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Überlegungen zu therapeutischen Möglichkeiten für alkoholkranke Menschen mit Behinderung

©1995 Diplomarbeit 121 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Diese Arbeit zeigt Überlegungen zu therapeutischen Möglichkeiten Bei suchterkrankten behinderten Menschen auf. Neben den fachtheoretischen Ausführungen, wie Typologien des Trinkverhaltens und Verlauf der Alkoholkrankheit, wird das Erleben eines betroffenen behinderten Menschen aufgezeigt. Dadurch ist diese Arbeit sehr praxisorientiert. Die mitverwendeten medizinischen Befunde und Berichte ( in den Anlagen beigefügt ) lassen eine vielseitige Betrachtungsweise zu.
Therapieziele, Möglichkeiten der Therapieformen und Therapiestrukturen werden auf ihre Behindertengerechte Form durchdacht. Dabei werden die Konzeptionen verschiedener Fachkliniken einbezogen.
Sucht und Behinderung, früher ein Tabu heute in einer offener gewordenen Gesellschaft auch ein offenes Thema.. Heute sind die Kliniken auf dem Weg diesen Bereich zu erfassen (nicht nur Marktlückensucher).
Angehörigenarbeit und Nachsorge nehmen ebenfalls breiten Raum ein. Nur eine gezielte gut vorbereitete, zusammengefasst professionelle Nachsorge, sichert den Therapieerfolg.
Diese Arbeit begleitet einen behinderten Menschen eine lange Strecke seines Lebens; sicherlich mit offenem Ergebnis was den Therapieerfolg betrifft, aber mit Überlegungen
wie der Erfolg praxisnah herbei geführt werden könnte.
Bevor auf die Fragestellungen eingegangen wird, soll der Begriff Alkoholismus definiert und seine Auswirkungen umrissen werden. Wenn auch auf die Person des alkoholkranken behinderten Menschen noch besonders eingegangen wird, sollen hier noch einige Abgrenzungen vorgenommen werden. Die Gesellschaft war lange Jahre bemüht Behinderte auszugrenzen, einzusperren, um sie dann zu vergessen. Die heutige Gesellschaft ist anscheinend offener geworden. Diese These von Bach im Gutachten der Bildungskommission, dass die geistig Behinderten die pädagogisch am längsten und vom Umfang her am meisten vernachlässigte Gesellschaftsgruppe darstellt, halte ich für heutzutage abzuschwächen, aber trotz Schwerbehindertengesetz und ähnlichem ist diese These nicht aus der Welt zu denken.
Wer heute Literatur über Sucht und Behinderung sucht, wird wenig finden. In den Fachkliniken gibt es Ansätze, diese Problematik zu erarbeiten. Es besteht die Gefahr, dass z.B. die Lebenshilfeeinrichtungen solche Ansätze erkennen und mit einer Klinik eine Symbiose eingehen, wobei sie schweigend erwarten, dass hier dem süchtigen behinderten Menschen geholfen wird. In Zukunft erfolgt dann keine Einzelfallprüfung […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wolfgang Franz
Überlegungen zu therapeutischen Möglichkeiten für alkoholkranke Menschen mit
Behinderung
ISBN: 978-3-8366-0366-9
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Hildesheim, Deutschland,
Diplomarbeit, 1995
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

1
Gliederung
VORWORT... 5
EINLEITUNG... 7
1. ALKOHOLISMUS ... 9
1.1
Definition ... 9
1.2
Ursachen... 10
1.3
Typologie des Abhängigen ... 10
1.4
Typologie des Trinkverhaltens nach Jellinek ... 11
1.4.1 Alpha-Alkoholiker... 11
1.4.2
Beta-Alkoholiker ... 12
1.4.3
Gamma-Alkoholiker... 12
1.4.4
Delta-Alkoholiker... 12
1.4.5
Epsilon-Alkoholiker ... 13
1.5
Verlauf, Phasen der Alkoholkrankheit... 13
1.6
Trinkverhalten... 15
1.7
Medizinische Folgen des Alkoholismus ... 17
2. DIE SITUATION DES THERAPEUTEN... 19
3. ZUR SITUATION DES BEHINDERTEN ALKOHOLKRANKEN
MENSCHEN... 23
3.1
Situation von Herrn D... 28

2
4. THERAPIEZIELE... 31
4.1
Allgemeine Therapieziele... 31
4.2
Einzelziele der Therapie... 32
4.2.1
Medizinisch soziale Rehabilitation... 33
4.2.2
Neuorientierung der Persönlichkeit... 33
4.2.3 Abstinenzerhaltung... 34
5. VORBEREITUNGSPHASE... 35
6. THERAPIEDAUER ... 39
7. REGIONALVERBUND UND INDIVIDUALTHERAPIE ... 41
8. ÜBERLEGUNGEN ZUM BEHANDLUNGSVERLAUF
(THERAPIEVERLAUF)... 45
8.1
Eingangsphase... 46
8.2
Psychotherapeutische und sozial-therapeutische Phase ... 47
8.3
Therapeutische Methoden und Behandlungsangebote ... 49
8.3.1 Gruppentherapie ... 49
8.3.2 Einzelpsychotherapie... 55
8.3.3 Musiktherapie ... 57
8.3.4 Wertorientierte
Therapie ... 58
8.3.5 Arbeitstherapie... 59
8.3.6 Beschäftigungstherapie... 61
8.4
Angehörigenarbeit Einbeziehung des sozialen Umfeldes ... 63

3
8.5
Ergänzende therapeutische Maßnahmen zur Freizeitgestaltung ... 65
8.6
Ablösephase... 67
9. NACHSORGE... 69
10. EHEMALIGENTREFFEN... 73
11. SCHLUßBETRACHTUNG ... 75
LITERATURVERZEICHNIS ... 79
ANHANG

