: ,,Annie get your gun" (27. 2. 1957), ,,The Fantasticks" (,,Die Roman-
ticker", 1. 12. 1965), ,,Man of la Mancha" (4. 1. 1968), ,,West Side Story" (25. 2.
1968).
Seit knapp 50 Jahren ist das Genre Musical also auf deutschsprachigen Bühnen
erfolgreich. Und trotzdem gehört es zur umstrittensten Sparte im Bereich Theater,
speziell im Musiktheater.
,,Theaterkritiker wenden sich oft nachsichtig bis arrogant von ihm ab",
22
und wäh-
rend man sich in Deutschland seit dem zweiten großen Boom Anfang der 90er Jahre
ans Musical gewöhnt beziehungsweise als Kritiker größtenteils gelernt hat, damit
umzugehen, hat jede Musicalaufführung in Österreichs Hauptstadt einen zeilenstar-
ken Protestschrei der Presse zur Folge.
23
21
T. Zarges im Gespräch mit Michael Kunze, in: Musicals 79/1999, S. 15.
22
C. Richard: ,,Musicals: die neue Hybridkultur", in: Die Deutsche Bühne 7/1994, S. 18.
23
Siehe ausführlich Kapitel 3.5 und 5.

16
Auch auf wissenschaftlicher Basis ist der Anteil der Veröffentlichungen und Lehrver-
anstaltungen verschwindend gering. Während meines Studiums am Institut für
Theater-, Film- und Medienwissenschaft von Sommersemester 2000 bis Winterse-
mester 2002/03 standen lediglich zwei Lehrveranstaltungen zum Thema Musical auf
dem Programm: Filmmusicals (von Antonia Lant, New York University, behandelte
den Beginn der Tonfilmära) und Bühnenbild im Musical (von Hans Schavernoch, der
seine Produktionen ,,Freudiana", ,,Elisabeth" und ,,Mozart!" vorstellte). In der
Universitäts-Bibliothek Wien befinden sich acht Diplomarbeiten und eine Dissertati-
on zum Thema (von Beleuchtungstechnik über Öffentlichkeits-arbeit bis zur Musi-
calhistorie der Wiener Theater).
Ich werde deshalb in den nächsten Kapiteln versuchen, den Gründen der Skepsis
gegenüber dem Stiefkind des Musiktheaters und den dagegen vorgebrachten Argu-
menten auf den Grund zu gehen und sie zu widerlegen.
Folgende Vorurteile werden immer wieder gegen das Musical vorgebracht: Es ist
anspruchslos und deshalb keine Kunst. Musicalsänger tragen Mikrophone, weil sie
nicht singen können. Musicals sind kommerziell, wozu also Subventionen? Musical
nimmt den Sprechtheater- und Musiktheaterbühnen das Publikum weg.
Adrienne Goehler, Präsidentin der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg,
schrieb 2001 in einem Artikel über die Hamburger Theaterszene:
,,Ich habe gern etwas Weh im Kopf, im Herzen oder im Magen, also irgend-
etwas, was mich auch nach dem Theaterbesuch noch beschäftigt ­ und so er-
ging es mir weder bei ,,Cats" noch beim ,,Phantom der Oper" noch bei
,,Buddy". Zu sehr müssen die künstlerischen Eigenheiten eines Ensembles
am jeweiligen Ort hinter dem Wiedererkennungs-Zwang des globalen Mar-
kenartikels zurückstehen. Wie Campbell-Soup sollen alle Musicals gleich
schmecken, weltweit zuverlässig wiederholbar sein. Und das ist nun mal nicht
das Feld der Kunst."
24
Dazu ist zu sagen: Wer sich ein Musical anschaut und anhört, muss sich darauf
einlassen; alles annehmen, was passiert; mal mehr, mal weniger erwarten. Musical ist
nicht gleich Musical und ,,Cats" nicht vergleichbar mit dem ,,Phantom der Oper",
24
A. Goehler: ,,Power und Puderzucker", in: GEO Special Hamburg, 3/2001, S. 104.

17
schon eher mit ,,Starlight Express". Die optischen Empfindungen stehen hier ganz
klar im Vordergrund. Bei der Uraufführung von ,,Cats" 1981 in London war es etwas
sensationell neues, Menschen in Katzen verwandelt zu sehen, ebenso drei Jahre
später bei ,,Starlight Express", als Rollschuh laufende Darsteller Lokomotiven spiel-
ten.
Während im Bereich des Sprechtheaters die unterschiedlichen Formen und verschie-
denen Werke von Molière über Ibsen bis hin zu zeitgenössischen Stücken akzeptiert
sind und ihr spezielles Publikum finden, wird zwischen den unter-schiedlichen
Musicalformen nicht genauer differenziert.
Ein Stück wie das ,,Phantom der Oper", mit seinen Anklängen an die romantische
Oper,
25
ist eine völlig andere Kategorie als zum Beispiel das Tanzstück ,,Saturday
Night Fever" oder das folkloristische Drama ,,Fiddler on the Roof" (,,Anatevka").
Sicher ist es eine der vielen Schöne-und-das-Biest-Varianten (vergleiche auch ,,Der
Glöckner von Notre Dame", ,,Die Schöne und das Biest", ,,Tanz der Vampire"),
doch das hat weder der Literatur noch der Oper je geschadet. Wer hier nicht eini-
germaßen berührt aus dem Theater tritt, hat die Geschichte nicht verstanden oder
verstehen wollen.
Hier liegt meiner Meinung nach auch das größte Problem, warum in der Kunst- und
Theaterszene so vehement gegen das Musical agiert wird: Viele gehen von vornher-
ein mit der Meinung: ,,Das gefällt mir nicht" in die Vorstellung.
Als die Musical-Darstellerin Maya Hakvoort auf die oft geringe Wertschätzung ihres
Berufes innerhalb der Theaterbranche angesprochen wurde, sagte sie:
,,Ich kann die vorgefassten Meinungen nicht nachvollziehen. Vor einiger Zeit
führte ich ein Gespräch mit einem Schauspieler, der mir gestand, dass er Mu-
sicals überhaupt nicht möge. Auf meine Frage, welche Produktionen er schon
besucht hätte, wußte er nicht viel zu antworten und bemerkte irgendwann, er
habe bisher eigentlich nur Cats gesehen, das ganz nett gewesen sei, aber halt
nicht seinem Geschmack entsprach."
26
25
Vgl. R. Bering, a. a. O., S. 159.
26
A. Luketa: ,,Maya Hakvoort ­ Die Kaiserin des Musicals", in: Musical-Jahrbuch 2000, Essen 1999,
S. 162.

