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Religionsunterricht und 'Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde' (LER)

Die aktuelle Debatte um einen zeitgemäßen wertorientierten Unterricht

©1998 Magisterarbeit 100 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Der katholische (wie der evangelische) Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen hat in einem weltanschaulich neutralen Staat und in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft zwei Grundpfeiler:
- Die Tradition des Fache, die in Zeiten zurück reicht, da das gesamte Schulwesen von den christlichen Kirchen bestimmt war und die Gesellschaft eine wesentlich, wenn nicht ausschließlich vom Christentum geprägte Überzeugungsgemeinschaft darstellte (Staatskirchentum).
- Die verfassungsrechtliche Begründung (vor allem Art. 7 Abs. 3 GG), durch die der Staat seine gesellschaftlich gebotene Neutralität in dem Sinn positiv verwirklicht, daß er den in der Gesellschaft hauptsächlich wirksamen Religionsgemeinschaften das Recht einräumt und verbürgt, die religiöse Erziehung der Schüler ihres Bekenntnisses in den Schulen nach ihren eigenen Grundsätzen zu gestalten.
Beide Begründungen reichen offenbar heute für sich und zusammen genommen nicht mehr aus, den konfessionellen Religionsunterricht als Fach unter Fächern in einer ‚Schule für alle’ zu legitimieren. Diese Aussage von 1985 ist heute aktueller denn je. Seit mit Brandenburg das erste Bundesland den Religionsunterricht als ordentliches (also verbindlich im Fächerkanon) Unterrichtsfach aus dem Lehrplan verbannte und statt dessen das neue Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ (LER) für alle, auch getaufte Schülerinnen und Schüler einführte, tobt ein leidenschaftlicher Streit um den Religionsunterricht in der Schule.
Daß die Verabschiedung eines Schulgesetzes auf Länderebene oder genauer die dort festgeschriebene Einführung eines neuen Faches zu solch heftigen Diskussionen führt wie es beim Brandenburgischen Schulgesetz vom 12. April 1996 und der darin beschlossenen Einführung des Faches „Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde“ der Fall ist, hat wohl niemand erwartet. In einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung allenfalls auf dem Papier einer der beiden christlichen Kirchen angehört, ist ein erbitterter Streit um den Religionsunterricht entstanden.
Der zunächst nur zwischen den Landeskirchen Brandenburgs und der Brandenburger Regierung bestehende Konflikt hat sich ausgeweitet, bundesweit nehmen vor allem Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche, aber auch Stimmen aus Politik und Gesellschaft Stellung zu der Abschaffung des Religionsunterrichts in Brandenburg.
Problemstellung:
Wie läßt sich nun ein soziologisches […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Christine Knecht
Religionsunterricht und 'Lebensgestaltung ­ Ethik ­ Religionskunde' (LER)
Die aktuelle Debatte um einen zeitgemäßen wertorientierten Unterricht
ISBN: 978-3-8366-0280-8
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg im Breisgau, Deutschland,
Magisterarbeit, 1998
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

1
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ... 3
2 Theoretische
Grundlagen ... 7
2.1
Erklärung von Begriffen und ihrer Verwendung ... 7
2.2 Die
Sinnfrage... 8
2.3 Religionssoziologie ... 11
2.3.1 Georg Simmel (1858 ­ 1918)... 13
a Vorbemerkungen zu Simmels Religionssoziologie nach Helle ... 14
b Georg Simmels Religionssoziologie ... 16
2.3.2 Peter L. Berger (* 1929)... 22
2.4 Anknüpfungspunkte ... 33
3 Juristischer
Hintergrund... 35
3.1 Religionsunterricht
im
Grundgesetz... 35
3.2
Brandenburgisches Schulgesetz vom 12. April 1996... 36
3.3
Beteiligung der Kirchen am Modellversuch ... 38
4
Positionen zu Religionsunterricht und LER... 41
4.1
Die Einführung des Faches LER in Brandenburg... 41
4.2
Inhalte des Faches LER... 41
4.3
Argumente für den Religionsunterricht... 45
4.3.1 Die Position der Kirchen ... 46
a Katholische Kirche... 46
b Evangelische Kirche... 51
4.3.2 Ansichten aus Politik und Gesellschaft... 55
a Der Streit um den Religionsunterricht aus politischer Sicht ... 56
b Stellungnahme der Katholischen Studierenden Jugend (KSJ)... 59
c Die Frage nach dem Bildungsauftrag der Schule... 62
d Stellungnahme der Jüdischen Gemeinde Brandenburg... 66
4.4
Argumente für LER... 68
4.4.1 Die Situation in den neuen Bundesländern ... 68
4.4.2 LER als Unterricht für alle ... 70
5
Erfahrungen aus der Praxis ... 75
5.1
Erfahrungen mit dem Religionsunterricht in den neuen Bundesländern ... 75
5.2
Fragebogen über den Religionsunterricht ... 80
5.3 Schüler/innen-Texte ... 84
5.4 Lehrerstimmen ... 87
5.5
Akzeptanz des LER-Unterrichts... 90
6 Zusammenfassung... 93
Literaturverzeichnis... 99

3
1 Einleitung
In den folgenden Kapiteln soll die heutige Situation des Religionsunterrichts behandelt wer-
den. Aufgenommen wird dabei die Debatte um das neue Fach ,,Lebensgestaltung ­ Ethik ­
Religionskunde" in Brandenburg, durch dessen Einführung auch der Religionsunterricht wie-
der in der öffentlichen Diskussion auftauchte. Im Vordergrund soll dabei stehen, auf welche
Art Werte vermittelt werden können. Dazu werden verschiedene Ansichten genauer betrach-
tet, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Nicht bzw. nur implizit behandelt wird die
religiöse Sozialisation, da diese nicht nur im Religionsunterricht, sondern auch in der Familie
und der Kirchengemeinde stattfindet (oder auch nicht). Hier soll der Schwerpunkt nicht dar-
auf gelegt werden, auf welche Art religiöse Sozialisation am allgemeinen Sozialisa-
tionsprozeß beteiligt ist, sondern darauf, ob der Religionsunterricht als Vermittler von allge-
meinverbindlichen Werten in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft noch eine Exis-
tenzberechtigung hat, oder ob ein übergreifendes Fach besser geeignet ist, Jugendliche zu
verantwortlichem Handeln zu erziehen.
,,Der katholische (wie der evangelische) Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen hat
in einem weltanschaulich neutralen Staat und in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft
zwei Grundpfeiler:
die Tradition des Fache, die in Zeiten zurück reicht, da das gesamte Schulwesen von den
christlichen Kirchen bestimmt war und die Gesellschaft eine wesentlich, wenn nicht aus-
schließlich vom Christentum geprägte Überzeugungsgemeinschaft darstellte (Staatskir-
chentum)
die verfassungsrechtliche Begründung (vor allem Art. 7 Abs. 3 GG), durch die der Staat
seine gesellschaftlich gebotene Neutralität in dem Sinn positiv verwirklicht, daß er den in
der Gesellschaft hauptsächlich wirksamen Religionsgemeinschaften [...] das Recht ein-
räumt und verbürgt, die religiöse Erziehung der Schüler ihres Bekenntnisses in den Schu-
len nach ihren eigenen »Grundsätzen« zu gestalten.
Beide Begründungen reichen offenbar heute für sich und zusammen genommen nicht mehr
aus, den konfessionellen Religionsunterricht als Fach unter Fächern in einer »Schule für alle «
zu legitimieren."
1
1
Langer, Wolfgang: Religionsunterricht in einer ,,nachchristlichen" Gesellschaft, Hildesheim 1985