5
Vorwort
Seit fünfzehn Jahren arbeite ich in einer Werkstatt für Behinderte (im Folgenden: WfB).
Die Möglichkeit einer Diplomarbeit im Fachbereich Sozialwesen möchte ich zum
Anlaß nehmen, eine besondere Thematik aus meinem Arbeitsbereich aufzuarbeiten. Es
gibt viele Problemkreise: Alt und behindert, Sucht und Alter sind zu Aufgaben gewor-
den, denen wir uns bisher nur mit Einzellösungen stellen können. Wir brauchen Kon-
zeptionen, die diesen umfangreichen Bereich abdecken. Auch die Thematik Sucht und
Behinderung hat sich uns unbemerkt genähert. Bevor Alkoholismus erkennbar in Er-
scheinung tritt, sind viele Jahre des Trinkens vergangen. Hin und wieder zeigen sich
zwar Momente des Offenbartwerdens, aber der durch unsere Gesellschaft im Umgang
mit Alkohol geprägte Mensch hat dafür kein offenes Auge. Nur so ist es zu erklären,
dass es uns als verantwortlichen Mitarbeitern der WfB zu spät aufgefallen ist, dass sich
hier ein neues Problem entwickelte. Ein angemessener Umgang mit Betroffenen würde
erleichtert, wenn man auf Bestehendes oder Vergleichbares zurückgreifen könnte, evtl.
auch in den mit der Bundesrepublik vergleichbaren (wenn auch in der Regel etwas
fortschrittlicheren), Niederlanden. So konnte auch der deutsch ­ niederländische Ver-
gleich nicht realisiert werden, weil nach Auskunft verschiedener niederländischer
Dachverbände in den Niederlanden keine entsprechenden Konzeptionen bestehen. Als
Beispiel sei das Schreiben des Nederlands Institut voor Alcohol en Drugs in Utrecht
vom 21. Oktober 1994 (Anlage1)angeführt. Hier wird sinngemäß mitgeteilt, dass es in
den Niederlanden, auch nach Befragung der Fachkrankenhäuser für Suchtkranke, keine
Konzeption für behinderte, alkoholkranke Menschen gibt. Auch beim Gehandicapten-
raad (Rat für Behinderte), einer nationalen Organisation, war über besondere Konzepte
für behinderte suchtkranke Menschen nichts bekannt. Den niederländischen Institutio-
nen, die alle umgehend geantwortet haben (von den deutschen angeschriebenen Ver-
bänden haben nur 36% geantwortet) herzlichen Dank.

6
Wir stellen fest, dass es in beiden Ländern bisher keine dezidierten Konzeptionsvor-
schläge für die Therapie von süchtigen behinderten Menschen gibt. Wegen des gravie-
renden vorhandenen Problems der weiterhin zunehmenden Sucht unter behinderten
Menschen, und der eigenen Betroffenheit, als Mitarbeiter von behinderten alkoholkran-
ken Menschen, sehe ich mich veranlasst, zu diesem Thema Überlegungen anzustellen.

7
Einleitung
Diese Arbeit soll Überlegungen zu therapeutischen Möglichkeiten bei suchtkranken
behinderten Menschen aufzeigen. Die Notwendigkeit oder Berechtigung zu dieser
Fragestellung belegen die Antworten der Fachverbände und Fachkrankenhäuser, die zu
diesem Thema mit der Bitte um Material oder Stellungnahmen angeschrieben wurden.
Von den eingegangenen Antworten werde ich einige Briefe zitieren, wenn ich die
Situation des alkoholkranken Menschen mit Behinderung beschreibe, um zu dokumen-
tieren, wie im Augenblick mit dieser Problematik umgegangen wird. Wie steht es um
die Therapieziele? Möglichkeiten der Therapieformen und Therapiestrukturen müssen
auf ihre behindertengerechte Form durchdacht werden.
Bevor auf diese Fragestellungen eingegangen wird, soll der Begriff Alkoholismus
definiert und seine Auswirkungen umrissen werden. Wenn auch auf die Person des
alkoholkranken behinderten Menschen noch besonders eingegangen wird, sollen hier
noch einige Abgrenzungen vorgenommen werden. Die Gesellschaft war lange Jahre
bemüht Behinderte auszugrenzen, einzusperren, um sie dann zu vergessen. Die heutige
Gesellschaft ist anscheinend offener geworden. Die These von Bach im Gutachten der
Bildungskommission (Stuttgart 1974, S.17), dass die geistig Behinderten die pädago-
gisch am längsten und vom Umfang her am meisten vernachlässigte Gesellschaftsgrup-
pe darstellt, halte ich für heute abzuschwächen, aber trotz Schwerbehindertengesetz und
ähnlichem ist diese These nicht aus der Welt zu denken. Wer heute Literatur über Sucht
und Behinderung sucht, wird wenig finden. In den Fachkliniken gibt es Ansätze, diese
Problematik zu erarbeiten. Es besteht die Gefahr, dass z. B. die Lebenshilfeeinrichtun-
gen solche Ansätze erkennen und mit einer Klinik eine Symbiose eingehen, wobei sie
schweigend erwarten, dass hier dem süchtigen behinderten Menschen geholfen wird. In
Zukunft erfolgt keine Einzelfallprüfung mehr, sondern eine automatische Verschickung.
Das Spektrum einer Behinderteneinrichtung reicht vom mehrfach Schwerstbehinderten
bis zum Sonderschüler. Der Sonderschüler findet bei der derzeitigen Arbeitsmarktsitua-
tion keinen Arbeitsplatz mehr und wird über die Bundesanstalt für Arbeit den Weg in
die WfB antreten. Sein Arbeitsplatz in der so genannten freien Wirtschaft ist wegratio-

