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Tango der Metropolen

Bedeutungsveränderungen des Tango auf seinem Weg von Buenos Aires in die europäischen Metropolenkulturen

©2005 Magisterarbeit 113 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Seit den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist eine wachsende Beliebtheit des Tangos als Musikgenre und Tanz in europäischen Metropolen zu beobachten. Eine Rezeption ähnlichen Ausmaßes gab es in Europas Metropolen bereits achtzig Jahre zuvor einmal. Ursprünglich entstand der Tango Ende des neunzehnten Jahrhunderts in einer zur Metropole wachsenden Region am Rio de la Plata. Die großen zeitlichen als auch geographischen Abstände der Tango-Rezeptionen lassen vermuten, dass Differenzierungen zwischen den verschiedenen Rezeptionen vorgenommen werden müssen.
Es wird in dieser Arbeit darum gehen, die kulturspezifischen Unterschiede des an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten getanzten Tangos aufzuzeigen. Dieser Suche liegt folgende Hypothese der Verfasserin zugrunde:
Der Tango entstand am Rio de la Plata als eine kulturspezifische Ausdrucksform einer Gruppe von Menschen. In seinem Ambiente, in dem er gelebt wurde sowie in den Formen, in denen er getanzt wurde, finden sich die Geschichten und Befindlichkeiten derer wieder, die ihn entstehen ließen oder ihn von seinem Entstehungszeitpunkt an bis in die Gegenwart tanzten. Sie nahmen in der besonderen Weise, die als Tango erkennbar ist, Gestalt an. Von dem Moment an, in dem der Tango auch in Europas Metropolen Einzug fand, war dagegen eine Veränderung des Tangos erkennbar.
Die Veränderung betraf die Inhalte des Tangos als kulturspezifische Ausdrucksform wie auch die Bedeutung des Tangos für die ihn rezipierende Gruppe von Menschen. In der Decodierung der Symbole, die im Tango am Rio de la Plata und den Metropolen Europas existierten, lässt sich diese Veränderung aufzeigen. Gleichzeitig dienten die Symbole zur Identifizierung mit dem Tango. Die Bedeutungsveränderung entspricht der Semiotisierung eines kulturellen Artefaktes in einem fremden Kulturrahmen. Der Analyse des Semiotisierungsprozesses liegt die Vermutung zugrunde, dass die den Tango Rezipierenden, im Folgenden Tanzender genannt, seine individuellen Befindlichkeiten und Bedürfnisse in der Wahrnehmung und im Praktizieren des Tangos auf den Tango übertrugen.
Die aus der Hypothese abzuleitenden Fragestellungen können im Rahmen dieser Arbeit weder vollzählig noch umfassend beantwortet werden. Die Verfasserin beschränkt sich auf grundlegende, mit Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens bereits bearbeitete und mit den Mitteln der semiotischen Kulturanalyse beschreibbare Teilaspekte.
Gang der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vicky Kämpfe
Tango der Metropolen
Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
ISBN: 978-3-8366-0299-0
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland, Magisterarbeit, 2005
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
1
I
NHALTSVERZEICHNIS
O.
EINLEITUNG 3
I.
DER TANGO DER METROPOLE BUENOS AIRES
11
1
Der Tango als eine Ausdrucksform der Stadt Buenos Aires in der
Literatur über den Tango
13
2
Die Texte des Tangos. Seine Stimmungen und Inhalte
17
3
Die Bewegungsformen des Tangos als Codes gesellschaftlicher Praktiken
31
II.
DIE SYMBOLWELT DES TANGOS
37
1
Symbole und parallele Momente im Tango der Metropolen
41
1.1 Das Stadtzentrum. Existenzbedingungen der Großstadt
41
1.2 Hut und Dolch. Selbstbehauptung, Krisen und Lebenskämpfe
45
1.3 Die Nacht. Ein Exil des Tages
56
1.4 Das Café. Ort der Erinnerungen und Träume
62
1.5 Das Bandoneon. Die Stimme der Seele
67
2
Die Kreuzungspunkte zweier Metropolenkulturen
71
III.
DER TANGO DER METROPOLEN EUROPAS
75
1
Die soziale Kultur des Tangos der Metropolen Europas.
Die Tango-Tanzenden
79
2
Die materiale Kultur des Tangos der Metropolen Europas.
Die Vielfalt der Formen und Stile
85
3
Bedeutungen und Inhalte des Tangos der Metropolen Europas
89
3.1 Emotionalität. Das Erleben von Traurigkeit und die Suche nach Trost
91
3.2 Alltagsflucht und kulturelle Nische
93
3.3 Körperlichkeit. Die Bedeutung des Körpers im Tanz
95
3.4 Normsetzungen für die zwischenmenschliche Kommunikation
99
3.5 Der Warencharakter des Tangos
101
IV.
SCHLUSSFOLGERUNG.
DIE FRAGE NACH DEM ,ECHTEN' TANGO
107
V.
GLOSSAR
113
VI.
VERWENDETE LITERATUR
115

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
3
O. EINLEITUNG
Seit den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist eine wachsende Beliebt-
heit des Tangos als Musikgenre und Tanz in europäischen Metropolen zu beobachten.
Eine Rezeption ähnlichen Ausmaßes gab es in Europas Metropolen bereits achtzig
Jahre zuvor. Ursprünglich entstand der Tango Ende des neunzehnten Jahrhunderts in
einer zur Metropole wachsenden Region am Rio de la Plata. Die großen zeitlichen als
auch geographischen Abstände der Tango-Rezeptionen lassen vermuten, dass Diffe-
renzierungen zwischen den verschiedenen Rezeptionen vorgenommen werden müs-
sen.
Im Zuge der neuerlichen Beliebtheit und der einhergehenden Verbreitung des Tangos
ist eine zunehmende Menge an schriftlichen Arbeiten über den Tango publiziert wor-
den. Sie reichen von wissenschaftlichen Bearbeitungen des Themas über populärwis-
senschaftliche Texte bis hin zum Genre der literarischen Texte. In diesem Rahmen
entfachten sich unter anderem Diskussionen um den ,echten' Tango, um die neueren
Tangoentwicklungen als auch um die Gründe für die ,Tangoeuphorie'
1
gegenwärtig
Tango-Tanzender in Europa.
Es existiert eine Vielzahl an positiven Äußerungen gegenüber dem Tango. Sie schlie-
ßen sich der Euphorie der Tanzenden an, schwelgen in der von ihnen beschriebenen
Magie des Tangos und wiederholen die zum Mythos gewordenen Anfänge des Tan-
gos. Ihnen gegenüber stehen die weniger vertretenen kritischen oder skeptischen
Stimmen zum Tango. Die Wertung Allebrands möge als eine Zusammenfassung für
die kritischen Positionen stehen:
,,Tangobegeisterung ist ein kulturelles Missver-
ständnis und Verfremdung einer Intention. Tango ist
eine ,Geborgte Leidenschaft'."
2
Dieser Position liegt die Beobachtung zugrunde, dass sich der in Europa getanzte
Tango in wesentlichen Punkten von dem an seinem Entstehungsort getanzten Tango
unterscheidet. Allebrand weist ebenfalls darauf hin, dass es einen kulturspezifischen
Unterschied gibt. Und er behauptet, dass in diesem Unterschied eine Veränderung
des ursprünglichen Tangos liegt. In dieser These wird der in Europa getanzte Tango
1
Aussagen zum ,authentischen' Tango und der Tango-Euphorie finden sich beispielsweise
bei Allebrand: Von Erotik zu Aerobic, in: Tango Danza 4(5) 03, S. 76-80. Im abschließen-
den Kapitelteil wird auf das ,Echte' am Tango ebenfalls eingegangen.
2
Vgl. Allebrand: Von Erotik zu Aerobic, in: Tango Danza 4(5) 03, S. 76. Die Verfasserin der Arbeit
weist darauf hin, dass die Formulierung der ,Geborgten Leidenschaft' von Reichardt übernommen
wurde.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
4
nicht unbedingt nur in Hinblick auf seine Veränderung in Europa kritisiert, sondern vor
allem wegen des angedeuteten Missverstehens im Glauben an seine ,Echtheit' als
auch wegen seiner Funktionalisierung als leidenschaftliches Element im Leben der ihn
Tanzenden. Aus den benutzten Begriffen wird deutlich, dass Allebrand diese Verände-
rung als eine negative betrachtet.