18
Zudem fehlen vielen älteren Presse-Kritikern die Kenntnisse, Musical auch wirklich
gerecht beurteilen zu können, zu lange waren sie nur für Oper- oder Operetten-
Berichterstattung eingesetzt worden ­ was sich am Beispiel Wien deutlich zeigt, wo
es lange Zeit nichts anderes gab, man die Inszenierungen im Theater an der Wien
unter der Leitung von Rolf Kutschera duldete, nach Peter Wecks ,,Cats"-Sensation
aber anfing, die Klingen zu wetzen gegen den Kassenerfolg (siehe auch Kapitel 5).
Eike Gramss, zum Zeitpunkt der Aussage Intendant des Stadttheaters Bern, schreibt
in einem Artikel zum Schweizer Musical-Boom:
,,Es geht darum, die Intoleranz, Häme, Humorlosigkeit und Genuss-
Unfähigkeit, das nicht vorhandene Verhältnis zum Begriff Entertainment vie-
ler unserer theatralischen Betroffenheits-Routiniers und Welterklärer festzu-
halten."
27
Zum Vorwurf der Gleichheit und Wiederholbarkeit in aller Welt ist zu sagen, dass
erst seit Anfang der 80er Jahre durch die Produktionsfirmen von Cameron Mackin-
tosh und der Really Useful Group (also seit den Stücken von Andrew Lloyd Webber,
Claude-Michel Schönberg / Alain Boublil und ,,A Chorus Line" von Marvin Hamlish
/ Edward Kleban / Michael Bennett) eine Musicalinszenierung der genannten Teams
wie ein Ei dem anderen gleicht. In Wien ging man mit ,,Elisabeth" und ,,Mozart!"
andere Wege (siehe Kapitel 4.1).
Seit 2001 haben zumindest die Franzosen Schönberg / Boublil erkannt, dass dies
nicht der endgültige Weg für ihre Stücke ist. So läuft beispielsweise seit der Spielzeit
2000/2001 eine künstlerisch völlig freie Inszenierung von ,,Les Misérables" im
Repertoire des Opernhauses in Bonn ­ 16 Jahre nach der Londoner Premiere und
obwohl das Stück immer noch in aller Welt in der Originalfassung zu sehen ist.
Eine Inszenierung von ,,Miss Saigon" folgte 2003 in St. Gallen.
Andrew Lloyd Webber hält noch an den Rechten seiner großen Erfolge fest, ließ
aber 1997 in der Staatsoperette Dresden eine Inszenierung von ,,Aspects of Love"
zu, auch ,,Evita" und ,,Jesus Christ Superstar" sind für Repertoiretheater spielbar.
Die schwache Stellung des Musicals innerhalb der großen Theaterfamilie zeigt sich
auch im Vergleich der wichtigsten Theaterpreise im deutschsprachigen bzw. engli-
schen Sprachraum: Beim Wiener Nestroy-Preis sind nur Sprechtheater-produktionen
27
E. Gramss: ,,Is it a good show or not?", in: Musik & Theater 10/1995, S. 20.

19
nominiert. Beim französischen ,,Bruder" Molière gibt es dagegen auch Kategorien
für ,,bestes Musical" und ,,beste Darsteller". So erhielt z. B. die Deutsche Ute Lem-
per für ihre Rolle der Sally Bowles in ,,Cabaret" 1986 den Preis als beste Hauptdar-
stellerin.
Vollkommen anerkannt ist das Musical im englischsprachigen Ausland: Die Tony-
Awards werden seit 1947 in New York für beste Leistungen im Bereich Darstellung,
Buch, Komposition, Regie, Choreographie, Kostüm, Lichtdesign etc. von Theater-
leuten und Kritikern verliehen ­ in Musical- und Schauspielproduktionen!
28
Denn
was wäre der Broadway ohne seine Musicals.
Auch das Londoner Pendant, der Laurence-Olivier-Award, geht alljährlich an ausge-
wählte Produktionen aus Schauspiel und Musical.
Der Streit darum, was Kunst ist und was nicht, trifft immer auch das Musical. Micha-
el Kunze sagte dazu in einem Interview:
,,Wir haben in Deutschland diese dumme Diskussion, ob Musical ein weniger
künstlerisches Genre ist als Oper oder Operette, was deshalb unsinnig ist, weil
ein Genre an sich weder künstlerisch wertvoll noch künstlerisch schlecht ist: es
kommt immer darauf an, was man macht und wer es macht."
29
Der Opernregisseur Harry Kupfer zeigt keine Berührungsängste mit diesem Genre:
,,Diese Trennung [zwischen U- und E-Musik, Anm. d. Verf.] gibt es doch ei-
gentlich nur noch bei Dummköpfen. Es ist in jedem Falle so, das eine kann
Kunst sein und das andere kann keine Kunst sein. Das macht doch vor den
Genres keinen Halt, sondern es ist doch nur die Frage, wie niveauvoll und
mit welchem Können wird das gemacht."
30
Die Diskussion um Kunst oder nicht Kunst hängt eng zusammen mit der Frage,
brauchen Musicals Subventionen und dürfen sie sie überhaupt bekommen? Ist es
gerecht, ein Medium, das der Unterhaltung dient, zu fördern, während andere leer
ausgehen (z. B. die Kinos)? Nun ist es in Deutschland so, dass die großen Musical-
28
Vgl. C. B. Axton / O. Zehnder,: ,,Reclams Musicalführer", Stuttgart 1989 (8., durchgesehene und
erweiterte Auflage 2002), S. 9f.
29
A. Reinhardt im Gespräch mit Michael Kunze, in: Musicals 67/1997, S. 19.
30
Harry Kupfer in ,,Kulturjournal", ORF 2, Präsentation des neuen Musicals ,,Elisabeth" in der
Hofburg, 2.3.1992.

20
theater reine Privattheater sind, die in den Händen von zwei großen Produzenten
liegen. Dem ­ nach Übernahme der insolventen Stella AG 2002 ­ Marktführer
Stageholding
31
sowie das Düsseldorfer Produzententeam Thomas Krauth und And-
rea Friedrichs.
32
Neben diesen nicht-subventionierten Häusern hat das Musical aber auch einen festen
Platz in den deutschen Stadttheatern gefunden. Und die könnten ohne Subventionen
nicht leben. In vielen Häusern ist es so, dass ein volles Haus bei Musicalinszenierun-
gen ein geringeres Interesse für Sprechtheateraufführungen wieder ausgleicht.
Und nicht überall werden Subventionsgelder und Gelder von privaten Sponsoren
streng getrennt:
,,Auch abgebrühte Gemeinderäte horchen auf, wenn Kunst Kasse macht.
Den Hotels und Geschäften in Hamburg sollen allein 1987 durch Musical-
Besucher rund 43 Millionen Mark zugeflossen sein. Gern hilft da der Kultur-
senat den privaten Musical-Unternehmen mit ein paar Millionen aus. Öffent-
liche und private Gelder verschmelzen im Bereich Musical wie kommerzielle
und künstlerische Interessen. Das subventionierte Thalia-Theater finanzierte
1990 das vier Millionen teure Musical ,,The Black Rider" nicht nur durch
städtische Gelder, sondern mit Hilfe privater Kommanditisten."
33
In Wien sind die drei zu den Vereinigten Bühnen Wien gehörenden Häuser Theater
an der Wien, Raimundtheater und Ronacher subventioniert. Und sie werden das auch
trotz voller Häuser bleiben müssen. Peter Weck sagte nach seinem Ausscheiden als
Intendant der Vereinigten Bühnen, die er von 1982 bis 1992 geleitet hatte:
31
Unter der Leitung des holländischen Entertainment-Moguls Joop van den Ende, ehemals Teilhaber
der Endemol-TV-Produktionsgesellschaft; mit je zwei Theatern in Stuttgart und Berlin, drei in
Hamburg und einem in Essen.
32
Zusammen mit Michael Brenner von der Konzertagentur BB Promotions betreiben sie den Musi-
caldome in Köln, das Capitol-Theater in Düsseldorf und das 2002 von Stella übernommene Starlight-
Theater in Bochum.
Ein weiteres großes Haus, das en suite bespielt wird, steht in Füssen, in Sichtweite von Schloss
Neuschwanstein, direkt am Forggensee: Dort läuft seit April 2000 das Musical über den bayrischen
Märchenkönig ,,Ludwig II. ­ Sehnsucht nach dem Paradies".
33
C. Richard, a. a. O., S. 20.

21
,,Es krankt an der Struktur. Mit einem subventionierten Haus aus den roten
Zahlen zu kommen, ist schon durch das soziale Netz praktisch unmöglich.
Selbst wenn man eine ganze Saison lang nur Leseabende macht."
34
Den besonderen Angriffen, denen das Theater an der Wien in den vergangenen 20
Jahren ausgesetzt war, bis hin zur 2001 losgetretenen Diskussion, ob das Haus
wieder eine reine Opernbühne werden soll, werde ich mich in Kapitel 5 gesondert
widmen.
Ein letzter Vorwurf, den sich Musicalsänger des öfteren gefallen lassen müssen, lässt
sich schnell entkräften: Die Stücke sind nicht akustisch verstärkt, weil die Leute nicht
laut oder gut genug singen können, sondern weil die Tontechnik ein eigenes Gestal-
tungselement ist und zum Musical gehört wie Licht, Bühne, Maske und Kostüme.
Außerdem ist es wichtig, den Text zu verstehen. Denn der Musical-besucher hat
nicht die Möglichkeit, das Libretto vor oder während der Aufführung zu lesen (wie
es für Opernbesuche ratsam ist, auch gibt es keine Textlaufbänder). Er ist also darauf
angewiesen, dass die Leute deutlich sprechen und singen und auch zu verstehen sind,
wenn sie aus dramaturgisch wichtigen Gründen beispielsweise mit dem Rücken zum
Publikum stehen. Auf ausdrucksstarkes Schauspiel wird genauso Wert gelegt wie auf
den Gesang bzw. Tanz.
Dazu kommt, dass Musicalsänger eine andere Stimmausbildung als Opernsänger
haben und auch darauf trainiert sind, in acht Vorstellungen pro Woche, an manchen
Tagen zweimal hintereinander, auf der Bühne zu stehen.
34
G. Kindel: ,,Die Attacken des Impressario", in: News 33/1995, S. 151.