8
nalisiert, oder er wurde vom Hauptschüler verdrängt. Eine Suchtkarriere kann beginnen.
Ein Behinderter mit Down ­ Syndrom wird seine Gefühlsebene nicht mit Suchtmitteln
wie Alkohol verändern, oder seine Probleme mit Alkohol lösen wollen.
Anders der lernbehinderte Sonderschüler. Weil er schwerwiegend im Lernen beein-
trächtigt ist und daraus normabweichende Leistungen und Verhaltensformen resultieren,
geht er zur Sonderschule, um die Möglichkeit der Förderung in Anspruch zu nehmen. In
unseren Überlegungen werden isolierte Lernschwächen wie Legasthenie nicht mit
einbezogen. Der lernbehinderte Sonderschüler gehört zum großen Problemkreis der
alkoholkranken behinderten Menschen in einer WfB. Hörgeschädigte sind keine typi-
schen WfB-Mitarbeiter, sie sind bei uns auch nicht in Erscheinung getreten. Trotzdem
bilden sie in den Fachkrankenhäusern keine Randgruppe. Für sie wurden Konzeptionen
entwickelt. Das spricht für eine Lobby und auch eine erkannte Problematik größeren
Umfangs. Aus der Gruppe der betroffenen behinderten alkoholkranken Mitarbeiter
unserer WfB habe ich eine Akte entnommen und daraus folgende Unterlagen als Anlage
Blatt 1 - 40 beigefügt:
Sozialbericht
Gutachtenheft der LVA
Entlassungsbericht des Fachkranken-
hauses to Hus
Wohnanlagenbericht (derzeitiger
Stand 11. 08. 1994)
Diese Unterlagen ermöglichen ein praxisorientiertes Arbeiten und helfen mir, Thesen
für diesen Einzelfall als möglicherweise allgemeingültig aufzustellen, zu hinterfragen
und entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen.

9
1.
Alkoholismus
Definition, Ursachen, Typologie, Phasen,
Verlauf und medizinische Folgen
1.1 Definition
Als Alkoholismus wird in der Regel die Alkoholabhängigkeit bezeichnet. Die Weltge-
sundheitsorganisation hat 1964 den Begriff Sucht gegen den Begriff Abhängigkeit
getauscht, weil der Begriff Sucht zu unscharf ist. Physische (körperliche) Abhängigkeit
bedeutet den Einbau der Droge in den Organismus durch Stoffwechselanpassung.
Toleranzerhöhung und Entzugssymptome werden festgestellt. (W. Feuerlein, O. Kras-
ney, R. Teschke, Alkoholismus - Information für Ärzte , DHS Hamm 3.Aufl.1989, S. 6)
Die psychische (seelische) Abhängigkeit ist durch Kontrollverlust über das Suchtmittel
und ein Zentrieren des Denkens um das Suchtmittel gekennzeichnet (W. Feuerlein u.a.,
a.a.o., S. 2)
Ich verstehe unter Alkoholismus eine chronische Krankheit, die den Patienten ein Leben
lang begleiten wird.
W. FEUERLEIN schreibt :
,,Das Krankheitskonzept des Alkoholismus geht auf den englischen Arzt Totter (Ende
des 18. Jahrhunderts) zurück. Es wurde vor allem von Jellinek (1960) wieder aufgegrif-
fen ... Die Verhaltenstherapeuten sehen in dem Alkoholmissbrauch (das Wort Alkoho-
lismus wird vermieden) ein erlerntes Fehlverhalten, das wieder verlernt werden Kann."
(W. FEUERLEIN, Alkoholismus ­ Missbrauch und Abhängigkeit, Thieme-Verlag,
4.überarb. Auflage 1989, S.9)

10
1.2 Ursachen
Die Ursachen können nach Katz in folgenden Bereichen liegen:
,,...in der Person , im Sinne einer Disposition zur Sucht, in der engeren Umwelt, die sich
neurotisierend auf später Süchtige auswirkt, in weit verzweigten entwicklungshemmen-
den Umweltbedingungen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und ideologischer Art, die
mit folgenden Begriffen wie Unrecht, Zwang, Ausbeutung, Betrug und Verarmung zu
umschreiben wären. Durch die vorgenannten Bedingungen kann ein Mensch seelisch
derart überlastet werden, dass er mit einem gesundheitsschädigenden Verhalten rea-
giert; in der Substanz Alkohol." (F. Katz, Handbuch für Suchtkrankenhilfe, Blaukreuz-
Verlag 1993, S.3.1.1)
Alkoholismus hat immer viele Ursachen, und es gibt daraus ableitend weder den Alko-
holiker noch die Therapie, sondern immer ein Bündel von Möglichkeiten auf das Indi-
viduum bezogen.
1.3
Typologie des Abhängigen
In Anlehnung an E.Jellinek und Weltgesundheitsorganisation (WHO), lässt das Verhal-
ten zum Alkohol folgenden Gruppen abgrenzen:
I. Nichttrinker
II. Trinker
1 gelegentlicher
Trinker
2 gelegentlich exzessiv Trinkende
III. Alkoholiker
1 nicht abhängige Alkoholiker
2 abhängige
Alkoholiker

