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Die Holocaust-Denkmäler in Bremen

©2005 Examensarbeit 104 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Nach den Ergebnissen einer Studie des Emnid-Instituts müsste die Geschichte des Nationalsozialismus neu geschrieben werden. Denn 26 Prozent der Befragten gaben in dieser Studie an, Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, geholfen zu haben; 13 Prozent behaupteten, im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv gewesen zu sein; 17 Prozent wehrten sich angeblich mit Worten gegen die Nationalsozialisten, wenn es darum ging, Drangsalierte zu verteidigen. „Dass die deutschen Volksgenossinnen und -genossen zu großen Teilen eher eine Gemeinschaft von Freiheitskämpfern als von willigen Vollstreckern bildeten, verdeutlichen auch Zahlen wie die, dass lediglich ein Prozent“ der Befragten angab, Deutsche wären „an Verbrechen beteiligt“ gewesen.
„Antijüdisch sind nach Auffassung der Befragten ganze drei Prozent gewesen.“ Diese Repräsentativumfrage ist eine Momentaufnahme des kommunikativen Gedächtnisses der Deutschen. Sie wurde durchgeführt, nachdem eine qualitative Studie aus dem Jahr 1998 zum Nationalsozialismus sieben unterschiedliche Tradierungstypen (Opferschaft, Rechtfertigung, Distanzierung, Faszination, Überwältigung, Heroisierung und Viktimisierung) des Nationalsozialismus unterscheiden konnte, die belegen, dass trotz der umfangreichen Aufklärung durch Medien und Schulen Holocaust und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, d. h. in einer Form des kommunikativen Gedächtnisses, anders als geschichtspolitisch gewollt tradiert werden.
Neben dem kommunikativen Gedächtnis stellt das kulturelle Gedächtnis eine weitere und andere, weil dauerhafte Form des Erinnerns dar. Während das kommunikative Gedächtnis maximal drei Generationen umfasst und nur Erinnerungen aus der neueren Vergangenheit zu bewahren vermag, schafft das kulturelle Gedächtnis Artefakte, die zum Lernen auffordern und durch Bildungsinstitutionen gefördert und abgestützt werden. Das kommunikative Gedächtnis basiert auf Erinnerungen von Zeitzeugen, also einer historisch abgegrenzten Gruppe, und vergeht mit diesen Trägern. Das kulturelle Gedächtnis dagegen dient dazu, mit den Bürgern einer Gesellschaft in langfristiger historischer Perspektive überlebenszeitlich zu kommunizieren und sich damit einer Identität zu vergewissern, die durch Zugehörigkeit zu einer generationsübergreifenden Überlieferung und weitgespannten historischen Erfahrung entsteht. Mit dem „Aussterben“ der Zeitzeugen des Holocaust kommt den nachfolgenden Generationen die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Jürn Lohse
Die Holocaust-Denkmäler in Bremen
ISBN: 978-3-8366-0260-0
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Universität Bremen, Bremen, Deutschland, Staatsexamensarbeit, 2005
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

1
Einleitung ... 5
2
Gedenken auf Friedhöfen (1947-1952)... 11
2.1
Zeitumstände... 11
2.2
Die Ehrenanlage auf dem Osterholzer Friedhof (1947/51)... 16
2.2.1 Nichtjüdisches Erinnern oder die Denkmalszäsur nach 1945 ... 16
2.2.2 Beschreibung der Ehrenanlage... 17
2.2.3 Grundsteinlegung 1947... 17
2.2.4 Die Reden zur Grundsteinlegung ... 18
2.2.5 Die Einweihung des Ehrenmals ,,Brüderlichkeit im Tod" (1951) ... 20
2.2.6 Die Einweihung der Steintafeln (1951)... 22
2.3
Das Ehrenmal auf dem Jüdischen Friedhof (1952) ... 23
2.3.1 Jüdisches Erinnern... 23
2.3.2 Das Ehrenmal ... 26
2.3.3 Die Reden zur Einweihungsfeier ... 28
2.3.4 Jährliche Gedenkfeiern ... 32
3
Gedenken ohne Holocaust-Denkmäler (1953-1978) ... 33
3.1
Einführung ... 33
3.2
Die Zeit von 1953-1978 ... 33
3.2.1 Die Zeit von 1953-1958... 33
3.2.2 Die Zeit von 1958-1968... 34
3.2.3 Die Zeit von 1968-1978... 39
4
Gedenken im Fokus ,,Reichskristallnacht" (1978-1988) ... 42
4.1
Die Zeitumstände 1978 - 1988 ... 42
4.2
Die Gedenktafel für die Synagoge in Aumund (1978) ... 46
4.3
Die Gedenktafel für die Synagoge im Schnoor (1982) ... 49
4.4
Die ,,Gedenkstätte Reichskristallnacht" (1982) ... 50
4.4.1 Das Projekt ,,Gedenkstätte Reichskristallnacht" ... 50
4.4.2 Die acht Entwürfe... 52

