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Soziale Polarisierung in deutschen Städten

Entwicklungen, Gegenmaßnahmen und eine Fallstudie des Bund-Länderprogramms „Soziale Stadt“ aus Göttingen

©2004 Diplomarbeit 150 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
In dieser Arbeit sollen das Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - Die Soziale Stadt“ sowie eine lokale Einrichtung, die im Rahmen der Umsetzung des Konzeptes in Göttingen-Grone einen Akteur in Form eines Vereines darstellt, thematisch behandelt werden.
Das Programm stellt einen neuen konzeptionell sehr umfassenden Versuch dar, den negativen Folgen von gesellschaftlicher Umverteilung, Armut und sozialräumlicher Polarisierung in Städten entgegen zu wirken. Das Phänomen der Herausbildung von ganzen Stadtteilen mit größeren sozialen Problemlagen hatte Ende der 1970er bis in 1980er Jahre eingesetzt und war eine mittelbare Folge der ersten wirtschaftlichen Krisen und des problematischer werdenden Arbeitsmarktes.
Nach dem Regierungswechsel von 1998 war damit begonnen worden das Programm „Soziale Stadt“ zu einem eigenständigen Programm mit eigener wissenschaftlicher Begleitung zu machen. Neben dem Programmstart auf nationaler Ebene startete die EU ihre Initiative URBAN. Das Konzept für das Programm „Soziale Stadt“ war in den 1990er Jahren schrittweise aus den Erfahrungen in der Städtesanierungspraxis entstanden. Man hatte erkannt, dass den komplexen Problemen nur mit einem ganzheitlichen, integrativen Ansatz beizukommen war. Vorgänger des neuen umfassenden Konzeptes waren unterschiedliche lokale Initiativen gewesen, in denen Kommunen und Wohnungsbauunternehmen sich der verstärkenden Probleme in Quartieren und Stadtteilen annahmen. Sogenannte integrative Handlungskonzepte, bei denen Aufgaben ressortübergreifend und koordiniert angegangen werden sollen, sind in den 1990er Jahren zu einer Art Mode geworden. Sie finden sich in mehreren Bereichen, wie z.B. auch im Bereich des Stadtmarketings. In Zeiten von großer Finanzknappheit bei Bund, Ländern und Kommunen verspricht man sich von integrativen Handlungskonzepten eine möglichst abgestimmte und somit konfliktarme und kostengünstige Bewältigung von Aufgaben. Die Forderung nach integrativen Handlungskonzepten steht auch im Zusammenhang mit der Entwicklung und der Umsetzung der „Lokalen Agenda 21“. Diese geht zurück auf die „Agenda 21“, welche weltweit das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung in Ökologie, Ökonomie und Politik vorgeben soll, und die bei den Weltkonferenzen 1992 in Rio de Janeiro und 1996 in Istanbul entwickelt worden war. Im Bereich des Städtebaus und der regionalen Entwicklung bedeutet dies, dass bei Planungen und deren Umsetzung […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tim Höltermann
Soziale Polarisierung in deutschen Städten
Entwicklungen, Gegenmaßnahmen und eine Fallstudie des Bund-Länderprogramms
,,Soziale Stadt" aus Göttingen
ISBN: 978-3-8366-0716-2
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland, Diplomarbeit, 2004
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2008
Printed in Germany

1
Inhalt
EINLEITUNG... 3
1.
SOZIALRÄUMLICHE POLARISIERUNG ... 7
1.1
Typische benachteiligte Quartiere... 9
1.2
Spezifische Probleme der Quartiere und der Prozess der Segregation... 12
2.
DAS PROGRAMM... 17
2.1
Intentionen und Ziele ... 20
2.1.1 Gemeinwesenarbeit ... 23
2.2
Auswahl und Strukturen der Programmgebiete... 28
2.2.1
Größe und Zuschnitt der Programmgebiete ... 34
2.3
Handlungsstrategien ... 36
2.3.1
Ressourcenbündelung... 37
2.3.1.1
Ressourcenbündelung auf Bundes- und EU-Ebene ... 41
2.3.1.2
Ressourcenbündelung auf kommunaler und Länderebene... 44
2.3.2
Übersicht über die einsetzbaren Fördermittel ... 49
2.3.2.1
Städtebauförderung ... 49
2.3.2.2.
EU-Fonds ... 51
2.3.2.3 Weitere
nichtstaatliche
Mittel ... 53
2.3.3
Quartiersmanagement und Bewohneraktivierung... 54
2.3.4 Erstellung
integrierter
Handlungskonzepte... 59
2.3.4.1
Teilnehmende Akteure ... 63
2.3.4.2
Beispiele für Projekte und Maßnahmen ... 68
2.4
Programmbegleitung ... 70
2.4.1
Vorläufiges Gesamtresümee des Programms... 74
2.4.2
Ergebnisse eines niedersächsischen Vernetzungstreffens... 78
3.
SANIERUNGSGEBIETE GRONE-SÜD UND ALT-GRONE ... 81
3.1
Warum zuerst Grone? ... 83
3.2
Strukturelle Merkmale und Probleme der Sanierungsgebiete ... 85
3.3
Sanierungskonzept ... 89
3.3.1
Sanierungsziele und erste geplante Maßnahmen ... 90
3.3.2.
Akteure und endogene Potentiale... 93
3.3.3
Bisheriger Programmverlauf und Umsetzung von Maßnahmen... 98
3.4
Vorläufiges eigenes Programmresümee ... 101

2
4.
DAS STADTTEILZENTRUM GRONE-SÜD ... 103
4.1
Ansprüche und Arbeit des Stadtteilzentrums ... 104
4.2
Tätige Initiativen und Angebote ... 106
4.3
Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Soziale Brennpunkte
Niedersachsen e.V... 109
5.
NUTZERBEFRAGUNG IM STADTTEILZENTRUM ... 111
5.1
Die Fragebögen... 113
5.1.1
Die Kontrollgruppe ... 114
5.1.2
Die Nutzerinnen und Nutzer des Stadtteilzentrums ... 116
5.2
Die Ergebnisse im Einzelnen ... 120
5.2.1
Die Kontrollgruppe ... 120
5.2.2
Die Nutzer des Stadtteilzentrums... 125
5.2.2.1
Demographisches ... 126
5.2.2.2
Angebotsnutzungsmuster ... 128
5.2.2.3
Aktivierung und Beteiligung... 130
5.2.2.4
Internationale Vielfalt und interkulturelles Lernen... 133
5.2.3
Kritiken und Anregungen von Seiten der Befragten... 137
5.3
Zusammenfassende Bewertung der Ergebnisse ... 138
6.
ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG... 141
LITERATUR ... 145

3
Einleitung
In dieser Arbeit sollen das Bund-Länder-Programm ,,Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf -
Die Soziale Stadt" sowie eine lokale Einrichtung, die im Rahmen der Umsetzung des Konzeptes in
Göttingen-Grone einen Akteur in Form eines Vereines darstellt, thematisch behandelt werden.
Das Programm stellt einen neuen konzeptionell sehr umfassenden Versuch dar, den negativen Folgen
von gesellschaftlicher Umverteilung, Armut und sozialräumlicher Polarisierung in Städten entgegen
zu wirken. Das Phänomen der Herausbildung von ganzen Stadtteilen mit größeren sozialen Problem-
lagen hatte Ende der 1970er bis in 1980er Jahre eingesetzt und war eine mittelbare Folge der ersten
wirtschaftlichen Krisen und des problematischer werdenden Arbeitsmarktes.
Nach dem Regierungswechsel von 1998 war damit begonnen worden das Programm ,,Soziale Stadt"
zu einem eigenständigen Programm mit eigener wissenschaftlicher Begleitung zu machen. Neben dem
Programmstart auf nationaler Ebene startete die EU ihre Initiative URBAN (LÖHR, 2000). Das
Konzept für das Programm ,,Soziale Stadt" war in den 1990er Jahren schrittweise aus den Erfahrungen
in der Städtesanierungspraxis entstanden. Man hatte erkannt, dass den komplexen Problemen nur mit
einem ganzheitlichen, integrativen Ansatz beizukommen war. Vorgänger des neuen umfassenden
Konzeptes waren unterschiedliche lokale Initiativen gewesen, in denen Kommunen und Wohnungs-
bauunternehmen sich der verstärkenden Probleme in Quartieren und Stadtteilen annahmen. Sogenann-
te integrative Handlungskonzepte, bei denen Aufgaben ressortübergreifend und koordiniert angegan-
gen werden sollen, sind in den 1990er Jahren zu einer Art Mode geworden. Sie finden sich in mehre-
ren Bereichen, wie z.B. auch im Bereich des Stadtmarketings. In Zeiten von großer Finanzknappheit
bei Bund, Ländern und Kommunen verspricht man sich von integrativen Handlungskonzepten eine
möglichst abgestimmte und somit konfliktarme und kostengünstige Bewältigung von Aufgaben. Die
Forderung nach integrativen Handlungskonzepten steht auch im Zusammenhang mit der Entwicklung
und der Umsetzung der ,,Lokalen Agenda 21". Diese geht zurück auf die ,,Agenda 21", welche welt-
weit das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung in Ökologie, Ökonomie und Politik vorgeben soll,
und die bei den Weltkonferenzen 1992 in Rio de Janeiro und 1996 in Istanbul entwickelt worden war
(HERMANNS, 2000). Im Bereich des Städtebaus und der regionalen Entwicklung bedeutet dies, dass
bei Planungen und deren Umsetzung möglichst alle relevanten Akteure beteiligt werden und deren
Handeln untereinander koordiniert wird.
Wie bei so vielen anderen öffentlichen Maßnahmen und Programmen gibt es auch zum Programm
,,Soziale Stadt" sowohl Kritik als auch Zustimmung. Lobend kann man so z.B. hervorheben, dass
innerhalb des Konzepts alle erdenklichen lokalen Potentiale koordiniert und genutzt werden sollen und
gegenüber früheren Bemühungen die angesprochenen Bevölkerungsgruppen mit in die Gestaltung von
Maßnahmen eingebunden und zur aktiven Selbsthilfe motiviert werden. Kritisch hingegen könnte man
anmerken, dass das Programm eigentlich nur ein mittelfristiges Flickwerk und politisch werbewirksa-

4
mes Almosen im Rahmen einer gesellschaftlichen Entwicklung ist, deren Verlauf nicht für die Errei-
chung der Ziele des Programms förderlich ist. Diese Entwicklung tendiert zu einer Umverteilung des
Reichtums mehr und mehr zu Gunsten derjenigen, die schon über die größten Teile davon verfügen.
Aus der Perspektive dieser grundsätzlichen Kritik wird diese Entwicklung vielleicht mit den Schlag-
worten ,,Leeres Wort des Armen Rechte, leeres Wort des Reichen Pflicht..."
1
am plakativsten charak-
terisiert.
Bei allen Bewertungen des Programms, das an sich selbst sehr hohe Ansprüche stellt, muss man sich
immer vor Augen halten, dass sich sein Konzept in einer fortlaufenden Entwicklungsphase befindet.
Demnach wäre es unberechtigt Schwachstellen zu hart zu kritisieren. Alle Beschreibungen in dieser
Arbeit haben in Bezug auf dieses Programm einen vorläufigen Charakter.
Der Ort der Untersuchung, das ,,Stadtteilzentrum Grone-Süd e.V.", ist als Akteur nicht zwingend im
allgemeinen Konzept vorgesehen. Jedoch ist der Verein zu einem wichtigen Träger lokaler Gemein-
wesenarbeit geworden. In den ersten Monaten der Kontaktaufnahme und der Ausarbeitung des Frage-
bogens wurde miterlebbar bewusst, dass diese Einrichtung längst nicht nur mit den Herausforderungen
der alltäglichen Arbeit konfrontiert ist. Neben seinen eigentlichen Aufgaben hat das Stadtteilzentrum
mit Problemen wie Finanznot und Diskontinuität beim Personal zu kämpfen (die Mitarbeiter sind z.T.
unbezahlte ABM-Kräfte und / oder ehrenamtliche Idealisten). Viele Angebote sind für die Nutzer
nicht umsonst. Teilweise müssen diese auch etwas von sich aus beisteuern, seien es nun Mithilfe oder
materielle Sachen. Um in dieser Einrichtung eine standardisierte Nutzerbefragung durchführen zu
können, musste auch ich meinen Teil diesbezüglich dort beitragen, indem ich mich bei einigen Veran-
staltungen zum Helfen zur Verfügung stellte. Von meiner ersten Vorstellung im Stadtteilzentrum bis
hin zur konkreten Durchführung der Befragung vergingen mehrere Monate. In dieser Zeit ergab sich
eine Entwicklung, in deren Verlauf das nötige gegenseitige Vertrauen aufgebaut werden konnte und
die Arbeitsfragen im gemeinsamen Austausch von Vorschlägen und Erfahrungen entwickelt wurden.
Befand ich mich anfänglich noch in einem Alleingang mit meinem Vorhaben, so erkannten die ange-
stellten Mitarbeiterinnen des Stadtteilzentrums bald, dass sowohl ihre Arbeit als auch die Programm-
begleitung durch die ,,Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Niedersachsen e.V. (LAG)"
ihren Nutzen aus den Ergebnissen einer solchen Untersuchung ziehen könnten. So ergaben sich
insofern Synergieeffekte, dass ich Gelegenheit hatte mit Herrn Heribert Simon von der LAG ein
Gespräch zu führen und mit ihm meinen Umfragebogen zu besprechen. Ferner unterstützten mich die
Mitarbeiter vor Ort nach ihren Möglichkeiten bei der Durchführung der Befragung.
Um eine einführende Einsicht in die Problematik zu geben, wird in Kapitel 1. wird die fortschreitende
soziale und räumliche Segregation in Städten und deren Umland thematisiert. Sie ist ursächlich für die
Implementierung des Programms ,,Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf ­ die Soziale Stadt".
1
Textstelle aus der ,,Internationalen", Lied der marxistischen Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert.