11
Mäßig trinkende und unregelmäßig exzessiv konsumierende Trinker nannte Jellinek
Nichtalkoholiker. Die exzessiv konsumierenden Alkoholiker unter den Alkoholikern
unterschied er in Süchtige und Nichtsüchtige. Diese Differenzierung hat für die prakti-
sche Arbeit in Beratungsstellen und Kliniken heute noch Bedeutung. Wenn wir unter
der Gruppe II.2 Alkoholkonsumenten verstehen, die bei gelegentlichen Anlässen exzes-
siv trinken, so haben die am anderen Morgen einen ,,Kater", sind aber nicht Alkohol-
kranke.
Der Begriff ,,Alkoholkranker" ist nur für den abhängigen Alkoholiker anzuwenden, der
durch Kontrollverlust und Unfähigkeit zur Abstinenz charakterisiert ist.
1.4
Typologie des Trinkverhaltens nach Jellinek
Jellinek erkannte nicht nur den Krankheitscharakter des Alkoholismus, sondern entwi-
ckelte ein Phasenmodell. Ferner ließen sich typische Alkoholismusformen abgrenzen,
die Jellinek 1960 als Alpha-, bis Delta-Alkoholismus bezeichnete und später durch den
Epsilon-Alkoholismus ergänzte.
1.4.1 Alpha-Alkoholiker
Alpha-Alkoholiker werden auch Konflikt-, Wirkungs-, und Erleichterungstrinker ge-
nannt.
Aufgrund psychischer Anfälligkeit erfahren sie nach Alkoholkonsum eine deutliche
Entspannung, größere Sicherheit und besseres Durchsetzungsvermögen. Bei einer
erneuten Belastungssituation werden sie wieder Alkohol trinken. So entwickeln sie eine
psychische Abhängigkeit, die ihnen allerdings die Freiheit lässt, jederzeit mit dem
Trinken aufzuhören.

12
1.4.2 Beta-Alkoholiker
Beta-Alkoholiker werden als Gelegenheitstrinker bezeichnet. Es handelt sich um Alko-
holkonsumenten, die aufgrund von Trinkgewohnheiten (ihres Umfeldes etc.) oft Gele-
genheiten zum trinken suchen. Auch wenn sie sich durch häufiges Trinken körperlich
schädigen, entwickeln sie keine Abhängigkeit. Sie sind immer in der Lage, ihr Trinken
zu beenden.
1.4.3 Gamma-Alkoholiker
Bei Gamma-Alkoholikern tritt ein vermehrtes Erleichterungstrinken auf, sie entwickeln
so eine seelische und körperliche Abhängigkeit. Es fällt ihnen immer schwerer, normale
Belastungen ohne Alkohol durchzustehen. Sie werden abhängig und geraten in den
Kontrollverlust, d.h. geringste Mengen Alkohol bewirken ein unüberwindliches Verlan-
gen nach mehr Alkohol.
Der Gamma-Alkoholiker ist abhängig und in Phasen des Alkoholismus werden wir auf
ihn zurückkommen.
1.4.4 Delta-Alkoholiker
Delta-Alkoholiker sind Gewohnheitstrinker mit körperlicher und psychischer Abhän-
gigkeit und der Unfähigkeit zur Abstinenz. Die Bezeichnung ,,Gewohnheitstrinker" ist
richtig, wenn von der Gewöhnung und Anpassung des Zellstoffwechsels an Alkohol
ausgegangen wird. Sie ist andererseits irritierend, denn die meisten Alkoholkonsumen-
ten trinken im üblichen Sinn ,,gewohnheitsmäßig" und entwickeln dabei kein Krank-
heitsbild mit Entzugserscheinungen nach einer Trinkpause. Delta ­ Alkoholiker sollte
man besser als Spiegeltrinker sehen, weil ein gewisser Alkoholspiegel im Blut ange-
strebt wird.

13
1.4.5 Epsilon-Alkoholiker
Epsilon-Alkoholiker trinken episodisch. Man bezeichnet sie auch als Quartalstrinker.
Sie trinken oft wochenlang keinen Alkohol. In regelmäßigen Abständen finden sich
Krisentage mit erhöhter Reizbarkeit, depressiver Verstimmung, Unruhe, sowie zwang-
haftem Denken an Alkohol. Sie trinken meist zwei bis drei Tage, wobei ein Kontrollver-
lust einsetzt.
Epsilon-Alkoholiker müssen unbedingt auf die Möglichkeit einer psychiatrischen Bera-
tung aufmerksam gemacht werden, weil ihre Probleme meistens in dieses Gebiet fallen.
1.5
Verlauf, Phasen der Alkoholkrankheit
Eine Suchterkrankung ist wie jede Krankheit individuell zu sehen. Wenn Jellinek, wie
andere Wissenschaftler auch, den Krankheitsverlauf in Phasen abgrenzt, so sind die
Grenzen fließend. Alkoholismus ist eine chronische Krankheit mit oft tödlichem Aus-
gang.
Dazu folgen zwei Schaubilder.
Schaubild 1: Krankheitsverlauf und Gesundungsprozeß des Abhängigen.
In Schaubild 2 wird der gleiche Prozeß unter Einbeziehung der Angehörigen dargestellt.
Vom ersten so genannten Erleichterungstrinken bis zum Exzess ist ein langer Weg. Der
Heilungsprozeß ist in der Regel nicht kürzer, auch das sollen die Schaubilder belegen.
Beide Schaubilder sind vom Blaukreuzverlag Wuppertal. Sie stellen ein Schema dar,
welches von Jellinek u.a. entwickelt wurde und das es dem Betroffenen ermöglicht, sich
wieder zu finden, oder aber den helfenden Fachkräften zu einer Standortbestimmung
verhilft.

14

15

16
1.6
Trinkverhalten
Zum Trinkverhalten der Deutschen hat W. FEUERLEIN folgende Angaben gemacht:
,,Über das Trinkverhalten der Deutschen liegt eine Untersuchung aus dem Jahr 1968
vor (Wieser, 1972). Sie zeigt, dass etwa 5% der erwachsenen Bevölkerung total absti-
nent leben. 20 % sind ,,Gesinnungsabstinente", die nur unter sozialem Druck Alkohol
konsumieren. 30 - 35% trinken häufig geringe Mengen alkoholische Getränke, 55%
hingegen sind starke Trinker mit einem Durchschnittskonsum von mindestens 100 ml
reinem Alkohol (umgerechnet) täglich.
0,75% der Bevölkerung trinken täglich mehr als 200ml. Es lässt sich daraus der Schluß
ziehen, dass die Masse der Bevölkerung relativ wenig trinkt, nur wenige trinken große
Mengen Alkohol. Dieses Trinkverhalten hat sich ... durch neuere Untersuchungen
bestätigt. Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung / BZGA)
von 1984 (Personen ab 14 Jahren)...tranken 14% der Bevölkerung täglich Bier, 3%
Wein und 2% Spirituosen... Bemerkenswert ist, dass der erste Alkoholkonsum meist im
12. Lebensjahr erfolgt. Abstinenzler bilden eine Randgruppe der Bevölkerung, Bei der
Untersuchung von 1968 (Wieser, 1972, Das Trinkverhalten der Deutschen), wurde
festgestellt, dass sie ein schlechtes Image haben." (W.FEUERLEIN, a.a.O., S.90)