4
Diese Aussage von 1985 ist heute aktueller denn je.
2
Seit mit Brandenburg das erste Bundes-
land den Religionsunterricht als ordentliches (also verbindlich im Fächerkanon) Unterrichts-
fach aus dem Lehrplan verbannte und statt dessen das neue Fach ,,Lebensgestaltung ­ Ethik ­
Religionskunde" (LER) für alle, auch getaufte Schülerinnen und Schüler einführte, ,,tobt [...]
ein leidenschaftlicher Streit um den Religionsunterricht in der Schule."
3
Daß die Verabschiedung eines Schulgesetzes auf Länderebene oder genauer die dort fest-
geschriebene Einführung eines neuen Faches zu solch heftigen Diskussionen führt wie es
beim Brandenburgischen Schulgesetz vom 12. April 1996 und der darin beschlossenen Ein-
führung des Faches ,,Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" der Fall ist, hat wohl nie-
mand erwartet. In einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft, in der die Mehrheit der Be-
völkerung allenfalls auf dem Papier einer der beiden christlichen Kirchen angehört, ist ein
erbitterter Streit um den Religionsunterricht entstanden.
Der zunächst nur zwischen den Landeskirchen Brandenburgs und der Brandenburger Regie-
rung bestehende Konflikt hat sich ausgeweitet, bundesweit nehmen vor allem Vertreter der
evangelischen und katholischen Kirche, aber auch Stimmen aus Politik und Gesellschaft Stel-
lung zu der Abschaffung des Religionsunterrichts in Brandenburg.
Wie läßt sich nun ein soziologisches Interesse an diesem Streit begründen? Diese Frage ist
unter verschiedenen Gesichtspunkten zu sehen. Zunächst ist festzuhalten, daß Religion ein
gesellschaftliches Phänomen ist, das in vielen Bereichen (immer noch) eine Rolle spielt. Vor
allem der Jahresablauf ist weitgehend von den christlichen Festen geprägt. Die Religionsso-
ziologie ist zunächst als eine Soziologie der Kirchen entstanden
4
, also der Institutionen, in
denen sich Religion manifestiert. Mit der empirischen Religionssoziologie werden Daten zu
Gottesdienstbesuchshäufigkeit, Austrittszahlen, Konfessionszugehörigkeit und anderen ,,har-
2
Vgl. dazu Knauth, Thorsten: Religionsunterricht und Dialog, Münster 1996, S. 21: ,,Das konfessionelle Modell
des bisherigen Religionsunterrichts wird spätestens seit der Wiedereinführung des Religionsunterrichts in den
neuen Bundesländern in Frage gestellt. Angesichts einer Kirchenmitgliedschaft, die im Gebiet der ehemaligen
DDR unter 25% liegt, stellte sich die Frage nach dem Sinn eines Religionsunterrichts, der an die evangelische
bzw. katholische Konfession gebunden ist, besonders eindringlich. [...] Die Diskussion über Sinn und Legitimität
des konfessionell gebundenen Religionsunterrichts in den neuen Bundesländern führte aber auch dazu, die Lage
in der bisherigen Bundesrepublik selbstkritisch zu reflektieren und festzustellen, daß auch dort angesichts
schwindender Kirchenmitgliedschaftszahlen, nachlassender konfessionell-sozialisierender Prägungen und z.T.
hoher Abmeldequoten der konfessionelle Religionsunterricht in eine manifeste Krise gekommen war."
3
http://www.archiv/1995/07/25/25/0725de03.htm
: von Aretin, Felicitas: Ethik ist den Kirchen viel zu weltlich.
In Brandenburg tobt Auseinandersetzung um Religionsunterricht an den Schulen, (Die Welt vom 25. Juli 1995)
4
Berger, Peter L.: Auf den Spuren der Engel, Freiburg 1991
3
, S. 23; Meyer vertritt dagegen die Ansicht, daß die
Entwicklung der Religionssoziologie weg vom Empirischen geht (Meyer, Heinz: Religionskritik, Religions-
soziologie und Säkularisation, Frankfurt/Main 1988; vgl. Kap.2.3, Fußnote 23, S.10), Berger selbst ist ein Ver-
treter dieser ,,neuen" Art. (Es muß berücksichtigt werden, daß Bergers Äußerung von 1969 stammt, Meyer dage-
gen 1988, also knapp zwanzig Jahre später, schreibt).

5
ten" Fakten erhoben. Aus diesen Zahlen läßt sich die abnehmende Bindung der Bevölkerung
(zumindest in westlichen Staaten) ablesen und damit die These einer zunehmenden Säkulari-
sierung aufstellen. Damit ist jedoch noch wenig über das Phänomen Religion selbst gesagt,
denn schwindende Mitgliederzahlen lassen sich bei anderen Institutionen wie z.B. Parteien
ebenso feststellen. Daraus ließe sich aber nur eine gewisse Institutionsmüdigkeit
5
, ein Hang
zu vermehrter Individualisierung ableiten.
In den folgenden Kapiteln sollen zunächst die religionssoziologischen Ansätze von Georg
Simmels
6
und Peter L. Bergers
7
betrachtet werden, um einen theoretischen Bezugsrahmen für
die Diskussion zu gewinnen. Im Anschluß daran wird kurz der juristische Hintergrund der
Debatte erläutert, gefolgt von einem Überblick über einige Positionen für und gegen den Re-
ligionsunterricht und LER. Im fünften Kapitel kommen Schülerinnen und Schüler, Lehrerin-
nen und Lehrer zu Wort, die von praktischen Erfahrungen aus dem Unterricht, wie sie ihn
konkret erleben, berichten. Schließlich wird im Schlußkapitel versucht, die vorgestellten Posi-
tionen auf die theoretischen Überlegungen Bergers und Simmels zu beziehen und einen Aus-
blick auf mögliche zukünftige Entwicklungen darzustellen.
5
Vgl. dazu: Siefer, Gregor. Ist der moderne Mensch institutionsmüde? in: Amery, Carl u.a.: Sind die Kirchen am
Ende? Regensburg 1995, S: 93 - 109
6
Simmel, Georg: Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie / Georg Simmel. Hrsg. u. mit e. Einl. von Horst
Jürgen Helle, Berlin 1989. Im folgenden werden die Aufsätze Simmels nach dieser Ausgabe zitiert, wo sich eine
Aussage auf die Einleitung Helles (S. 7 ­ 35) bezieht, verweist die Fußnote nicht auf Simmel, sondern auf ,,Helle
[Einleitung]".
7
Berger (1991); ders.: Sehnsucht nach Sinn, Frankfurt/Main; New York 1996
3

7
2 Theoretische
Grundlagen
Um die aktuelle Debatte um den Religionsunterricht aus soziologischer Sicht anzugehen,
müssen zunächst einige theoretische Vorüberlegungen getroffen werden. Es sollen ja nicht
nur rein äußerliche Merkmale wie abnehmende Kirchenbindung konstatiert werden, oder daß
sowohl katholische wie evangelische Kirche Personalprobleme haben und daher viele Ge-
meinden pfarrerlos sind. Diese Fakten sind hinlänglich bekannt, ebenso wie die Kritik an vie-
len Aussagen der katholischen Kirche, vor allem des Papstes. Man denke nur an die Laienin-
struktion, die viele (noch) aktive Gemeindemitglieder in ihrem persönlichen Engagement ge-
troffen hat.
Hier soll es um die Begründungen für oder gegen einen Religionsunterricht (nicht nur in
Brandenburg) gehen. Daß den Kirchen daran liegt, den Religionsunterricht in der Schule als
verpflichtendes Fach beizubehalten, liegt auf der Hand, ist dies doch oft die einzige Gelegen-
heit, wo Schülerinnen und Schüler noch in Berührung mit dem christlichen Glauben kommen.
2.1 Erklärung von Begriffen und ihrer Verwendung
Wenn im nachfolgenden von ,,Religion" die Rede ist, ist damit fast immer die christliche Re-
ligion gemeint. Es sollte daher richtiger vom ,,Christentum" gesprochen werden, da aber viele
Aussagen nicht nur für diesen Teilbereich der Religion gelten, sondern allgemeingültig sind
(oder zumindest diesen Anspruch erheben), bleibt der Begriff ,,Religion" stehen.
,,Säkularisierung" meint ,,den Prozeß des Abbaus der religiösen Interpretation der Welt", ,,Sä-
kularisation"
1
dagegen ist das Ergebnis dieses Prozesses. Die Begriffe werden aber weit-
gehend synonym verwendet.
,,Transzendenz" im Sinne Bergers soll als ,,Übernatürlichkeit" verstanden werden. Berger
selbst weist auf die Problematik einer solchen Sichtweise hin, da diese ,,eine Teilung der
Wirklichkeit suggeriert: ein geschlossenes System rational faßbarer »Natur« und, jenseits und
außerhalb, ein geheimnisvolles Irgendwo."
2
Dennoch plädiert er für diesen Terminus, da er
,,vor allem in seiner alltäglichen Bedeutung, eine fundamentale Kategorie der Religion [trifft]:
nämlich die Überzeugung oder den Glauben, daß es eine andere Wirklichkeit gibt, und zwar
1
Meyer, S. 27
2
Berger (1991), S. 20