Die Wertung, die Allebrand vornimmt, soll in dieser Arbeit nicht aufgenommen werden.
Es wird dagegen darum gehen, die kulturspezifischen Unterschiede des an verschiede-
nen Orten und zu verschiedenen Zeiten getanzten Tangos aufzuzeigen. Dieser Suche
liegt folgende Hypothese der Verfasserin zugrunde:
Der Tango entstand am Rio de la Plata als eine kulturspezifische Ausdrucksform einer
Gruppe von Menschen. In seinem Ambiente, in dem er gelebt wurde sowie in den
Formen, in denen er getanzt wurde, finden sich die Geschichten und Befindlichkeiten
derer wieder, die ihn entstehen ließen oder ihn von seinem Entstehungszeitpunkt an bis
in die Gegenwart tanzten. Sie nahmen in der besonderen Weise, die als Tango erkenn-
bar ist, Gestalt an. Von dem Moment an, in dem der Tango auch in Europas Metropolen
Einzug fand, war dagegen eine Veränderung des Tangos erkennbar. Die Veränderung
betraf die Inhalte des Tangos als kulturspezifische Ausdrucksform wie auch die Bedeu-
tung des Tangos für die ihn rezipierende Gruppe von Menschen. In der Decodierung der
Symbole, die im Tango am Rio de la Plata und den Metropolen Europas existierten,
lässt sich diese Veränderung aufzeigen. Gleichzeitig dienten die Symbole zur Identifizie-
rung mit dem Tango. Die Bedeutungsveränderung entspricht der Semiotisierung eines
kulturellen Artefaktes in einem fremden Kulturrahmen. Der Analyse des Semiotisie-
rungsprozesses liegt die Vermutung zugrunde, dass die den Tango Rezipierenden, im
Folgenden Tanzende
3
genannt, ihre individuellen Befindlichkeiten und Bedürfnisse in
der Wahrnehmung und im Praktizieren des Tangos auf den Tango übertrugen.
Die aus der Hypothese abzuleitenden Fragestellungen können im Rahmen dieser Arbeit
weder vollzählig noch umfassend beantwortet werden. Die Verfasserin beschränkt sich
auf grundlegende, mit Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens bereits bearbeitete
und mit den Mitteln der semiotischen Kulturanalyse beschreibbare Teilaspekte.
Verschiedene Bedeutungen, die der Tango in seiner Entstehung und in den beiden
Rezeptionen in den europäischen Metropolen trug, werden aufgezeigt und gegenein-
ander gestellt. Bei dieser Darstellung werden die Themen Emotionalität, Flucht aus
dem Alltagsleben, Körperlichkeit, zwischenmenschliche Kommunikation sowie der
3
In der Arbeit geht es vor allem um Tanzende. Es gibt daneben auch Tango-Rezipienten, die sich nur
oder zusätzlich den Tangotexten, dem Musizieren oder dem Reflektieren und Schreiben über den
Tango widmen.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
5
Kulturmarkt erörtert. Die Frage danach, wie es zu einer solchen Veränderung in den
Bedeutungen kam, kann in dieser Arbeit nicht behandelt werden. Auf die Analyse der
musikalischen Form des Tangos wird wegen der Zugehörigkeit dieser spezifischen
Analyse zur Musikwissenschaft ebenfalls verzichtet. Beide Aspekte einer Analyse des
Tangos sind relevante Fragestellungen, würden jedoch den Rahmen der Arbeit spren-
gen.
Der Tango kristallisiert sich in der Literatur als auch in der Betrachtung der gegenwärti-
gen Tangobewegung in Europa als ein Tanz heraus, der vor allem in Metropolen
Verbreitung fand. Wegen ihrer zentralen Bedeutung werden in dieser Arbeit die Metro-
polen Buenos Aires, Paris und Berlin berücksichtigt. Buenos Aires steht für den Ent-
stehungsort des Tangos, die sich zur Metropole entwickelnde Region Rio de la Plata
4
.
Paris und Berlin sind die beiden europäischen Metropolen, in denen der Tango der
Quellenlage zufolge seine größte Verbreitung fand. Paris galt als die Tangometropole
Europas des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, da hier der Tango erstmalig in
Europa rezipiert wurde und von Paris aus seine Verbreitung fand. Wenige Jahre später
gewann er in der Metropole Berlin Bedeutung. Für die Rezeption ab den neunziger
Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wird Berlin sowohl in der wissenschaftlichen als
auch populärwissenschaftlichen Literatur als die Tangometropole Europas dargestellt.
5
Aufgrund der Ähnlichkeit großstädtischer Lebensbedingungen können Paris und Berlin
exemplarisch für Europas Metropolen und ihre Tangobewegungen stehen.
6
Der Tango wird in dieser Arbeit als ein kulturspezifisches Element einer Gruppe von
Menschen dargestellt. Diese Gruppe definiert Posner aus der Perspektive der Kultur-
semiotik
7
als Gesellschaft (soziale Kultur), die aus einer Menge von Individuen zu-
sammengesetzt ist. Diese Gesellschaft besteht wiederum aus Texten (materiale Kultur)
4
Dass der Tango in Montevideo, eine sich ebenso stark entwickelnde und verändernde Stadt am
gegenüberliegenden uruguayischen Ufer des Rio de la Plata, ebenso zu Hause war wie in Buenos Ai-
res, soll mit diesem Vorgehen keineswegs unterschlagen werden. Die Quellenlage zu Montevideo ist
bedauerlicherweise schlecht. Deshalb beschränkt sich diese Arbeit auf Buenos Aires.
5
Vgl. z.B. Ossa, in: Künstlerhaus Bethanien: Melancholie der Vorstadt, S. 145ff; García Jimenez, Ebd.,
S. 157ff und Buntenbach/Hesse: Tango Metropole Berlin, v.a. Vorwort, Prolog und Historie. Laut sta-
tistischen Erhebungen sollen es ca. 10.000 Menschen (Jahr 1997) sein, die in Berlin regelmäßig tan-
zen (Vgl. DU. Die Zeitschrift der Kultur, S. 58).
6
Die Städte Paris und Berlin werden in der Literatur, geht es um die Darstellung des Zeitraumes ab
1880, mit anderen Großstädten gemeinsam genannt und in ihren Beschreibungen nebeneinander
gesetzt: ,,So ist es nicht nur in Paris. Die weltstädtischen Zentren, die auch die Orte des Glanzes sind,
gleichen sich mehr und mehr einander an. Ihre Unterschiede vergehen." (Zit. in: Kracauer: Straßen in
Berlin und anderswo, S. 14) Kracauer bringt in diesem Zitat zum Ausdruck, dass die drei Großstädte
sich ähnelnde Charakteristika der Metropolis und ihres modernen Lebens zeigten.
7
Kultursemiotik wird mit Posner als Teilgebiet der Semiotik verstanden, die die Kultur zum Gegenstand
hat. Kulturen sind darin Zeichensysteme (Vgl. Posner, in: Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaf-
ten, S. 39); bzw. Ecos Definition der Semiotik als die Wissenschaft, welche alle Kulturphänomene so
untersucht, als ob sie Zeichensysteme wären (Vgl. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 295).

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
6
und Codes (mentale Kultur).
8
Texte sind dabei Artefakte (Resultate menschlichen
Verhaltens), die eine Funktion innehaben und selbst Zeichen sind. Sie tragen eine
codierte Botschaft in sich und können reproduziert werden.
9
Codes werden nach
Posner als Konventionen definiert. Sie ordnen in einer Gesellschaft den Artefakten
Bedeutungen und Funktionen zu, regeln das soziale Verhalten und ermöglichen, dass
mittels der Zeichen zwischen den Individuen Botschaften mitgeteilt werden.
10
In dieser Arbeit wird der Tango als Teil einer solchen sozialen Kultur aufgefasst. Indem
die unterschiedlichen Bedeutungen des Tangos in Buenos Aires und in den europäi-
schen Metropolen (Paris und Berlin) aufgezeigt und gegenübergestellt werden, wird
der Tango als ein Text gelesen. Damit hat der Tango in einer bestimmten Gesellschaft
Funktionen zu erfüllen und als Zeichen Bedeutungen besitzen. Der Tango trägt inner-
halb dieser Gesellschaft eine ordnende und eine kommunikative Funktion. Für diese
Zuordnungen gibt es feststehende Konventionen.