17
Diese Zahlen werden vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen gestützt:
,,...Zahlen, die zu denken geben ( aus dem Jahre 1985 )
Alkoholabhängige Bundesbürger
1,5 ­ 2 000 000
davon Frauen
600 000
davon Jugendliche
200 000
mitbetroffene Familienangehörige
4 - 8 000 000
Todesfälle p. Jahr infolge von Alkoholmissbrauch
13 000
...Und noch etwas sollte nachdenklich machen: in den 32,5 Milliarden DM, die 1985
für alkoholische Getränke ausgegeben wurden, sind 6,1 Milliarden DM Steuereinnah-
men des Staates enthalten. Vielleicht ein Grund, warum bisher noch keine Regierung
ernsthafter über Beschränkungen für Alkoholwerbung nachgedacht hat?
(Bundesverband der Betriebskrankenkassen, Alkohol im Betrieb, Essen1987, S.6).
1.7
Medizinische Folgen des Alkoholismus
Alkohole sind Zellgifte. Alkohol (C2H5OH) gehört zu den Stoffen, die sich mit Wasser
und Fetten mischen und verteilt sich deshalb sehr schnell im ganzen Körper. Alkohol
dringt in alle Gewebe und Zellen ein. Angriffspunkt der Schädigung ist die Zelle als
Grundbaustein des Körpers. In jeder Zelle laufen biochemische Reaktionen ab. Auf-
und Abbau von Stoffen, sowie Nachrichtenübertragung etc. erfolgen über Zellen, also
auch über solche, die durch Alkohol gestört werden. Besonders die aus fettähnlichen
Stoffen bestehenden Zellmembranen verlieren durch Alkohol ihre Festigkeit. Es erfolgt
ein Zerfall der Zellen.
Nach diesen allgemeinen Ausführungen über Alkoholismus, seinen Verlauf und die
gesundheitlichen Folgen können nun Überlegungen zu therapeutischen Möglichkeiten
für alkoholkranke Menschen mit Behinderung folgen.

19
2.
Die Situation des Therapeuten
In den nachfolgenden Abschnitten, soll die Situation des Therapeuten und des alkohol-
kranken Menschen mit Behinderung gegenübergestellt werden, um so einen Vergleich
zu ermöglichen. Das soll durch zwei eigenständige Kapitel geschehen, die aber zum
Teil ineinander übergehen. So dokumentiert sich schon eine Verflechtung und zeigt,
welche Bedeutung diese Position für den späteren Therapieverlauf haben.
Es ist üblich, beim Patienten mit der Anamnese zu beginnen, aber auch der Therapeut
hat eine Vorgeschichte. Es kann zu einer sozialen Distanz zum Alkoholiker kommen.
Diese Distanz vergrößert sich zum behinderten alkoholkranken Menschen. Als Kind
wurden auch beim Therapeuten bestimmte Verhaltensmuster aufgebaut.
Die grundsätzliche Abneigung der Gesellschaft gegenüber Andersartigen hat auch den
Therapeuten geprägt. Er, als Teil der Gesellschaft, muß sich die Frage gefallen lassen,
welche Einstellungen er im Umgang mit behinderten Menschen besitzt. Diese Fragestel-
lung geht einen Schritt weiter als die nach seiner Rollendistanz.
Allport sagt: ,,Einzig jene Art von Kontakt, die Leute dazu bringt gemeinsam etwas zu
tun, scheint eine Chance zur Änderung von Einstellungen zu haben...Das gemeinsame
Streben nach dem Ziel stiftet die Solidarität." (G.W. Allport, Die Natur des Vorurteils,
Köln 1971, S.20).
Therapeut und Patient haben zwar ein gemeinsames Ziel, aber unterschiedliche Voraus-
setzungen, die wieder bremsend wirken. Sie unterstützen in früheren Jahren gelerntes
Verhalten.
Das Distanzverhalten der Gesellschaft ist gegenüber den Lernbehinderten nicht so
negativ entwickelt wie zum geistig behinderten Menschen. Dieses Verhalten dürfte sich
aber mit zunehmender Technisierung der Arbeitswelt verschlechtern, auch wenn die
Werkstätten für Behinderte einen Beitrag zur Normalisierung leisten wollen und zum
Teil auch leisten können. In der Vergangenheit war der Lernbehinderte durch seine
Tätigkeiten im ungelernten Bereich noch eine Hilfe im Arbeitsprozeß. Auch der Thera-
peut hat gelernt, Leistungen zu erbringen (z.B. seine Ausbildung), die sich auch bezahlt