8
eine von absoluter Bedeutung für den Menschen, welche die Wirklichkeit unseres Alltags
transzendiert."
3
2.2 Die
Sinnfrage
Die Frage, die die Entscheidung der Brandenburger Regierung aufwirft, den Religionsunter-
richt aus nachvollziehbaren Gründen ­ inwieweit muß noch diskutiert werden - durch ein
,,weltanschaulich neutrales, aber dennoch wertgebundenes"
4
Fach Lebensgestaltung - Ethik -
Religionskunde zu ersetzen, ist, ob ,,Sinnstiftung ohne Sinnsysteme"
5
möglich ist ­ wobei
nicht vergessen werden darf, daß ein Wertefundament - und damit ein Sinnsystem - für LER
besteht ­ aber eben kein religiöses.
6
Der Begriff ,,Sinn" soll hier transzendent aufgefaßt werden. Allzu häufig wird ,,Sinn" mit
,,Zweck" verwechselt. Meistens, wenn gesagt wird ,,Das hat doch keinen Sinn." ist eigentlich
gemeint ,,Das hat doch keinen Zweck." Der Zweck einer Sache, eines Verhaltens etc. ist auf
die Konsequenzen gerichtet, das, mit welchem Ziel man an eine Sache herangeht, es ist ein
materieller Begriff, der sich auf den Gewinn, den man mit etwas erzielen (bezwecken) möch-
te, bezieht.
Der Sinn, wie er nachfolgend behandelt wird, ist dagegen zweckfrei. Das muß nicht heißen,
daß er zwecklos ist; wenn jemandem der Glaube an Gott in einer schwierigen Situation hilft,
klaren Kopf zu bewahren, hat dieser Glaube einen gewissermaßen materiellen bzw. verwert-
baren Zweck (man hat keine falschen Entscheidungen getroffen, nicht die Nerven verloren
etc.). Grundsätzlich aber wohnt dem hier gemeinten Sinn kein Gewinnstreben inne, außer
vielleicht dem, das Leben nicht nur als eine Anzahl von Zufälligkeiten aufzufassen.
Döberts Ansicht nach wird die Sinnproblematik erst zu einem relativ späten Zeitpunkt im Le-
benslauf, nämlich in der Adoleszenzphase, thematisiert.
7
Genau in diese Phase fällt der LER-
3
Ebd.
4
MBJS: Das brandenburgische Schulgesetz ­ was steckt hinter Lebensgestaltung/Ethik/Religionskunde, Pots-
dam 1997
2
, S. 16
5
Döbert, Rainer: Sinnstiftung ohne Sinnsysteme?, in: Fischer, Wolfram; Marhold, Wolfgang: Religionssozio-
logie als Wissenssoziologie, Stuttgart 1978, S. 52 - 72
6
MBJS: Was steckt hinter LER, S. 16: ,,Das Wertefundament von LER ist das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland, die Verfassung des Landes Brandenburg, das Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg mit
seinen Zielen und Grundsätzen der Erziehung und Bildung, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und
die UN-Konvention über die Rechte des Kindes."
7
Döbert, S. 54: ,,Die Tatsache, daß die Sinnproblematik, wenn sie überhaupt aufbricht (und das ist für unsere
Gesellschaft eher atypisch), erst relativ spät im Lebenszyklus erfahren wird ­ in der Adoleszenzphase nämlich -,
kann als Indiz dafür gewertet werden, daß wir es hier mit einer hochkomplexen Leistung zu tun haben, deren
Voraussetzungen sich erst langsam entwickeln müssen."

9
Unterricht in Brandenburg. Vor der siebten Klasse, ab der dieses Fach auf dem Lehrplan
steht, findet keine weltanschauliche Erziehung in der Schule statt, kirchlich gebundene Schü-
ler und Schülerinnen mögen eine von ihrer Glaubensgemeinschaft angebotene Unterweisung
wie die Christenlehre
8
besuchen, doch die Mehrheit wird erst im Alter von 12 bis 14 Jahren
mit einer (schulisch verantworteten) Werteerziehung konfrontiert. Um das eigene Leben als
,,sinnvoll" zu empfinden, ,,müssen alle vergangenen und zukünftigen Handlungen des Sub-
jekts bewußt zu einer je einzigartigen Biographie zusammengeschlossen werden, und dieser
Entwurf [...] muß auf eine verallgemeinerte Konzeption einer >Weltordnung, innerhalb deren
sich auch andere Individuen lokalisieren können müssen, bezogen werden."
9
Die Suche nach
einer solchen Konzeption kann, muß aber nicht auftreten, ebenso wie man zur letzten Ebene
von Sinnstiftung, die allgemein mit dem Sinn des Lebens gemeint ist, vorstoßen kann, aber
nicht muß.
10
Döberts Ansicht ist nicht ganz unproblematisch, da er das Auftreten der Sinnsu-
che erst in der Adoleszenzphase sieht. Das gilt jedoch nur für eine Sinnbestimmung, die sich
ganz konkret auf den Sinn des eigenen Lebens bezieht, also die in der Pubertät beginnende
Abgrenzung zu den Eltern, die sich notwendigerweise mit den Lebenszielen (dem Sinn dieser
Ziele?) der Eltern auseinandersetzen muß, um eigene Vorstellungen entwickeln zu können,
wie das eigene Leben (sinnvoll?) ausgerichtet werden kann.
11
Schon vor der Pubertät begin-
nen Kinder aber, Fragen zu stellen, die mitunter philosophische Diskussionen nach sich zie-
hen können, z. B. die Frage nach Tod und Sterben. Biesinger bezeichnet diese Phase als eine ,,
kindliche Entwicklungsstufe der Naivität und philosophischen Unbedarftheit," die ,,nicht un-
terdrückt oder bekämpft werden [darf]. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, daß das mythi-
sche Denken ein notwendiger Vorläufer des wissenschaftlichen Denkens in der geistigen
8
Die Christenlehre ist hier nicht Gegenstand der Untersuchung, auf sie kann im weiteren nicht eingegangen
werden. Zur Vertiefung vgl. z. B. Schulverwaltungsblatt für das Land Sachsen-Anhalt (1997), Nr.1, S. 22 ­24:
Zum Verhältnis von evangelischem Religionsunterricht in der öffentlichen Schule und kirchlicher Arbeit mit
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Christenlehre), Hanisch, Helmut; Pollack, Detlef: Religionsunterricht
­ eine neues Schulfach, Stuttgart; Leipzig 1997, S. 28 ­ 30; Degen, Roland/Doyé, Götz (Hg.): Bildungsverant-
wortung der Evangelischen Kirche in Ostdeutschland. Grundsatztexte ­ Entwicklungen ­ Kommentare. Comeni-
us-Institut, Berlin u.a. 1995, S. 98 ­ 104, S. 117 ­ 127; Beyer, Franz-Heinrich: Die Christenlehre in der Gemein-
de, in: Lott, Jürgen (Hg.): Religion ­ warum und wozu in der Schule?, Weinheim 1992, S. 139 ­ 148; Ratzmann,
Wolfgang: Das Ende der Christenlehre?, in: Lott, S. 149 - 160
9
Döbert, S. 53
10
Döbert, S. 55
11
Döbert beschreibt sein Konzept der Adoleszenzphase demgemäß wie folgt: ,, Die Entwicklungsaufgabe, die in
dieser Phase zu lösen ist, wird normalerweise mit dem Begriff »Identitätsbildung« bezeichnet. Genauer gespro-
chen handelt es sich hier jedoch nicht um den Aufbau von »Identität« überhaupt, sondern um eine Veränderung
der frühkindlichen, primär familienzentrierten Identitätsformation. Am Ende dieser Entwicklungsphase wird der
einzelne sich nicht mehr einfach als Kind eines bestimmten Elternpaares begreifen, sondern soll seinen Platz in
der Gesamtgesellschaft einnehmen und dabei wissen, wer er ist, was er will und wollen soll, warum es sinnvoll
sein kann, das zu wollen, was er will, und warum er in einer bestimmten Art handelt.", Döbert, S. 57