Eine solche kultursemiotische Handhabung im Sinne Ecos und Posners ermöglicht die
Analyse des sozial-funktionalen Aspekts des Tangos und der in ihm gespeicherten und
transportierten Zeichenstrukturen.
11
In der Analyse kann nach Ort auf die je historisch
gegebenen Einzelmedien und auf die Ergebnisse von Einzelwissenschaften zurückge-
griffen werden.
12
In dieser Arbeit werden es hauptsächlich die Literaturwissenschaft,
die Kulturgeschichte, die Kulturökonomie und die Kultursoziologie sein.
Methodische Alternativen der Handhabung des Themas könnten Methoden der Xeno-
logie, die Interkulturelle Fremdheitsforschung sowie die Hermeneutik sein.
Die Xenologie und die Interkulturelle Fremdheitsforschung arbeiten mit dem Interpretie-
ren der Differenz und der Andersheit mit dem Ziel des Interkulturellen und Interindivi-
duellen Verstehens bzw. mit dem Begriff der kulturellen Aneignung.
13
Der Tango war
der europäischen Metropolenkultur ein Fremdes. Die starke Ausrichtung der Xenologie
am gegenseitigen Verstehen führt jedoch an einer Interpretation der Bedeutungen und
Veränderungen des Tangos vorbei. Der Begriff der Aneignung ist im Rahmen dieser
Wissenschaftszweige zu wenig fundiert und methodisch erarbeitet.
14
Deshalb wird der
Begriff der kulturellen Aneignung, so sehr er auch grundsätzlich für dieses Thema
geeignet ist, nicht verwendet.
8
Vgl. Posner, in: Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 49.
9
Vgl. Ebd., S. 51.
10
Vgl. Ebd., S. 53.
11
In Anlehnung an Ort, in: Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 33.
12
Vgl. Ebd., S. 33.
13
Vgl. Wierlacher/Albrecht, in: Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 284.
14
Vgl. Ebd., S. 293.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
7
Die Hermeneutik, verstanden als die Auslegekunst von Texten, stellt einen sehr hohen
holistischen Anspruch an eine Interpretation, als dass sie in dieser Arbeit geleistet
werden könnte.
15
Die in einer Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch verwendbare Literatur zum Tango
ist übersichtlich, vor allem dann, wenn sich die Verfasserin bis auf wenige Ausnahmen
auf deutschsprachige Quellen beschränkt.
Als wissenschaftlich fundierte Arbeiten sind die Analysen Reichardts, Elsners, Savigli-
anos und Robledos zum Tango sowie die Arbeiten Brandstetters und Köhne-Kirsch
zum Tanz allgemein zu nennen. Darüber hinaus gibt es eine beträchtliche Anzahl an
populärwissenschaftlichen Büchern über den Tango, deren Lektüre zum Erarbeiten der
Bedeutungen und Funktionen des Tangos sehr aufschlussreich ist. Dazu zählen auch
die verwendeten Zeitschriften. Eine Diskussion der Texte im Sinne der Verwendung
gegenteiliger Meinungen ist weitestgehend nicht möglich, da die Literatur einen nahezu
einstimmigen Kanon aufweist. Zur Frage nach der Ursache des Interesses für den
Tango bzw. nach der Art seiner Rezeption ist wenig Quellenmaterial zu finden; dieses
ist dann hauptsächlich dem populärwissenschaftlichen Bereich oder Feuilleton zuzu-
ordnen. Texte über den Tango bieten vor allem historische Abrisse der Entstehung,
Textanalysen oder geben Einblicke in die emotionale Verbundenheit der heutigen
Tango-Tanzenden mit dem Tanz.
Darin ist auch ein Grund dafür zu sehen, dass für die Analyse des Tangos in Buenos
Aires vor allem Tangotexte als Primärquellen herangezogen werden. Als zeitgenössi-
sche (literarische und kulturelle) Texte bieten sie einen direkten Zugang zum Zeichenge-
füge Tango und können als Belege dienen. Die Übersetzungen der Tango-Texte sind
von Reichardt übernommen. Er hat versucht, die Inhalte, die besondere Sprachwahl und
die Stimmungen der Tango-Texte zu berücksichtigen. Deshalb sind sie eine sehr gute
Basis für weitere Analysen. Alle anderen Übersetzungen stammen von der Verfasserin
selbst. Sie folgen im laufenden Text direkt dem spanischen Original und sind nicht
gesondert gekennzeichnet.
Weitere Sekundärliteratur zum Thema Tango bzw. Metropolenkultur findet sich im
Bereich der Kulturgeschichte und Kultursoziologie. Dazu gehören im Themenbereich
Tango die Publikationen des Künstlerhauses Bethanien, der Autoren Rappmann, Al-
lebrand sowie Buntenbach/Hesse. Für den Themenbereich der Metropolen sind die
Publikationen von Boberg/Fichter/Gillen, Schlör, Kracauer, Anselm/Beck sowie Scherpe
zu nennen.
15
Vgl. Kamlah, in: Danneberg/Vollhardt: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 131.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
8
Die Erörterung der methodologischen Grundlagen orientiert sich an wissenschaftlichen
Standardwerken der Kulturwissenschaften, der Kultursemiotik, der Kulturökonomie und
Literaturwissenschaft. Hervorzuheben sind die Publikationen von Nünning/Nünning,
Heidbrink, Eco und Assmann.
Im ersten Kapitel wird der Tango der Metropole Buenos Aires auf seine Bedeutungen
und Funktionen hin untersucht. Dafür wird im ersten Teil zunächst diskutiert, inwiefern
der Tango als ein kultureller Text für die realen soziokulturellen Gegebenheiten einer
Gesellschaft insgesamt bzw. der in einer Stadt stehen kann.
Im Anschluss daran wird im zweiten und dritten Kapitelteil gezeigt, dass in den Tango-
Texten und in den Tanzbewegungen, neben dem Erzählen der individuellen Schicksale
von Menschen und der getanzten Kommunikation zweier Menschen, sich ein konkreter
soziokultureller Hintergrund heraus lesen und gesellschaftliche Strukturen erkennen
lassen.
Mit dem Ziel der Analyse grundlegender Inhalte und Stimmungen des Tangos und
seiner Protagonisten wird eine Textinterpretation von ausgewählten Tango-Texten
durchgeführt. Die grundlegende methodische Frage ist nach Ort, welche Schlüsse
Literatur über ihren kulturellen (sozialen und semiotischen) Kontext zulässt und ob sich
auf der Basis text(corpus)analytischer Befunde Hypothesen über die sozialen Funktio-
nen oder Leistungen einer bestimmten Symbolik aufstellen lassen, und was diese
Funktionen wiederum über die sozialen Strukturen der jeweiligen Gesellschaft aussa-
gen.
16
In den Auffassungen literarischer Texte als Medien gesellschaftlicher Selbstbe-
obachtung (Bachmann-Medick) und als Medien kulturellen Gedächtnisses (Vosskamp)
werden diese Rückschlüsse begründet. Nach Bachmann-Medick macht ein literari-
scher Text erst die Realität als soziales Konstrukt wahrnehmbar und kommunizierbar.
17
Nach Vosskamp hat der literarische Text Teil an einer reflexiven, kulturellen Verge-
genwärtigung.
18
Auf der Basis dieser Überlegungen werden grundlegende Inhalte in
den Tango-Texten herausgearbeitet. Bei den Inhalten handelt es sich um Stimmungen
wie Enttäuschung, Einsamkeit, Momente der Nostalgie und der Träume, die Suche
nach Zuflucht und Trost. Außerdem geht es um Bedeutungen wie den Verlust von
geliebten Menschen, von Heimat und Lebenssinn, dem ambivalenten Bild der Frau als
Hure und Mutter, der Gegenüberstellung von Erinnerungen an idyllische Momente und
der sozialen Wirklichkeit, die von Armut und Kampf geprägt war.
16
Vgl. Ort, in: Danneberg/Vollhardt: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 414.
17
Vgl. Ort, in: Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 34.