5
Im sehr umfassenden Kapitel 2. wird das Programm selbst vorgestellt. Dabei wird auf Ziele, Pro-
grammgebiete und Handlungsstrategien eingegangen.
Das Kapitel 3. beschäftigt sich speziell mit dem Göttinger Programmgebiet und der bisherigen Pro-
grammumsetzung vor Ort. Damit wird eine Übersicht über die lokalen Zusammenhänge gegeben,
innerhalb derer auch das unter 4. vorgestellte Stadtteilzentrum steht.
Im Kapitel 5. werden die in Grone-Süd und im Stadtteilzentrum durchgeführten Kontrollgruppen- und
Nutzerbefragungen vorgestellt und ausgewertet.
Das Abschlusskapitel 6. dient einer eigenen kurzen Bewertung des Programms ,,Soziale Stadt".
Eingangs sei hier noch darauf hingewiesen, dass in dieser Arbeit bei Personengruppen bezeichnenden
Substantiven auf eventuell ergänzende feminine Pluralformen (-innen / -Innen) größtenteils verzichtet
wird. Sofern eine entsprechende Pluralform maskulin ist (z.B. ,,Nutzer"), ist sie selbstverständlich so
zu verstehen, dass die Bezeichnung Gruppenangehörige beiderlei Geschlechts einschließt (,,Nutzer"
und ,,Nutzerinnen"). Dagegen wird die zusätzliche Betonung der femininen Pluralform im Rahmen
dieser Arbeit zur gezielten Konkretisierung von Angaben genutzt.
Gedankt sei an dieser Stelle all jenen, die mir bei der Ideen-, Material- und Datenbeschaffung für diese
Arbeit halfen: Die Mitarbeiter/-innen des Stadtteilzentrums-Grone; Herr Simon von der LAG; Zwei
hilfsbereite Kommilitonen aus dem Geographischen Institut und ein weiterer Bekannter, die mir bei
der Kontrollgruppenbefragung halfen und denen ihre Hilfsbereitschaft noch am gleichen Tag mit
reichlich Speis und Trank gedankt wurde; Frau Birsl von ZENS (Zentrum für Europa- und Nordame-
rikastudien), die mir die Vorbereitende Untersuchung zu Grone-Süd und Alt-Grone und eine Sozial-
raumanalyse zur Verfügung stellte.

7
1. Sozialräumliche Polarisierung
In diesem Kapitel werden die Prozesse der sozialräumlichen Segregation und deren Folgen und
Erscheinungsformen behandelt. Die breiter gefächerten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die
für die Entwicklung hin zur sozialräumlichen Segregation ursächlich sind, werden in einem anderen
Kapitel ausführlicher behandelt.
In den USA und in Europa werden seit den 1990er Jahren Strukturen sozialer Ungleichheit in Städten
beschrieben und diskutiert, die eine neue Qualität der bisher bekannten Formen von Diskriminierung
und Benachteiligung darstellen. Wurde früher noch von ,,sozialen Brennpunkten" gesprochen, so wird
dieser Begriff nun bewusst vermieden, da er den falschen Eindruckt vermittelt, dass es sich um relativ
schnell zu lösende, punktuelle Probleme handeln würde. Dieser Begriff mag in den 1960er Jahren
noch zutreffend gewesen sein, jedoch geht es heute um strukturelle Prozesse, die nicht mit kurzfristi-
gem Aktionismus aufgehalten werden können (HÄUßERMANN, 2000). Infolge der wirtschaftlichen
Entwicklung der letzten Jahrzehnte drifteten hohe und niedrige Einkommen auseinander. Damit stieg
die Anzahl der Personen, die Transferleistungen beziehen. Ursachen sind die Zunahme von strukturel-
ler Arbeitslosigkeit und von schlecht bezahlten Arbeitsplätzen. In Kombination mit der Suburbanisie-
rung, dem Rückgang des sozialen Wohnungsbaus und der entsprechenden Belegungspolitik
2
, waren
mit dieser Entwicklung die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass sich in den 1980er und
1990er Jahren in Städten mehr und mehr ganze Stadtteile und Wohnquartiere herausbildeten, in denen
sich v.a. die Verlierer der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung konzentrierten
(Migranten, unterste Einkommensschichten, Arbeitslose etc.). In den Städten und deren Umland fand
eine sukzessive, sozialräumliche Polarisierung statt. Diese sozialräumliche Segregation hatte zur
Folge, dass sich in diesen Quartieren die spezifischen Probleme dieser Bevölkerungsgruppen konzent-
rierten, sich gegenseitig verstärkten und sich auch neue Konflikte ergaben. Bedingt durch die Überla-
gerung von sozialer Ungleichheit, ethnischer Differenz und räumlicher Verinselung ergaben sich unter
anderem ethnische Konflikte und Konkurrenzen im Kampf um Erwerbsarbeitsmöglichkeiten und
Sozialleistungen (BÖHME & SCHULERI-HARTJE, 2002, S.2). Unter diesen Konflikten und dem
Negativimage der Quartiere, das sich mit der Zeit herausbildete, litten die verschiedensten Bereiche
des sozialen Zusammenlebens. Es ließ sich in diesen Stadtteilen und Quartieren der Trend feststellen,
dass sich die Situation zunehmend verschlechterte. Diese Entwicklung mit ihrer eigenen Dynamik
wird häufig als ,,Abwärtsspirale" bezeichnet.
Der Prozess der sozialräumlichen Polarisierung ist primär ein Prozess des selektiven Fort- und Zuzu-
ges aus den und in die benachteiligten Quartiere. Wer es sich leisten kann zieht meistens weg, um den
2
In Westdeutschland sind die Wohnungen in diesen Siedlungen zudem häufig nach einem einseitigen
Vergabesystem belegt worden. Dies ist dort eine der Hauptursachen für die Konzentration einkommens-
schwacher Haushalte (D
IF
U, 1998).

8
Nachteilen vor Ort zu entgehen, oder er meidet diese Quartiere. Zurück bleiben vermehrt jene, die
keine andere Wahl haben als hier zu wohnen, sei es aus wirtschaftlichen Gründen und / oder weil
ihnen hier der Wohnraum zugeteilt wurde. Insgesamt handelt es sich um eine soziale Spaltung, die
sich in Abhängigkeit von Bodenwerten, Mietenniveaus, Milieus und Images in räumlichen Polarisie-
rungen niederschlägt (BECKER & LÖHR, 2000).
Die Bundesregierung sieht die Gefahr einer ethnisch-sozialen Ghettobildung durch den Prozess der
sozialen Segregation. Die Segregationstendenzen innerhalb der Städte können ansatzweise als Segre-
gation von Ausländern und Deutschen beschrieben werden, womit auch eine entsprechende sozia-
le/sozioökonomische Segregation verbunden ist, da Ausländer sozial benachteiligter sind, was Bil-
dung, Einkommen und Arbeit betrifft. Allerdings wurden in 8 Städten
3
der alten Bundesländer, von
denen man verfügbare Daten hatte, auch gegenläufige Trends auf der Ebene von Stadtteilen festge-
stellt. Der sogenannte Segregationsindex (Ausmaß ungleicher Verteilung von Deutschen und Auslän-
dern im Stadtgebiet) hatte in diesen Städten seit 1980 insgesamt abgenommen. Dies wird damit
erklärt, dass sich das Umzugsverhalten der Ausländer zunehmend dem der Deutschen angeglichen hat.
Innerhalb der Städte fiel auf, dass der Segregationsgrad in den inneren Bereichen der Städte wesent-
lich geringer ist als an den Stadträndern. Allerdings war der Grad der Segregation auch an den Stadt-
rändern weiter rückläufig, was mit einer zunehmenden Zustimmung und nachbarschaftlicher Integrati-
on von Deutschen und Ausländern im Wohngebiet erklärt wird. Hierbei ist festzustellen, dass dieser
Prozess in den alten Bundesländern wesentlich weiter gediehen ist als in den neuen Bundesländern
4
(DEUTSCHER BUNDESTAG, 2001, S.6 f). Die zu beobachtenden sozialen Segregationsprozesse
und -stadien bergen jedoch aus mehreren Gründen weiterhin eine hohe Brisanz in sich. Der Beobach-
tung, Analyse und Bewertung dieser Prozesse soll ein hoher politischer Stellenwert eingeräumt wer-
den. Die Segregationsprozesse entziehen sich einer bundesweiten, flächendeckenden Erfassung durch
die laufende Raumbeobachtung des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung, da die amtliche
Statistik auf der kleinräumigen Ebene von Wohnquartieren zu wenig differenzierte Daten zur Verfü-
gung stellt. Allerdings soll sich die Datenbasis durch die Kooperation der Städte mit der ,,Bundesagen-
tur" (ehem. Bundesanstalt) für Arbeit zukünftig verbessern. Zur Analyse sozialer Segregationstenden-
zen in der deutschen Wohnbevölkerung werden kleinräumig vergleichbare Daten zu Haushaltsein-
kommen, Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug innerhalb der Städte benötigt. (DEUTSCHER BUN-
DESTAG, 2001, S.6).
Es sei noch einmal betont, dass es eine gewisse räumliche Segregation bezüglich der Wohnorte und
der materiellen Lage von Menschen im Grunde schon zu allen Zeiten gegeben hat. In verschiedenen
3
Bei diesen 8 Städten handelt es sich um Düsseldorf, Duisburg, Oberhausen, Köln, Wiesbaden, Karlsruhe,
Freiburg und Nürnberg.
4
Gemessen wurde das Verhältnis von Deutschen und Ausländern untereinander mit einer Befragung
bezüglich der Wahrnehmung von Ausländern im Wohngebiet im Jahre 1999. Es ergaben sich folgende
Werte. Alte Bundesländer: Kernstädte 74%, Ober- und Mittelzentren 56%, sonstige Gemeinden 46%. Neue
Bundesländer: Kernstädte 55%, Ober- und Mittelzentren 32 %, sonstige Gemeinden 15% (DEUTSCHER
BUNDESTAG, 2001, S.7).

9
Stadttgebieten entstanden und entstehen Subkulturen mit verschiedenen Lebensstilen und Verhaltens-
weisen, die schließlich spezifische Milieus entstehen lassen. Gewiss ergaben sich auch schon zu
früheren Zeiten in einigen Quartieren Probleme, die aus den Lebenslagen der Bewohner resultierten.
Die soziale Segregation ist also kein völlig neues Phänomen, aufgrund dessen in jüngster Zeit ein
entsprechendes neues Programm zur Milderung der resultierenden Probleme begonnen wurde. Die
Segregation löst auch nicht gleich automatisch soziale Probleme aus. Eine gewisse Segregation kann
für die Menschen manchmal sogar persönliche Vorteile in sich bergen. So werden z.B. die in jeder
Großstadt vorkommenden und extrem segregierten Wohngebiete der Reichen von Stadtplanungs-
ämtern und Sozialämtern nicht als besonders problematisch eingestuft. Auch häufig vorkommende
,,ethnische Kolonien" können zuweilen für Zuwanderer Schutzräume darstellen. In diesen Schutzräu-
men fühlen sich die Migranten mit ihrer mitgebrachten Identität akzeptierter und sicherer. Sie können
sich dort langsamer und selbstsicherer mit der neuen Heimat auseinandersetzen, so dass diese Quartie-
re als Übergangsorte fungieren. Allerdings kann sich dieser integrative Charakter auch in das Gegen-
teil verkehren, wenn die Bewohner gezwungenermaßen in einem solchen Ghetto leben und sich diese
Subkultur mit der Zeit nach außen hin isoliert (HÄUßERMANN, 2000, S.18). HÄUßERMANN
rechtfertigt die Verwendung des Begriffs ,,Ghetto" damit, dass es nach einer gewissen Zeit aus solchen
Quartieren kein Entkommen mehr gäbe. In einem ,,Strudel multipler und kumulativer Benachteili-
gung", der mit dem unfreiwilligen Wohnen in solchen Quartieren verbunden ist, entstünden ,,Ghettos
ohne Mauern".
Wenn im Rahmen dieser Arbeit von ,,sozialräumlicher Segregation" und von daraus resultierenden
Problemen die Rede ist, so ist eine sozialräumliche Segregation gemeint, die zu einer eigendynami-
schen Abwärtsentwicklung in den entsprechenden Stadtteilen / Quartieren führt. In diesen Gebieten
hat sich die Situation in den vergangenen Jahren merklich verschlechtert, so dass man zu der Überzeu-
gung kam diesem Entwicklungsprozess etwas entgegen setzten zu müssen, um unnötig hohe soge-
nannte gesellschaftliche Folgekosten abzuwenden.
In der Literatur werden die betroffenen Gebiete als ,,Stadtteile" und ,,Quartiere" bezeichnet. Diese
Begriffe werden meist synonym gebraucht. In dieser Arbeit wird vor allem der Begriff ,,Stadtteil"
verwendet. Dieser soll hier für alle betroffenen Gebiete stehen, ob es sich nun um einzelne Wohnquar-
tiere innerhalb von Stadtteilen oder um ganze Stadtteile handelt.
1.1 Typische benachteiligte Quartiere
Anfang der 1990er Jahre gab es ein europäisches Austauschprogramm, bei dem im sogenannten
,,Quartiers en Crise ­ Netzwerk" ein Informations- und Erfahrungsaustausch zu 44 Quartieren in
insgesamt 25 Städten aus 10 europäischen Staaten stattfand. Dies geschah aus der Erkenntnis heraus,