10
Entwicklung des Individuums ist."
12
Es muß also zwischen den allgemeinen Sinnfragen, die
(fast) jedes Kind stellt und den Fragen nach dem Sinn des eigenen Lebens, so wie Döbert es
beschreibt, unterschieden werden.
Wo können nun also Antworten auf diese Fragen, die der Kinder ebenso wie die der Jugend-
lichen, gefunden werden? Wenn sich die Frage nach Sinnhaftigkeit stellt, ,,[läßt] die Gesell-
schaft [...] das Individuum bei der Lösung[...] nicht allein. In den ausformulierten Sinn-
systemen sind die konstruktiven Mittel, auf die das Individuum zurückgreifen kann, wenn es
versucht, den Sinn seines Lebens zu definieren, niedergelegt."
13
So weit, so gut. Nun muß
aber das Individuum wissen, wo denn diese ,,ausformulierten Sinnsysteme" zu finden sind
14
,
und um sie nutzen zu können, muß konkret auch gewußt werden, durch welche Personen oder
Institutionen sie vertreten sind.
15
,,Die umfassendsten derartigen Systeme sind die religiösen
Deutungssysteme, die sämtliche Kontingenzbereiche menschlicher Handlungssysteme abde-
cken."
16
Damit spricht Döbert der Religion als Sinnsystem den ersten Rang
17
zu, wobei hier
noch nicht von einer bestimmten Religion die Rede ist und auch keine Wertung stattfindet, ob
das umfassendste auch das schon deshalb beste Deutungssysytem sein muß. Andere ausfor-
mulierte Sinnsysteme sind beispielsweise Gesetze, also juristische Normen, die das Zusam-
menleben in einer Gemeinschaft nach bestimmten Regeln festlegen, oder auch die Familie, in
der sich eigene Rituale und Gewohnheiten zu einem ganz privaten Sinnsystem bilden können.
Und nicht zuletzt kann auch die Schule als ein solches Sinnsystem aufgefaßt werden, auf der
12
Biesinger, Alfred: Kinder nicht um Gott betrügen, Freiburg 1994
13
Döbert, S. 55
14
Vgl. dazu Czell, Gernot.: Religiöse und kirchliche Sozialisation in der Alltagswelt, in: Arndt, Manfred.: Reli-
giöse Sozialisation, Stuttgart 1975, S.30: ,,Der Mensch kommt nicht mit einem gebrauchsfertigen »religiösen«
Sinnsystem auf die Welt. Diese wird im Verlauf des (religiösen) Sozialisationsprozesses in einer Fülle von
Wechselwirkungs- und Einigungsprozessen erst entwickelt.", zit. nach Kaufmann, Franz-Xaver: Kirche begrei-
fen, Freiburg 1979, S. 149
15
Vgl. dazu :DER SPIEGEL Nr. 52/1997, S. 68: ,,Wen halten Sie bei der Vermittlung von Werten für wichtig:
Polizei (51%), Parteien (43%), Greenpeace (38% ), Kirchen (37%)". Für die Sinnproblematik ist zu beachten,
daß der SPIEGEL nach Institutionen, nicht nach Systemen (Polizei statt Recht, Parteien statt Politik) gefragt hat.
16
Döbert, S. 55.
17
Vgl. dazu Simmel: Die Gegensätze des Lebens und die Religion (1904), S. 72: Die Religion steht im Leben,
als eines seiner Elemente, in die sie sich einordnen und zu denen allen sie ein Gegenseitigkeitsverhältnis gewin-
nen muß, damit die Einheit und Ganzheit des Lebens sich ergebe. Andererseits aber steht sie dem, was wir sonst
als unser ganzes empirisches Leben empfinden, als äquivalente Macht gegenüber, die von sich aus das ganze
ausdrückt und aufwiegt. So ist sie ein Glied und zugleich ein ganzer Organismus, ein Teil des Daseins und zu-
gleich das Dasein selbst auf einer höheren, verinnerlichten Stufe." Simmel sieht die Religion also, anders als
Döbert, nicht so sehr als ein hierarchisches Sinnsystem, sondern als ein alle Lebensbereiche durchdringendes.
Das drückt sich für ihn vor allem in der versöhnenden Funktion der Religion aus : ,, Innerhalb des Lebens steht
sie [die Religion] zu all seinen Inhalten in den mannigfaltigsten und gegensätzlichsten Beziehungen, zugleich
aber erhebt sie sich über das Leben und damit [...] über sich selbst und in die Versöhnung all der Konflikte, in
die sie sich als Element des Lebens selbst begeben hatte. [...] Der Mensch braucht Religion, um die Entzweiung
zwischen seinen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung, zwischen seinem Sollen und seinem Tun, zwischen sei-
nem Idealbild der Welt und der Wirklichkeit zu versöhnen. Allein in dieser versöhnenden Höhe bleibt die Reli-
gion nicht stehen, sondern sie steigt selbst auf den Kampfplatz herunter, sie wird Partei, während sie doch
zugleich Richter ist."

11
Grundlage von Verfassungen, Schulgesetzen und allgemein anerkannten Regeln (z. B. Höf-
lichkeit im Umgang miteinander). An diesem Beispiel sieht man jedoch gleich, daß für die
Sinnsysteme ,,kleinerer Ordnung" (wenn man Döberts Ansicht von den religiösen als den um-
fassendsten aufgreift) ein Fundament vorhanden sein muß, das schon in einem anderen, grö-
ßere Bereiche abdeckenden Sinnsystems, festgelegt ist. Für die Schule wären dies auf rechtli-
cher Ebene z. B. Verwaltungsvorschriften, Schulgesetz, Landesverfassung und das Grundge-
setz. Wenn Döbert recht hat, müssen all diese allgemein als ,,sinnvoll" anerkannten Normen
von einem religiösen Deutungssystem umfaßt werden. Oder ist hier schon wieder ein neuer
Sinnbegriff aufgetaucht? Worauf stützen sich rechtliche Normen, Gesetze, die z. B. Stehlen
und Kinderarbeit verbieten, die die Ausgrenzung Behinderter nicht immer verhindern können,
aber erschweren sollen etc.? Man findet für viele Gesetze Vorbilder in der Bibel, aber ist das
Grundgesetz deshalb schon ein ,,Teilsystem" des religiösen Deutungssystems"? Und wie wäre
diese Frage in einem anderen Staat, einer Diktatur etwa, zu beantworten?
Viel hängt von der Definition des Begriffes ,,Sinn" ab, wenn man versucht, Antworten auf
diese Fragen zu finden. Für das Thema ,,Religionsunterricht oder LER?" sind die letztge-
nannten Überlegungen wichtig, da es ­ abgesehen von der juristischen Beurteilung der Ver-
fassungsmäßigkeit des Brandenburgischen Schulgesetzes ­ für eine moralische? ethische?
philosophische? religiöse? oder doch am ehesten neutrale? Bewertung des neuen Schulfaches
LER entscheidend davon abhängt, welchen Sinnbegriff man zugrunde legt.
2.3 Religionssoziologie
Eine erschöpfende Behandlung dessen, was Religionssoziologie ist und will, kann an dieser
Stelle nicht erfolgen. Es sollen deshalb nur einige Voraussetzungen genannt werden, die not-
wendig sind, damit Religion Gegenstand soziologischer Forschung werden kann und welche
Besonderheiten dabei berücksichtigt werden müssen.
Historisch gesehen, mußten sich zunächst die ,,Einzelwissenschaften von der Theologie" e-
manzipieren.
18
Diese Emanzipation geht, wie Helle beschreibt, in drei Phasen vor sich.
19
Es
geht dabei um den ,,Übergang vom gläubigen oder metaphysischen zum positiven (oder posi-
18
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der
Gesellschaft und der Geschichte, Leipzig, 1883 S. 451, zit. nach: Helle [Einleitung], S.10
19
Helle [Einleitung]:, S. 10f

12
tivistischen) Denken".
20
Zeitlich gesehen liegt diese Epoche in der italienischen Renaissance,
wo eine geistige Revolution stattfand, die notwendig war, um den weiteren Verlauf in Rich-
tung Positivismus zu begünstigen. Die drei Phasen, in denen sich dieser Übergang abspielt,
sind durch das Verhältnis des Individuums (in diesem Fall der Wissenschaftler) zu seinen
eigenen schöpferischen Leistungen geprägt. In der ersten Phase wird die kreative Leistung,
die das Individuum leistet, Gott zugeschrieben. In der zweiten wird Gott diese Kreativität ab-
erkannt, was zu der Schwierigkeit führt, daß der Wissenschaftler, der immer noch davon ü-
berzeugt ist, keinen eigenen Konstruktionsbeitrag zu leisten, etwas neues braucht, dem er die
kreative Leistung zuschreiben kann. ,,Gesucht wird daher im Kontext positivistischer Er-
kenntnistheorie nicht nach kreativen Wirkungen von Subjekten, sondern nur nach Gesetzen,
die in der objektiven Wirklichkeit verborgen angelegt sind, ebenso allmächtig wie ehemals der
Wille Gottes, und die wie dieser nur aufgefunden, nachgewiesen und experimentell als abso-
lut zuverlässig wirksam dargestellt werden sollen, freilich ohne irgendeine Beteiligung des
Wissenschaftlers selbst; denn die wäre ja mit Trübung der Erkenntnis und Verfälschung der
Ergebnisse identisch."
21
Die Suche nach Erkenntnis darf also aus dem Verständnis des Wis-
senschaftlers dieser Phase keine individuelle sein, die schöpferische Leistung kann nur so
weit gehen, zu entdecken, was immer schon da war ­ Naturgesetze, mathematische Axiome
etc. - , ein wirklich subjektiver Beitrag zur Konstruktion ist aber nach diesem Verständnis
nicht möglich. Die dritte Phase schließlich ist die einer geisteswissenschaftlichen Erkennt-
nistheorie. Helle sieht diese Entwicklung durch Simmel eingeleitet, durch seine Methode des
Verstehens.
22
Damit wäre zwar ein möglicher Entwicklungsgang der Religionssoziologie be-
schrieben, aber die Frage, womit diese Richtung sich eigentlich befassen soll, kann oder muß,
ist noch nicht beantwortet.
Die Religionssoziologie sieht sich der besonderen Schwierigkeit gegenüber, daß ihr Gegen-
stand, die Religion, ein empirisch nicht zu fassender Begriff ist.
23
Es muß notwendigerweise
die Ausweichung auf die religiösen Manifestationen in der Gesellschaft erfolgen, also bei-
20
Helle [Einleitung]: S. 10. Vgl. dazu auch Comte, Auguste: Rede über den Geist des Positivismus, in: Jonas,
Friedrich: Geschichte der Soziologie, Bd. 2, Hamburg 1968, S. 189ff: ,,Das Gesetz der Geistesentwicklung der
Menschheit oder das Dreistadiengesetz
21
Helle [Einleitung]: S. 11
22
Ebd.
23
Vgl. dazu Meyer, S. 14f: ,,Relativ bruchlos geht die Religionskritik auch in der Darstellung in die Religions-
soziologie über, dies vor allem mit der von der frühen Religionssoziologie geleisteten Relativierung religiöser
Standpunkte sowie mit der Explikation des Auswirkungen der - theoretischen und der durch das handfeste Han-
deln vollzogenen ­ Entzauberung der Welt. [...] Die Skizze der funktionalen und der systemtheoretischen Ana-
lyse der Religion offenbart, wie die Religionssoziologie sich von ihrer traditionellen Perspektive und ihrer tradi-