18
Vgl. Voßkamp, in: Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 80.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
9
Diese Herangehensweise an den literarischen Text wird abschließend auf die Bewe-
gungsformen des Tangos als Text im semiotischen Sinne übertragen.
Im zweiten Kapitel wird dem Tango der Metropole Buenos Aires der Tango der europä-
ischen Metropolen gegenüber gestellt. Die zugrunde liegende Annahme der Verfasse-
rin besteht darin, dass es sich um mindestens zwei verschiedene Tangos handelt in
dem Sinne, dass unterschiedliche Bedeutungen des Tangos bzw. unterschiedliche
soziokulturelle Bedingungen in den Gesellschaften sichtbar werden. Die Vergleichs-
ebene der beiden unterschiedlichen Bedeutungsstrukturen ist die Symbolebene des
Tangos. Gleiche Symbole lassen sich sowohl im Tango der Metropole Buenos Aires
als auch im Tango der europäischen Metropolen finden. Symbol wird dabei mit Eco als
ein Zeichen verstanden, dass über den Code als eine konventionelle Festlegung etwas
anzeigt oder bedeutet.
19
Das Ziel dieser Gegenüberstellung ist, die Symbole auf sozia-
ler Ebene zu entschlüsseln, um ihre Zeichen und die eingeschlossenen Referenzen
lesen zu können. Als Fazit lassen sich gesellschaftliche Kreuzungspunkte zwischen
den aus den Symbolen herausgelesenen soziokulturellen Bedingungen der Metropolen
Buenos Aires und Europas erkennen. Ausgehend von diesen Kreuzungspunkten, so
die Vermutung, neigte sich das Interesse der europäischen Tanzenden dem Tango zu.
Im dritten Kapitel werden die Bedeutungen des Tangos der europäischen Metropolen,
als Teil der mentalen Referenzebene nach Posner, als eine Veränderung des Tangos
durch die europäische Tango-Gemeinschaft aufgefasst. Indem der Tango selektiv
rezipiert und eigene Werte und Bedürfnisse auf ihn übertragen wurden, entwickelte er
sich zu einem kulturellen Element der europäischen Gesellschaft, insbesondere der
europäischen Metropolenkultur. Themen wie Emotionalität, Körperlichkeit, Flucht aus
dem Alltagsleben, Kommunikationsnormen und Kultur als Ware kommen zur Sprache.
Andere Themen, wie beispielsweise der mythische Hintergrund des Tangos und die
Melancholie im Tango, müssen aufgrund des Umfangs, der Erfassbarkeit und der
Literaturlage ausgeblendet werden.
Im ersten Kapitelteil wird die soziale Kultur (die ,Europäische Tango-Gesellschaft')
unter Rückgriff auf eine empirische und quantitative Erhebung über die Tanzenden
dargestellt. Im zweiten Kapitelteil wird der europäische Tango der Metropole als mate-
riale Kultur beschrieben, indem deren Formen nachgezeichnet werden. In beiden
Kapitelteilen wird die Teilung der Tangorezeption in Europas Metropolen in zwei Re-
zeptionswellen deutlich. Im dritten Kapitelteil werden schließlich ausgewählte spezi-
fisch europäische Bedeutungen und Funktionen des Tangos aufgezeigt. Dieses Vor-
19
Vgl. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 168.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
10
gehen stützt sich auf kulturanthropologische, kulturökonomische und soziokulturelle
Perspektiven der Kulturwissenschaften.
In der Schlussfolgerung wird der Tango der europäischen Metropolen als eine Semioti-
sierung im Sinne einer semiotischen Aneignung eines fremdkulturellen Artefaktes
20
gekennzeichnet und dem Tango der Metropole Buenos Aires gegenüber gestellt. Dabei
wird deutlich werden, dass im Laufe der Entwicklung des Tangos innerhalb zweier
unterschiedlicher Metropolenkulturen mindestens zwei kulturelle Texte Tango entstan-
den sind. Die Tangos besitzen jeweils unterschiedliche kulturspezifische Bedeutungen
obwohl sie sich auf symbolischer Ebene derselben Symbole bedienen. Die Frage nach
dem ,echten' dieser Tangos wird im Sinne der Kultursemiotik dahingehend beantwor-
tet, dass ein jeder dieser Tangos eine eigene ,echte' kulturelle Ausdrucksform einer
spezifischen Metropolenkultur ist.
20
Vgl. Posner, in: Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 59.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
11
I. DER TANGO DER METROPOLE BUENOS AIRES
Confitería Ideal, Buenos Aires:
Tango ist hier mehr als ein Tanz, Tango ist Le-
bensinhalt mit ganz eigenen Spielregeln.
21
In diesem Kapitel wird der Tango, der in der Metropole Buenos Aires entstand, als ein
kulturspezifischer Text dargestellt. Das setzt voraus, dass er sich aus einzigartigen
soziokulturellen Bedingungen einer gesellschaftlichen Gruppe heraus entwickelt hat.
Diese spezifischen Bedingungen lassen sich aus dem kulturellen Artefakt Tango wie-
derum herauslesen.
Im ersten Kapitelteil werden drei verschiedene Lesarten des Tangos vorgestellt. Sie
beziehen sich auf den allgemein als ursprünglich bezeichneten Tango. Der Schwer-
punkt liegt darauf, in den Lesarten jenen Gedanken herauszuformen, der den Tango
als eine Ausdrucksform der Menschen der Stadt Buenos Aires bzw. des Landes Argen-
tinien beschreibt.
Im zweiten Kapitelteil werden die Tango-Texte als die verbalen Zeichen des Tangos
untersucht. Anhand ihrer Analyse werden die Inhalte und Stimmungen der Tango-
Texte herausgestellt.
Im dritten Kapitelteil geht es um die nonverbalen Zeichen der Bewegungsformen des
Tangos. Aus ihnen werden gesellschaftliche Umstände der Tango-Tanzenden abgele-
sen.
Voraussetzung für ein solches Vorgehen ist die Annahme der Verfasserin, dass im
Tango als ein kultureller Text Wissen gespeichert ist. Um mit dieser Annahme zu
arbeiten, ist das Konzept des kulturellen Gedächtnisses nach Posner hilfreich, da er
sich darin mit kulturellen Texten als Wissensspeicher auseinandersetzt. Demzufolge
beruht eine kollektive Informationsspeicherung innerhalb einer gesellschaftlichen
Gruppe auf der Herstellung von Texten mit Hilfe konventioneller Codes.
22
Die Codes
bilden das Gedächtnis, indem sie einer spezifischen Form des Gegebenseins, wie es
Worte oder Bewegungen sind, eine Bedeutung oder eine Idee zuordnen.
23
Eine solche
Menge an Codes, die, im Fall des Tangos, unter den Tanzenden weitergegeben wer-
21
Zit. in: Tango Danza 4(5) 03, S. 4/5.
22
Vgl. Posner, in: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 64. Posner bezieht sich mit seiner Definition
auf die Ausführungen von Assmann/ Hölscher: Kultur und Gedächtnis.
23
Vgl. Posner, in: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 64.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
12
den, bilden einen festen Bestand an ,Wiedergebrauchstexten und -riten'
24
. In ihnen
sind die Bedeutungen und Ideen der Entstehung des Tangos in Form von Worten und
Bewegungen gespeichert. Wenn es sich im Fall des Tangos um eine kollektive Wis-
sensspeicherung handelt, müsste es möglich sein, aus den Tango-Texten und den
Bewegungsformen des Tangos die Bedeutungen und Ideen (Befindlichkeiten der
Menschen und ihre Lebensbedingungen in der Stadt) herauszulesen. Die Text- und
Bewegungsanalyse steht als das Werkzeug zur Verfügung, um das in ihnen gespei-
cherte Wissen decodieren zu können.
Die Tango-Texte als literarische Texte und die Bewegungsformen des Tanzens als ein
,stilisierter Zeichenkodex'
25
müssten im Sinne des vorgeschlagenen Vorgehens als
Zeichensysteme zu verstehen sein, die mit der Gesellschaft als ein soziokulturelles
System über Codes verbunden sind. Sie bilden verschiedene semantische Textebe-
nen. Sie könnten mit Ort als die Referenzebene verstanden werden, in die ,semanti-
sche Selektionen' aus der sozialen Ebene übertragen wurden.