23
2 Aus der ,,Schwarzen Möwe" wird ,,Elisabeth"
Die beiden wichtigsten Personen für ein Musical sind anfangs der Komponist,
Buchautor und Librettist. Erst in der Endphase kommen der Produzent / Verant-
wortliche des Theaters und das Creative Team hinzu. ,,Elisabeths" Entwicklung ist
keineswegs direkt mit dem Theater an der Wien verbunden, in dem es von 1992 bis
1998 riesige Erfolge feierte. Im Gegenteil: Ein kleines Stadttheater in Deutschlands
Süden spielte eine wichtige Rolle auf dem Weg zum Welterfolg.
2.1 Der Autor Michael Kunze
Der 1943 in Prag geborene Michael Kunze machte sich in Deutschland in den 70er
Jahren einen Namen als Texter für Schlager. So schrieb er z. B. die Udo-Jürgens-Hits
,,Griechischer Wein" und ,,Ein ehrenwertes Haus". Er produzierte auch internationa-
le Stars wie Julio Iglesias und Gilbert Becaud und landete mit Silver Convention den
Hit ,,Fly Robin Fly", für den er 1975 ­ zusammen mit Sylvester Levay ­ einen
Grammy
35
in den USA bekam.
,,In den 80er Jahren brachten die deutschen Adaptionen der Werke von And-
rew Lloyd Webber und Stephen Sondheim, die wie Originale klingen, dem
zeitgenössischen, angloamerikanischen Musical erst den Durchbruch auf dem
deutschsprachigen Markt."
36
Zu seinen Übersetzungen gehören die deutschen Fassungen von: ,,Evita", ,,Cats", ,,A
Chorus Line", ,,Das Phantom der Oper", ,,Der Kleine Horrorladen", ,,Into the
Woods", ,,Kuss der Spinnenfrau", ,,Sunset Boulevard", ,,Der Glöckner von Notre
Dame", ,,Der König der Löwen" und als neustes Stück ,,Mamma Mia!" (ABBA-
Songs erstmals auf deutsch).
Kunze ist promovierter Jurist und Historiker (,,Straße ins Feuer" 1982, ,,Der Freiheit
eine Gasse" 1990). In Zusammenarbeit mit Sylvester Levay entstanden neben ,,Eli-
sabeth" die Musicals ,,Hexen Hexen" (Heilbronn 1991) und ,,Mozart!" (Wien 1999).
Ein Stück auf Grundlage des Romans von Daphne du Mauriers ,,Rebecca" ist in
35
Bedeutendster Musikpreis der USA.
36
Programmheft ,,10th Anniversary Concert Elisabeth", Wien 2002 [ohne Seite].

24
Arbeit. Außerdem schrieb er, basierend auf dem bekannten Kinofilm, zusammen mit
dem Komponisten Jim Steinman ,,Tanz der Vampire", das unter der Regie von
Roman Polanski 1997 im Raimundtheater Premiere hatte und am 9. Dezember 2002
den Sprung an den Broadway in New York schaffte. ,,Eine kontinental-europäische
Produktion am Broadway ­ das ist schon eine Sensation."
37
Was vor der Premiere in
Deutschland und Österreich als großer Erfolg angesehen wurde, fiel nach miserablen
Kritiken der amerikanischen Presse auch bei den Zuschauern durch und schloss nach
sechs Wochen Spielzeit am 25. Januar 2003 mit einem geschätzten Verlust von 7 bis
12 Millionen Dollar bereits wieder seine Pforten.
38
Die Bemühungen, das in Europa
entstandene Musical zu amerikanisieren (sowohl durch szenische und musikalische
Änderungen als auch mit einem High-Tec-Bühnenbild) war ein Schritt in die falsche
Richtung gewesen. Noch dazu haben es am Broadway Stücke von europäischen
Autoren / Komponisten (Webber und Schönberg ausgenommen) grundsätzlich
schwer.
39
2.2 Der Komponist Sylvester Levay
Sylvester Levay ist gebürtiger Ungar (1945) und lebte lange Zeit in Deutschland und
Hollywood. Als Komponist und Arrangeur arbeitete er in den 60ern und 70ern mit
vielen Orchestern in Europa zusammen und schrieb Songs z. B. für Gitte Haenning,
Katja Ebstein und Udo Jürgens.
Für ,,Fly Robin Fly" wurde er zusammen mit Michael Kunze mit dem Grammy
ausgezeichnet. Außerdem stammen die Disco-Hits ,,Lady Bump" und ,,Get Up and
Boogie" von ihm. Auch Elton John und Donna Summer gehörten zu den von ihm
produzierten Künstlern.
1980 verlegte Levay seinen Wohnsitz nach Amerika und arbeitete hauptsächlich als
Komponist von Filmmusik ­ über 100 amerikanische Spielfilm- und Fernsehproduk-
37
Gerhard Knopf, Chefredakteur der Zeitschrift Musicals, in: C. Hirschmann: ,,Musical Awards 2002:
Erfolg für Jekyll & Hyde", in: Bühne 12/2002, S. 41.
38
Vgl. URL http://www.theatrenow.com/asp/link.htm?news.asp?art=4503&cat=2 [23.1.2003];
M. Tüpker: ,,Das Aus für die Vampire und Romeo & Juliet", in: URL http://www.muscialnews.
soundofmusic.de [15.1.2003]; diverse Berichte in: Musicals 99/2003, S. 8ff.
39
Vgl. die Misserfolge von ,,Carrie" und ,,Cyrano".

25
tionen entstanden bis Ende der 90er (z. B. ,,Hot Shots"). Im deutschsprachigen
Raum kennt man von ihm auch die Titelmelodie der ORF/RTL-Serie ,,Medicopter
117".
Für ,,Elisabeth" wurden Kunze und Levay 2002 sowohl mit der ,,Goldenen Euro-
pa"
40
als auch der ,,Goldenen Stimmgabel" ausgezeichnet.
Seine Kompositionen für ,,Elisabeth" umfassen eine große Bandbreite. Moderne
Pop- und Jazz-Elemente repräsentieren den Tod und Lucheni, Klassik-Anklänge
Elisabeth. Die Stile ergeben jedoch keinen Bruch, sondern sind in dem durch-
komponierten Werk
41
ineinander verwoben. Motive treten immer wieder auf, werden
variiert (Beispiele: ,,Die Schatten werden länger" beim Tod, Elisabeths ,,Ich gehör
nur mir" bei ihr selbst und Franz Joseph, ,,Der letzte Tanz" beim Tod und Rudolf)
und leiten das Publikum durch das Stück, ohne zu langweilen. ,,Es ist nicht Oper, das
weiß jeder, aber es ist die Oper der modernen Zeit."
42
Als ,,Zufall oder Schicksal" bezeichnet Levay die Tatsache, dass seine Ehefrau eine
Elisabeth-Spezialistin ist und mindestens drei Dutzend Bücher über Sisi besitzt.
43
Levay sieht in der Leidensgeschichte von Elisabeth eine Verbindung zu den Vorgän-
gen im britischen Königshaus:
,,Im Stück kann man den Schmerz der Frau spüren, man bekommt Stufe für
Stufe mit, wie sie zusammengedrückt wird. Heutzutage machen Fergie und
Lady Di ähnliches mit. Wenn man dieses Musical sieht, werden die Briten sie
besser verstehen."
44
Dass Diana fünf Jahre später einen ebenso sinnlosen Tod wie die österreichische
Kaiserin erleidet, konnte er damals noch nicht ahnen. Doch im Vergleich zu ,,Elisa-
beth" war der britischen Prinzessin kein Erfolg auf der Musicalbühne vergönnt. 2002
fiel für zwei verschiedene Produktionen schon kurz nach der Premiere der letzte
Vorhang.
40
1992 wurde bereits Peter Weck mit einer ,,Goldene Europa" ausgezeichnet.
41
Nahezu ohne gesprochene Textpassagen, lediglich Lucheni spricht in seinen Kommentaren das
Publikum direkt an.
42
Levay im Gespräch mit der Verfasserin vor der Premiere am 2.9.1992.
43
Ebenda.
44
Ebenda.