13
spielsweise Gottesdienstbesuch, Anzahl der Pfarrer oder Pastoren in einem bestimmten Ge-
biet, Zugehörigkeit zu Konfessionen, nichtchristlichen Religionen oder Sekten, theologische
Ausbildung oder Aussagen von Jugendlichen über ihr Verhältnis zur Religion, zur Kirche,
zum Religiösen
24
. Es kann nicht Aufgabe der Religionssoziologie sein, die Frage nach der
Existenz (eines) Gottes zu bejahen oder zu verneinen, sondern ,,Wirklichkeiten zu erforschen,
die über Dinglichkeiten hinausgehen"
25
, und zwar diejenigen Wirklichkeiten, ,,die im Leben
der Person wirksam wird, und darum erfahrungswissenschaftlicher Forschung zugänglich
ist."
26
Dem hält jedoch Berger entgegen, daß ,,in jedem empirischen Zusammenhang [...] das
Transzendente als eine menschliche Projektion erscheinen [muß]. Wenn daher von Transzen-
denz als Transzendenz gesprochen wird, muß man den empirischen Bezugsrahmen verlassen.
Anders geht es nicht."
27
Diese zwei Positionen müssen sich nicht aus-schließen, es ist aber
wichtig, Bergers Einwand bei aller religionssoziologischer Forschung im Blick zu behalten
und gelegentlich den eigenen Standpunkt zu berücksichtigen, der immer auch Einfluß auf die
Vorgehensweise hat.
Dies gilt selbstverständlich nicht ausschließlich für die Religionssoziologie, sondern für fast
alle Bereiche. Durch den besonderen Gegenstand Religion und damit verbunden auch Religio-
sität und Glauben wird sich ein Religionssoziologe zwangsläufig mit der eigenen Religiosität,
dem eigenen Glauben auseinandersetzen, bewußt oder unbewußt.
2.3.1 Georg Simmel (1858 ­ 1918)
Georg Simmel ist nicht unbedingt als Religionssoziologe bekannt. Namen wie Auguste Com-
te
28
, Emile Durkheim
29
und vor allem Max Weber
30
fallen wohl eher, wenn die Rede auf Re-
ligionssoziologie kommt. Dennoch soll hier in einem kurzen Überblick die Religions-
soziologie Simmels näher betrachtet werden: Zum einen beschäftigt sich Simmel sowohl mit
Religion als auch mit Religiosität, was die individuelle Komponente des gesellschaftlichen
Phänomens der Religion herausarbeitet. Zum anderen begründete er die ,,Verstehende Sozio-
logie", zu deren Grundannahmen die Konstruktion der Wirklichkeit gehört: ,,Eine objektive
tionellen Beziehung zum Gegenstand abwendet und wie sie dabei zu Interpretationen findet, die sich empirisch
gar nicht mehr beziehungsweise nur noch schwer bestätigen oder korrigieren lassen."
24
Vgl. hierzu z. B. Barz, Heiner: Jugend und Religion, 3 Bde., Opladen 1992/93
25
Helle [Einleitung]: S. 12
26
Ebd., S. 28
27
Berger, (1991)
28
Comte, Auguste: Die Soziologie: die positive Philosophie im Auszug, Hrsg. von Friedrich Blaschke mit e.
Einl. von Jürgen v. Kempski, Stuttgart 1974
2
29
Durkheim, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt /Main 1994
30
Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I - III, Tübingen 1963
5
, 1966
4
, 1971
5

14
Realität mag immerhin existieren, aber wir können sie nicht erkennen. Den Ausschnitt daraus,
den wir für unsere Wirklichkeit halten, haben wir selbst mitgeschaffen, indem wir ihn aus
einer bestimmten Perspektive konstruierten."
31
Unter anderen stützen sich Berger und Luck-
mann auf diese Vorarbeiten.
32
Die Religiosität des Individuums und die Konstruktion der so-
wohl gesellschaftlichen als auch der individuellen Wirklichkeit müssen zusammen betrachtet
werden, wenn es um die Religion geht. Wichtig sind Simmels Ansätze - vor allem zur Kon-
struktion der Wirklichkeit - für den Bezug zu Berger.
a
Vorbemerkungen zu Simmels Religionssoziologie nach Helle
Simmels erkenntnistheoretischer Ansatz beruht auf vier Perspektiven: Pragmatismus, Kon-
struktivismus, Interaktionismus und Evolutionismus.
33
Dabei interessiert mit Blick auf Berger
vor allem der Blick auf den Konstruktivismus.
Pragmatismus meint das Zurückbinden des Wissens an Handeln. Wie dies zu verstehen ist,
nennt Helle die ,,Umkehrung der Forderung des Sokrates: Falls dessen Annahme zutrifft, daß
richtiges Denken zu richtigem Handeln führt, folgt aus richtigem Handeln, daß das zugehö-
rige Subjekt zuvor richtig gedacht haben muß. Als Wahrheit gilt dann jenes Wissen, dem als
Resultat von Zuschreibung solche Würde verliehen wurde: jene Konzepte im Denken eines
Subjekts, die dazu geführt haben, daß es richtig gehandelt hat, nennt man ­ oder »etikettiert«
man als ­ Wahrheit."
34
Durch den Konstruktivismus wird nun dieser Wahrheitsbegriff näher erläutert: ,,Wissen [er-
hält] die Qualität von Wahrheit entweder dadurch, daß ein bestätigendes Objekt aufgefunden
und zu Testzwecken empirisch ausgewertet wird, oder ­ wenn solches der Natur der Sache
nach nicht zu erwarten ist oder nicht erstrebt werden sollte ­ daß das bestätigende Objekt ge-
danklich konstruiert wird."
35
Diese Konstruktion erstreckt sich auch auf Subjekte, die Mit-
menschen, und zwar aus folgendem Grund: Da eine von subjektiver Konstruktion unabhängi-
ge objektive Wirklichkeit zwar existent sein mag, dem Menschen jedoch unzugänglich ist ­
denn der Mensch konstruiert immer nur seine Wirklichkeit, eine andere kennt er nicht -, kön-
nen auch andere Menschen immer nur als Konstruktionen eigener Vorstellungen erfaßt wer-
31
Helle [Einleitung]: S.10
32
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/Main
1980; vgl. auch Berger (1991, 1996)
33
Helle [Einleitung]: S. 15ff
34
Ebd.
35
Ebd., S. 17

15
den.
36
,,Sogar die eigene Identität, das Ich, [ist dann] dem Erkennen unzugänglich. [...] Wir
können uns selbst nur dadurch erkennen, daß wir uns vorstellen, wie andere uns sehen."
37
Feuerbach vertritt eine ähnliche Ansicht, wenn er sagt, daß ,,der Mensch [...] sein Wesen zu-
erst außer sich [legt], ehe er es in sich findet."
38
Interaktionismus meint eine Beschäftigung mit einer Sozialwelt, die durch Wechselwirkungen
zwischen ihren Individuen hervorgeht und in der die Konstruktion der Wirklichkeit durch
diese Individuen in der Wechselwirkung stattfindet.
39
Evolutionismus schließlich soll kulturhistorisch, nicht biologisch, verstanden werden. ,,Für
Kultur allgemein und speziell für Kunst, Religion und Wissenschaft unterstellt Simmel, daß
das »Alte« nur in dem Maße überwunden ist, in dem es sich im »Neuen« aufgehoben fin-
det."
40
An diesen Perspektiven ist Simmels Religionssoziologie ausgerichtet. Das zeigt sich bei-
spielsweise in seiner Sicht der Religion als ein Merkmal für soziale Beziehungen. Bezie-
hungen können so eine zusätzliche Qualität, die des Religiösen gewinnen.
41
Die Aktualität von Simmels Religionssoziologie sieht Helle in zwei Bereichen: Zum einen für
die neuere Religionssoziologie
42
aber auch für die Relation zwischen Religiosität und Religi-
on. Diese Unterscheidung definiert Simmel so, daß mit ,,Religiosität [...] die Befindlichkeit
einer Person, die Offenheit einer Seele, die Erlebnisbereitschaft als Voraussetzung für die
Begegnung mit dem Mysterium [ist], Religion [...] die Kulturform, die ­ wie Kunst oder Wis-
senschaft ­ aus dem kontinuierlichen Zusammenwirken vieler Personen objektiviert hervor-
geht."
43
Das Abhängigkeitsverhältnis des einen zum anderen ist nach Simmel von der Religi-
osität zu Religion gerichtet.
44
Helle schreibt abschließend von der Chance, die ,,im Anschluß an Simmel darin bestehen
[würde], dem kirchlichen Traditionsgut selbst die Qualität einer sozialen Beziehung zwischen
Gott und Offenbarungsempfänger oder ­ weniger anspruchsvoll ­ zwischen Gott und Tradi-
36
Ebd., S. 18
37
Ebd.
38
Feuerbach. Ludwig: Das Wesen des Christentums, in: Feuerbach-Werke, Hrsg.. von E. Thies, Bd. 5, Frankfurt
1976, S. 31
39
Helle [Einleitung]: S. 19
40
Ebd., S. 20
41
Ebd., S. 23
42
Vgl. zum Problem der (Ent-)Institutionalisierung und der Individualisierung z. B.: Gehlen, Arnold: Urmensch
und Spätkultur: philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt/Main 1964
2
; Schelsky, Helmut: Zur Theorie
der Institution, Düsseldorf 1970; Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion, Frankfurt/Main 1991
43
Helle [Einleitung]: S. 34
44
Simmel: Die Religion (1906 ­ 1912), S.120: ,,Wie nicht die Erkenntnis die Kausalität schafft, sondern die
Kausalität die Erkenntnis, so nicht die Religion die Religiosität, sondern die Religiosität die Religion."