26
Wenn die Theorie der kollektiven Wissensspeicherung auf die Verbindung verschiede-
ner semiotischer Ebenen übertragen wird, um aus kulturspezifischen Texten menschli-
che Befindlichkeiten und soziokulturelle Bedingungen abzulesen, so liegt mit hoher
Wahrscheinlichkeit keine ,Abbildung' des gesellschaftlichen Systems vor. Es handelt
sich dagegen um eine Selektion von gesellschaftlichen Elementen.
27
Die Selektion
hängt möglicherweise mit dem Prozess der Codierung selbst zusammen, der im the-
matisch begrenzten Rahmen der Arbeit nicht weiter untersucht werden wird.
24
Vgl. Assmann/ Hölscher: Kultur und Gedächtnis, S. 15.
25
Vgl. Köhne-Kirsch: Die ,,schöne Kunst" des Tanzes, S. 126/127.
26
Vgl. Ort, in: Danneberg/Vollhardt: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 413.
27
Vgl. Vosskamp, in: Konzepte der Kulturwissenschaften, S. 81.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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1 Der Tango als eine Ausdrucksform der Stadt Buenos Aires in der Literatur
über den Tango
Möchte man den Tango als eine Ausdrucksform der Bewohner einer Stadt beschrei-
ben, so muss die Entstehung des Tangos, der Theorie des gespeicherten Wissens in
kulturellen Texten folgend, eng mit der Stadt selbst verbunden und somit in seiner
Form und seinen Inhalten aus den Bedingungen der Stadt und den Befindlichkeiten
ihrer Bewohner herzuleiten sein.
Reichardt, der eine sozial-historisch fundierte Analyse des Tangos präsentiert, formu-
liert diesen Gedanken, indem er den Tango als ein soziales Produkt darstellt. Er be-
gründet dies damit, dass der Tango eine kollektive Schöpfung ist und als diese gesell-
schaftliche Verhältnisse und Moralvorstellungen wiedergibt.
28
Reichardt betrachtet
damit die Tango-Tanzenden jener Anfangszeiten als eine geschlossene soziale Grup-
pe. Er kann sich auf die vielfach wiedergegebene Situation in Buenos Aires der Jahre
1880 bis 1920 stützen: Die arme Bevölkerungsgruppe der Stadt bestand vorwiegend
aus europäischen Einwanderern, aus Kreolen und aus der Pampa Argentiniens ver-
triebenen Viehzüchtern, den Gauchos. Sie lebten in den Vororten und Hafenvierteln
von Buenos Aires in einfachen bis ärmsten Verhältnissen. Die Zusammensetzung
dieser Gruppe war eine Mischung aus verschiedenen kulturellen, sozialen und berufli-
chen Klassen, die auf engstem Raum zusammenleben mussten. Da sie trotz dieser
Unterschiede in ähnlichen Lebensbedingungen lebten, entwickelten sich in dieser
Gemeinschaft gemeinsame kulturelle und soziale Normen, um das alltägliche Zusam-
menleben zu ermöglichen.
29
Auf Basis des Zusammenlebens und Interagierens dieser
sozialen Gruppe entstanden gemeinsame kulturelle Ausdrucksweisen der einzelnen
Mitglieder der Gruppe. Reichardt argumentiert, dass eine dieser Ausdrucksweisen der
Tango war, an der alle Gruppenmitglieder gleichermaßen teilhatten. In Reichardts
Sinne kann der Tango als ein Ausdruck der damals herrschenden sozialen und kultu-
rellen Bedingungen innerhalb der Gruppe aufgefasst werden.
30
In den populärwissenschaftlich zu nennenden Ausführungen Allebrands findet sich der
Gedanke Reichardts wieder. Allebrand spricht dem Tango in Buenos Aires ein tief
wurzelndes Lebensgefühl zu, mit der Begründung, dass sich in ihm die kollektive
28
Vgl. Reichardt: Tango, S. 31.
29
Vgl. Sedó: Geschlechterrollen im argentinischen Tango, www.tangodesalon.de; und Reichardt:
Tango, S. 42.
30
Vgl. Reichardt: Tango, S. 43.

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Identität der Stadt symbolisch verdichtet.
31
Er überträgt das Lebensgefühl der von
Reichardt abgegrenzten sozialen Gruppe auf eine angebliche gemeinsame Identität
der Stadt Buenos Aires. Da Allebrand sein Argument nicht weiter ausführt, kann in
seiner Aussage eine Bestätigung für Reichardts Annahme gesehen werden. Des
Weiteren klingt der hohe metaphorische und mythische Wert des Tangos an. Solche
Art von Überhöhungen lassen sich in den Erzählungen über den Tango häufig finden.
Der Wissenschaftler und Schriftsteller Sábato umschreibt in seiner Charakterisierung
des Tangos, inwiefern der Tango gesellschaftliche Stimmungen seiner Entstehungszeit
speicherte, weiter trug und somit jederzeit erinnerbar machte. Für ihn finden sich im
Tango
,,[...] die wesentlichsten Charakterzüge des Landes,
wie wir sie damals zu entwickeln begannen:
Unausgeglichenheit, Heimweh, Traurigkeit,
Frustration, Sinn fürs Dramatische, Unzufriedenheit,
Ressentiment und Kompliziertheit."
32
Selbst Sábato nimmt eine Verallgemeinerung vor, für die der Tango symbolisch stehen
soll. Jedoch verallgemeinert Sábato den Tango nicht als eine Ausdrucksweise des
ganzen Landes, wie es Allebrand für die Stadt Buenos Aires dargestellt hatte. Sábato
spricht von der Situation der Menschen in Argentinien und ihren daraus entstehenden
Befindlichkeiten. Aus den Befindlichkeiten formten sich für das Land Argentinien typi-
sche Verhaltensweisen, die schließlich allgemeingültige Charakterzüge der Bewohner
des Landes wurden. Die Allgemeingültigkeit
unterstreicht auch die von ihm im Zitat
benutzte Wir-Form. Die genannten Befindlichkeiten sind Sábato zufolge noch heute
vorzufinden. Sie beeinflussten die sozialen und kulturellen Verhaltensweisen der
Menschen bis heute und prägten sich in den Bedeutungen des Tangos ein.
Im Sinne des Konzepts des Kulturellen Gedächtnisses nach Posner kann geschluss-
folgert werden, dass sich das Bild der Gesellschaft aus Befindlichkeiten und Lebens-
bedingungen der Menschen zusammensetzte und unter anderem in den Texten,
Bewegungen und Verhaltensweisen eines Tanzes dieser Menschen Ausdruck fand. Im
Tanzen und Rezipieren der Texte partizipierte jeder Tanzende an diesem Bild. Die
getanzte Form und die Texte des Tangos wurden zu feststehenden Codes, die einer-
seits die Entstehungsbedingungen als zu erinnerndes Wissen bewahrten und anderer-
seits innerhalb der Gruppe der Tanzenden durch die Wiederholungen von Bewegun-
31
Vgl. Allebrand: Tango, S. 54.
32
Zit. nach Sábato: Das Bandoneón, in: Künstlerhaus Bethanien: Melancholie der Vorstadt, S. 100.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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gen und Texten weitergegeben wurden. Die Codes wurden zu etablierenden Elemen-
ten innerhalb der Gruppenstruktur und ein wichtiger Indikator für die persönliche und
gesellschaftliche Situation der Tanzenden.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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2 Die Texte des Tangos. Seine Stimmungen und Inhalte
Anhand ausgewählter Tango-Texte werden in diesem Kapitelteil grundlegende Bedeu-
tungen in Tango-Texten heraus gestellt. Es geht um Bedeutungen im Sinn des Text-
verstehens nach Schutte, bei dem das durch den Textautor Gesagte inhaltlich verstan-
den werden soll.
33
Aus der thematischen Ordnung dieser Bedeutungen ergeben sich
inhaltliche Kategorien. Sie werden jeweils durch einen oder zwei exemplarische Texte
anschaulich gemacht.
Die Auswahl der Tango-Texte basiert auf einer Durchsicht von ca. 340
Tango-Texten.
34
Sie können als ein repräsentativer Querschnitt bewertet werden, da sie aus verschie-
denen, auf wissenschaftlichen Auswahlmethoden basierenden oder aus bedeutenden
argentinischen Textsammlungen stammen.