26
2.3 Die Zusammenarbeit Michael Kunzes mit dem Theater
Heilbronn
Wie bereits erwähnt, hatte sich Michael Kunze bis zur Uraufführung von ,,Elisabeth"
in Deutschland vor allem als Schlagertexter und Übersetzer einen Namen gemacht.
Neben der Arbeit für das Theater an der Wien (,,Evita" DsE 1981, ,,Cats" DsE 1983,
,,A Chorus Line" ÖE 1987, ,,Das Phantom der Oper" DsE 1988) war es vor allem
das städtische Theater in Heilbronn,
45
das die meisten Stücke aus der Feder von
Michael Kunze uraufführte. Das Theater (mit Großem Haus, Kammerspielen und
seit 2001 Komödienhaus) wurde 1982 eröffnet und hat seitdem einen ehrgeizigen,
streitbaren Intendanten: Klaus Wagner. Neben der Produktion von Klassikern in
neuem Gewand liegen ihm vor allem zeitgenössische Stücke (die deutsche Erstauf-
führung von Terrence McNallys ,,Corpus Christi" machte über die Grenzen
Deutschlands hinaus durch Demonstrationen und Bombendrohungen Schlagzeilen)
sowie Musicals am Herzen, von denen mindestens zwei pro Spielzeit aufgeführt
werden. Ein Blick auf den Spielplan zeigt die herausragende Stellung, die das relativ
kleine Theater unter Deutschlands Häusern einnimmt:
46
Uraufführungen: ,,Tschechow" 1989 (deutsche Fassung: Kunze), ,,Hexen Hexen"
1991 (Buch/Texte: Kunze, Musik: Levay), ,,Canterville" 1993, ,,Wuthering Heights"
1997, ,,Hänsel und Gretel" 1999, ,,Gefährliche Liebschaften" 1999, ,,Minna" 2000,
,,Mata Hari" 2001, ,,Bonnie & Clyde" 2001.
Deutsche Erstaufführungen: ,,Into the Woods" / ,,Ab in den Wald" 1990, ,,Dorian
Gray" 1992, ,,Assassins" /,,Attentäter" 1993, ,,Der Hund der Herr Bozzi hieß" 1994,
,,City of Angels" 1995 (deutsche Fassungen: alle Kunze), ,,Fracasse" 1996, ,,Stolz
und Vorurteil" 2000, ,,Jeeves" 2001.
Außerdem ist das Heilbronner Theater das Haus unter allen Theatern in der BRD,
das den größten Teil seiner Subventionen wieder einspielt.
47
45
Großstadt in Baden-Württemberg (110.000 Einwohner), 50 km nördlich von Stuttgart.
46
Vgl. A. Reinhardt im Gespräch mit Klaus Wagner, Musicals 93/2002, S. 18ff.
47
In der Spielzeit 2001/02 spielte das Theater Heilbronn 23,8 Prozent seiner Kosten wieder ein und
behält damit seine jahrelange finanzielle Spitzenposition. 1997/98 waren es noch 18 Prozent gewesen
(22,7 Mio Mark Gesamtausgaben, 4,1 Mio. Mark Eigeneinnahmen, 12,5 Mio. Mark Zuschüsse der
Stadt, 5,9 Mio. Mark Zuschüsse des Landes). Vgl. C. Ihlefeld: ,,Gewisse ,Strukturen des Erfolgs'",
Gespräch mit Verwaltungsdirektor Jürgen Frahm, in: Heilbronner Stimme, 5.6.2002 [ohne Seite]; und

27
Zu dem Produktionen, die das meiste Aufsehen erregten, zählten die Deutschland-
premieren der Stücke von Stephen Sondheim (,,Into the Woods", ,,Assassins") und
Andrew Lloyd Webber (,,Jeeves", Webbers erstem Flop aus dem Jahr 1973, nach
,,Joseph and the amazing technicolor dreamcoat" und ,,Jesus Christ Superstar"
48
).
Gespräche mit den Beteiligten (Kunze, Levay, Wagner) und Presseartikel dienen
meiner Arbeit als Grundlage. Und demnach ist die Entstehungsgeschichte beinahe so
abenteuerlich wie das Leben der Kaiserin Elisabeth.
Die Gespräche mit dem Autorenteam fanden im Theater an der Wien, einen Tag vor
der Premiere 1992 statt, das mit Klaus Wagner eine Woche später im Heilbronner
Theater. Peter Back-Vega, Dramaturg der Vereinigten Bühnen Wien, erklärte mir am
3. 4. 2002, wie ,,Elisabeth" ans Theater an der Wien kam.
Der Kontakt von Michael Kunze mit dem Heilbronner Theater kam ­ laut Aussage
von Klaus Wagner
49
­ bei einer ,,Sweet Charity"-Aufführung das erste Mal zu Stande.
[Anm. d. Verf.: Die Premiere fand am 30. 5. 1983 statt, an ein genaueres Datum
können sich Kunze und Wagner nicht erinnern].
Kunzes Interesse war groß: ,,Klaus Wagner ist einer der wenigen in Deutschland, die
für modernes Musiktheater eine Ader haben."
50
Auf der Zugfahrt nach Heilbronn las Kunze die Tagebuchaufzeichnungen von
Constantin Christomanos, Elisabeths griechischem Vorleser.
51
Christomanos berich-
tet in seinen Aufzeichnungen darüber, dass Elisabeth sich als schwarze Möwe in
einem Vogelschwarm bezeichnete, und damit als Symbol für den Untergang.
52
,,Vor 12 Jahren [also 1980, Anm. d. Verf.] hatte ich die Idee, ein Stück über den
Untergang des Hauses Habsburg zu schreiben. Eine Parabel über den Untergang der
Welt," so Kunze.
A. Sommer: ,,Der Spagat zwischen Kunst und Kosten", in: Heilbronner Stimme, 5.8.1999 [ohne
Seite].
48
Vgl. M. Walsh: ,,Andrew Lloyd Webber", Wien 1992, S. 78ff.
49
Vgl. B. Rommel (1): ,,Aus Heilbronns ,Schwarzer Möwe' wurde ,Elisabeth'", in: Heilbronner
Stimme, Wochen-Magazin-Beilage, 19.9.1992, S. 7, sowie eigene Interviewmitschrift.
50
Ebenda.
51
Vgl. Kapitel 2.4.2.
52
Genauer Textlaut siehe Kapitel 2.4.2.