16
tionsgut zu geben, um das Auseinanderfallen von Religion und Religiosität zu verhindern."
45
Das würde z. B. bedeuten, daß die Kirchen wieder mehr von ihren Mitgliedern her denken
müßten, auch und gerade, wenn diese nicht (mehr) kirchlich orientiert sind ­ vielleicht sind
sie es (noch) religiös.
46
b
Georg Simmels Religionssoziologie
Simmels Religionssoziologie soll hier anhand einiger Aufsätze untersucht werden, die zwi-
schen 1898 und 1912 entstanden sind.
47
In seinem Artikel ,,Zur Soziologie der Religion"
(1898) verweist Simmel zunächst auf die Schwierigkeiten, denen sich der Religionssoziologe
gegenübersieht, vor allem das Problem der Definition dessen, was ,,Religion" sei. ,,Niemand
vermochte bisher eine Definition zu geben, die uns, ohne vage Allgemeinheit und doch alle
Erscheinungen einschließend, sagte, was »Religion« ist, die letze Wesensbestimmheit, die den
Religionen der Christen und der Südseeinsulaner, Buddhas und Vitziputzlis gemeinsam ist."
48
Simmel kritisiert eine Vorgehensweise, die die Religion als ,,ein Problem, das eines Lö-
sungswortes bedürfte, zu sehen"
49
, und schlägt statt dessen vor, sich der Lösung des Problems
so zu nähern, ,, daß man alle Impulse, Ideen, Verhältnisse, die auf diesem Gebiet wirksam
werden, inventarisirt, aber mit dem ausdrücklichen Verzicht darauf, die Bedeutung einzelner
Motive über die Fälle ihrer Festgestelltheit hinaus zu allgemeinen Gesetzen des religiösen
Wesens zu erweitern. Und nicht nur dieses Vorbehaltes bedarf es für den Versuch, aus Aeuße-
rungen des sozialen Lebens, die ganz jenseits aller Religion liegen, dennoch für diese ein
Verständniß zu gewinnen; sondern auf das entschiedenste muß betont werden, daß, auf wel-
che sehr irdische, sehr empirische Weise auch das Zustandekommen der Vorstellungen vom
Ueberirdischen und Ueberempirischen erklärt werde, dadurch weder der subjektive Gefühls-
45
Helle [Einleitung]: S: 35
46
Vgl. hierzu Kuld, Lothar: Kirchenfern und religiös wild? Plädoyer für eine andere Sicht jugendlicher Religio-
sität, in: Katechetische Blätter 120 (1995), S. 4 ­ 7. Kuld kritisiert in seinem Artikel Barz, der auf Grund seiner
Studie ,,Jugend und Religion" zu der Ansicht gelangt, die meisten Jugendlichen wollten von Religion nichts
wissen, ihr Glaube kenne keine Transzendenz und suche ,,Heil radikal im diesseitigen Glück". Kuld hält dem die
SHELL-Jugendstudie 1992 entgegen, nach deren Einschätzung beispielsweise die steigende Zahl der Kirchen-
austritte nichts über die religiöse Praxis der Jugendlichen aussagt: Die Mehrheit der Jugendlichen ist nicht kirch-
lich, aber sie ist religiös. Kuld hält daher eine Schlußfolgerung einer Jugend ohne Religion wie Barz sie zieht, für
falschen Alarm und zudem religionspädagogisch verhängnisvoll.
47
Es handelt sich um folgende Artikel: ,,Zur Soziologie der Religion" (1898), ,,Beiträge zur Erkenntnistheorie
der Religion" (1902), ,,Die Gegensätze des Lebens und die Religion" (1904) und ,,Die Religion", dieser Aufsatz
ist erstmals 1906 erschienen, 1912 dann in modifizierter Fassung. Helle hat beide Fassungen in einer zusam-
mengefügt und durch unterschiedliches Schriftbild voneinander abgehoben. Sie werden hier als ,,Simmel (1906 ­
1912) zitiert.
48
Simmel (1898), S. 36
49
Ebd.

17
werth der zustandegekommenen Vorstellung noch die Frage nach ihrem objektiven
Wahrheitswerth überhaupt berührt wird."
50
Damit sind wichtige Vorgaben angelegt, auf die sich Simmel im folgenden stützt. Um keine
Mißverständnissen aufkommen zu lassen, muß das Untersuchungsgebiet definiert werden, der
Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse, welcher das religiöse Wesen ist. Es soll ,,von
diesem Selbstverständlichen und doch so oft unklar Bleibenden [ausgegangen werden]: die
Thatsache, dass ein Gott die Welt geschaffen hat und lenkt, dass er mit Lohn und Strafe Ge-
rechtigkeit übt, dass von ihm Erlösung und Heiligung ausgeht ­ das alles ist nicht Religion,
wenn es auch der Inhalt ist, den wir religiös fühlen, behandeln, glauben. Wie wir die objektive
Welt, die den Inhalt eines Denkprozesses bildet, von diesem Prozesse selbst zu unterscheiden
haben, so den religiösen Inhalt, in seinem objektiven Bestande und Gültigkeit, von der Reli-
gion als subjektiv-menschlichem Prozesse."
51
Um nun das Religiöse untersuchen zu können,
müssen die Beziehungen der Menschen untereinander betrachtet werden, denn ,,religiöse [...]
Gefühle und Impulse [äußern] sich nicht nur in der Religion [...]"
52
.
Unter dieser Prämisse nähert sich Simmel dem Glauben, ,,den man als Wesentliche und als
die Substanz der Religion angesprochen hat"
53
, und der seinem Verständnis als ein ,,Verhält-
niß zwischen Menschen auf[tritt]"
54
, ja, der als praktischer Glauben ,,ein Grundverhalten
der Seele [ist], das seinem Wesen nach soziologisch ist, d.h. als ein Verhältnis zu einem dem
Ich gegenüberstehenden Wesen aktualisiert wird."
55
Er verdeutlicht dies mit Beispielen zwi-
schenmenschlicher Beziehungen wie Eltern und Kinder, Freunde, Einzelner und Volk, um
den Glauben an jemanden zu beschreiben. Dieser Glaube ist genauer betrachtet eine Hierar-
chie, ein Gehorsamsverhältnis, daß ,,unzählige Male nicht auf dem bestimmten Wissen von
Recht und Ueberlegenheit [beruht], aber auch nicht auf der bloßen Liebe oder Suggestion,
sondern auf jenem psychischen Zwischengebilde, das wir den Glauben an einen Menschen
oder an eine Kollektivität von Menschen nennen."
56
Simmel trennt dabei in seinem Glau-
bensbegriff den religiösen Glauben vom intellektuellen Glauben. Letzterer ,,steht in einer
Reihe mit dem Wissen, als ein bloss niederer Stufe desselben, er ist ein Fürwahrhalten auf
Gründe hin, die nur an quantitativer Stärke denen nachstehen, auf die hin wir zu wissen be-
50
Ebd.
51
Simmel: (1902), S. 52
52
Ebd., S. 37
53
Ebd., S. 42
54
Ebd.
55
Simmel (1906 ­ 1912), S. 136
56
Simmel, (1902), S. 42