20
machen. Er funktioniert in dieser Leistungsgesellschaft und dient als Vorbild. Das ist
nicht unbedingt negativ zu sehen. Er muß nur wissen, dass die WfB ein Schutzziel
verfolgt. In unserer Leistungsgesellschaft wird der Wert der Arbeit in Produktivität
gemessen.
In der WfB dagegen gibt es zwar Produktivität, aber Wertmaßstab sind die sozialen und
humanen Auswirkungen. Im Grundsatzprogramm der Lebenshilfe ­ am 10.November
1990 verabschiedet ­heißt es: ,,Die WfB muß sowohl Ort der Persönlichkeitsentwick-
lung und Lebensraum als auch Stätte produktiver Tätigkeit sein ...Die WfB hat einen
besonderen Auftrag und ist nicht mit einem erwerbswirtschaftlichen Betrieb vergleich-
bar." (Grundsatzprogramm der Lebenshilfe, Marburg 1990, S.46)
Beim Therapeuten sind viele Lebensbereiche selbstverständlich in Ordnung, die beim
behinderten Alkoholkranken ohne sein Verschulden nicht in Ordnung sind.
Die Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft, wie auch zur Gruppe der behinderten
Mitarbeiter in der WfB ist gestört. Ein Konflikt, der durch Alkohol gelöst werden soll.
Unsere Gesellschaft versteht es, humane Bereiche zu schaffen, aber sie versteht es nicht,
diese Bereiche zu integrieren. So stellt sich die Frage nach der Humanität der Gesell-
schaft und der von ihr geschaffenen Schutzbereiche.
Für den behinderten alkoholkranken Menschen wirkt erschwerend, dass er durch seine
Behinderung und durch den Alkoholismus an den Rand gedrängt wird, unabhängig
davon, ob er in einer WfB arbeitet oder nicht. Unsere Gesellschaft ist eine Alkohol
trinkende Gesellschaft und steht gerade deshalb dem Alkoholismus feindlich gegenüber
(vereinfacht mit M. Luther: dem Volk aufs Maul geschaut, trinken ja, saufen kann
vorkommen, aber mit Säufern wollen wir nichts zu tun haben).
Feuerlein schreibt: ,,Die Beurteilung des Alkoholismus und des Alkoholmissbrauchs war
früher so gut wie immer mit Werten besetzt. Diese wertenden Vorurteile bestehen auch
heute noch, im positiven wie im negativen Sinn. Sie stellen eine beträchtliche Erschwe-
rung in der Behandlung der Rehabilitation des einzelnen Alkoholikers dar." (W. Feuer-
lein, a.a.O., S.2)
Es gibt keine Statistik über das Trinkverhalten des Therapeuten. Ich kann annehmen,
dass sie sich unauffällig bewegen. Ihr Alkoholverbrauch wird unter dem statistischen

21
Durchschnitt der Bevölkerung liegen, weil die tägliche Konfrontation mit dem Thema
Alkohol zum Nachdenken und entsprechendem Verhalten führen kann.
Wenn sich beim behinderten alkoholkranken Menschen ein Therapieerfolg einstellen
soll, ist die emotionale Beziehung zum Therapeuten sehr wichtig. Die Tatsache, dass ein
Alkoholiker trocken bleiben kann, obwohl er seine Therapie gegen den Rat des Thera-
peuten abgebrochen hat, ist so auf den lernschwachen oder auch geistig behinderten
Alkoholkranken nicht zu übertragen. Denn dieser Personenkreis benötigt besondere
Führung durch Andere. Eine Selbständigkeit des Individuums ist immer in den von der
Behinderung gesetzten Grenzen zu sehen.
Führung ist nicht mit Bevormundung gleichzusetzen. Hier wird ein partnerschaftliches
Zusammenwirken gefordert. Besonders bei Kommunikationsschwierigkeiten besteht die
Gefahr der Bevormundung. Hierzu ein Zitat aus dem Grundsatzprogramm der Lebens-
hilfe:
,,In erster Linie müssen die Nichtbehinderten nach neuen Möglichkeiten der Kommuni-
kation suchen. Es gilt, den Partner ernst zu nehmen, wenn er eine eigene Meinung
vertritt und zwar auch dann, wenn er sich nur schwer verständlich machen kann
...sollten auch die Nichtbehinderten bereit sein, das gemeinsame Gespräch zu üben und
geeignete Formen zu entwickeln" (Grundsatzprogramm der Lebenshilfe, a. a. O., S.14)
Hier komme ich wieder zum Ausgangspunkt, der besagt, dass Therapeuten Erfahrungen
(Übung) im Umgang mit behinderten Menschen brauchen. Die möglicherweise große
Selbsterfahrung des Therapeuten ist hier sekundär, auch wenn sie so gut ist, dass sie
negative gesellschaftliche Vorerfahrungen verdrängt. Da die Ursachen des Alkoholis-
mus sehr vielschichtig sind, sollte die Therapie auch nicht von einem Therapeuten,
sondern von einem Gremium von Fachleuten durchgeführt werden. Aus dem Team wird
der Patient eine besondere Person seines Vertrauens suchen und finden. Wichtig ist
auch, dass Personen, die das Vertrauen des Patienten vor Therapiebeginn besaßen, vom
Therapeuten mit einbezogen werden. Der Therapeut muß z.B. bei Hörgeschädigten
nicht nur die Gebärdensprache beherrschen, sonder auch die Organisationsstruktur der
Einrichtung kennen, wenn der Hörgeschädigte aus einer solchen kommt.