10
dass sozialräumliche Segregationsprozesse ein international verbreitetes Phänomen darstellen und die
Folgen der Prozesse gesellschaftlicher Restrukturierung, die zu erheblicher Arbeitslosigkeit und den
damit verbundenen sozialen Folgen führen, im europäischen Maßstab durchaus vergleichbar sind,
auch wenn es graduelle landesspezifische Unterschiede geben mag (FROESSLER, 1994, S.19).
FROESSLER (1994, S.19 ff) hat im Rahmen des Programms eine vereinfachende aber treffende
europaweite Typisierung vorgenommen, mit der er vier verschiedene Quartierstypen charakterisiert. In
folgenden Quartierstypen konzentrieren sich zumeist sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen:
· zentrale, häufig historische Innenstadtquartiere;
· traditionelle Arbeiterquartiere, häufig am Rande der Innenstädte oder in räumlich isolierter
Lage, oft in der Nähe von (vielfach mittlerweile stillgelegten) industriellen Produktionsanla-
gen;
· monofunktionale Wohnsiedlungen, häufig Großwohnsiedlungen und
· ehemals illegale Siedlungen in Südeuropa.
Nach F
ROESSLERS
Klassifizierung sind die klassischen Arbeiterquartiere (meist innenstadtnahe,
verdichtete und nicht modernisierte Altbauquartiere) und die zumeist monofunktionalen Großwohn-
siedlungen der Nachkriegszeit für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland relevant. Bei den
Großwohnsiedlungen sind für die östlichen Bundesländer die großen Plattenbausiedlungen besonders
hervorzuheben. Bei der zweiten großen Befragung des DIfU von 2002 wurden die deutschen Pro-
grammgebiete bezüglich ihrer Nutzungsstruktur und ihres Baualters klassifiziert. Bei der Auswertung
der Daten von 219 Gebieten ergab sich, dass in der BRD mit 36,1% der Typ ,,Neubaugebiet, reines
Wohngebiet" am häufigsten vorkommt. Diesem Typ folgten auf der Rangskala ,,Nutzungsgemischte
Altbaugebiete" (19,6%) sowie ,,Nutzungsgemischte Neubaugebiete" und ,,nach Baualter und Nutzung
gemischte Gebiete", mit jeweils 19,2 % (BECKER, 2003, S. 72 f).
Im Folgenden werden die vier Gebietstypen, wie sie F
ROESSLER
(1994, S. 19ff) für ganz Europa
definiert hat, bezüglich ihrer Häufigkeit und ihrer Ausprägungen in den verschiedenen europäischen
Ländern näher beschrieben :
Benachteiligte zentrale Innenstadtquartiere kommen in zahlreichen Ländern vor. In Südeuropa handelt
es sich bei diesem Quartierstyp sehr häufig um die historischen Zentren der großen Städte
5
. Hier
finden sich große Anteile von Wohnbevölkerung, die noch in einer historischen Bausubstanz leben,
die heutigen Wohn- und Hygieneansprüchen in keiner Weise mehr genügt. In diesen Quartieren fehlen
zumeist sanitäre Ausstattungen, die Wohnungen sind klein, die Bebauung ist dicht und es stehen kaum
nutzbare Frei- und Grünflächen zur Verfügung. Häufig kommt ein belastendes hohes Verkehrsauf-
5
FROESSLER (1994, S.19) nennt als typische Beispiele für solche Quartiere die Ciutat Vella in Barcelona,
Ribeira im Villa Nova de Gaia (Portugal). Aber auch im Norden des Städtenetzwerkes fand sich in Dublin
ein solches Quartier, die Liberties.

11
kommen hinzu, und eine häufige touristische Nutzung dieser Gebiete bringt weitere Belastungen
durch nächtliche Aktivitäten mit sich. Mit der Veränderung der Wohnansprüche führen diese Faktoren
mit der Zeit zu einer selektiven Abwanderung und zum Verbleib immobilerer und sozial benachteilig-
ter Bevölkerungsgruppen. Dennoch ist die zentrale Lage nicht durchweg negativ zu bewerten, da
solche Quartiere oft einen hohen Anteil angestammter Bevölkerung aufweisen. Familiäre und andere
soziale Netze sind noch sehr intakt, und auch zahlreiche kleinere Handwerksbetriebe existieren noch,
so dass die angestrebte Mischnutzung hier schon vorhanden ist. Bei der Implementierung von Sanie-
rungsprogrammen muss man sich allerdings sehr über Nutzungskonflikte und Ziele im Klaren sein.
Die Gebiete sind meist einem sehr starken Nutzungs- und Investitionsdruck ausgesetzt. Bei der Mo-
dernisierung ist sowohl auf Denkmalschutz als auch auf den Milieuschutz zu achten, d.h. dass einer
Gentrification bedacht vorgebeugt werden muss. Allerdings ist es besonders für Hauptstädte, in denen
diese Quartiere mit ihren historischen und kulturellen Erbe sogar nationale Funktionen haben, proble-
matisch, unter dem Entwicklungsdruck sozialverträgliche Projekte im Sinne der Bewohner durchzu-
setzen.
Die traditionellen Arbeiterquartiere sind meist in der ersten Welle industriellen Wachstums und
beschleunigter Suburbanisierung entstanden. Sie können sich in zentrumsnaher Lage befinden (z.B.
Dortmund ­ Nordstadt) oder fern der Zentren in isolierter Lage (z.B. Duisburg ­ Bruckhausen). Die
peripheren Gebiete sind in der Regel monostrukturiert und aufgrund ihrer Nähe zu industriellen
Anlagen häufig hohen Immissionsbelastungen ausgesetzt. Die zentraler gelegenen Arbeiterquartiere
weisen hingegen noch häufiger eine Mischnutzung auf, besonders Kleingewerbe und Handel (insbe-
sondere mit Gütern des täglichen Bedarfs). In solchen Quartieren kommt es häufig zu einer hohen
Konzentration von ausländischer Bevölkerung und zu einer entsprechenden Umstrukturierung des
Warenangebotes. Daraus ergeben sich für die Migranten Versorgungs- und Wohnverhältnisse, die von
ihnen als sehr positiv eingeschätzt werden. Allerdings nehmen die verbleibende Bevölkerung und die
Bevölkerung der restlichen Stadt diese Entwicklung zuweilen als eine Bedrohung wahr und bewerten
den Segregationsprozess als Überfremdung. Große industrielle Brachflächen und verlassene Produkti-
onsgebäude können, trotz gelegentlich belasteter Böden, Entwicklungspotentiale sein. Diese Flächen
liegen oft in der Nähe dieser Quartiere und sind bei den anderen Gebietstypen nicht zu finden.
Monofunktionale Wohnsiedlungen entstanden mit leichten Zeitverschiebungen zwischen den unter-
schiedlichen europäischen Staaten in der Nachkriegszeit. Damals war das vorrangige Ziel mit einer
möglichst schnellen Produktion von vielen Wohneinheiten der allgemeinen Wohnungsnot zu begeg-
nen. Das Verständnis von Städtebau und Stadterneuerung war damals rein baulicher Art. Daraus
resultierten Monostrukturen, die alleine dem Zweck des Wohnens dienen sollten und kaum ökonomi-
sche Nutzungen und Versorgungseinrichtungen vorsahen. Das Ziel der schnellen Wohnraumprodukti-
on begünstigte den Einsatz von industriell vorgefertigten Bauteilen, die recht bald Mängel aufweisen.
Aus der schlechten Isolierung und Abdichtung dieser Gebäude resultierten häufig Feuchtigkeit in den
Wohnungen und damit verbunden hohe Wohnnebenkosten für die betroffenen Mieter. Die schnelle,

12
industrielle Bauweise zeigt sich am deutlichsten an den Großwohnsiedlungen in der Ex-DDR und in
anderen osteuropäischen Ländern, wie auch bei den großen sogenannten ,,Wohnmaschinen" in Frank-
reich. Auch in anderen europäischen Ländern (außer in Belgien und den Niederlanden) kommt dieser
Siedlungstyp in abgeschwächter Form vor. Diese Quartiere wurden schnell zu Sammelbecken sozial
benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Die daraus resultierenden Probleme kumulierten, so dass diese
Quartiere immer stärker in den Blickpunkt städteplanerischer Aktivitäten rückten. Zu den komplexen
Probleme, die die angespannte soziale Lage der Bewohner weiter verschlimmern, zählen: ein zuneh-
mender Verfall der Bausubstanz, Vandalismus, Ghettoisierungseffekte, ein schlechtes Image und eine
entsprechende Stigmatisierung der Bewohner. Ghettoisierungseffekte ergeben sich vor allem dort, wo
diese Quartiere in der Peripherie von Städten liegen
6
. Aber auch in zentraler gelegenen, unmittelbar an
das Stadtzentrum angrenzenden Großwohnsiedlungen sind derartige Effekte vorhanden
7
.
Ehemals illegale Siedlungen finden sich vorrangig in den südeuropäischen Staaten. Diese Siedlungen
waren an den Rändern der großen Städte errichtet und später durch Stadterweiterungen in die Städte
integriert und auch legalisiert worden. Errichtet wurden diese Quartiere vor allem von der zugewan-
derten Landbevölkerung, die auf der Suche nach Arbeit in die Städte wanderte und sich auf diese
Weise Unterkünfte schuf. Als negative Folgen dieser ungeplanten Siedlungsentwicklung gelten bis
heute: fehlende wichtige Infrastruktureinrichtungen, fehlende Grünflächen und fehlende Dienstleis-
tungsangebote. Hinzu kommt eine fehlende Verkehrsanbindung an Stadtzentren und an Industrie- und
Gewerbegebiete, die für die Bewohner dieser Gebiete ein besonderes Problem darstellt, da die Mobili-
tät in ihrem Alltagsleben einen erheblichen Zeit- und Finanzaufwand bedeutet.
1.2 Spezifische Probleme der Quartiere und der
Prozess der Segregation
In Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf drohen sich Armut, Marginalisierung und Aus-
grenzung derart zu konzentrieren, dass für einen Teil der Bewohner Arbeit, Wohnung und gesell-
schaftliche Einbindung nicht mehr ohne weiteres gewährleistet sind. Im Zuge der selektiven Migration
verlassen sozial aktive Bewohner vermehrt die Stadtteile. Als Folge kommt mehr und mehr der soziale
Verbund abhanden. Die Bewohner werden zunehmend mit dem sozialen Konfliktstoff vor Ort alleine
gelassen. Dieser Konfliktstoff verstärkt sich durch interethnische Probleme, so dass sich das Leben in
den Quartieren selbst als benachteiligend auswirkt. Das Abhandenkommen des sozialen Verbundes
6
Beispiele sind Osterholz ­ Tenever in Bremen, Mayfield in Cork (Irland) und Mülhausen und Les Mureaux
in Frankreich.
7
Beispiele hierfür sind Hulme in Manchester oder Neu ­ Beresinchen in Franfurt / Oder.