18
haupten."
57
Die Wirklichkeit, die Wahrheit für den einzelnen, ist für Simmel ,, das innerste
Wesen des religiösen Glaubens"
58
, er bezeichnet ihn als ,,einen Zustand der menschlichen
Seele, eine Thatsächlichkeit"
59
. ,,Die moralischen Werturteile, die man an den Glauben
geknüpft sieht"
60
, werden von Simmel kritisch betrachtet. Der Glauben an die Existenz Gottes
allein bedeutet nicht notwendig einen ,,besseren Menschen". Demnach muß also ,,der Glaube,
den man als Verdienst anrechnet, [...] etwas anderes sein, er kann nur eine unmittelbare innere
Beschaffenheit bedeuten."
61
Ein weiteres Element neben dem Glauben, das sich in der sozialen Lebenswelt feststellen läßt,
ist die Einheit, die Simmel in der Familie, im Staate, in jedem Zweckverbande verwirklicht
sieht.
62
Man kann dieses Streben nach Einheit als Indiz für den Hang des Menschen zur Insti-
tutionalisierung sehen. Die Relevanz der Einheit der Gruppe für die Religion ist für Simmel
unbestritten, er führt dazu folgende Überlegungen an: ,,Daß die Gruppe eine Einheit bildet,
das wird, insbesondere in primitiveren Epochen, durch die Kampf- und Konkurrenzlosigkeit
innerhalb ihrer, im Gegensatz zu allem Verhältniß zu Außerhalbstehenden, bewirkt oder mar-
kirt. Es giebt nun vielleicht kein Einzelgebiet, auf dem diese Existenzform des konkurrenzlo-
sen Nebeneinander, die Gleichheit der Ziele und Interessen, sich so rein und restlos darstellte,
wie auf dem religiösen. [...] Fast allein auf religiösem Gebiet können die Energieen der Ein-
zelnen sich voll ausleben, ohne miteinander in Konkurrenz zu gerathen, weil nach dem schö-
nen Worte Jesu für Alle Platz in Gottes Hause ist. Obgleich das Ziel Allen gemeinsam ist,
gewährt es doch Allen die Möglichkeit der Erreichung und hat nicht ein gegenseitiges Sich-
Ausschließen, sondern im Gegentheil ein Sich-Aneinander-Anschließen zu Folge. [...] Die
Konkurrenzlosigkeit, die die Einheit als die Lebensform der Gruppe bedingt, in ihr aber im-
57
Simmel (1902), S. 56
58
Ebd., S. 57
59
Ebd.
60
Ebd., S. 59f: ,,Dass der Glaube etwas verdienstliches sei, wäre bei einem bloss intellektuellen Sinn desselben
ganz absurd. Der Umstand, dass man sich von einer Sache theoretisch überzeugen lässt, steht ganz jenseits mo-
ralischer oder unmoralischer Qualität. Die völlige moralische Verworfenheit, die sich mit einem zweifelsfreien
Glauben an die Existenz Gottes zusammenfügt, sollte von der Zusammenhangslosigkeit beider Reihen hin-
reichend überzeugen."
61
Ebd., S. 60
62
Simmel (1898), S. 44: ,,Daß wir die zusammenhangslose Mannigfaltigkeit der Eindrücke von den Dingen
nicht einfach hinnehmen, sondern nach Verbindungen und Wechselwirkungen suchen, die sie zu einer Einheit
zusammenschlössen; ja, daß wir das Vorhandensein höherer Einheiten und Zentren der Einzelerscheinungen
eigentlich überall voraussetzen, um uns durch das Gewirr der Erscheinungen hindurchzufinden ­ das ist sicher
eine an den sozialen Wirklichkeiten und Nothwendigkeiten großgewordene Eigenschaft. Nirgends stellt sich so
unmittelbar und so fühlbar aus einzelnen Elementen ein Ganzes her, [...] wie es in der Gens, in der Familie, im
Staate, in jedem Zweckverbande geschieht."

19
mer nur relativ und partiell herrscht, hat auf dem religiösen Gebiet absolute und intensivste
Verwirklichung gefunden."
63
Auch der Begriff der Religiosität
64
ist für ihn mit dem Begriff der Einheit verbunden. Denn
,,wie es ein kindlicher Aberglaube ist, Gott in irgendwelchen Einzelheiten der Welt erkennen
zu wollen, wie vielmehr, weit über all diese hinweg nur in dem Zusammenhang des Ganzen
eine überweltliche Macht geahnt werden mag, so ist alle Religiosität einseitig und von den
Zufälligkeiten des individuellen Schicksals abhängig, die sich auf einem einzelnen Gefühl
aufbaut, auf Demut oder Erhebung, Hoffnung oder Zerknirschung, Verzweiflung oder Liebe,
Leidenschaft oder Beruhigtheit [...], so ist doch der Sinn der Religiosität, für all diese Gegen-
satzpaare gleichmäßigen Raum zu geben. [...] das eben ist Religiosität, daß solche Gefühle,
sonst einzeln von den Gegensätzlichkeiten der Welt und unseres Schicksals hervorgerufen,
jetzt wie die Wellen eines Stromes zusammenfließen, daß ihre Gegensätze die geheime Ein-
heit eines tieferen Sinnes verraten, als wären sie nur die Funktionen verschiedener Glieder,
die das einheitliche Leben eines Organismus tragen."
65
Wenn Simmel schließlich in ,,[den]jenigen inneren Verknüpfungen zwischen dem Individuum
und seiner Gruppe, die man die moralischen nennt, so tiefe Analogieen mit dem Verhältniß zu
Gott"
66
sieht, so erinnert dies zwar an Feuerbachs anthropologische Ideen zur Religion
67
, an-
ders als jener aber geht es Simmel nicht um eine Kritik der Religion, sondern um die Unter-
suchung religiöser Verhaltensweisen auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Wäh-
rend Feuerbach die Theologie als Anthropologie zu ,,entgöttlichen" sucht, zielt Simmels An-
satz auf eine Analogie zwischen sozialen und religiösen Aspekten, die die Religiosität als
etwas untrennbar mit dem Menschen verbundenes zu beschreiben versucht. Diese Absicht
umschreibt Simmel so: ,,Religion ist [...] das subjektive Verhalten des Menschen, durch wel-
63
Ebd., S. 45f
64
Vgl. dazu Wiegand, Wolfgang: Religiöse Erziehung in der Lebenswelt der Moderne, Wilhelmsfeld 1994, S.
58: ,,Religion kann hinsichtlich ihres Auftretens als universale Erscheinung betrachtet werden. Der Sozial-
wissenschaftler Daniel Bell z. B. verweist auf Max Weber und dessen Ausführung, daß es »keine Gesellschaft
ohne Vorstellung einer Erfahrung, die wir religiös nennen würden« gibt. [...] Damit wird dem Menschen, unab-
hängig von der jeweiligen »objektiven«, sich in institutionalisierter Form äußernden Religiosität, eine »subjek-
tive« Religiosität zugeschrieben. Dies bedeutet jedoch, daß auch der Mensch, welcher die institutionalisierten
Formen von Religiosität ablehnt und sich seine eigenen Ordnungs- und Sinnkonstruktionen schafft, religiös ist."
65
Simmel (1904), S. 68
66
Simmel (1898), S. 47
67
Feuerbach, S. 404: ,,Im ersten Teile also zeige ich, daß der wahre Sinn der Theologie die Anthropologie ist,
daß zwischen den Prädikaten des göttlichen und menschlichen Wesens, folglich ­ denn überall, wo die Prädi-
kate, wie dies vor allem bei den theologischen der Fall ist, nicht zufällige Eigenschaften, Akzidenzen, sondern
das Wesen des Subjekts ausdrücken, [...] ­ folglich auch zwischen dem göttlichen und menschlichen Subjekt
kein Unterschied ist, daß sie identisch sind; im zweiten zeige ich dagegen, daß der Unterschied, der zwischen
theologischen und anthropologischen Prädikaten gemacht wird, [...], sich in nichts, in Unsinn auflöst."