28
Die ersten Arbeiten an ,,Elisabeth" gehen also bis 1980 zurück, und nicht, wie die
Fachzeitschrift Musicals vor der Premiere 1992 berichtete, ,,vor sechs Jahren",
53
also
1986. Diese Zeitangabe wurde möglicherweise von den Verantwortlichen gegenüber
der Presse kolportiert, um einen ungefähren Rahmen zu nennen und nicht ein Stück
ankündigen zu müssen, dessen Anfänge doppelt so lang zurückliegen.
Sylvester Levay sagte 1992, Kunze habe die Idee ,,vor acht Jahren" gehabt, also 1984,
und man habe ,,vor vier Jahren" intensiv angefangen, daran zu arbeiten.
Laut Peter Back-Vega gehen die Kontakte des Theaters an der Wien mit Michael
Kunze in die Intendantenzeit von Rolf Kutschera zurück, was ebenfalls auf Ende der
70er/Anfang der 80er hindeutet, da Kunze die deutsche Übersetzung für ,,Evita"
(DsE 20. 1. 1981) und ,,A Chorus Line" (ÖEA 16. 10. 1987) lieferte. Kutschera war
bis 1982 Intendant, danach folgte Peter Weck.
Diese Aussage deckt sich mit einem Absatz aus Attila E. Langs Werk ,,200 Jahre
Theater an der Wien", wo zu lesen ist: Kunze hatte schon mit ,,Kutschera über ein
,Mayerling'-Musical verhandelt."
54
Die erste Idee, Kronprinz Rudolf beziehungsweise Franz Joseph in den Mittelpunkt
des Geschehens zu stellen, gab es also schon Ende der 70er. Während der Recher-
chen stieß Kunze auf die neue Elisabeth-Biografie von Brigitte Hamann, die 1981
erschien.
55
Die Verknüpfung der Habsburger-Idee mit der Figur der Kaiserin war
geboren.
Einer Theatermode der 80er Jahre folgend, siedelte Kunze die Geschichte im Zir-
kusmilieu an, Elisabeth als Zirkusprinzessin und Kunstreiterin (wie sie es sich im
richtigen Leben gewünscht hätte), der Tod als Stallmeister, der sie jeder Zeit fallen
lassen kann, sowie den Attentäter Lucheni als Clown oder dummen August.
56
1983 kam dann also, wie bereits erwähnt, durch das Tagebuch von Constantin
Christomanos die Idee ,,Elisabeth als schwarze Möwe" hinzu.
53
Vgl. ,,Elisabeth ­ Wiens letzte Musical-Premiere unter der Generalintendanz von Prof. Peter
Weck", in: Musicals 36/1992, S. 19.
54
A. E. Lang: ,,200 Jahre Theater an der Wien", Wien 2001, S. 154.
55
Vgl. Kapitel 2.4.1.
56
Vgl. A. E. Lang, a. a. O., S. 154 und Peter Back-Vega: ,,Elisabeth", in: S. Helms (Hrsg.): ,,Lübbes
Musical-Führer", Bergisch-Gladbach 1998, S. 299f.

29
Kunze suchte ein Theater, in dem man, ähnlich wie bei den Musicalproduktionen in
Amerika, etwas ausprobieren, einen Stoff entwickeln konnte. Und in dem es möglich
war, eventuell auch nach der Premiere etwas zu ändern beziehungsweise ein Lied
hinzuzuschreiben.
Wagner war begeistert von dem Projekt, fuhr sogar zu Kunze nach München, es
entstanden die ersten Szenen. So gab es zu diesem Zeitpunkt schon die ,,Milch"-
Szene mit Lucheni und das Ultimatum, das Elisabeth ihrem Mann stellt.
Wagner:
,,Es ging nicht um die junge Sisi, sondern um die 40-jährige Frau. Und eigent-
lich auch schon darum, dass diese Geschichte den Untergang der abendländi-
schen Kultur, des Kaiserreichs widerspiegelt. Er [Kunze, Anm. d. Verf.] hatte
nur noch keine Geschichte, auf die es zulaufen kann."
Das größte Problem des Autors war: ,,Wie hör ich [...] ein Musical gut auf, das damit
endet, dass die Frau erstochen wird?"
57
Irgendwann hatte Kunze dann die Idee, das
Stück als eine Liebesgeschichte mit dem Tod zu erzählen. Denn Elisabeths Todes-
sehnsucht ging aus ihrem Nachlass, den von Brigitte Hamann herausgegebenen
Gedichten, klar hervor.
58
Die Premiere wurde für die Spielzeit 1984/85 (15. 2. 1985) angekündigt. Die Lokal-
zeitung Heilbronner Stimme schrieb am 7. 5. 1984: ,,Außerdem entwickelt das Thea-
ter zusammen mit Sylvester Levay (Los Angeles) und Michael Kunze eine Rockoper
mit dem Arbeitstitel ,Die schwarze Möwe', die sich mit dem tragischen Leben der
Kaiserin Elisabeth von Österreich (,Sissi') befasst."
59
Was in den nächsten sieben Monaten passierte, liest sich in der Zeitung folgender-
maßen:
,,Ein anderes, bereits angekündigtes Projekt wird in dieser Saison nicht mehr
realisiert werden können. Die Entwicklung einer Rockoper [...] kann nicht
mehr weitergeführt werden, weil der Komponist Sylvester Levay ,aus dem
Team ausgestiegen ist', wie das Theater mitteilt. Das ,ehrgeizige Projekt' [...]
57
A. Reinhardt, a. a. O., S. 20.
58
Vgl. Kapitel 2.4.1.
59
G. Schwinghammer: ,,Theater Heilbronn 84/85: Ballett ,Carmen' und Rockoper", in: Heilbronner
Stimme, 7.5.1984 [ohne Seite].

30
muss deshalb ,auf unbestimmte Zeit' verschoben werden. Zur Zeit sucht man
einen neuen Komponisten [...]".
60
Was danach passierte, liegt im Dunkeln. Im Premierenbericht der Fachzeitschrift
,,Musicals" ist zu lesen: ,,Den ursprünglich am Projekt beteiligten Komponisten
Dario Farina (Rondo Veneziano) ersetzte später Sylvester Levay [...]".
61
Im Programmheft der holländischen Inszenierung in Scheveningen ist im Kapitel
,,De schrijver & de componist ­ Hoe Elisabeth een musical wird" zu lesen, dass
Kunze eine erste Scriptversion 1983 fertig hatte, ein Versuch der Zusammenarbeit
mit einem italienischen Komponisten aber nichts gebracht hätte. Ein Anruf bei
seinem alten Freund Sylvester Levay in Hollywood blieb ­ aus Zeitmangel ­ eben-
falls erfolglos, erst als die beiden sich 1988 wiedertrafen, ließ Levay sich überzeugen
mitzuarbeiten.
62
Eine recht unglaubwürdige Geschichte über die Entstehung findet sich in der Pres-
semappe zum ,,10th Anniversary Concert Elisabeth":
63
Michael Kunze wird zitiert, die Arbeit an ,,Elisabeth" habe vor 17 Jahren begonnen
(also 1985, zu der Zeit, als in Heilbronn schon Premiere sein sollte), und Harold
Prince (US-Regisseur von ,,West Side Story", ,,Evita", ,,Phantom der Oper" u. a.)
habe ihn ,,an die Leine" genommen und bei einem Abendessen in Wien gefragt,
wann er [Kunze, Anm. d. Verf.] endlich selbst ein Musical schreiben würde.
Das Gespräch soll während der Arbeit an der deutschen Phantom-Fassung stattge-
funden haben. Die Premiere war am 20. Dezember 1988 im Theater an der Wien,
das hieße, dass die Idee, Elisabeth als Hauptfigur zu nehmen sowie den Tod als ihren
Liebhaber, auf das Jahr 1988 zurückginge.
60
G. Schwinghammer: ,,Noch ein Musical: ,Kiss me Kate', Rockoper ,Schwarze Möwe' fällt aus", in:
Heilbronner Stimme, 7.12.1984 [ohne Seite].
61
G. Knopf: ,,Elisabeth ­ Eine musicalische ,Habsburger-Renaissance'", in: Musicals 37/1992, S. 7.
62
Vgl. Souvenirbroschüre ,,Elisabeth" Scheveningen, Stageholding 1999, S. 4.
63
Vgl. Pressemappe ,,10th Anniversary Concert Elisabeth", Pressekonferenz am 24.6.2002 in Wien,
Veranstalter Michael Staringer, Markus Prühs und Vereinigte Bühnen Wien; derselbe Text findet sich
auch im Programmheft des Jubiläumskonzerts, das am 21.10.2002 im Wiener Konzerthaus stattfand.
Er wird durch diese Veröffentlichung jedoch nicht glaubwürdiger, da der Verantwortliche für das
Programmheft, Peter Back-Vega, den Text in Ermangelung eines anderen Vorworts verwendete.