In den Tango-Texten geht es thematisch um Schicksale von Menschen, die aus Euro-
pa emigrierten, um ein besseres Leben zu finden, um neu zu beginnen, die Enttäu-
schungen erlitten und Erfolge errangen, um sich schließlich in Argentinien eine neue
Identität aufzubauen.
35
Es wird hauptsächlich von den Gefühlen und Enttäuschungen
der Protagonisten erzählt und es werden die sozialen Lebensbedingungen der Stadt
Buenos Aires beschrieben.
33
Vgl. Schutte: Einführung in die Literaturinterpretation, S. 44. Der für eine vollständige Textinterpretati-
on neben der Textbedeutung notwendige Textsinn, der nach dem Entstehungsgrund des Textes
fragt, ist für die aufgestellte Hypothese nicht notwenig zu untersuchen.
34
Reichardt spricht von ca. 2000 bekannteren Tango-Texten. Als bekannter wertet er diejenigen, die
mindestens einmal auf einem Tonträger aufgenommen wurden (Vgl. Reichardt: Tango, S. 175). Ossa
spricht sogar von 5500 bis 6000 Tangos. Er rechnet die Kompositionen bis zur Gegenwart hinzu (Vgl.
Ossa, in: Künstlerhaus Bethanien: Melancholie der Vorstadt, S. 160). Die Ziffer Reichardts beinhaltet
Tango-Texte, die vor allem bis zu den vierziger Jahren entstanden.
35
Ein ,europäisches Land Argentinien' war das Ziel patriotischer argentinischer Erneuerer ab den
1860er Jahren. Man war um europäisches Fachwissen in Verkörperung von Ingenieuren, Unterneh-
mern und Spezialisten bemüht. Zahlreich waren jene, die von den argentinischen Werbekampagnen
angezogen, einwanderten. Es kamen zunächst ca. 64000 europäische Einwanderer. Die Tendenz
hielt an, so dass ein Bevölkerungszuwachs von 2 Mio. (1870) auf 8 Mio. (1914) Einwohner zu ver-
zeichnen war. Es handelte sich hauptsächlich um einfache Arbeiter und Bauern. Die Motivation ihrer
Auswanderung aus Europa lag in ihren schwierigen Lebensbedingungen als Angehörige des einfa-
chen Volkes in Europa (Vgl. Reichardt: Tango, S. 43 und Künstlerhaus Bethanien, S. 13).

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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In der Mehrzahl der Tango-Texte ist die Hauptfigur der von der Frau verlassene Mann:
,,Ich werde nicht Mitleid heischend,
verzweifelt und besiegt herumgehn;
nachdem ich dich verloren hab [ ...]"
(Jamás lo vas a saber ­ Niemals wirst du es erfahren, S. 271)
36
Der Protagonist erzählt öffentlich - da an den Zuhörer gerichtet - davon, dass er seine
Partnerin verloren hat. Er spricht vom Verzweifelt- und Besiegtsein, vom Umhergehen,
vom Mitleid, dass ihm angesichts des Verlustes der Partnerin in den Sinn kommt.
Daher leitet sich sein Name ab: der Weinende oder auch der Klagende - der llorón. Er
gibt Einblick in einen persönlichen Verlust ­ etwas, was gemeinhin als etwas Negatives
gewertet wird. Da der Tangotext als ein lyrischer Text möglicherweise auch auf einer
metaphorischen Ebene interpretiert werden kann, bietet es sich an, den persönlichen
Verlust in einem weiten Sinne zu interpretieren. Der Verlust bezieht sich möglicherwei-
se nicht nur auf die geliebte Partnerin, sondern sie kann als Metapher für die Gesamt-
heit geliebter Dinge (die Mutter, die Heimat, die Jugend, etc.) des Protagonisten ver-
standen werden.
Das Spektrum der Reaktionen auf den persönlichen Verlust reicht von emotionaler
Stärke und einer gewissen Würde über Einsamkeit und Sinnlosigkeit bis hin zur Flucht
vor dem, was geschah.
In oben begonnenem Textzitat endet der Protagonist mit einer trotzigen, aber bestimm-
ten, erzwungen würdevollen Haltung:
,,[...] nachdem ich dich verloren hab,
wirst du nie erfahren, ob dein Vergessen
Zärtlichkeit oder Groll hinterließ."
(Jamás lo vas a saber ­ Niemals wirst du es erfahren, S. 271)
Der Protagonist akzeptiert das Verlorene und distanziert sich gleichzeitig von ihm. Er
stellt das baldige Vergessen der schmerzhaften Verbindung in Aussicht, dessen Aus-
gang er selbst noch nicht kennt: mag es ein positives oder negatives Gefühl hinterlas-
sen. Das Wichtigere scheint dem Protagonisten jedoch zu sein, dass er mit dem Verlo-
renen emotional bricht und sich frei macht. Ein Bruch, der ihm erlauben wird, weiterzu-
leben.
36
Alle folgenden Tango-Texte sind zitiert aus Reichardt: Tango. Den Textzitaten zugehörige Tangotitel
und Seitenzahlen sind in Klammern nach dem Textzitat angegeben. Es wird die deutsche Überset-
zung Reichardts benutzt.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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In anderen Texten werden Einsamkeit, als auch die mit ihr verbundene Leere und
Sinnlosigkeit nach dem Verlust bedeutsam:
,,Und damals bei deiner Herzlosigkeit,
fühlte ich mich todelend, [...]
und erkannte meine zwecklose Einsamkeit."
(El último Café ­ Der letzte Kaffee, S. 251)
Der Protagonist drückt seinen Schmerz mit der Schuldzuweisung an die verlorene
Partnerin aus, da sie die Herzlosigkeit besaß, ihn einsam zurückzulassen. Wie es im
Textzitat durch die Wortwahl anklingt, wusste sie dabei, dass er sich bei solchem
Verhalten ihrerseits 'todelend' fühlen würde. Eine Hilflosigkeit seinerseits ist herauszu-
hören. Seine Einsamkeit bezeichnet er als zwecklos. Da die originale Textstelle ,mi
soledad sin para'
37
auch als ,sinnlose Einsamkeit' übersetzt werden kann, fällt eine
Deutung dieser Worte leichter. Sie können bedeuten, dass der Protagonist seine auf
den Verlust folgende Einsamkeit als sinnentleert erfährt. Der Liebesverlust verursacht
dem Protagonisten eine innere Leere, bezogen sowohl auf das Emotionale als auch
auf die Sinn- und Zweckhaftigkeit des eigenen Lebens.
Eine zweite Textstelle soll dies verdeutlichen:
,,Mich ängstigte die Einsamkeit
und schlimme Furcht,
entfernt von dir zu sterben."
(Como dos extraños ­ Wie zwei Fremde, S. 109)
Die auf den Verlust folgende Einsamkeit ängstigt den Protagonisten. Die Angst steigert
sich sogar zu einer Furcht. Es ist die Furcht weit entfernt und einsam zu sterben, sei es
die im Text konkret ausgedrückte verlorene Geliebte oder die möglicherweise durch sie
symbolisierten weiteren geliebten Objekte im Leben des Protagonisten. Es könnten
zum Beispiel die verlassene Heimat in Europa sein oder das verlassene Viertel der
Kindheit und dessen Sicherheit sowie Geborgenheit. Es sind Dinge, die in den folgen-
den Textzitaten behandelt werden.
Einsamkeit und Verlust führen den Protagonisten zu Gedanken des Sterbens. Der
Moment des Verlustes führt ihm seinen eigenen Tod vor Augen. Dieser Tod, Ulla
interpretiert ihn als einen ,metaphorischen Tod'
38
, steht nicht nur für den natürlichen,
unvermeidlichen Tod des Protagonisten, sondern drückt bildhaft ,,die Gefühlsleere am
37
Zit. nach Reichardt: Tango, S. 250.
38
Zit. nach Ulla, in: Künstlerhaus Bethanien: Melancholie der Vorstadt, S. 214.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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nachdrücklichsten aus, die der Verlassene verspürt"
39
. Der Protagonist kann sich vom
Verlorenen nicht trennen. Der Verlust wird ihn in Gestalt von Einsamkeit und Furcht bis
zu seinem Tod begleiten. Der Tod als ein endgültig Beendendes entspricht dem mo-
mentanen Empfinden des Protagonisten.