20
ches er eine Seite jenes Beziehungsganzen bildet, oder vielleicht die subjektive Reaktion auf
die Wirklichkeit desselben; sie ist durchaus ein menschliches Fühlen, Glauben, Handeln, oder
wie man sonst die Funktion einreihen mag, die unsern Anteil an dem Verhältnis zwischen
Gott und uns ausmacht oder ausdrückt und die uns nur als ein Zustand oder Ereignis in unsrer
Seele gegeben ist."
68
Auch die Gefühlsbedeutung der Religion wird von Simmel verschiedentlich angesprochen.
Als ihr wichtigstes Merkmal nennt er, daß ,,die in das innerste Gemüth zurückstrahlende Wir-
kung der Vorstellungen vom Göttlichen [...] völlig unabhängig von allen Annahmen über die
Art, wie diese Vorstellungen zustande gekommen seien [ist]."
69
Mit diesem Punkt wider-
spricht er ,,de[m] Mißverständnis der historisch-psychologischen Herleitung idealer Wer-
the"
70
. Denn es sei nicht nachzuvollziehen, warum die Kenntnis und Erkenntnis der Entste-
hung eines Gefühls dieses Gefühl degradieren und entwürdigen müsse. ,,Denn wie die echte
und tiefste Liebe zu einem Menschen durch die nachträgliche Klarheit über ihre Entste-
hungsgründe nicht angefochten wird, ja, ihre triumphirende Kraft darin zeigt, daß sie den
Fortfall all jener einstmaligen Entstehungsgründe ungebrochen überlebt ­ so wird alle Stärke
des subjektiven religiösen Gefühls erst durch die Sicherheit erwiesen, mit der es in sich ruht
und seine Tiefe und Innigkeit ganz jenseits aller Ursprünge stellt, auf die die Erkenntniß es
zurückleiten mag."
71
Mit dieser Aussage nimmt Simmel Religionskritikern wie Feuerbach
oder Marx gänzlich den Wind aus den Segeln, denn gerade durch die Aufklärung über die
Entstehung des religiösen Gefühls wird ja seiner Ansicht nach dieses gestärkt. Obwohl er sich
also auf der Stufe der Analogien zwischenmenschlicher Beziehungen und der Beziehung
Mensch ­ Gott scheinbar mit Feuerbach vergleichen läßt, unterscheidet er sich doch durch die
Zielsetzung seiner Untersuchung wesentlich von diesem.
Zum Schluß soll noch auf den Begriff der ,,Wirklichkeit" eingegangen werden. In bezug auf
das Religiöse widerspricht Simmel der Ansicht, daß ,,die Wirklichkeit" [...] die Welt
schlechthin [sei], sondern nur eine, neben der die Welt der Kunst wie die der Religion stehen,
aus dem gleichen Material nach anderen Formen, von anderen Voraussetzungen zusammen-
gebracht. Die erfahrbare wirkliche Welt bedeutet wahrscheinlich diejenige Ordnung gegebe-
ner Elemente, die für die Erhaltung und Entwicklung des Gattungslebens die praktisch
zweckmäßigste ist. [...] Nicht anders dürfte es sich mit der Religion verhalten. Aus dem an-
68
Simmel (1902), S. 52
69
Simmel (1898), S. 50
70
Ebd.
71
Ebd., S. 51

21
schaulichen und begrifflichen Stoff, den wir auch in der Schicht der Wirklichkeit erleben,
erwächst in neuen Spannungen, neuen Maßen, neuen Synthesen die religiöse Welt. [...] Das
religiöse Leben schafft die Welt noch einmal, es bedeutet das ganze Dasein in einer besonde-
ren Tonart, so daß es seiner reinen Idee nach mit den nach anderen Kategorien erbauten Welt-
bildern sich überhaupt nicht kreuzen, ihnen überhaupt nicht widersprechen kann."
72
Die Tat-
sächlichkeit der religiösen Gefühle für den einzelnen wird damit ausdrücklich bestätigt. Die
religiöse ,,Tonart", von der Simmel spricht, zeigt sich in drei Bereichen des Lebens besonders
deutlich: ,,am Verhalten des Menschen zur äußeren Natur, zum Schicksal, zur umgebenden
Menschenwelt"
73
. Wie sich dies äußert, skizziert er für jeden der drei Bereiche; zunächst im
Verhältnis zur Natur. Hier kritisiert er die Hypothese, ,,daß Religion nichts anderes ist als eine
gewisse Übertreibung empirisch-seelischer, von unseren Naturzusammenhängen ressortieren-
der Tatsachen."
74
In dieser Hypothese erscheint Gott ,,als eine Hypertrophie des Kausaltrie-
bes, das religiöse Opfer als eine Fortsetzung der erfahrenen Notwendigkeit, für jedes Er-
wünschte einen Preis dranzugeben, die Furcht vor Gott als die Zusammenfassung und vergrö-
ßernde Spiegelung der Übergewalt, die wir fortwährend von der physischen Natur erfahren."
75
Simmels Kritik an dieser Hypothese bezieht sich auf deren Oberflächlichkeit, die Beziehung
zwischen Empirischem und Religiösen wird seiner Ansicht nach von der falschen Seite her
gesehen, denn wenn es sich ,,wirklich nur um ein Mehr solcher sinnlich gebundenen Erfahr-
barkeit [handelte], so wäre eben, daß es zu diesem Mehr kommt, aus dem sinnlich-
empirischen Verhältnis selbst doch nicht zu begreifen; so daß diese Reduktion das eigentliche
Problem gerade unterschlägt. [...] Nicht das Empirische wurde zum Religiösen übertrieben,
sondern das im Empirischen liegende Religiöse wird herausgestellt."
76
Um nicht das Mißver-
ständnis aufkommen zu lassen, daß auf diese Weise der Realitätsgehalt religiöser Gegen-
stände bewiesen werden solle, verweist Simmel aber darauf, ,,daß die Realität religiöser
Gegenstände, jenseits ihrer menschlich-seelischen Bewußtheit und Bedeutung hier überhaupt
nicht berührt wird; unsere Aufgabe ist nur psychologisch und bleibt das auch, wenn nicht das
reale geschichtliche Zustandekommen der religiösen Vorstellungen, sondern das, was man die
Logik der Psychologie nennen könnte, gesucht wird und die Zusammenhänge des Sinnes,
durch die auch jene historische realen Entwicklungen erst verständlich werden."
77
Das
Schicksal, den zweiten Bereich, zu dem die Seele in religiöse Verhältnisse treten kann, defi-
72
Simmel (1906 ­ 1912), S. 112f
73
Ebd., S. 116
74
Ebd.
75
Ebd.
76
Ebd., S. 117
77
Ebd., S. 119

22
niert er ,,die Einwirkungen [...], die die Entwicklung des Menschen durch das, was nicht er
selbst ist, erfährt, - gleichviel, ob sein eigenes Tun und Sein in diese bestimmenden Mächte
gemischt ist; [...] . Wie nun auch unser Gefühl sich zu dem Schicksal stellen möge, [...] ­ es
kann völlig irreligiös, aber auch völlig religiös verlaufen."
78
Hier kann man einen Bezug zu
Döberts Sichtweise der Sinnsuche sehen, denn Simmel hebt vor allem auf den Begriff der
Zufälligkeit ab. Diese Zufälligkeit, wenn sie als solche gesehen wird, wäre das irreligiöse
Verhältnis zum Schicksal, dem keine Sinnsuche zugrunde liegt. Wenn aber das Zufällige als
Schicksal empfunden wird, kann darin ein Sinn gesehen werden. ,,Tritt uns das Zufällige un-
ter die Kategorie des Schicksals, so wird es, trotz alles leidvollen Inhaltes, erträglicher, denn
nun scheint es auf uns eingestellt, seiner Gleichgültigkeit entkleidet. Der Zufall bekommt da-
mit eine Würde, die zugleich die unsere ist. Es ist eine Erhöhung des Menschen, ein Schicksal
zu haben, d.h. eine Summe von Zufällen nach einem wenn auch noch so problematischen,
aber immerhin auf uns bezüglichen Sinn zu formen."
79
Schließlich geht Simmel noch auf die dritte Kategorie, die Beziehungen des Menschen zur
Menschenwelt ein. Er greift an dieser Stelle einen früheren Gedanken wieder auf, wenn er
von religiösen Elementen in Verhältnissen von Menschen untereinander spricht.
80
Auch an
dieser Stelle macht Simmel sein Verständnis von Religion und Religiosität nochmals deutlich,
wenn er davon spricht, daß in solchen Beziehungen ,,Quellen der Religion [...] fließen; auch
in ihnen wirken Kräfte und Bedeutsamkeiten, die nicht von schon bestehender Religion eine
religiöse Färbung zu Lehen tragen, sondern diese als Lebensbestimmung ihrer Träger in sich
haben und nun, umgekehrt, die Religion als geistig-objektives Gebilde aus sich entwickeln."
81
Diese Ausführungen zu Simmel, so verkürzt sei sein mögen, sollen an dieser Stelle genügen.
Gemeinsam mit Bergers Ansatz, der im folgenden vorgestellt wird, sollen Simmels religions-
soziologische Ideen als theoretischer Bezugspunkt für den Streit um den Religionsunterricht
dienen.
2.3.2 Peter L. Berger (* 1929)
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Bergers Buch ,,Auf den Spuren der Engel. Die
moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz." Ausgangspunkt ist für
78
Ebd.
79
Ebd.
80
Ebd., S. 129, Vgl. Simmel (1898), S. 38: ,,Wir können nämlich feststellen, daß vielerlei Verhältnisse von Men-
schen untereinander ein Element des Religiösen enthalten. Die Beziehung des pietätvollen Kindes zu seinen
Eltern, des enthusiastischen Patrioten zu seinem Vaterland oder des enthusiastischen Kosmopoliten zur Mensch-
heit."

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1998
ISBN (eBook)
9783836602808
DOI
10.3239/9783836602808
Dateigröße
689 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg – Philologische Fakultät, Soziologie
Erscheinungsdatum
2007 (April)
Note
2,2
Schlagworte
lebensgestaltung ethik religionskunde religionsunterricht katholizismus protestantismus religionssoziologie georg simmel
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Titel: Religionsunterricht und 'Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde' (LER)
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