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Der reine Austausch von Sozial- und Entlassungsberichten mit dem zuständigen Sozial-
arbeiter reicht hier nicht aus. Es besteht hier die Gefahr, dass über den Kopf des behin-
derten alkoholkranken Menschen hinweg von Institution zu Institution gesprochen wird.
Ich habe unsere behinderten Mitarbeiter, die eine Therapie in einer Fachklinik für
Suchtkranke hinter sich hatten, zum Therapeuten befragt. Sie erklärten mir mit einer
Ausnahme, dass sie sich vom Therapeuten angenommen und verstanden fühlten. Herr
D. (Anlagen Bl. 1-40) sagte mir: ,,Die waren alle in Ordnung, aber gesagt habe ich
denen noch lange nicht alles."
Ein ehemaliger Patient erklärte mir, dass er mit dem Therapeuten gar nicht zu Recht
kam. Der Therapeut habe behauptet, er kenne unsere WfB und da gebe es keine Hörge-
schädigten etc. Auf Vorhalte des behinderten Patienten, dass es diese in unserer WfB
doch gibt, habe der Therapeut gesagt:"Das kann nicht sein, ich war selbst mal in der
WfB Gifhorn und habe keine Hörgeschädigten gesehen." Auch wenn sicher nicht genau
nachzuvollziehen ist, was dort im Gespräch ablief, hat sich der Patient offenbar ,,von
oben herab" behandelt gefühlt. Die in diesem Disput gezeigten Spannungen konnten im
Therapieverlauf nicht mehr beseitigt werden.
Ich stelle in den Raum, dass der Therapeut evtl. nicht bedachte, dass bei einem behin-
derten alkoholkranken Menschen immer ein Stück Seele mehr ,,zertrampelt" ist, als
beim nichtbehinderten Alkoholkranken.

23
3.
Zur Situation des behinderten alkoholkranken Menschen
W. Feuerlein schreibt: ,,Auch bei Alkoholikern, die anscheinend freiwillig zur Behand-
lung kommen, steht in der Regel irgendein Druck des sozialen Umfeldes im Hinter-
grund" (W. Feuerlein, a. a. O., S.175). Diese Aussage gilt auch für den behinderten
alkoholkranken Menschen. Er steht, wenn er sich mehr oder weniger eingestanden hat,
dass es so nicht weitergehen kann, theoretisch vor vielen therapeutischen Möglichkei-
ten. Es gibt die unterschiedlichsten Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen.
In der WfB Gifhorn besteht eine Selbsthilfegruppe, die durch einen Therapeuten der
Suchtberatungsstelle des diakonischen Werkes Gifhorn geleitet wird. Diese Selbsthilfe-
gruppe ermöglicht eine Vorbereitung (Motivation) auf die Therapie. Ein Teil der behin-
derten Alkoholkranken besucht diese Gruppe in der WfB nicht, sondern eine der ande-
ren in der Stadt Gifhorn.
Es gibt viele Fachkrankenhäuser, die sich bereit erklären, den behinderten Alkoholkran-
ken aufzunehmen, wenn er in die bestehende Konzeption hineinpasst. Wenige Fach-
krankenhäuser haben eine Konzeption für Hörgeschädigte. Einige Kliniken haben eine
Konzeption für Langzeitgeschädigte. Damit ist das Angebot fast erschöpft. Es besteht
die Gefahr, dass der behinderte Alkoholkranke bei den langzeitgeschädigten Trinkern
zugeordnet wird. Hier nun einige Zitate aus Antwortschreiben, die belegen, wie es um
die Therapiemöglichkeit alkoholkranker Menschen mit Behinderung steht:
Psychiatrisches Landeskrankenhaus Weinsberg, 05. 10. 1994: ,,...bemühen wir uns im
Einzelfall, auch Behinderten zu helfen, mit ihrer Suchterkrankung fertig zu werden.
Dies bedeutet, dass wir uns bemühen, Behinderte in unser allgemeines Programm zu
integrieren."
Diakonie Freistatt-Haus Moorpension, 07. 09. 1994:
,,Aufgrund der Tatsache, dass wir von der BfA nicht belegt werden, und der Tradition
unseres Hauses (Diakonischer Auftrag), nehmen wir natürlich auch relativ schwache
Patienten und versuchen, entsprechende Angebote zu machen...Ob im Einzelfall auch
jemand hier zu behandeln wäre, der in einer WfB tätig ist, kann ich nicht ausschließen."

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Blaues Kreuz in der evangelischen Kirche BV Hannover, 15. 06. 94:
,,In meiner langjährigen Tätigkeit in einer Suchtberatungsstelle bis Ende 1993 sind wir
vor allem in den letzten Jahren auf die Problematik Alkohol in Verbindung mit geistiger
Behinderung aufmerksam geworden. Es wurde damals ein Arbeitskreis von Mitarbei-
tern gegründet, die alle mit Alkohol Problematiken und/oder geistigen Behinderungen
zu tun hatten. Erfahrungswerte ... könnte ich Ihnen telefonisch mitteilen."
Deutscher Blindenverband eV. Bonn, 27. 06. 1994:
,,Der Deutsche Blindenverband ist der Spitzenverband der Blinden und Sehbehinderten
in Deutschland. Er ist ausschließlich mit Fragen der Behinderung durch Blindheit und
Sehbehinderung und deren Folgen befasst. Die von Ihnen angesprochenen Krankheiten
­ z.B. Alkoholismus - sind keine blindenspezifischen Behinderungen, sondern Krankhei-
ten, die von Ärzten oder Therapeuten speziell behandelt werden müssen."
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren eV. Hamm, 29. 06. 94: ,,Eine Zuordnung
von Therapieeinrichtungen zu bestimmten Behinderungen können wir nicht vorneh-
men."
Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen e. V. Mün-
chen, 21. 06. 1994:
,,Anliegend erhalten Sie die Anschriften von Einrichtungen an denen suchtkranke
Hörgeschädigte eine Therapie oder spezielle Behandlung erhalten können. Außerdem
ist die Beherrschung der Gebärdensprache für das Betreuungspersonal (Ärzte, Schwes-
tern usw.) eine notwendige Voraussetzung."
Niedersächsischer Taubstummen-Fürsorgeverein/Beratungsstelle Osnabrück, 21. 06.
1994:
,,Bei Suchtproblemen gibt es zwei Einrichtungen in unserer Nähe, die alkoholkranke
Hörgeschädigte betreuen:...das Landeskrankenhaus Lengerich und das Fachkranken-
haus To hus in Dötlingen zwischen Delmenhorst und Oldenburg."
Therapiezentrum Münzesheim Kraichtal ­ aus einer Beschreibung der Einrichtung:
,,Wir nehmen grundsätzlich jeden Suchtkranken auf, also auch Patienten mit einer
zusätzlichen Beeinträchtigung, beispielsweise Rollstuhlfahrer, Stotterer, Ausländer
ohne Deutschkenntnisse."