13
bedeutet, dass das Zusammenleben im Stadtteil, das vorher tendenziell eher durch ein Nebeneinander
bis Miteinander von Menschen verschiedener sozialer und ethnischer Bevölkerungsgruppen geprägt
war, zunehmend von einem Nebeneinander bis Gegeneinander geprägt wird
8
. Sichtbare Signale für
eine allgemeine Abwärtsentwicklung in einem Stadtteil oder Quartier sind vernachlässigte Gebäude-
bestände, zunehmende Wohnungsleerstände, Verwahrlosung, Vandalismus, wachsende Kriminalität in
öffentlichen Räumen und Drogenkonsum ( DEUTSCHER BUNDESTAG, 2001, S.3). Diese einleiten-
de Beschreibung der betroffenen Stadtteile handelt die spezifischen Probleme und die Ursachen nur
knapp und zusammenfassend ab. In den betroffenen Quartieren entwickeln sich zwischenmenschliche
Konfliktpotentiale aufgrund der Entsolidarisierung und der Konkurrenz von Menschen in ähnlich
benachteiligten Lebenslagen. Gleichzeitig finden eine Abgrenzung gegenüber Menschen mit anderen
kulturellen und ethnischen Identitäten und eine Höherbewertung der eigenen Identität statt, die der
Aufwertung des eigenen angeschlagenen Selbstwertgefühls dient. Im Folgenden werden die Konflikt-
potentiale ausführlicher behandelt, indem die spezifischen Probleme der Quartiere aus den Perspekti-
ven von verschiedenen Lebensbereichen genannt werden. Einzelne Ursachen und Wirkungen werden
aufgedeckt, die in ihrer Gesamtheit den Prozess der sozialräumlichen Segregation ausmachen. Die
Ursachen und Wirkungen der Probleme in den betroffenen Quartieren bedingen sich teilweise einan-
der. Sie können sich zuweilen in regelrechten ,,Teufelskreisen" gegenseitig verstärken. Aufgrund ihrer
Wechselbeziehung erscheint es unzureichend sie voneinander getrennt zu betrachten. Dennoch ist die
nach Lebensbereichen getrennte Betrachtung hilfreich, um sich einen geordneteren Überblick ver-
schaffen zu können. Dabei werden auch Stück für Stück die einzelnen Zusammenhänge innerhalb der
komplexen Problemgemengelage ersichtlich. FROESSLER (1994, S. 22) spricht bei seiner Betrach-
tung der verschiedenen Probleme in den betroffenen Quartieren, die er ebenfalls nach verschiedenen
Lebensbereichen getrennt vornimmt, von den ,,Elementen der multiplen Benachteiligung". Er bringt
damit zum Ausdruck, dass diese in Wechselwirkungen zueinander stehen und in ihrer Gesamtheit die
übermäßige Benachteiligung der Bewohner dieser Quartiere ergeben. Bei den nachfolgenden Betrach-
tungen mag der Eindruck entstehen, dass es sich bei allen ,,benachteiligten Quartieren" durchweg um
völlig verwahrloste, ramponierte und kriminelle Ghettos handelt, in denen das Leben einer einzigen
Tortur gleicht. Dieser Eindruck ist nicht in jedem Fall zutreffend. Es handelt sich im Folgenden um
eine Aufzählung aller möglichen Probleme in den verschiedenen Lebensbereichen, die von Quartier zu
Quartier unterschiedliche spezifische Ausprägungen und Intensitäten haben können. Die Problemlagen
ähneln sich. Allerdings kann es zwischen verschiedenen Städten und verschiedenen europäischen
Ländern graduelle Unterschiede in deren Schwere geben.
8
Laut ( B
ÖHME
& S
CHULERI
-H
ARTJE
, 2002, S.2) bedeutet ein Miteinander, dass vielfältige Kontakte
zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern aus unterschiedlichsten Gruppen entstehen, Gruppen im Stadt-
teil konstruktiv interagieren und Aktivitäten über Gruppengrenzen hinweg gemeinsam durchgeführt wer-
den. Wenn dagegen nur Menschen aus der jeweils eigenen Gruppe miteinander agieren und sich gegen an-
dere Gruppen eher abgrenzen, spricht man von einem Nebeneinander. Ein Gegeneinander liegt vor, wenn
sich Bevölkerungsgruppen in der Weise negativ auseinandersetzen, dass eher Distanz, Vorurteile und Dis-
kriminierung (bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen) die Regel sind.

14
Ökonomie: Globale ökonomische Umstrukturierungsprozesse haben ihre unmittelbaren Auswirkungen
auf nationaler und regionaler Ebene. Es kommt zum Niedergang ganzer Industrien, zu hoher Arbeits-
losigkeit und selbst Teile der Erwerbsbevölkerung verarmen. Neue Verdienstmöglichkeiten werden
nicht in dem Maße neu geschaffen wie Arbeitsplätze vernichtet werden. In den benachteiligten Quar-
tieren führt dies zu hohen Arbeitslosenzahlen, die in der Regel nicht durch ökonomische Eigenpotenti-
ale oder durch regionales Wachstum kompensiert werden können. Die Bewohner dieser Quartiere
bleiben aufgrund mehrerer benachteiligender Faktoren vom Nutzen neuer Wachstumspotentiale
weitestgehend ausgeschlossen. Innerhalb der Quartiere sind Jugendliche und Angehörige ethnischer
Minderheiten überproportional von der Arbeitslosigkeit betroffen. Die zentralen Ursachen liegen bei
Jugendlichen in der Regel in der geringen beruflichen Qualifizierung und Bildung. Bei Älteren werden
ehemals wertvolle Qualifizierungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt. Viele Betroffene
leben schließlich in der Dauerarbeitslosigkeit mit der Folge, dass Familien bereits in der zweiten und
dritten Generation arbeitslos sind. In diesen Quartieren wachsen Kinder auf, in deren zentralen Sozia-
lisationsumfeld Familie kaum jemand mehr einer geregelten Beschäftigung nachgeht. Je nach gesell-
schaftlichem Kontext führt die (Dauer-) Arbeitslosigkeit im unterschiedlichen Maße zur Verarmung
und zur sozialen Marginalisierung (FROESSLER, 1994, S.22 ff). Die soziale Marginalisierung der
benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist eine der zentralen Ursachen dafür, dass sich diese Gruppen
in den problematischen Wohnquartieren gesammelt haben. Dies geschieht über marktvermittelnde
Prozesse (direkte Benachteiligung bei der Wohnungssuche aufgrund der sozialen Lage / Mietpreise)
oder durch Belegungsmechanismen im Bereich des sozialen Wohnungsbaus (FROESSLER, 1994,
S.24). Als eine weitere Folge der räumlichen Konzentration von Armutsbevölkerung ergibt sich in den
Quartieren eine sinkende Kaufkraft und eine damit einhergehende geringe Investitionstätigkeit. Durch
die Aufgabe von Ladenfilialen verschlechtern sich die örtlichen Berufsausbildungs- und Nahversor-
gungsmöglichkeiten, so dass die Quartiersbewohner auch diesbezüglich eine fortschreitende räumliche
Marginalisierung erfahren, die auch als eine weitere persönliche gesellschaftliche Marginalisierung
empfunden wird.
Soziale Probleme : Als Folge der zunehmenden Verarmung und sozialen Ausgrenzung verfestigt sich
im Bewusstsein von großen Teilen der Quartiersbevölkerung eine Perspektivlosigkeit, die sich ihrer-
seits auf die individuellen Lebensperspektiven verstärkend negativ auswirken kann. So ergeben sich
z.B. im verstärkten Maße gesundheitliche Probleme, die aufgrund falscher Ernährungs- und Lebens-
gewohnheiten entweder eine direkte Folge der Armut sein können oder sich aus Suchtproblemen
ergeben, die sich u.a. im Gebrauch härterer Drogen und im Alkoholismus äußern. Niederländische
Untersuchungen belegen, dass diese gesundheitlichen Probleme in vielen Fällen selbst zur Ursache für
weitere Arbeitslosigkeit werden. Im Falle der Drogenabhängigkeit besteht neben einem fortschreiten-
den gesundheitlichen Verfall ein direkter Zusammenhang zur Kriminalität, z.B. der Beschaffungskri-
minalität, die sich in Einbrüchen u.ä. äußert. Die Kriminalität ist aber bei weitem nicht nur in der
Sucht begründet. Sie rührt auch daher, dass sich den Jugendlichen dieser Quartiere eine eigene Öko-

15
nomie erschließt, in der das ,,Karriere machen" (Geld verdienen, Status erwerben, Konsumgüter
kaufen) nur mittels einer kriminellen ,,Karriere" möglich ist. Ihnen ist der Zugang zu einer regulären
Ökonomie versperrt, und sie haben in ihrem Umkreis bereits kriminelle Vorbilder für den eigenen
Erfolg. Unter derartigen Bedingungen entwickeln sich in solchen Ghettos mit der Zeit eigene Werte-
systeme. Die Kriminalität führt zu einer Verunsicherung der restlichen Bevölkerung und zu einer
Verschlechterung des Stadtteilimages. Übertriebene Darstellungen in der lokalen Presse tun ihr Übri-
ges. Aufgestaute Aggressionen führen zu Vandalismus im Wohnumfeld. Der Vandalismus ist in
solchen Quartieren ein weit verbreitetes Problem, er festigt die Stigmatisierung des Quartiers und trägt
zur weiteren Verunsicherung seiner Bewohner bei. Die Perspektivlosigkeit der älteren Quartiersbe-
wohner und die Probleme im sozialen Umfeld wie im Wohnumfeld haben negative Auswirkungen auf
die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen. Teilweise gehen diese unregelmäßig zur
Schule oder sie geben die Schule verfrüht auf. Sie werden früh mit den verschiedensten Problemen
ihres Umfeldes konfrontiert und verunsichert. Sie nehmen die ihnen vorgelebte Perspektivlosigkeit
wahr, die auch bei ihnen eine steigende Motivationslosigkeit hervorruft (FROESSLER, 1994, S. 24 f).
Wegen des hohen Anteils an Kindern und Jugendlichen in solchen Quartieren besteht in diesem
Bereich ein besonders großer Handlungsbedarf .
Wohnen: Die Wohnbedingungen sind in den betroffenen Stadtteilen häufig gekennzeichnet durch
vergleichsweise schlechte und vernachlässigte Bausubstanz (bei z.T. überhöhten Mieten), ein schlech-
tes Wohnumfeld, eine geringe Freizeitqualität und unzureichende soziale Infrastrukturen. Die Quartie-
re sind durch eine hohe Fluktuation geprägt. Der Hauptgrund für den Fortzug, vor allem von Familien
aus der sozial mobileren deutschen Mittelschicht, ist neben dem schlechten Image des Quartiers die
Sorge um die Bildungszukunft der Kinder. Begründet ist diese Sorge in dem hohen Anteil von auslän-
dischen und sozial schwachen Kindern in den Kindergärten wie in den Schulen. Infolge dieses selekti-
ven Fort- und Nachzuges konzentrieren sich in den betroffenen Stadtteilen Haushalte, deren ökonomi-
sche und soziale Lage angespannt ist (Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Geringverdiener, Ausländer-
und Aussiedlerhaushalte). Die Quartiere weisen häufig einen hohen Anteil an Kindern und Jugendli-
chen auf (BÖHME & SCHULERI-HARTJE, 2002, S.2). Bauliche Mängel sind vor allem in den
Großwohnsiedlungen der Nachkriegszeit ein Problem. Die Ursachen für den schlechten Instandhal-
tungszustand von Gebäuden und Wohnungen liegen nicht selten in den Fehlern von Wohnungsverwal-
tungen begründet und werden durch Vandalismus verschärft. Schlechte Ausstattung und veraltete
Standards kommen vor allem in den Quartierstypen der historischen Innenstadtquartiere und in den
alten Arbeiterquartieren vor
9
. Hier resultieren diese Probleme aus fehlenden Ressourcen seitens der
Hauseigentümer, die von den Mieteinnahmen leben oder ihre Häuser auch selber nutzen. In einigen
Ländern werden die Möglichkeiten zur Behebung solcher Umstände auch aktiv von staatlicher Seite
9
F
ROESSLER
(1994, S.26) nennt als ein besonders prägnantes europäisches Beispiel die südliche Innenstadt
von Dublin, dort haben 42,3 % der Haushalte weder Bad noch Dusche.

16
vereitelt
10
. Probleme im Wohnumfeld ergeben sich aus den spezifischen baulichen Eigenschaften der
Quartierstypen. Die in Großwohnsiedelungen vorhandenen Freiräume sind, wie die Siedlungen selbst,
zumeist von geringer ästhetischer Qualität. Diese Freiräume sind für eine individuelle Nutzung kaum
geeignet und wirken häufig abweisend. Zudem können sie auch sogenannte ,,Angsträume" (z.B.
einsame und schwer einzusehende Ecken im Gelände) haben, so dass bei zahlreichen Projekten das
Anliegen im Vordergrund steht, das Wohnumfeld insbesondere für Frauen sicherer zu gestalten. In
den historischen Stadtkernen Südeuropas und in den ehemals illegalen Siedlungen ergeben sich
Wohnumfeldprobleme vor allem durch das Fehlen von Freiräumen. In den Stadtkernen stellen starke
Immissionsbelastungen durch Gewerbe und Verkehr ein zusätzliches großes Problem dar. Bei der
Belegung von Wohnungen kommen häufig Überbelegungen vor. Armut führt vor allem in südeuropäi-
schen Staaten dazu, dass größere Familienverbände zum weiteren Zusammenleben auf engstem Raum
gezwungen sind. Auch in Deutschland ist als eine Folge der Wohnungsnot eine ähnliche Tendenz zu
beobachten. Stand in den 1980er Jahren noch mehr Wohnraum leer, so ist dieser heute häufig ausge-
lastet. Die damals begonnene innovative Umnutzung von Wohnraum für ökonomische und soziale
Zwecke wurde im Laufe dieser Entwicklung nicht weiter fortgesetzt (FROESSLER, 1994, S.26f).
Für Immobilienbesitzer hat die Verschlechterung von Quartiersimages in sofern Nachteile, als dass
sich die Werte ihrer Immobilien in diesen Quartieren verschlechtern. Neben immer wiederkehrenden
Schäden durch Vandalismus haben diese dann nicht auch zuletzt aus diesem Grund eine geringe
Motivation mehr als nur die allernötigsten Reparaturen vornehmen zu lassen.
10
In Portugal wurden die Altbaumieten vom Staat so gering festgesetzt, so dass bei den Mieteinnahmen
kaum Spielraum für Reinvestitionen bleibt. In Irland, wo die Wohnungspolitik auf Neubau und nicht auf
Renovierung setzt, werden keinerlei staatliche Fördermittel für solche Maßnahmen bereit gestellt.