31
Auch Peter Back-Vega glaubt nicht an diese Geschichte, wäre dies doch ein viel zu
später Zeitpunkt für die Entwicklungsphase des Musicals gewesen.
Da mir Michael Kunze für keine Auskünfte zur Verfügung stand, kann ich die
Inhalte der Pressemappe nur folgendermaßen interpretieren: Für Außenstehende, vor
allem für die Medien, hört es sich gut an, wenn ein ,,Großer" wie Prince einen ,,Klei-
nen" wie Kunze an die Hand nimmt und quasi als Initiator für ein Musical gilt.
Prince' Idee, ,,der Untergang des Habsburgerreiches [...] sei eine Generalprobe für
den Untergang der Welt gewesen" hat Kunze ja mir gegenüber 1992 als die seine
ausgegeben.
64
Dass sich die Entstehungsgeschichte in Verbindung mit dem Heilbronner Theater
nicht für die Öffentlichkeit eignet, mag sein ­ wer kennt schon Heilbronn in der
Welt? Außer vielleicht aus Kleists ,,Käthchen von Heilbronn".
Doch die Enttäuschung, dass das Stadttheater in den letzten zehn Jahren nicht die
Möglichkeit bekommen hat, das Musical in einer, wenn auch kleineren Fassung, zu
spielen, sitzt bei Klaus Wagner tief:
,,Trotzdem hätte es schon zur guten Zusammenarbeit gehört, dass irgendje-
mand dann gesagt hätte: aber danach [nach Wien, Anm. d. Verf.] muss es in
Heilbronn kommen ... es ist bis heute nicht hier gekommen. Ein wenig bitter
bin ich ihm schon."
65
Außerdem ist er sich der Tatsache bewusst, viel für Kunze getan zu haben: ,,Viel-
leicht hätte es Michael Kunze als Bewusstsein gar nicht gegeben, wenn wir nicht
immer die Musicals gespielt hätten, die er jedes Jahr übersetzt hat."
66
Kunze hätte sich vor zehn Jahren sicher nicht träumen lassen, dass ,,Elisabeth" ein
Welterfolg wird, denn damals dachte er noch an die Heilbronner: ,,Wagner hat das
Stück gefördert, er bekommt es auch. Wenn es jemand bekommt in Deutschland
dann er", waren seine Worte beim Interview mit mir vor der Premiere.
64
Vgl. die Aussage von Michael Kunze auf S. 25.
65
A. Reinhardt, a. a. O., S. 20.
66
Ebenda.

32
Quasi als Ersatz für die verloren gegangene ,,Elisabeth" kam am 15. Juni 1991 die
Freilichtaufführung von ,,Hexen Hexen" im Heilbronner Deutschhof
67
(Abb. 1, S.
39) auf die Bühne.
Für die Arbeit an ihrem ersten gemeinsamen Musical hatten sich Kunze und Levay
weitaus weniger Zeit genommen als für ,,Elisabeth". Laut Heilbronner Stimme
wurde ein Jahr intensiv an der Musical-Idee gefeilt.
68
Der Inhalt ist schnell erzählt: Die Hexen und Teufel reisen als fahrende Schauspieler-
truppe durch die Lande und müssen in jeder Stadt ein Mädchen ,,verführen", um sie
schließlich dem Ober-Teufel zu opfern. Regisseurin Birgitta Trommler brachte
zusätzlich zum Heilbronner Schauspielensemble acht ihrer Tänzer und Tänzerinnen
aus Münster mit, für die Rolle des unschuldigen Mädchens wurde die ausgebildete
Musicalsängerin Susi Eisenkolb verpflichtet, die wenig später in Wien als Sandy in
,,Grease" auf der Bühne des Raimundtheaters stand. Das mit verschiedenen Platt-
formen und Klettergerüsten ausgestattete Bühnenbild lieferte Thomas Pekny.
Auf das Hexen-Thema war Kunze nicht per Zufall gekommen. In seiner Dissertation
dokumentierte er das Schicksal einer Landfahrer-Familie, die um 1600 der Hexerei
bezichtigt wurde, aus dem Jahr 1982 stammt sein Buch ,,Straße ins Feuer", ebenfalls
zum Thema Hexenverfolgung.
Die 34 Vorstellungen sahen innerhalb von sechs Wochen 28.032 Zuschauer und
bescherten dem Theater einen großen Erfolg. Überregional wurde das Stück von
Presse und Publikum kaum beachtet,
69
und es findet in keinem der aktuelleren Musi-
cal-Fachbücher auch nur die geringste Erwähnung ­ auch nicht in Hubert Wildbih-
lers allumfassendem Kursbuch.
Wenigstens die Autoren haben ihr Erstlingswerk nicht ganz vergessen, wird es doch
in den Programmheften der Nachfolgeproduktionen ­ wenn auch teilweise mit
67
Der Deutschhof ist der Innenhof eines ehemaligen Klosters und wurde zur 1250-Jahr-Feier der
Stadt erstmals nach 34 Jahren wieder als Freilichtbühne genutzt (mit einer Tribüne für 945 Zuschau-
er). Vgl. auch U. Kretschmer-Risché: ,,Stadt sollte diese Kulisse nutzen", in: Heilbronner Stimme,
17.6.1991 [ohne Seite], und A. Sommer: ,,Hexen Hexen: Ein grellbuntes Festjahr-Bonbon", in:
Heilbronn-Journal, 15/1991, S. 10ff.
68
Vgl. H. Schmidt: ,,KulTour", in: Heilbronner Stimme, 24.5.1991 [ohne Seite].
69
Vgl. W. Wigand: ,,Hexen Hexen", in: Musicals 30/1991, S. 26f. und H. Schmidt: ,,Kein Blitz im
Blätterwald", in: Heilbronner Stimme, 27.7.1991[ohne Seite].

33
falscher Jahreszahl ­ erwähnt:
70
,,Tanz der Vampire" Wien (Lebenslauf Kunze:
,,Hexen Hexen 1990") und Stuttgart (Lebenslauf Kunze: ,,Open Air Aufführung Juni
bis August 1990"), ,,Mozart!" Wien (Lebenslauf Levay: ,,Hexen, Hexen, das 1990 im
Stadttheater Heilbronn seine Uraufführung erlebte") und Hamburg (Lebenslauf
Levay: ,,Hexen Hexen 1990"), ,,10th Anniversary Concert Elisabeth" Wien (Lebens-
lauf Levay: ,,Hexen Hexen wurde 1991 im Theater Heilbronn auf einer Freilicht-
bühne mit großem Erfolg gespielt").
Als Michael Kunze am 3. 9. 1992 während der Premieren-Pause im Theater an der
Wien zu ,,Elisabeth" befragt wurde, bezeichnete er dieses Stück als ,,das erste wirk-
lich abendfüllende Originalwerk, das ich geschaffen habe".
71
Was war dann ,,Hexen
Hexen", wenn nicht ein abendfüllendes Originalwerk?!
Levay bezeichnet ,,Hexen Hexen" als ,,Vorübung", mit der er sehr viel Spaß und
Freude gehabt hätte. ,,Man hätte in der Winterspielzeit das Stück wieder aufnehmen
sollen".
72
2.4 Die literarischen Vorlagen
Zur Zeit der Vorbereitungen zu ,,Elisabeth" gab es weitaus weniger Literatur über
die Kaiserin als Ende der 90er. Die älteste und sehr bekannte Biografie stammt aus
dem Jahr 1934 von Egon Caesar Conte Corti. Corti zeichnet darin ein traditionelles
Bild der Kaiserin. 36 Jahre nach ihrem Tod wollte er ihr ein durchweg positives
Denkmal setzen, was zur damaligen Zeit verständlich war:
,,Ich habe mir hiermit vorgenommen, sie aus der Legende heraus in das
strahlende Licht der Geschichte zu versetzen, und mich dabei bemüht, über-
all bei der vollen Wahrheit zu bleiben. Ich brauche nicht besonders zu beto-
70
Programmhefte der Aufführungen ,,Tanz der Vampire" Raimundtheater Wien 1997, ,,Tanz der
Vampire" Stella Erlebnis Center Stuttgart 2000, ,,Mozart!" Theater an der Wien 1999, ,,Mozart!" Neue
Flora Hamburg 2001, ,,10th Anniversary Concert Elisabeth" Konzerthaus Wien 21.10.2002 [alle ohne
Seite].
71
Michael Kunze im Interview während der Premierenübertragung im ORF / Radio Wien, 3.9.1992.
72
Levay im Gespräch mit der Verfasserin vor der Premiere am 2.9.1992.