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Verband der Fachkrankenhäuser für Suchtkranke e.V. Kassel, 13. 6. 94 : ,,Weiter ist
eine Liste der Einrichtungen beigefügt, in den Behinderte behandelt werden können."
Eine Auswertung der Liste des Verbandes der Fachkrankenhäuser ergab folgendes:
Benannt wurden 23 Fachkrankenhäuser, davon waren vier für Störungen im Sehbereich,
acht Häuser für Störungen im Motorik-Bereich, ferner sieben Fachkrankenhäuser für
Sprachstörungen empfohlen.
Alle Fachkrankenhäuser wurden angeschrieben.
Im Gegensatz zu den Dachverbänden und Interessenvertretungen der diversen Behin-
dertenvertretungen antworteten alle angeschriebenen Einrichtungen.
Nur vier Fachkrankenhäuser ließen durchblicken, dass sie eine Konzeption für Men-
schen mit langjähriger Suchtkarriere haben. Hier liegt ein eingeschränkter intellektueller
Leistungsbereich vor und/oder lebenspraktische Fertigkeiten müssen neu erarbeitet
werden.
Interessant waren Telefonate mit Kliniken, in den es u.a. um ihre Benennung in einer
behindertenspezifischen Liste ging. Folgende Äußerungen fielen: ,,Wie wir da reinge-
kommen sind, wissen wir auch nicht...Wir hatten mal einen Blinden hier, ob der das
weitergegeben hat?...Ab und zu haben wir Rollstuhlfahrer hier, ob die das weiterge-
ben?...Also wir haben diese Daten nicht erstellt oder veranlasst, bei uns wird keine
behindertenzenspezifische Therapie angeboten. Behinderte mit Ausweis, Hörgeschädig-
te mit Hörgerät, Rollstuhlfahrer etc. können aufgenommen werden, wenn sie in die
nicht auf Behinderte ausgerichtete Konzeption passen."
Folgerung:
Suchtkranke behinderte Menschen werden nicht grundsätzlich abgewiesen, aber auch
nicht besonders eingeladen.
Es müssen Überlegungen angestellt werden, warum das so ist. Wo sind Defizite? Wich-
tig ist, die Situation des Therapeuten und des Behinderten zu analysieren. Hier können
Ursachen begründet sein, die eine Therapie beeinträchtigen oder fördern.
Zu den durch Alkohol verursachten physischen und psychischen Schäden, die es zu
beheben gilt, kommen eine oder mehrere Behinderungen.

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Ich möchte nun auf den lern- oder geistig behinderten Menschen eingehen. Hier ist das
Lernverhalten besonders problematisch. Dieser Personenkreis kann in Sonderschulen
entsprechend seinen individuellen Möglichkeiten gefördert werden. Die Inhalte werden
der konkreten Situation entnommen und selbstverständlich wird Lesen, Schreiben und
Rechnen gelernt. Die Forderungen der Lebenshilfe gehen weiter, wenn sie integrative
Klassen und ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit mit Nichtbehinderten fordert.
Herr D. (s. Anlage Entlassungsbericht S.2, Gutachten der LVA S.6) hatte keine Mög-
lichkeit, so gefördert zu werden. Wie viele Schüler seiner Altersgruppe verblieb er
einfach auf der Hauptschule. Er wurde geduldet, aber nicht gefördert. Im Gutachten der
LVA (Anlage Gutachten S.16) heißt es sehr kurz:
,,...eine angeborene Minderbegabung an der Grenze zur leichten geistigen Behinde-
rung:"
Im gleichen Gutachten wird für einen möglichen Arbeitseinsatz festgestellt (Anlage
Gutachten S. 13):
"...sonstige Einschränkungen: ohne geistige Anforderungen (beschützende Werkstatt)!"
Diese Formulierungen zeigen vieles auf. Hier wird mit zwei Sätzen gezeigt, dass nicht
gedacht wird. Es ist doch nicht so, dass in einer WfB ohne geistige Anforderungen
gearbeitet wird. Auch das Mindestmaß verwertbarer Arbeit, wie auch jede Beschäfti-
gung setzt geistige Anforderungen voraus. Hier fehlt noch ein Stück Öffentlichkeitsar-
beit, denn WfBs sind keine Bastelstuben (aber auch Bastelarbeiten sind nicht unter der
Rubrik ,,keine geistigen Anforderungen" einzustufen) .Dem behinderten Menschen wird
so die Identifikation über die Arbeit erschwert und so der Weg zum Alkohol erleichtert.
Diese Formulierungen zeigen ein Stück Schubladendenken der Ärzte und anderer
Fachkräfte.
Noch stärker wird die Einstellung der Fachkräfte zum alkoholkranken behinderten
Menschen im folgenden Zitat deutlich (s. Anlage Gutachten LVA, S.9):
,,Es handelt sich um einen wahrscheinlich angeborenen Schwachsinn...Solche stark
geistig behinderten Menschen können nur unter günstigen äußeren Bedingungen in
einem Arbeitsverhältnis gehalten werden."

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1995
ISBN (eBook)
9783836603669
DOI
10.3239/9783836603669
Dateigröße
2.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst - Fachhochschule Hildesheim, Holzminden, Göttingen – Sozialwesen, Studiengang Sozialpädagogik
Erscheinungsdatum
2007 (Juni)
Note
1,0
Schlagworte
behinderter alkoholismus therapie sozialpädagogik suchthilfe nachsorge behinderung sucht
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Titel: Überlegungen zu therapeutischen Möglichkeiten für alkoholkranke Menschen mit Behinderung
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