17
2. Das Programm
Aufgrund der Erkenntnis, dass die sozialräumliche Segregation eine neue Qualität erreicht hatte,
reagierten die politischen Instanzen in mehreren Nationen auf diese Entwicklungen mit neuen Maß-
nahmen und Programmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. So gibt es z.B. in
Frankreich mittlerweile ein Antisegregations-Gesetz und ein Ministerium für städtische Integration.
Auch in England gibt es anlässlich der sozialen Probleme in den Innenstädten seit längerem spezielle
Förderprogramme (HÄUßERMANN, 2000, S.13). Um in Deutschland dem Prozess der Abwärtsspira-
le in den benachteiligten Quartieren entgegen zu wirken, wurden seitens der Kommunen und Woh-
nungsbauunternehmen Sanierungsmaßnahmen und verschiedenste Anstrengungen gegen Armut und
Arbeitslosigkeit unternommen. Allerdings bezogen sich diese Anstrengungen zunächst oft nur auf die
Lösung einiger weniger Probleme in den Quartieren und Stadtteilen. Kurzfristige Erfolge dieser
Bemühungen in einzelnen Bereichen wurden durch die ungelösten Probleme in anderen Bereichen
schnell wieder zunichte gemacht. Da die Komplexität der Problemlagen und deren Wechselwirkungen
untereinander nicht ausreichend berücksichtigt worden waren, waren solche vereinzelten Anstrengun-
gen zum Scheitern verurteilt. Nach einigen negativen Erfahrungen reifte die Erkenntnis, dass nur ein
ebenso komplexes Lösungskonzept in der Lage sein würde diese komplizierte Abwärtsspirale zu
bremsen. Das von der ARGEBAU
11
in den 1990er Jahren entwickelte und 1999 offiziell begonnene
Programm ,,Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf ­ die Soziale Stadt" wurde aus diesen
Erfahrungen heraus entwickelt. Das Programm "Soziale Stadt" basiert sowohl auf ausländischen
Erfahrungen als auch auf einer Reihe von Länderprogrammen, mit denen Ansätze einer integrierten
Stadtteilentwicklung seit mehreren Jahren erprobt werden (FRANKE & GRIMM, 2001). Die konzep-
tionellen Anfänge des deutschen Programms ,,Soziale Stadt" liegen in den frühen 1990er Jahren. Mit
der Auflage spezieller Landesprogramme übernahmen die Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg
Vorreiterfunktionen. In Nordrhein-Westfalen war im Mai 1993 das Landesprogramm ,,Stadtteile mit
besonderem Entwicklungsbedarf" als integriertes Handlungskonzept zu Koordinierung ressortüber-
greifender Maßnahmen begonnen worden und 1994 hatte Hamburg ein Pilotprogramm zur Armutsbe-
kämpfung begonnen. Im November 1996 mündeten die Bestrebungen der Bundesländer, Probleme
benachteiligter Quartiere bundesweit anzugehen, in dem Beschluss der Ministerkonferenz ARGEBAU
zur Bund-Länder-Gemeinschaftsinitiative ,,Soziale Stadt" (BECKER H., 2003, S.57).
Zur Ausgestaltung der Gemeinschaftsinitiative legte die ARGEBAU einen Leitfaden vor. In diesem
Leitfaden wird das gesamte Programm umrissen, und er dient Interessierten und Akteuren zur Infor-
mation über das Wesen und über die Möglichkeiten des Programms ,,Soziale Stadt". In insgesamt
sechs Oberpunkten informiert der Leitfaden über folgende Bereiche: allgemeine Eigenschaften von
Programmgebieten, Ziele und Maßnahmen, fachressortübergreifende Umsetzung auf den verschiede-
11
Die ARGEBAU ist die Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen
Minister und Senatoren der Bundesländer.

18
nen Verwaltungsebenen, nutzbare Rechtsinstrumente in Städtebau und Wohnrecht, Einsatz öffentli-
cher Mittel und Programmevaluation. Der aktuelle Leitfaden ist die zweite Fassung vom März 2000
(DIFU, 2003b, S.297).
In Absprache mit den Ländern beauftragte die ARGEBAU das DIfU (Deutsches Institut für Urbanis-
tik) in Berlin mit der Gründung eines neuen wissenschaftlichen Forschungsfeldes. Dieses Forschungs-
feld sollte die Auswahl von Beispielquartieren mit integrativen Handlungskonzepten, deren Evaluation
und die Anpassung der Städtebauförderung an die neuen komplexeren Problemlagen vorbereiten.
Nach dem Regierungswechsel von 1998 wurde das Verfahren bis hin zur bundesweiten Implementie-
rung des Programms beschleunigt: Im Juli 1999 fand in Berlin die bundesweite Auftaktveranstaltung
statt. Im September trat die Verwaltungsvereinbarung von Bund und Ländern in Kraft. Bis zum
Dezember 1999 hatten alle 16 Bundesländer zusammen insgesamt 161 Gebiete in 123 Städten für das
Programmjahr ausgewählt und angemeldet.
Anfang März 2000 fand schließlich die bundesweite ,,Starterkonferenz" für das Programm ,,Soziale
Stadt" im Haus der Kulturen in Berlin statt (BECKER & LÖHR, 2000). Im Zeitraum 1999 ­ 2001
waren schließlich bundesweit 248 Gebiete in das Programm aufgenommen worden (Becker & Böhme,
2003, S.54). 2002 ergab die zweite vom DIfU durchgeführte Befragung, dass es sich bei dem Pro-
gramm nicht fast ausschließlich um ein ,,Großstadtprogramm" handelt. Zwar liegen 52% der Gebiete
in Großstädten (über 100.000 Einwohner) und 21% der Gebiete liegen gar in Städten mit über 500.000
Einwohnern. Ein Drittel aller Programmgebiete liegen in Kommunen mit weniger als 50.000 Einwoh-
nern. In den neuen Bundesländern liegt dieser Anteil sogar bei rund 50% (BECKER H., 2003, S.57).
In der Abbildung 1 ist deutlich zu erkennen, dass besonders in den neuen Bundesländern der Grossteil
der Programmgebiete auf eher kleine Städte entfällt.
Die aus diesem Programm abgeleiteten Maßnahmen erfolgen seitens der Kommunen und Wohnungs-
baugesellschaften nicht ganz uneigennützig gegenüber den dort lebenden Bevölkerungsgruppen. Geht
es doch neben der Lebensqualität der dort Wohnenden auch um den sozialen Frieden, das Image von
Stadtteilen (und somit auch von Städten) und nicht zuletzt um Immobilienwerte. Neben der klassi-
schen Städtebauförderung gibt es mittlerweile weitere vielseitige Fördermöglichkeiten für die einzel-
nen Handlungsbereiche innerhalb des umfassenden Gesamtkonzeptes. Die gegenwärtig finanziell
kaum noch handlungsfähigen Kommunen müssen längst nicht mehr alle Kosten für die Maßnahmen
vor Ort allein aufbringen. Mit der Aussicht auf Fördergelder bemühen sich die Kommunen um die
Anmeldung von Programmgebieten.

19
Häufigkeitsverteilung der Gebiete des
Programms "Soziale Stadt" über Kommunen
verschiedener Größe in der BRD
0
5
10
15
20
25
< 2
0.
000
20
.0
00
-
< 5
0.0
00
50
.0
00
- < 1
00
.0
00
10
0.
000
-
< 20
0.0
00
20
0.
000
-
< 50
0.0
00
50
0.
000
-
< 1
Mill.
> 1
M
ill.
Größe der Kommunen nach Einwohnerzahl
Anteil an Programmgebieten in
%
Häufigkeit nach
Kommunengrößenklassen
insgesamt
...davon Anteil in neuen
Ländern
Abbildung 1 Erstellt aus Daten der 2. großen Umfrage des DifU (nach: B
ECKER
H., 2003,
S.57). Befragt wurden Vertreter aus insgesamt 222 Programmgebieten (Rücklaufquote
90%), wobei für einige Großstädte (z.B.Berlin) Mehrfachnennungen auftraten, da diese
mehrere Programmgebiete haben.
Zu einem besseren Überblick über die Entstehungsgeschichte des Programms "Soziale Stadt" lassen
sich (nach BECKER & LÖHR, 2000) folgende Daten in einer Chronologie wie folgt auflisten:
- Mai 1993: nordrhein-westfälisches Landesprogramm "Stadtteile mit besonderem Erneuerungs-
bedarf" als integriertes Handlungskonzept zur Koordinierung ressortübergreifender Maßnah-
men;
- 1994: Pilotprogramm zur Armutsbekämpfung in Hamburg, inzwischen übergeleitet in das Pro-
gramm "Soziale Stadtteilentwicklung";
- November 1996: Gemeinschaftsinitiative "Soziale Stadt" durch die Ministerkonferenz der AR-
GEBAU in Potsdam beschlossen;
- Januar 1997: Anhörung zur Städtebauförderung durch den Bundestagsausschuss für Raumord-
nung, Bauwesen und Städtebau;
- 1997: Hessisches Landesprogramm "Einfache Stadterneuerung" und Bildung einer Arbeitsge-
meinschaft von Akteursgruppen der sozialen Stadterneuerung, inzwischen "Hessische Gemein-
schaftsinitiative Soziale Stadt" (HEGISS);

20
- März 1998: Expertenworkshop beim DifU in Berlin zur Vorbereitung des ExWoSt-
Forschungsfelds "Stadtteile mit Entwicklungspriorität";
- September 1998: Ausschreibung des ExWoSt-Forschungsfelds "Stadtteile mit
Entwicklungspriorität";
- November 1998: Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen;
- Dezember 1998: Bremer Handlungskonzept "Wohnen in Nachbarschaften (WiN)";
- März 1999: Berliner Beschluss über die Einrichtung von "integrierten Stadtteilverfahren - Quar-
tiersmanagement" als Pilotvorhaben in 15 Gebieten;
- Mai 1999: Landesinitiative URBAN 21 in Sachsen-Anhalt beschlossen;
- 5. Juli 1999: bundesweite Auftaktveranstaltung zum Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" im
Schöneberger Rathaus in Berlin;
- 17. September 1999: Verwaltungsvereinbarung nach Unterzeichnung durch Bund und Länder in
Kraft getreten;
- bis Dezember 1999: Meldung von 161 Gebieten für das Programmjahr 1999 und Auswahl von
16 "Modellgebieten" durch die Länder (pro Land ein Gebiet);
- 1. und 2. März 2000: bundesweite "Starterkonferenz" zum Programm "Soziale Stadt" im Haus
der Kulturen der Welt in Berlin.
In den folgenden Unterpunkten wird auf die verschiedenen Details des Programms ,,Soziale Stadt"
näher eingegangen.
2.1 Intentionen und Ziele
Bei der Betrachtung der spezifischen Problemlagen, die sich mit den Jahren in den Programmgebieten
entwickelt haben, ist es eigentlich kaum noch erwähnenswert, dass das Ziel einer Implementierung des
Programms vor Ort natürlich die Linderung oder gar Beseitigung dieser Probleme ist. Demnach
formulieren BECKER, FRANKE, LÖHR UND SCHULERI-HARTJE (2003, S.12) auch das Stoppen
und das Umkehren der sogenannten ,,Abwärtsspirale" als Hauptziel. Dazu müssen die ablaufenden
Prozesse in dieser Abwärtsspirale durch koordinierte Anstrengungen von Politik, Verwaltung, Bewoh-
nerschaft, Wirtschaft und lokal engagierten Akteuren unterbrochen werden. Dennoch stellt sich die
Frage nach den Einzelzielen, die auf dem Weg zum Streben nach diesem Hauptziel liegen, und wel-
ches die entsprechenden Handlungsstrategien sein können, von denen man sich Erfolg verspricht.