34
nen, daß mir alles Kritisieren ebenso ferngelegen ist wie der byzantinische Stil
früherer Zeiten."
73
Neben Corti zählt das Werk der britischen Autorin Joan Haslip ,,Sissi, Kaiserin von
Österreich" zu einem weiteren der frühen Biografien. Es entstand 1964 und fußt vor
allem auf Cortis Werk, britischen Quellen (Privatarchiven, Tagebuchaufzeichnungen
von Teilnehmern der kaiserlichen Jagdgesellschaften in England und Irland) sowie
Tagebuchaufzeichnungen der Erzherzogin Sophie (die sich im Wiener Staatsarchiv
befinden).
Ich werde auf diese älteren Werke jedoch nicht eingehen, da Michael Kunze betont,
bei seiner Recherche vor allem durch die Biografie von Brigitte Hamann und die
Tagebuchaufzeichnungen von Elisabeths Vorleser Constantin Christomanos neue
Impulse und andere Sichtweisen auf das Leben der Kaiserin bekommen zu haben.
Diverse Werke neueren Datums ­ die größtenteils zu Elisabeths 100. Todestag 1998
erschienen sind ­ setzten andere, aktuelle Zeitströmungen betreffende Schwer-
punkte, untersuchten aber nur selten neue Quellen. Gabriele Praschl-Bichler machte
sich mit Hilfe der Psychologen Gerti Senger
74
und Walter Hoffmann 1996 auf die
Suche nach Mythos und Wahrheit der Kaiserin Elisabeth ­ so auch der Titel des
Werks. Lisa Fischer stellte 1998 in ,,Schattenwürfe in die Zukunft ­ Kaiserin Elisa-
beth und die Frauen ihrer Zeit" die österreichische Kaiserin im Vergleich mit ihren
Zeitgenossinnen Eugénie, Kaiserin von Frankreich, Carmen Sylva, Königin von
Rumänien, Tänzerin Lola Montez, Autorin George Sand und der Weltreisenden Ida
Pfeiffer dar. Der Bogen wird sogar bis ins 20. Jahrhundert zu Eva Perón und Prin-
zessin Diana gespannt. Sigrid-Maria Grössing befasste sich 1998 mit ,,Kaiserin
Elisabeth und ihre Männer".
Das einzig mir bekannte Werk, das neben der Biografie der Kaiserin auch auf ihre
Darstellung auf der Leinwand bzw. der Bühne eingeht (wenn auch nur kurz und mit
73
E. C. C. Corti: ,,Elisabeth ­ die seltsame Frau", Graz / Wien / Köln 1934, genehmigte Sonder-
ausgabe 1996, Vorwort S. 7.
74
Eine in Österreich und Deutschland sehr bekannte Fernseh-Psychologin.

35
wenigen Bildern) ist ,,Sissi ­ L'impératrice anarchiste" von Catherine Clement aus
dem Jahr 1992.
75
Das einzige neue Werk, das mir interessant erscheint und neue Einblicke in die
damaligen Geschehnisse bietet, ist ,,Luigi Lucheni: ,Ich bereue nichts'. Die Aufzeich-
nungen des Sisi-Mörders", 1998 herausgegeben von Santo Cappon. Der Schweizer
veröffentlicht darin erstmals die bis dahin unbekannten Aufzeichnungen und Le-
benserinnerungen von Luigi Lucheni, die er während seiner Inhaftierung im Évêché-
Gefängnis in Genf verfasst hatte. Da die Rolle des Attentäters in ,,Elisabeth" jedoch
lediglich die des Erzählers und Kommentators ist, sind neue Aufschlüsse über seinen
Charakter unwesentlich für das Musical.
2.4.1 Biografie ,,Elisabeth ­ Kaiserin wider Willen" von Brigitte
Hamann
Die Grundlage der Elisabeth-Biografie
76
von Brigitte Hamann bilden 500 Seiten
Gedichte, die die Kaiserin in den 1880er Jahren verfasst hatte. Wohl wissend, dass
ihre Zeitgenossen im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht fähig wären, ihre Texte in
angemessenem Maße zu würdigen, sollten sie bis 1950 unter Verschluss gehalten und
erst dann gedruckt werden. ,,Also eine Zeit, wo niemand ihrer Zeitgenossen und
auch sie selbst nicht mehr lebten. Wenigstens in der Nachwelt wollte sie erreichen,
was die Zeitgenossen ihr verweigerten: Rechtfertigung, Verständnis, Nachruhm."
77
Elisabeth legte in einem Brief an ihren Bruder Carl Theodor genau fest, was mit den
Gedichten geschehen sollte:
75
Vgl. C. Clément: ,,Sissi ­ L'imperátrice anarchiste", [ohne Ort, Verlag Gallimard] 1992, S. 162ff.
Neben der obligatorischen ,,Sissi"-Trilogie mit Romy Schneider und Karlheinz Böhm werden auch
zwei französische Filme (,,L'Aigle à deux têtes" von Jean Cocteau und ,,Le Secret de Mayerling" von
Jean Delannoy) sowie der Visconti-Film ,,Ludwig II." und das Theaterstück ,,Le Jardin transfiguré"
von Philippe Clévenot erwähnt. Außerdem Fotos eines Bühnenmodells von ,,Elisabeth", von Pia
Douwes und eines Werbezettels, das die Welturaufführung im Theater an der Wien ankündigt. In der
Taschenbuch-Ausgabe der von V. v. d. Heyden-Rynsch herausgegebenen Tagebuchblätter Christo-
manos' ist auf Seite 2 zwar ,,Elisabeth" erwähnt, allerdings mit Fehlern: ,,Jedenfalls sind sie eine
Ergänzung zum alten und neuen Sissi-Kult, der in Wien durch das Musical von Harry Kupfer im
Ronacher-Theater einen Höhepunkt erreicht hat."
76
B. Hamann: ,,Elisabeth ­ Kaiserin wider Willen", überarbeitete Neuausgabe Wien/München 1998,
Originalausgabe Wien/München 1981, S. 11ff und 429ff.
77
Ebenda, S. 430.