Als ein anderer möglicher Ausweg und als Trost für den gefühlten Schmerz der Ein-
samkeit erscheint dem Protagonisten im Tango-Text eine nahe liegenden Form des
Vergessens, der Alkohol
40
:
,,Heute, da ich wieder in der Finsternis lebe
und das Licht ihrer Liebe ersehne,
muss ich meine Existenz versenken
und suche deswegen den Alkohol."
(No me pregunten por qué - Fragt mich nicht, warum, S. 323)
Die Liebe der Frau vergleicht der Protagonist mit dem Licht. Der Verlust der Frau bzw.
das ,Licht ihrer Liebe' lässt ihn erneut ­ wie, so anzunehmen, er es ohne ihre Präsenz
zuvor tat - in Finsternis leben. Er setzt das Leben in Finsternis mit einem Nicht-
Existieren gleich, da er aus dem Fehlen der Liebe die Notwendigkeit schließt, seine
Existenz versenken zu müssen. Er möchte seine Existenz seinem Zustand ohne Liebe
bzw. Licht anpassen. Ein Versinken wird ihm im Alkoholgenuss möglich. Für den
Protagonisten ist die adäquate Form für seinen Zustand das Betrinken.
Im zweiten Textzitat ist der Grund der Flucht in den Alkohol nicht der Schmerz des
Verlustes oder die Sehnsucht nach Liebe, sondern das Wissen um eine schmachvolle
Begebenheit und schmerzliche Erfahrung mit einer geliebten Frau, die ein zufälliges
Wiedersehen erneut offen legt:
,,Einsam, erledigt, abgewrackt, sah ich sie heut morgen
aus dem Cabarét kommen. [...]
Diese Begegnung hat mich krank gemacht.
Je mehr ich daran denk, vergiftets mich noch ganz.
Heute Nacht besauf ich mich und lass mich vollaufen,
voll, um nicht zu denken."
(Esta noche me emborracho ­ Heute Nacht besauf ich mich, S. 255/256)
Der Protagonist berichtet vom Wiedersehen einer Frau, der er, der Wortwahl zufolge,
zugetan ist. Was er sah ­ eine Frau, die keinem anziehenden liebenden Geschöpf
39
Zit. nach Ebd.
40
Dieser Punkt wird ebenfalls von Ulla als kennzeichnend für diese Situation des Verlustes beschrieben
(Vgl. Künstlerhaus Bethanien: Melancholie der Vorstadt, S. 212).

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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glich -, machte ihn regelrecht krank, d.h. es brachte ihn in einen für ihn nicht normalen
Zustand. Die stärker werdende Erinnerung daran verschlimmert seinen Zustand. Das
Denken an die Situation würde ihn möglicherweise zu Schlussfolgerungen führen, die
ihm unerträglich wären. Um dem Einhalt zu gebieten, sucht er die Flucht ihm Alkohol.
Auch an dieser Stelle muss die Interpretation der verlorenen Illusion nicht auf die Liebe
zu einer Frau beschränkt bleiben, sondern kann auch auf die Situation der Eingewan-
derten mit ihren enttäuschten Hoffnungen und Sehnsüchten übertragen werden.
An der Seite des llorón steht in den Tango-Texten die Frau. Von ihr wird ein ambivalen-
tes Bild gezeichnet. Sie ist einerseits begehrtes Liebesobjekt, die Mächtige und uner-
reichbare Angebetete, so wie es in folgenden Textstellen deutlich wird:
,,Im Licht eines Paares göttlicher Augen
berauschte sich meine Seele und mein Glaube,
und aus dem Honigbecher ihrer Lippen
betrank ich mich bis gestern an ihrer Leidenschaft."
(No me pregunten por qué - Fragt mich nicht, warum, S. 321)
,,Du bist ein leckres Porzellanfigürchen,
mit langgebognen Wimpern,
wilde Puppe, die hoch im Kurs steht. [...]
Wilde Puppe, Lasterblume [...]"
(Muñeca brava ­ Wilde Puppe, S. 315)
Im ersten Zitat wird die Frau mit Attributen des Göttlichen beschrieben, des Berau-
schenden, d.h. des der Realität Entreißenden. Sie steht für Sinnlichkeit und Leiden-
schaft.
Im zweiten Zitat wird die Frau in die Position des Objekts einer Begierde gestellt, an
dem sich der Betrachtende erfreuen und sich nehmen kann, wonach es ihm gelüstet.
Der Übergang von Angebeteter zum Liebesobjekt wird besonders deutlich, wenn im
ersten Text von poetisch beschriebenen Teilen des Körpers und von der Seele gespro-
chen wird, im zweiten Text die Frau zur Puppe degradiert wird ­ eine Puppe wird
bewegt. Porzellan als das genannte Material der Puppe kann die Brüchigkeit der
Puppe andeuten.
41
Die Bezeichnung Lasterblume bewegt sich bereits an der Grenze
zwischen einem sexuell charakterisierten Frauenkörper und Prostituierter.
41
Ebenso verdeutlicht eine andere Textstelle die Vergänglichkeit der weiblichen Schönheit und ihres
Erfolgs: ,,Wenn du ans Ende deiner Laufbahn gekommen bist, ist dein Frühling endgültig verwelkt."
(Muñeca brava ­ Wilde Puppe, in: Reichardt: Tango, S. 315)

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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Das führt zur zweiten Seite des ambivalenten Bildes der Frau als ,gefallene Frau' und
Prostituierte:
,,Es war kein Nichtsnutz und kein Messerheld
und auch kein dienstergrauter Zuhälter,
der dich zum Laster zwang.
Du bist aus eigner Schuld gefallen und wusstest es.
Rosinen hattest Du im Kopf von einem Leben
in Reichtum und Luxus."
(Margot, S. 303)
Aus einer Erzählerposition heraus stellt sich das Schicksal einer Frau dar, die innerhalb
der sozialen Hierarchie abgestiegen ist. Sie tat dies in Bewusstsein dessen und in
Eigenverantwortung, da im Text kein männlicher Protagonist ausgemacht werden
kann, der sie dazu veranlasste. Die Veranlassung zur lasterhaften Tätigkeit wird der
Frau zugeschrieben, die nach materiellem Reichtum strebte. Im Text wird vom Laster
in Bezug u.a. auf Zuhälter gesprochen. Damit wird die Tätigkeit der dargestellten Frau
ausgesprochen. Luxus und Reichtum werden im Text mit dem Laster in Verbindung
gesetzt. Das Laster wird als eine minderwertige soziale Position
angesehen. Die Ei-
genverschuldung und das Bewusstsein der Protagonistin für ihren Zustand werden
betont.
In den Tango-Texten wird die Ursache für das Laster benannt:
,,Jetzt gehst du mit deinen Laffen aus und spielst die große Dame
[...] während deine Alte, arme Alte, die ganze Woche wäscht,
um etwas in den Topf zu kriegen und in franziskanscher Armut
in einem alten Mietshaus wohnt, das Petroleumlampen erleuchten."
(Margot,
S.
305)
In der Gegenüberstellung des Lebens der angesprochenen Protagonistin mit dem ihrer
Mutter wird deutlich, dass das Laster eine Folge bzw. ein versuchter Ausweg aus der
Armut ist. Die Protagonistin geht mit ihren zahlenden Männern aus und gibt der Au-
ßenwelt den Schein der wohlhabenden Dame. Zur selben Zeit bleibt mit dem Motiv der
Mutter ihre Herkunft präsent, denn ihre Mutter muss für den Lebensunterhalt die ,ganze
Woche' arbeiten und kann sich dennoch nur das Minimum an Lebensstandard leisten.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
23
Das soziale Elend in den Vorstädten wird in den Tango-Texten immer wieder aufgegrif-
fen:
,,Hunger herrscht in den Häusern,
hart ist die Arbeit und gering der Lohn."
(Al pie de la Santa Cruz ­ Am Fuß des heiligen Kreuzes, S. 193)
,,[...] in der Vorstadt, wo einen das Elend verzweifeln lässt,
im sozialen Morast, wo eines Nachts die Armut eine Bleibe
gefunden hatte. Als kleiner Junge wühlte ich bereits im Schlamm,
in dem alles, was groß ist, in Fäulnis verfällt."