21
Im konzeptionellen Mittelpunkt des Programms ,,Soziale Stadt" stehen die Aktivierung der Bewohner-
schaft und die ressort- und politikübergreifende Koordination und Kooperation der Akteure. Damit
soll eine nachhaltige Entwicklung in den Quartieren gesichert werden. Für den Erfolg des Programms
ist es somit entscheidend, wie es gelingt die Bewohnerschaft, die lokale Wirtschaft und andere lokale
Akteure zu aktivieren, zur Mitwirkung zu bewegen und bei Entscheidungen zu beteiligen (FRANKE
& GRIMM, 2001). LOEHR (2000) stellt heraus, dass mit dem Programmkonzept ein doppelter Ansatz
verfolgt wird: Durch dessen gleichzeitige Quartiers- und Querschnittsorientierung sollen zum einen
die Entwicklungen auf allen relevanten Politikfeldern der Stadt- und Statteilentwicklung zusammenge-
fasst werden. Ressortübergreifendes Handeln soll zum zentralen Element staatlicher und kommunaler
Stadterneuerungspolitik werden. Zum anderen werden auch die Menschen in den problembehafteten
Quartieren selbst mit ihren Wünschen, Sorgen und Eigenpotentialen als wichtige Akteure der Stadter-
neuerung ernst genommen. Einer ,,Kultur der Abhängigkeit" soll eine ,,Kultur der Selbstbestimmung"
entgegengesetzt werden. Dazu sollen die Bürgermitwirkung durch Formen des Quartiersmanagements
gestärkt und endogene Potentiale und Ressourcen aktiviert und eingesetzt werden.
Zentrales Ziel des Bund-Länder-Programms ,,Soziale Stadt" ist es, in den betroffenen Stadtteilen und
Quartieren wieder ein eigenständiges Stadtteilleben aufzubauen. Die Stadtteile sollen schrittweise
dahin geführt werden, dass sich ein selbstständig funktionierendes Gemeinwesen entwickelt. Durch
die Stärkung der örtlichen Potentiale und die Motivierung der Bewohner, in Initiativen und Vereinen
mitzuwirken und sich dauerhaft selbst zu organisieren, soll ein sozialer Verbund wieder hergestellt
werden. Das ,,Sozialkapital", die Fähigkeit der Bewohner zur Zusammenarbeit und zur sozialen
Vernetzung, soll gestärkt werden. Der Sinn besteht darin eine positive Grundstimmung zu schaffen
und der Resignation entgegenzusteuern, indem das kooperative Verhalten gewinnbringend sowohl für
den Einzelnen als auch für das Gemeinwesen genutzt wird. Mit der Stärkung von Eigenverantwortung,
nachbarschaftlichen Kontakten und Netzwerken soll der zunehmenden Abkopplung der Bewohner von
gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Freundeskreis, Verein und Initiativen entgegengewirkt
werden. Es wird angestrebt, das soziale Nebeneinander zu einem Miteinander zu transformieren
(BÖHME & SCHULERI-HARTJE, 2002, S.4f). Das Konzept des Programms ,,Soziale Stadt" ist also
an die Vorstellung angelehnt, dass man die negativen Entwicklungen in den Stadtteilen gezielt aufhal-
ten kann, um so bessere Lebens- , Leistungs- und Entwicklungsvoraussetzungen für die Bewohner zu
erreichen. Ein funktionierendes Gemeinwesen wird als unabdingbare Basis dafür angesehen, dass sich
die Betroffenen kooperativ und selbstständig der Lösung oder Linderung aller übrigen Probleme
zuwenden, was die eigentliche Absicht des Programms ist. Dafür muss die Bewohnerschaft in der
Weise aktiviert werden, dass Interesse für die eigene Beteiligung an Lösung von Problemen geweckt
wird und hierfür auch begleitende Hilfen angeboten werden. Das Programm ,,Soziale Stadt" kann also
im Grunde als eine Hilfe zur Selbsthilfe und als ein anfänglicher exogener Input zur Stärkung oder
Aktivierung der endogenen Potentiale betrachtet werden.

22
Demnach soll das Programm keine dauerhafte Verwaltung und Moderation der Problemlagen vor Ort
sein. Deshalb ist die Zeitspanne der Durchführung der Programme in den Programmgebieten zeitlich
begrenzt. Die voraussichtlich nötige Dauer eines Programms und die entsprechende Beleitung durch
ein Quartiersmanagement wird bei der jeweiligen Vorbereitung eines solchen Programms vorläufig
festgelegt und erstreckt sich in der Regel über mehrere Jahre. Das Ansetzen von relativ langen Zeit-
räumen und deren vorläufiger Charakter verdeutlicht wo das Programm ,,Soziale Stadt" momentan
noch steht: Das Programm ist jung, und es befindet sich auch noch nach dem Start weiter in seiner
eigenen Entwicklung. Aufgrund fehlender Erfahrungen ist man sich nicht sicher wie lange es noch
dauern wird, bis man die Akteure vor Ort vollständig in ihre Eigenverantwortung entlassen kann.
Als langfristiges Ergebnis erhofft man sich von der Implementierung eines Programms, dass sich das
Quartiersimage und die vorhandenen sozialen Probleme nicht weiter verschlechtern und eine Entwick-
lung zum Positiveren in Gang kommt. Dieses soll dann auch die fortschreitende soziale Entmischung
durch selektiven Fortzug bremsen oder teilweise gar wieder rückgängig machen. Bei der Formulierung
solcher Ziele wird allerdings auch häufig betont, dass der Ausgangszustand nicht in das Gegenteil
verkehrt werden soll. Es soll keine sogenannte ,,Gentrification" stattfinden, bei der sozial Schwächere
am Ende aus dem Stadtteil verdrängt werden, und eine erneute soziale Segregation in Gang kommt.
Vorhandene soziale Netzwerke sollen erhalten bleiben, und es soll vor Ort auf einen gewissen Milieu-
schutz geachtet werden. In seinem Programmleitfaden weist das DIfU auch entsprechend darauf hin,
dass ein wichtiges Ziel der Stadterneuerung seit je her die Sicherung preiswerten Wohnraums und der
Schutz der angestammten Mieter vor Verdrängung ist (DIFU, 1998).
Für diesen Gesamtprozesses der Programmentwicklung und -umsetzung ist es notwendig neue Mana-
gements- und Organisationsformen zu testen. Das erfordert parallel stattfindende Evaluationen von
einzelnen Maßnahmen und bewertende Gesamtbetrachtungen (FRANKE & GRIMM, 2001). Auf
kommunaler Ebene finden Evaluationen der alltäglichen Programmpraxis sowohl durch die Einzelak-
teure als auch durch die gemeinsamen Versammlungen aller lokalen Akteure statt. Mit der systemati-
schen wissenschaftlichen Begleitung (Evaluation und Monitoring) des Programms auf Bundesebene
ist das in Berlin ansässige ,,Deutsche Institut für Urbanistik" (DifU) beauftragt, das auf den Länder-
ebenen weitere Kooperationspartner für diese Aufgabe hat (in Niedersachsen die ,,Landesarbeitsge-
meinschaft Soziale Brennpunkte e.V." in Hannover). Anfang 2000 wählten alle Bundesländer jeweils
einen von ihren 1999 in das Programm aufgenommenen Stadtteilen aus, um in diesen Modellgebieten
eine aktivierende Begleitforschung durchzuführen. Diese Begleitforschung wurde als Programmbe-
gleitung vor Ort (PvO) bezeichnet und fand vom Sommer 2000 bis April 2002 statt. Unter der Ge-
samtkoordination des DIfU bewerteten während dieser Zeit sogenannte ,,PvO-Teams" die Umsetzung

23
des Programms vor Ort. In Niedersachsen wurde das Sanierungsgebiet Hannover-Vahrenheide-Ost
12
als Modellgebiet ausgewählt (BECKER & BÖHME, 2003, S.42f).
Die Umsetzung des Programms geht bei Bund und Ländern von der Städtebauförderung aus, auf die in
Kapitel 2.3.2.1 näher eingegangen wird. Das heißt, dass von dieser Seite im Grunde nur bauliche
Maßnahmen gefördert werden. Das nationale Handlungsprogramm ,,Stadtteile mit besonderem Ent-
wicklungsbedarf ­ die Soziale Stadt" unterscheidet sich jedoch als neuartiger Ansatz von der einfa-
chen klassischen Städtebauförderung. Im Rahmen des Programms "Soziale Stadt" soll die Städtebau-
förderung als Leitprogramm in den entsprechenden Gebieten mit anderen stadtentwicklungspolitisch
relevanten Politikfeldern zu einem neuen integrativen Ansatz verknüpft werden (Mittelbündelung),
wozu Ressortgrenzen überwunden und unterschiedliche Behörden sowie Einrichtungen miteinander
vernetzt werden müssen (Kooperation). Einzelne Förderungsprogramme sowie das Ressorthandeln in
den Kommunen sollen sich auf ausgewählte Stadtteile beziehen (sozialräumliche Ausrichtung der
Verwaltung) und miteinander harmonisiert werden. Dass die Städtebauförderung als Leitprogramm
dient, hängt mit den bereits auf Bundes- und Länderebene bestehenden Strukturen der Städtebauförde-
rung zusammen. Diese wurden als geeignet erachtet, ein solches Programm in Gang zu bringen, und es
ist nicht notwendig komplett neue Strukturen aufzubauen, was mit erheblichen Mehrkosten verbunden
wäre. Die Kooperation mit Wohnungsbau-unternehmen ist von großer Bedeutung, da bei der Umset-
zung des Programms Räumlichkeiten für die unterschiedlichsten Aktivitäten benötigt werden.
2.1.1 Gemeinwesenarbeit
Die zentrale Absicht des Programms ,,Soziale Stadt" besteht darin im Laufe einer längerfristigen und
kontinuierliche Entwicklung eine effektive Gemeinwesenarbeit in den Programmgebieten zu praktizie-
ren. Über diese soll das Ziel der Verbesserung der Situation in den betroffenen Quartieren unter
größtmöglicher Nutzung endogener Potentiale erreicht werden. Angelehnt an der wortwörtlichen
Zusammensetzung des Begriffs ,,Gemeinwesenarbeit" könnte man folgende Kurzdefinition vorneh-
men: ,,Mit dem Begriff Gemeinwesenarbeit werden alle Bemühungen zusammengefasst, die dazu
dienen ein funktionierendes Gemeinwesen herzustellen und / oder zu fördern". Bis zum heutigen
Zeitpunkt ist allerdings nicht verbindlich geklärt, welches die konkreten Inhalte des Begriffes ,,Ge-
meinwesenarbeit" sind. Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Soziale Brennpunkte Niedersachsen
e.V. merkt an, dass es seit Anfang der 1960er Jahre, als die Gemeinwesenarbeit in der BRD konzipiert
worden war, nicht gelungen ist dem Begriff ein deutliches Profil zu geben. Wegen der Unschärfe des
Begriffes wurden diverse neue Begriffe wie ,,Soziale Stadtteilarbeit", ,,Stadtteilkoordination", ,,Le-
12
Beim diesem Modellgebiet handelt es sich nicht um ein offizielles Programmgebiet der ,,Sozialen Stadt".
Allerdings wurde das Gebiet dennoch vom Land Niedersachsen ausgewählt, da auch in diesem Sanie-
rungsgebiet auf der Grundlage dieses Programms gehandelt wird (BECKER & BÖHME, 2003, S. 43)

24
bensweltbezogene Arbeit" oder ,,Sozialräumliche Arbeit" geschaffen. Dabei ist die Praxis jedoch stets
vielfältig und die Theorie abstrakt geblieben. Auch das Quartiersmanagement versucht sich zu profi-
lieren, indem es sich von der Gemeinwesenarbeit abgrenzt (LAG, 2002 d, S. 3-5). Dabei ist die Ge-
meinwesenarbeit im Grunde ein Teilbereich dessen, was unter Quartiersmanagement verstanden wird.
Aufgrund dieser begrifflichen Unschärfe soll an dieser Stelle eine Definition der ,,Gemeinwesenar-
beit" gegeben werden. Diese Definition orientiert sich an der Broschüre ,,Soziale Stadt ­ Gemeinwe-
senarbeit und Quartiersmanagement" der LAG. In dieser Broschüre sollen die spezifischen Stärken
und die Fachkompetenz der Gemeinwesenarbeit, die in das Quartiersmanagement eingebracht werden
können, herausgestellt werden (LAG, 2002 d, S.5). Mit der Broschüre soll den Akteuren in den Pro-
grammgebieten eine konkretere Vorstellung von dem ermöglicht werden, was sie vor Ort leisten
sollen. Im Folgenden wird die Definition der Gemeinwesenarbeit im Sinne der LAG dargelegt:
Die Anfänge der Gemeinwesenarbeit liegen in den 1960er und 1970er Jahren, als es mit der ersten
wirtschaftlichen Krise nach dem sogenannten ,,Wirtschaftswunder" zu einer Häufung sozialer Proble-
me in den sogenannten ,,Brennpunkten" kam. Die bisherigen, eher einzelfallbezogenen Instrumenta-
rien der Sozialarbeit waren mit der neuen Problematik überfordert. Die Problematik bestand darin,
dass Menschen vermehrt aus den Nachbarschaften von Arbeitervierteln in Hochhaussiedlungen am
Stadtrand umsiedelten, wo sich allgemeine Probleme wie Anonymität, Vereinzelung und schlechte
Wohnsituation (kleine Wohnungen, hohe Mieten und schlechte Einkaufsmöglichkeiten) auftaten. Als
Novum wurde ein Arbeitsansatz aufgegriffen, der aus den USA und den Niederlanden kam, wo dieser
allerdings mehrere verschiedene Ausgestaltungen hatte. Die Bezeichnung ,,Gemeinwesenarbeit"
entstand dabei aus der Übersetzung des Begriffes ,,community work". Damals war das Leitziel der
Gemeinwesenarbeit, aus benachteiligten Wohngebieten lebendige communities, also Gemeinwesen zu
entwickeln. Man ging von einem zweidimensionalen Ansatz aus: Zum einen sollten die Bewohner an
den Belangen ihres Quartiers beteiligt werden, wozu diese aktiviert und unterstützt werden mussten,
und zum anderen sollte durch eine entsprechende infrastrukturelle und materielle Ausstattung ein
positiveres Lebensgefühl in den Quartieren erzeugt werden. Die Gemeinwesenarbeit verband diese
beiden Komponenten zu einem fortschrittlichen Leitbild. Aus diesem Leitbild übernahm die heutige
Sozialarbeit als wichtige Elemente die Lebensweltorientierung und die Bedeutungsbeimessung des
jeweiligen sozialen Raumes. Gemeinwesenarbeit wurde von Anfang an speziell als Sozialarbeit in
Armutsquartieren praktiziert. Weitere Konzepte, die aus der Gemeinwesenarbeit stammen und auch in
der Sozialarbeit allgemeiner Standart geworden sind, sind die ,,Ressourcenorientierung" und das
sogenannte ,,Empowerment". Ressourcenorientierung bedeutet, dass zur Planung von Hilfen überlegt
werden muss, welche Unterstützungssysteme erreichbar sind und niedrigschwellig eingerichtet werden
müssen. Empowerment bedeutet Menschen dahin zu führen ihre erlernte Hilflosigkeit zu überwinden,
Selbstvertrauen aufzubauen und selber Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Lebens und für
die Gestaltung der sozialen Umwelt zu übernehmen. Diese Art der Aktivierung von Menschen ist bis
heute die Hauptaufgabe der Gemeinwesenarbeit, und darin unterschied sie sich anfangs grundlegend