36
,,Liebe Zukunfts-Seele! Dir übergebe ich diese Schriften. Der Meister [damit
ist Heinrich Heine, Elisabeths großes Dichter-Vorbild gemeint, Anm. d.
Verf.] hat sie mir dictirt [sic] und auch er hat ihren Zweck bestimmt, nämlich
vom Jahre 1890 an in 60 Jahren sollen sie veröffentlicht werden zum besten
politisch Verurteilter u. deren hilfebedürftigen Angehörigen. Denn in 60 Jah-
ren so wenig wie heute werden Glück u. Friede, das heisst [sic] Freiheit auf
unserem kleinen Sterne heimisch sein. Vielleicht auf einem Andern? Heute
vermag ich Dir diess [sic] nicht zu sagen, vieleicht [sic] wenn Du diese Zeilen
liest ­ Mit herzlichem Gruss [sic], denn ich fühle Du bist mir gut, Titania [so
bezeichnete Elisabeth sich gerne selbst, auch ihre Gedichte sind mit dem
Namen der Feenkönigin unterschrieben, Anm. d. Verf.], geschrieben im
Hochsommer des Jahres 1890 u. zwar im eilig dahinsausenden Extra- zug."
78
Alle Gedichte wurden in einer versiegelten Kassette in der Hofburg hinterlegt mit
dem Hinweis, sie nach ihrem Tod Carl Theodor zu übergeben. Aus dessen Nachlass
gingen sie 1951 in die Hände des Schweizer Bundespräsidenten über. Brigitte Ha-
mann war die erste, die sie einsehen durfte und 1981 als Teil ihrer Biografie, drei
Jahre später in größerem Umfang als ,,Das poetische Tagebuch" herausgab. Selbst-
verständlich sind nicht nur die Gedichte Grundlage der Biografie, Hamann hatte
sowohl bereits bekannte als auch noch unbearbeitete Nachlässe von Elisabeths
Zeitgenossen ausgewertet.
79
2.4.2 Die Tagebuchblätter von Constantin Christomanos
Der Student Christomanos (Abb. 2, S. 39) war mehr als nur der Vorleser der Kaiserin
gewesen, als den man ihn gerne bezeichnet. Er war enger Vertrauter, Begleiter auf
ihren Spaziergängen und Reisen, Gesprächspartner während der Frisierstunden.
Elisabeth hatte in dem buckligen Griechen einen treuen Verehrer gefunden, der diese
tiefe Zuneigung und Bewunderung in seinen Tagebuchblättern niederschrieb. So sind
die Aufzeichnungen aus den Jahren 1891 und 92 zwar ein wichtiges zeitgenössisches
Dokument, aber eben auch geprägt von Schwärmerei. Elisabeths Hofdame Ida
78
B. Hamann, a. a. O., S. 432.
79
Vgl. ebenda, S. 11ff.

37
Ferenczy nannte ihn einen ,,phantastischen Schwätzer"
80
, für Corti sind die Daten ,,in
so viel Schwulst eingebettet und von so viel sentimentalem Wortschwall überströmt,
daß es schwer ist, das Echte und was die Kaiserin wirklich gesagt und getan, aus dem
Wortgeklingel herauszuschälen."
81
Brigitte Hamann erkannte Elisabeths Hintergedanken wenn sie schreibt, die Kaiserin
habe den durch einen Unfall stark verwachsenen und buckligen jungen Mann in
ihrem Aberglauben als Glücksbringer angesehen. Nachdem Christomanos 1892
seinen Dienst quittieren musste, schien er kurzzeitig mit seiner Angebeteten zu
brechen:
82
,,Die Kaiserin nützt Leute aus, dann werde sie ihrer überdrüssig und
schiebe sie zur Seite", habe er gegenüber einem befreundeten Rechtsanwalt geklagt.
Als sie sechs Jahre später ermordet wurde und Christomanos von einer Wiener
Wochenzeitung um einen Nachruf gebeten wurde, fühlte er sich außerstande, ,,er-
schüttert, geradezu vernichtet"
83
, gab aber die ersten Seiten seines Tagebuchs an die
Presse weiter, wo sie am 17. September 1898 in Die Wage erstmals abgedruckt
wurden. Kurz darauf erschien in einem Wiener Verlag das Buch ,,Tagebuchblätter"
(Hamann und Corti nennen 1899 als Erscheinungsjahr, v. d. Heyden-Rynsch 1898),
1900 gab es eine französische Auflage, beide waren schnell vergriffen und wurden nie
mehr aufgelegt. Corti nennt eine zweite Folge der Tagebuchaufzeichnungen aus den
Jahren 1893 und 94 (was der Angabe von Hamann widerspricht, Christomanos wäre
1892 entlassen worden, laut Corti endete die Dienstzeit Ende März 1894
84
), die
jedoch nie im Druck erschienen sind. ,,Sie sollen dem Autor vom Hofe abgekauft
worden sein."
85
Zitate aus Christomanos' Tagebuchblättern sind in das Libretto von ,,Elisabeth" nur
in geringem Maße eingeflossen, jedoch geben die Zeilen, mit denen der Grieche die
Kaiserin beschreibt, und die Worte, die sie zu ihm sprach (zugegebenermaßen nur
aus ihren letzten Lebensjahren), ein Gesamtbild von Elisabeth ab, das auf Kunze
starken Eindruck machte:
80
E. C. C. Corti, a. a. O., S. 403.
81
Ebenda.
82
B. Hamann, a. a. O., S. 470.
83
V. v. d. Heyden-Rynsch (Hrsg.): ,,Elisabeth von Österreich ­ Tagebuchblätter von Constantin
Christomanos", Frankfurt a. M. 1993, Vorwort S. 15.
84
Vgl. E. C. C. Corti, a. a. O., S. 417.
85
Ebenda, S. 403.

38
,,In dem Buch sind alle Ingredienzen (sic) der poetischen Legende Elisabeth
enthalten ­ der Flirt mit dem Tod als romantisches Klischee, die Weltflucht
und Weltverachtung, die Unnahbarkeit, der Hang zur Ästhetisierung des Le-
bens, die manisch-depressive Disposition und, als Ferment der Selbst-
zerrüttung, die hochgezüchtete Melancholie, die Cioran
86
als ,eine Mischung
von Grazie und Unheil, von Anmut und Trostlosigkeit' beschreibt."
87
Christomanos sprach von ihr mehrmals als ,,die schwarze Frau" bzw. ,,die schwarze
Kaiserin",
88
beschrieb ihr Auftreten mit weißem Schirm und schwarzem Fächer
89
(Abb. 3, S. 39) und berichtet auch von der Geschichte, die Elisabeth ihm im Frühjahr
1892 auf der Überfahrt über die Adria nach Korfu erzählte:
,,Bei jeder Reise fliegen die Möwen hinter meinem Schiffe, und jedesmal gibt
es eine dunkle, fast schwarze darunter, wie diese hier. [...] Diese einzige
kommt dann bis knapp vor Korfu mit. Einigemale hat mich meine schwarze
Möwe während einer ganzen Woche begleitet, von einem Kontinent zum an-
dern. Ich glaube, sie ist mein Schicksal. [...] Sie mahnt mich daran, dass ich
ertrinken soll. [...]"
90
Kunzes Idee, sein Musical für Heilbronn ,,Die schwarze Möwe" zu nennen, ent-
springt also ganz deutlich dieser Geschichte. In ihren Gedichten bezeichnete sich
Elisabeth auch noch an anderen Stellen als Möwe.
91
In der Essener Fassung verwendet Kunze dann erstmals das Motiv wortwörtlich im
Duett des Todes mit Elisabeth (,,Wenn ich tanzen will", 2. Akt, 2. Szene)":
92
Tod: Schwarze Möwe, flieg! [...] Ich allein [...] will dich durch Nacht und Sturm begleiten.
86
Die Herausgeberin der Christomanos-Tagebuchblätter v. d. Heyden-Rynsch führte für ihr Werk
auch Gespräche mit anderen Literaten, u. a. mit E. M. Cioran. Die von Kunze genannte Textstelle
findet sich auf S. 199.
87
S. Löffler: ,,Elisabeth ­ ein Totentanz", in: Die Zeit, 28.8.1992, [ohne Seite].
88
Vgl. V. v. d. Heyden-Rynsch, a. a. O., S. 33, 46, 51.
89
Ebenda, S. 75.
90
Ebenda, S. 89f.
91
Vgl. B. Hamann, a. a. O., S. 408f und 569f.
92
Libretto Essen 2001, S. 82.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783836604178
DOI
10.3239/9783836604178
Dateigröße
2.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien – Geistes- und Kulturwissenschaftliche Fakultät, Theater- und Filmwissenschaft
Erscheinungsdatum
2007 (Juli)
Note
1,0
Schlagworte
levay sylvester elisabeth aufführung geschichte musical theater lloyd webber andrew kunze michael
Zurück

Titel: Aus der 'Schwarzen Möwe' wird 'Elisabeth'
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
book preview page numper 41
213 Seiten
Cookie-Einstellungen