(Sentencia
­
Urteil,
S.
349)
Im ersten Zitat wird klar die Situation beschrieben. Es herrscht Hunger unter den
Bewohnern des Viertels. Trotz harter Arbeit, sofern sie vorhanden ist, ist der Lohn
gering. Die typische Situation eines Armenviertels wird dem Zuhörer vorgestellt.
Der Protagonist des zweiten Textzitats erzählt von der Verzweiflung, die das Elend mit
sich bringt. Die Zukunftslosigkeit schwingt in den Zeilen mit. Die Armut hat bereits eine
,feste Bleibe' gefunden. Das vermittelt den Eindruck, dass ein Ende der Armut nicht
abzusehen ist. Der Protagonist berichtet außerdem, dass er als Kind bereits im
,Schlamm der Fäulnis' wühlte, in dem alles Große verfällt. Diese Metapher kann als die
Zukunftslosigkeit interpretiert werden, mit der sich bereits die Kinder konfrontiert sehen
und die wie ein Schatten über der Kindheit liegt. Eine Zukunftslosigkeit, die den Er-
wachsenen in jedem Fall ereilen wird, so die Aussage der Metapher.
In dieser Situation der harten sozialen Wirklichkeit bleiben Gewalt und Kampf nicht
aus:
,,Der Kampf ist hart und ohne Pardon der beiden Rivalen,
noch stehen sie aufrecht, es droht täuschend der Arm,
Funken schlagen die Dolche, und es blitzen die Blicke
vor Wut und Groll."
(Allá en el Bajo ­ Unten beim Hafen, S. 199)
Es wird im Textzitat von einem harten Kampf der beiden Gegner gesprochen, der in
den folgenden Zeilen als ein heroischer beschrieben wird. Es wird mit Dolchen ge-
kämpft, Mann gegen Mann. Die ,blitzenden Blicke' verraten Wut und Groll. Auf ihnen
basiert die herrschende Gewalt im Viertel, die sich im Kampf entladen kann. Es geht
um eine existentielle Konfrontation, denn es gibt kein Pardon der beiden Rivalen. Es ist
kein Kampf des Spaßes willen. Er ist Teil des Lebens im Viertel.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
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Ein weiteres Motiv in den Tango-Texten ist das Muttermotiv. Es steht der sozialen
Wirklichkeit aus Armut und Kampf entgegen:
,,[...] denn bevor ich sterbe, möchte ich ihr,
meiner ersten Liebe,
einen Kuß auf die faltige Stirn geben [...]
Die letzte Erinnerung war der Name der Mutter."
(El peñado 14 ­ Sträfling 14, S. 245)
Der Protagonist steht kurz vor seinem Tod und reflektiert über sein Leben. Sein
Wunsch besteht darin, der Mutter einen Kuss zu geben. Die Wortwahl der ,faltigen
Stirn' weist auf die Zärtlichkeit des Gedankens an die Mutter hin und auf den Respekt
vor ihrem Alter. Es wird im Text des Weiteren ausgesagt, dass die letzte Erinnerung
des Protagonisten vor seinem Tod der Mutter galt. Die Bedeutung der Mutter wird
herausgestellt, indem sie als seine ,erste Liebe', aber auch als die ,letzte Erinnerung'
des zum Tode Verurteilten genannt wird. Sie umrahmt damit das bewusste wahrge-
nommene Leben des Protagonisten von der ersten Liebe bis zum Tod und schließt
alles darin Vorgekommene ein. Die Mutter könnte für einen Lebenshorizont stehen, auf
den sich der Protagonist bezieht.
Neben dieser umfassenden Bedeutung der Mutter, die ungewöhnlich ist, kommt ein
weiterer Aspekt hinzu: Es taucht in den Tangotexten trotz aller Selbst- und Lebens-
zweifel nur sehr sporadisch die Figur Gottes auf. Ulla schließt daraus, dass es im
Tango zur Ablösung der Figur Gottes kommt, da die Figur der Mutter eine ähnliche Art
moralischer Verhaltensnormen beinhaltet.
42
Die Mutter als die Inkarnation des Guten
erklärt sich, Ullas Argumentation folgend, aus der Realität der großen Bedeutung der
Mutter in einer Gesellschaft mit einem Mangel an Frauen, mit fehlender sozialer Si-
cherheit in Familie und Beruf, im Gegensatz dazu aber reich an Erinnerungen und
Hoffnungen. Die Suche nach der Mutter steht in dieser Interpretation für die Erinne-
rung: der Verlust der Beziehung zur Mutter bzw. der einer anderen Frau, der Verlust
von Sicherheit und Geborgenheit, die Sehnsucht nach dem Guten, dessen Färbung
viele Dinge der Vergangenheit annehmen
43
, aber auch die Suche nach gesellschaftli-
chen und persönlichen Werten innerhalb einer neuen gesellschaftlichen Ordnung.
44
42
Vgl. Ulla, in: Künstlerhaus Bethanien: Melancholie der Vorstadt, S. 188/189.
43
Vgl. Ebd.
44
Vgl. Ebd., S.190. Ulla führt weiter aus, dass ,,die Präsenz der Mutterfigur im Tango einem scheinbar
irrationalen Substrat entspricht [...] [und] das dieses von den realitätsbezogenen Textdichtern wie-
dererschaffene Symbol einer rationalen Ordnung entspricht [...]" Ulla betont die Werte gebende Funk-
tion der Mutter bzw. des Symbols der Mutterfigur. Ohne dass ihr ein realer moralischer gesellschaftli-
cher Referenzpunkt zugeordnet werden kann, erscheint die Mutterfigur in den Tango-Texten als eine
moralische Instanz, an deren Werten sich die Protagonisten orientieren.

Tango der Metropolen - Symbole und Bedeutungen eines kulturellen Textes
25
Interessant bezüglich des Motivs der Mutter in Hinblick auf eine mögliche tiefere oder
metaphorische Interpretation wäre, dass es von den Einwanderern mitgebracht wur-
de
45
und in ihrer neuen Lebenssituation erneut Symbolik und Wert erhielt.
Eine ähnliche Bedeutung kommt im Tango-Text dem Viertel zu:
,,Du warst wie eine Schule aller Fächer und
gabst meiner staunenden Jugend die Zigarette,
den Glauben an meine Träume und eine Hoffnung auf Liebe. [...]
Café von Buenos Aires, bist du doch das einzige im Leben,
das meiner Mutter ähnlich war."
(Cafetín de Buenos Aires ­ Café von Buenos Aires, S. 215)
Das Viertel erinnert der Protagonist als seine Lebensschule. Hier lernte er die Welt
kennen, hatte seine ersten Versuchungen, seine ersten Überzeugungen, Träume und
Sehnsüchte. Das Viertel seiner Kindheit minimiert sich auf einen Punkt im Viertel: das
(eine) Café. Im Text bezeugt der Protagonist die Affinität des Cafés mit seiner Mutter.
Es findet in der Erinnerung des Protagonisten eine Gleichsetzung von Jugenderinne-
rungen, Viertel, Café und der Mutter statt. Diese vier Eckpunkte bekommen einen
symbolischen Charakter und repräsentieren je auch die anderen drei. Sie stehen für
das Vergangene. In dieser Form interpretiert auch Ulla die Bedeutung des Viertels. Sie
führt aus, dass die Besinnung auf das Vergangene den Protagonisten zum Nachden-
ken über die Kindheit und die Veränderungen führt, die sich im Laufe der Zeit vollzogen
haben
46
.
Es ging in den Texten bisher um den Verlust eines Geliebten und in dessen Folge
einen Sinnverlust, um den sozialen Abstieg und den Verfall der Schönheit, um die
Erinnerung und das Vergangene.
45
Das Motiv der Mutter ist nicht genuin des Tangos noch der Region Rio de la Plata. Es findet sich
bereits im englischen, aber v.a. italienischen Volksliedgut wieder (Vgl. Ulla, in: Künstlerhaus Betha-
nien: Melancholie der Vorstadt, S. 190).
46
Vgl. Ebd., S. 196.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783836602990
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg – Angewandte Kulturwissenschaften, Sprache und Kommunikation
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,8
Schlagworte
europa metropole tango argentinien tanzgeschichte großstadtkultur kultursemiotik
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