25
von einer nur fürsorglich orientierten Sozialarbeit (LAG, 2002 d, S. 5-7). Aufgrund ihrer Anfänge in
den 1970er Jahren, die von Konfliktorientierung und Parteilichkeit für die Schwachen geprägt waren,
wird die Gemeinwesenarbeit bis heute mit diesen Begriffen assoziiert
13
. Allerdings war die Gemein-
wesenarbeit schon in der damaligen Praxis pragmatischer und weniger kämpferisch, als sie sich nach
außen hin gab. Zwar gab es auch von ihr aus organisierte Proteste, aber ihre meisten Inhalte waren
eher friedlicher Natur. So wurden Miet- und Sozialberatungen eingerichtet, es gab Second-Hand-
Shops, es fanden sich Stadtteilgruppen zusammen (in denen die Menschen ihre Vereinzelung über-
wanden), es gab Alphabetisierungskurse und fast immer wurde ein soziokulturelles bzw. soziales
Stadtteilzentrum eingerichtet, in dem soziale Dienste und ein kultureller Treffpunkt bewohnernah
angesiedelt waren (LAG, 2002 d, S. 8f).
Seit Mitte der 1980er Jahre verschärften sich die gesellschaftlichen Problemlagen zunehmend
14
. Unter
den veränderten Bedingungen lösten sich in den betroffenen Quartieren traditionelle Milieus auf und
zerfielen in viele kleine Submilieus. Parteien, Vereine und Kirchen verloren ihre integrierende Wir-
kung. Die Grundstimmung wurde resignativer und aggressiver. Es entwickelte sich eine zunehmende
Entsolidarisierung, die in Hetze gegen Sündenböcke und offener Ausländerfeindlichkeit ihren Aus-
druck fand. Konflikte und Disparitäten spitzten sich in der Bevölkerung der Armutsquartiere zu, so
dass es unsinnig wurde sich auf eine Parteilichkeit zugunsten bestimmter Gruppen festzulegen. Die
alte Strategie der Skandalisierung und der Konfliktorientierung hatte sowohl ihre breite Basis als auch
ihre Gegner verloren
15
. Seit etwa Mitte der 1980er Jahre verfolgt die Gemeinwesenarbeit eine neue
Strategie: An die Stelle der Parteilichkeit zugunsten der Bewohner trat nun eine umsichtigere Einstel-
lung, die die Entwicklung des Gebietes als Ganzes im Blick hatte. An die Stelle der Konfliktorientie-
rung trat als Arbeitsprinzip die nicht weniger politische Bemühung, der gesellschaftlichen Ausgren-
zung von Stadtteilen und deren Bewohner entgegen zu wirken (LAG, 2002 d, S. 10 f). Es geht nun vor
allem darum, Menschen zu befähigen am Gesellschaftsprozess teilzunehmen und sie dabei zu unter-
stützen. Damit wird ein Grundprinzip der Sozialarbeit aufgegriffen (LAG, 2002 d, S.10 f). Die LAG
13
Das Konzept der community work aus den USA hatte einen politisch konfrontativen und klassenkämpferi-
schen Charakter. Die Parole dazu lautete in den 1970er Jahren ,,Power to the people". Es ging vor allem
darum , zu sozialer Lethargie erstarrte, arme und machtlose Menschen zu motivieren sich selber für ihre In-
teressen einzusetzen. Sie sollten entdecken, dass sie zusammen erhebliche power entwickeln und ihre Le-
bensbedingungen verbessern konnten, indem sie mit phantasievollen Aktionen Gegner wie Banken, Spe-
kulanten und Geschäftsleute zum Nachgeben zwangen. Dieser politische Aspekt der ,,community work"
wurde auch in Deutschland aufgegriffen, so dass sich in den 1970er Jahren mit dem Begriff ,,Gemeinwe-
senarbeit" auch ein spezifisches Politikverständnis verband. Im Zusammenhang mit der Gemeinwesenar-
beit wurden in Deutschland, neben dem Begriff ,,Aktivierung", die Begriffe ,,Parteilichkeit" und ,,Kon-
fliktorientierung" am meisten bekannt. Im bestehenden Gegensatz von Kapital und Arbeit wurde von der
Sozialarbeit verlangt, dass sie sich eindeutig entschied auf wessen Seite sie stand (LAG, 2002 d, S.7-9).
14
Die Arbeitslosigkeit stieg v.a. bei Jugendlichen enorm an und erfasste auch bisher davon verschonte
Bevölkerungsschichten. Sie trat und tritt gehäuft in Wohngebieten auf, in denen sich negative Impulse in-
nerhalb einer ,,Abwärtsspirale" gegenseitig verstärken (LAG, 2002 d, S.9).
15
Auch Immobilieneigentümer waren nun von der ,,Abwärtsspirale" betroffen (Wohnungsleerstände von bis
zu 50% und Wertverlust von Immobilien), Geschäfte und kleine Gewerbebetriebe gaben auf, Ärzte und
Anwälte fanden kein Personal mehr und Politik und Verwaltung beschlossen die Bereitstellung erheblicher
Finanzmittel im Rahmen von Förderprogrammen zugunsten benachteiligter Wohngebiete (LAG, 2002 d,
S.10).

26
spricht in diesem Zusammenhang von einer weiterentwickelten Gemeinwesenarbeit. Die Weiterent-
wicklung besteht darin, dass zu den klassischen Orientierungen folgende Punkte ergänzend hinzuge-
kommen sind:
-
Menschen bei ihren kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten unterstützen,
-
Begegnungen von Milieus und Submilieus fördern,
-
Vernetzung von pädagogischen und kulturellen Fachleuten,
-
Förderung der lokalen Ökonomie,
-
Bewohnerschaft bei Planungsprozessen beteiligen und beim Mitwirken unterstützen.
Für die konkrete, alltägliche Arbeit bedeuten diese Ergänzungen Folgendes: Es gilt die Alltagskom-
munikation der Menschen zu fördern, wobei sich Menschen verschiedener Submilieus begegnen und
die Erfahrung der sozialen Zugehörigkeit machen sollen. Damit sollen auch ein interkulturelles Ver-
ständnis und ein gegenseitiger Lernprozess gefördert werden. Es sollen Nachbarschaften neu entste-
hen, die Nachbarschaftshilfe, soziale Kontrolle und Verantwortung für die Entwicklung des Stadtteils
beinhalten. Schrittweise wird so den bisherigen voneinander abgegrenzten Milieus eine Gemeinschaft
gegenüber gestellt, die zwischenmenschliche Gräben überwindet, Ängste nimmt und eine positive
Alternative zur bisherigen gegenseitigen Gleichgültigkeit und Rivalität darstellt. Die Förderung der
Beteiligung am Gesellschaftsprozess beinhaltet für die Gemeinwesenarbeit des weiteren, nach eigenen
Möglichkeiten die Beteiligung an Arbeit und Erwerbsleben zu fördern, da Arbeitslosigkeit ein finan-
zielles und soziales Problem ist. So initiiert die Gemeinwesenarbeit heute Projekte, in denen die
Chancen auf Arbeit verbessert werden und Arbeitsplätze entstehen können. Die Partizipation der
Bewohner an der baulichen Sanierung und Modernisierung in Form von Mitdenken und ­planen wie
auch Mitgestalten (z.B. bei Mietergärten oder Spielplätzen) bedeutet ebenfalls eine Beteiligung am
Gesellschaftsprozess. Hierbei kann den Bewohnern das unmittelbare Gefühl gegeben werden, selber
wichtig für die Zukunft des eigenen Quartiers zu sein. Es wurden bereits gute Erfahrungen beim
Einbringen von Eigenarbeit in die Wohnungsmodernisierung gemacht. Gelegentlich werden aus
Mietern im Rahmen von Genossenschaften Miteigentümer. Bei sozialen, kommunikativen, kulturellen
und pädagogischen Einrichtungen und Diensten beinhaltet die Partizipation neben der Nutzung auch
eine Mitverantwortung bei der Gestaltung der Angebote. Dazu müssen diese Einrichtungen schnell
erreichbar und niedrigschwellig eingerichtet sein, d.h. dass Schwellenängste abgebaut werden und
Mithilfe gewünscht und gefördert wird. Als letztes Arbeitsfeld der Gemeinwesenarbeit darf auch die
Präsentation des Stadtteils nach außen nicht vergessen werden. Die Bewohner sollen daran mitwirken
ihren Stadtteil öffentlich zu präsentieren, um den negativen Berichten der lokalen Presse, die die
Abwärtsdynamik des Gebietes oft verstärken, eine positivere Darstellung entgegensetzten zu können
(LAG, 2002 d, S. 9-13).

27
Die Gemeinwesenarbeit gestaltet sich meist schwierig. Diejenigen, die unmittelbar Gemeinwesenar-
beit leisten sollen und damit offiziell beauftragt wurden, drohen meist sehr schnell in ein Spannungs-
feld zu geraten. Dieses entsteht zwischen den gesetzten Erwartungen der Auftraggeber und den Ver-
schiedenartigkeiten und Eigenheiten der Klientel, die erreicht und zum Mitmachen motiviert werden
soll. Bei ihrer Aufgabe in den Programmgebieten sind die Gemeinwesenarbeiter mit mehreren Prob-
lemen konfrontiert: Sie müssen sich auf verschiedenste Menschen, Mentalitäten und Sprachprobleme
einstellen. Sie werden zum Teil mit sehr problematischen Personen / Personengruppen und Konflikten
vor Ort konfrontiert, und sie haben begrenzte technische und persönliche Ressourcen, mit denen sie
nicht alle Wünsche und Erfordernisse gleichermaßen bedienen können. Für die Gemeinwesenarbeiter
gibt es keine erfolgversprechenden Patentrezepte, um Leute zu erreichen. Zumeist liegt es ganz an
ihnen die jeweilige Situation einzuschätzen und aus der gegebenen Lage das Beste zu machen. Mit der
Zeit entwickeln sich diese Gemeinwesenarbeiter zu Insidern und Experten für das Quartier mit seinen
Bewohnern, in dem sie eingesetzt sind. Alle Qualifikationen, die zur Erreichung eines möglichst
breiten Querschnitts von Personen und Gruppen erforderlich sind, sind nur in den seltensten Fällen in
einer Person vereinbar. Es ist für diese Gemeinwesenarbeiter wichtig, und auch eine an sie gestellte
Erwartung, dass sie möglichst rasch weitere Personen zur ehrenamtlichen Mithilfe finden, die sie
ergänzen und unterstützen können. Da von einer wachsenden Bekanntheit und von einer wachsenden
Akzeptanz im Quartier der Erfolg der Bemühungen abhängt, ist es dabei von besonderem Wert, wenn
diese ehrenamtlichen Helfer selbst aus dem Quartier kommen und schon einen Zugang zu den ver-
schiedensten Gruppen haben. Dabei soll allerdings auch darauf geachtet werden, dass die Arbeit nicht
zugunsten nur weniger Gruppen geschieht. Es ist eine Verpflichtung an die hauptamtlichen Gemein-
wesenarbeiter und eine wünschenswerte Anforderung an die ehrenamtlichen Helfer, die Aktivitäten
und Forderungen so zu moderieren und die Unterstützungen so zu verteilen, dass nicht möglicherweise
die Bedürfnisse einer dominanten Klientel im Vordergrund stehen und die Interessen anderer, weniger
aktiver Gruppen übergangen und verdrängt werden. Demnach ist darauf zu achten, dass keine Verein-
nahmung der angebotenen Unterstützungen durch bestimmte Interessengruppen oder bestimmte
Ethnien stattfindet. Eine Entwicklung / Unterstützung eines Gemeinwesens für nur ausgewählte
Gruppen von Quartiersbewohnern verfehlt den Sinn der Bemühungen, bessere Bedingungen für alle
zu schaffen. Es sollen in keinem Fall Minderheiten verdrängt und die Ausprägung sogenannter ethni-
scher Kolonien gefördert werden. Vielmehr sollen die Beteiligten gegenseitiges Verständnis und
gegenseitigen Respekt entwickeln und auch entsprechend handeln können.
Das zentrale Anliegen des Programms ,,Soziale Stadt", in den Programmgebieten mit einer Gemein-
wesenarbeit für ein funktionierendes Gemeinwesen zu sorgen, wird im Grundkonzept des Programms
als Aufgabe an das Quartiersmanagement delegiert. Im Idealfall soll dieses aber nur als absolut erste
Initiale dienen. Möglichst bald sollen weitere lokale Akteure in diese Arbeit involviert werden. Be-
sonders günstig ist es, wenn dabei vor Ort auf schon vorhandene und geeignete Organisationsstruktu-
ren zurückgegriffen werden kann. So konnte im Falle des Sanierungsgebietes Grone-Süd auf die

28
Einrichtung des Stadtteilzentrums zurückgegriffen werden. Um die Grundlage für ein funktionierendes
Gemeinwesens zu schaffen, ist eine gezielte Anschubarbeit nötig. Damit können die Bewohner eines
problematischen Stadtteils aktiviert und motiviert werden sich vor Ort in Initiativen und dergleichen
für die Allgemeinheit zu engagieren.
2.2 Auswahl und Strukturen der
Programmgebiete
Die Städtebauförderung ist das Leitprogramm des umfassenderen Programms ,,Soziale Stadt". Damit
Finanzmittel aus der Städtebauförderung bewilligt werden können, ist es nötig, dass Sanierungsgebiete
ausgewiesen werden. Laut BECKER & LÖHR (2000) steht dies z.T. im Widerspruch zu stadtsoziolo-
gischen Analysen, die einen rapiden Bedeutungsverlust des Raums als ein konstituierendes Element
für soziales Handeln und alltägliche Lebenszusammenhänge feststellen
16
. Eine derartige räumliche
Eingrenzung von gesellschaftlichen Problemlagen ist also durchaus nicht unumstritten, da es auch
andere Orte in Städten gibt, die ähnliche Defizite wie die ausgewiesenen Programmgebiete aufweisen.
Das an der Städtebauförderung orientierte Programm ,,Soziale Stadt" ist daher auch nicht als ein
,,Allheilmittel" zu betrachten. Es wurde speziell aus der Aufgabe heraus entwickelt in größeren Gebie-
ten, in denen sich solche Problemlagen konzentrieren, koordinierte Anstrengungen gegen weitere
Verschlechterungen zu unternehmen.
In diesem Kapitel liegt der Schwerpunkt bei den Indikatoren, die für die Begründungen von Pro-
grammanträgen angeführt werden. Bei dieser Betrachtung erschließen sich auch die allgemeinen
sozialen und demographischen Strukturen der Programmgebiete. Auf die städtebaulich-funktionalen
Strukturen der verschiedenen Programmgebiete wurde bereits in Kapitel 1.1 eingegangen, auf das im
Zusammenhang mit diesem Kapitel verwiesen sei.
Nach dem Leitfaden der ARGEBAU ist die Gebietsauswahl durch die Städte und Gemeinden auf der
Grundlage eines ,,transparenten Verfahrens" vorzunehmen und durch das ,,zuständige Verwaltungsor-
gan zu beschließen", wobei ein entsprechender Handlungsbedarf für diese Gebiete nachzuweisen ist.
Dieser Nachweis, der die Beantragung der Aufnahme in das Programm ,,Soziale Stadt" begründet,
16
Nach BECKER UND LÖHR (2000) seien heute vielmehr zweckorientierte und weitgehend raumungebun-
dene Netzwerke für das Leben aus der Perspektive des Einzelmenschen von Bedeutung. Vor allem das
Vordringen der neuen Informationstechnologien führe zu Lebens- und Handlungsvollzügen, die sich einem
Raumzusammenhang entzögen. Allerdings sei auch empirisch gesichert, dass sich infolge des wirtschaftli-
chen Strukturumbruchs und gesellschaftlichen Wertewandels sozialräumliche Konzentrationsprozesse in
Stadtquartieren vollzögen. Bei den Gebieten der "sozialen Ausgrenzung" handele es sich nicht nur um be-
nachteiligte, sondern auch um benachteiligende Quartiere, so dass das Konzept der territorialen Eingren-
zung zum Zweck der Städtebauförderung auch wieder eine gewisse Berechtigung hat.

29
setzt einen gesamtstädtischen Vergleich voraus. Im Bezug auf die Gesamtstadt soll nachgewiesen
werden, dass diese Gebiete bezüglich ihrer Defizite deutlich von den Durchschnittswerten abweichen
und ihrer Entwicklung eine höhere Priorität beizumessen ist . Bei diesem Nachweis muss auf alle
wesentlichen Lebensbereiche (Ökonomie, Wohnen, Arbeit...) eingegangen werden, und es wird eine
übergreifende Darstellung der beabsichtigten Entwicklung durch das Programm im gesamten Gemein-
degebiet gefordert. Eine derartig fundierte Auswahl von Programmgebieten erfordert allerdings
detailliertes, kleinräumliches Bestandswissen über eine ganze Stadt / Kommune, das in den allermeis-
ten Fällen nicht gegeben ist
17
. Für 87% der Programmgebiete gründet sich die Gebietsauswahl daher
auf Daten, die eigens für die Beantragung des Programms erhoben wurden (z.B. im Rahmen von
vorbereitenden Untersuchungen). In diesen Gebieten muss man sich zur Herstellung des gesamtstädti-
schen Bezuges mit Sozialdaten der amtlichen Statistik bedienen, die aufgrund ihrer zu ungenauen
Aussagekraft noch durch qualitative Befunde ergänzt werden muss (BECKER, 2003, S. 57-59). Über
die Anerkennung oder Ablehnung der kommunalen Anträge entscheidet das jeweilige Bundesland, das
die Bundes- und Landesmittel vergibt. Dabei dürften die allermeisten Antragstellungen gut überlegt
worden sein, so dass eine Zustimmung wahrscheinlicher ist als eine Ablehnung. Dies hängt damit
zusammen, dass bereits vorbereitende Untersuchungen empfindliche Kosten für die ohnehin sparsam
gewordenen Kommunen bedeuten, und diese deshalb eher kaum Anträge mit geringen Erfolgsaussich-
ten stellen dürften.
Trotz der meist dürftigen Datenlage wurde in vielen Programmgebieten nicht ganz ohne bereits
vorhandene Grundlagen angefangen, die nützliche Ansatzpunkte für eine Implementierung des neuen
Programms boten. Bei fast der Hälfte aller Programmgebiete waren schon vor der Aufnahme in das
Programm ,,Soziale Stadt" Vorläuferprogramme vorhanden (z.B. in NRW das Programm ,,Stadtteile
mit besonderem Erneuerungsbedarf" seit 1993). Hier ergab sich die Auswahl der Programmgebiete
und deren räumlicher Zuschnitt meistens aus den Prämissen dieser Vorläufer, wobei diese Grenzen
entweder trotz veränderter Programminhalte beibehalten oder etwas überdacht und modifiziert wurden
(z.B. in Bremen und Leipzig) . In einigen Bundesländern werden die Mittel aus dem Programm
,,Soziale Stadt" gezielt zur Ergänzung bereits schon vorher bestehender Fördergebiete eingesetzt (z.B.
Niedersachsen, Brandenburg, Baden Württemberg und Bayern). Bei ihnen war die Festlegung eines
Sanierungsgebietes schon vor der Beantragung der Aufnahme in das neue Programm Fördervorausset-
zung (BECKER, 2003, S. 57 ­ 61).
17
Ein derartig kleinräumig detailliertes Wissen ist erst in sehr wenigen Kommunen vorhanden (z.B. Berlin,
Duisburg, Essen, Gelsenkirchen und Wiesbaden). In diesen Fällen resultiert es aus dem Aufbau kontinuier-
licher sozialräumlicher Beobachtungs- und Berichtssysteme oder aus gezielt beauftragten Untersuchungen.
Im besonderen Fall Berlins galt es den sozialräumlichen Wandel seit der Vereinigung zu analysieren und
problematische Entwicklungen in Teilräumen rechtzeitig auszumachen, wozu 1997 eine große Sozialstudie
in Auftrag gegeben worden war. Wahrscheinlich werden Sozialraum- und Segregationsanalysen, ange-
sichts der sich verschärfenden sozialräumlichen Segregation und angesichts der Forderung (besonders sei-
tens der Politik) nach Programmevaluation und Controlling, in Zukunft an Bedeutung gewinnen, womit
sich auch die Methoden der Gebietsauswahl verfeinern werden (BECKER, 2003, S. 59).

30
In den Begründen der Gebietsauswahlen werden vor allem die auffällige Häufung von Arbeitslosigkeit
und Sozialhilfeabhängigkeit gegenüber der Gesamtstadt schwerpunktmäßig angeführt. Bei der Ar-
beitslosenquote wird der ,,besondere Entwicklungsbedarf" am offensichtlichsten. In über der Hälfte
der Gebiete liegt diese bei 15% und mehr, wobei sie in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Sachsen-
Anhalt und im Saarland die durchschnittlich höchsten Werte aufweist. Teilweise sind die Arbeitslo-
sen- und Sozialhilfequoten in den ausgewählten Gebieten so hoch, dass gesagt werden kann, dass
deren Bevölkerung weitestgehend vom Erwerbsleben abgekoppelt ist. Bezüglich der Sozialhilfebe-
dürftigkeit sind Programmgebiete in den alten Bundesländern deutlich stärker betroffen als in den
neuen Bundesländern, wobei die Gebiete in Niedersachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-
Holstein auf den vorderen Rängen liegen (BECKER, 2003, S.63). Um einen annähernden Gesamtein-
druck zu vermitteln, sind in den Abbildungen 2 und 3 die Problemquartiere und die dazu gehörigen
Gesamtstädte in Abhängigkeit von der jeweiligen Höhe der Arbeitslosen- und Sozialhilfequote gegen-
übergestellt. Bei der Betrachtung der Diagramme für die Arbeitslosen- und für die Sozialhilfequote
wird ersichtlich, in wieweit diese Quoten in den Problemquartieren gegenüber den Gesamtstädten
abweichen. Dass es dabei teilweise auch durchaus ,,Problemquartiere" gibt, die bezüglich dieser
beiden Indikatoren besser gestellt sind als manche Gesamtstädte, verdeutlicht, dass sich solche ,,Prob-
lemquartiere" immer regionalspezifisch in Relation zu der jeweiligen Stadt ergeben. Ausschlaggebend
sind also immer die entsprechenden Disparitäten innerhalb der Kommunen, wobei die innerdeutschen
Disparitäten zwischen verschiedenen Kommunen z.T. nochmals sehr erheblich sind.
Verteilung von Gesamtstädten und
Programmgebieten nach Arbeitslosenquoten
45,5
35,4
16,2
3
0
18,2
29,3
24,2
18,2
10,1
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
<
10%
10
% - <
15
%
15
% -
< 2
0%
20
% -
< 2
5%
> 2
5%
Arbeitslosenquoten
Häufigkeiten in %
Städte
Programmgebiete
Abbildung 2 Erstellt aus Daten der 2. großen Umfrage des DifU. Die Stichprobe entsprach n
= 99. Nach Becker H., 2003, S.63.

31
Verteilung von Gesamtstädten und Programmgebieten
nach Sozialhilfequoten
45,8
32,2
16,9
3,4
0
0,8
0,8
16,9
13,6
13,6
19,5
16,9
5,9
13,6
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
<
5%
5%
-
< 7
,5
%
7,5
%
- <
10%
10%
-
< 15
%
15%
- < 20
%
20%
- < 2
5%
>
25
%
Sozialhilfequoten
Häufigkeit in %
Städte
Programmgebiete
Abbildung 3 Erstellt aus Daten der 2. großen Umfrage des DifU. Die Stichprobe entsprach
n = 118.Nach BECKER H. , 2003, S.63.
Alle in diesem Unterkapitel aufgeführten Diagramme wurden auf der Grundlage von Daten des DIfU
erstellt, das diese in der Umfrage von 2002 von Programmgebieten in ganz Deutschland ermittelte. Je
nach dem jeweiligem Rücklauf bei der Beantwortung der Fragen fielen dabei die Umfänge der Stich-
proben größer oder kleiner aus. Es sei deutlich darauf hingewiesen, dass bei den Stichproben, die den
Abbildungen 2 bis 6 zugrunde liegen, der Wert n = 1 jeweils einem Programmgebiet plus der dazu
gehörigen Gesamtstadt entspricht. Die Diagrammdarstellungen wurden leicht verändert nach BE-
CKER (2003, S.63 ­ 66) übernommen.
Neben dem Nachweis von außergewöhnlich hohen Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten werden bei
einigen Programmanträgen noch weitere gebietsspezifische Auffälligkeiten zur Antragsbegründung
angeführt. Wichtigste quantitative Merkmale sind hier Bevölkerungsrückgang, Leerstandsquoten und
hohe Anteile von Migrantenhaushalten. Leerstandsquoten wurden bei 1/3 aller Programmgebiete
gemeldet, wobei diese besonders häufig in den neuen Bundesländern genannt wurden (die Spitzenwer-
te liegen hier bei 40%). Leerstände sind allerdings auch in den Gebieten der alten Bundesländer ein
großes Problem, wo sich 2/3 der Gebiete mit den höchsten Leerstandsquoten befinden. Überdurch-
schnittlich hohe Quoten an Migrantenhaushalten im Quartier (z.T. über 50%) werden fast ausschließ-
lich in den alten Bundesländern zur Begründung der Gebietsauswahl herangezogen. Das Gesamtver-
hältnis von Programmgebieten und Gesamtstädten bezüglich der Migrantenquoten ist nachfolgend in
der Abbildung 4 veranschaulicht.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783836607162
Dateigröße
4.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen – Geowissenschaften und Geographie, Geographisches Institut
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
2,0
Schlagworte
grone göttingen sozialer brennpunkt stadtsanierung soziale stadt förderungsprogramm räumliche polarisierung städtebauförderung stadtteilsanierung gemeinwesen
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Titel: Soziale Polarisierung in deutschen Städten
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