4.4.3 Der ausgelobte Entwurf ...63
4.4.4 Zur Kritik und Gegenwart der ,,Gedenkstätte Reichskristallnacht" ...65
4.5 Die Gedenktafel am ehemaligen jüdischen Altenheim (1983) ... 66
4.6 Der Gedenkstein auf dem Goldbergplatz (1985) ... 68
4.7 Die Gedenksteine vor der Synagoge (1988) ... 70
4.8 Der Gedenkstein vor der Justizvollzugsanstalt (1988)... 71
5
Gedenken am Ende der Zeitzeugenschaft (1991-2001) ...73
5.1
Zeitumstände ... 73
5.2
Die Gedenktafel am Hauptbahnhof ... 76
5.3
Die Gedenktafel am Barkhof... 78
5.4
Die Gedenktafel am Leibnizplatz ... 79
6.
Die Fortsetzung des Gedenkens im 21. Jahrhundert...81
6.1
Eine Gedenktafel, die fehlt... 81
6.2
Das Bremer Projekt ,,Stolpersteine" ... 82
7. Fazit...86
Quellen- und Literaturverzeichnis:...90
Quellenverzeichnis ... 90
Literaturverzeichnis... 93
Anlagen...101

Der Ort, wo sie lagen,
er hat einen Namen ­
er hat keinen.
Sie lagen nicht dort.
Paul Celan

5
1 Einleitung
Nach den Ergebnissen einer Studie des Emnid-Instituts müsste die Geschichte des Natio-
nalsozialismus neu geschrieben werden. Denn 26 Prozent der Befragten gaben in dieser
Studie an, Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, geholfen zu haben;
13 Prozent behaupteten, im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv gewesen zu
sein; 17 Prozent wehrten sich angeblich mit Worten gegen die Nationalsozialisten, wenn es
darum ging, Drangsalierte zu verteidigen.
1
,,Dass die deutschen Volksgenossinnen und ­ge-
nossen zu großen Teilen eher eine Gemeinschaft von Freiheitskämpfern als von willigen
Vollstreckern bildeten, verdeutlichen auch Zahlen wie die, dass lediglich ein Prozent" der
Befragten angab, Deutsche wären ,,an Verbrechen beteiligt" gewesen.
2
,,Antijüdisch sind
nach Auffassung der Befragten ganze drei Prozent gewesen."
3
Diese Repräsentativumfrage ist eine Momentaufnahme des kommunikativen Gedächtnisses
der Deutschen. Sie wurde durchgeführt, nachdem eine qualitative Studie aus dem Jahr 1998
zum Nationalsozialismus sieben unterschiedliche Tradierungstypen (Opferschaft, Rechtferti-
gung, Distanzierung, Faszination, Überwältigung, Heroisierung und Viktimisierung) des Nati-
onalsozialismus unterscheiden konnte
4
, die belegen, dass trotz der umfangreichen Aufklä-
rung durch Medien und Schulen Holocaust und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis,
d. h. in einer Form des kommunikativen Gedächtnisses, anders als ,,geschichtspolitisch"
5
gewollt tradiert werden. Neben dem kommunikativen Gedächtnis stellt das kulturelle Ge-
1
Vgl.: Welzer (2003): S. 100
2
Welzer (2003): S. 101
3
Welzer (2003): S. 101 und Welzer (2004) S. 58: ,,Etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung ist der Auffassung,
ihre Angehörigen hätten dem Nationalsozialismus negativ oder sogar sehr negativ gegenübergestanden;
ganze vier Prozent glauben, ihre Haltung sei eher positiv gewesen, und nur zwei Prozent denken, ihre
Angehörigen hätten eine sehr positive Haltung gehabt. Bei Befragten mit Abitur bzw. Hochschulabschluss
fallen diese Werte noch deutlicher aus ­ hier schreiben 56 Prozent ihren Angehörigen negative Einstellungen
dem NS gegenüber zu."
4
Vgl.: Welzer/ Moller/Tschuggnall (2002): S. 81-104. Bei dem Tradierungstyp ,,Opferschaft" wird das Leid, das
die Juden ertragen mussten, auf das eigene Leid umgemünzt. Bei dem Tradierungstyp ,,Rechtfertigung" wer-
den die Schuldvorwürfe mit gezielten und routinierten Rechtfertigungsstrategien zurückgewiesen. Bei dem
Tradierungstyp ,,Distanzierung" distanziert sich der Erzähler von dem 'Dritten Reich', indem er mithilfe der I-
ronie so tut, als ob er sich schon damals in kritischer Distanz zum Nationalsozialismus befunden hätte. ,,Im
Rahmen des Tradierungstyps 'Faszination' schlägt sich die Nachwirkung der nationalsozialistischen Propa-
ganda am deutlichsten nieder: Die Zeitzeugen berichten mit glänzenden Augen von den Errungenschaften
der NS-Gesellschaft und tauchen in die 'schöne Zeit' zurück, die ihre Kindheit und Jugend prägte." Bei dem
Tradierungstyp ,,'Überwältigung' wird von Erlebnissen und Ereignissen berichtet, die die Zeitzeugen so nach-
haltig beeindruckt haben, dass der Eindruck entsteht, es sei inzwischen gar keine Zeit vergangen." Bei den
Tradierungstypen ,,Heroisierung" und ,,Viktimisierung" stellen sich die Zeitzeugen entweder als Helden ,,des
Widerstandes" dar oder betonen das persönliche Leid, das Hitler ihnen angetan hätte. Alle Tradierungstypen
werden sowohl von den Zeitzeugen als auch von ihren Nachfahren (es handelt sich bei der Studie um eine
Mehrgenerationenstudie) gepflegt.
5
H. Schmid definiert Geschichtspolitik wie folgt: ,,Der Ausdruck bezeichnet jenen Bereich staatlich oder an-
derweitigen politischen Handelns, in dem intentional oder mittelbar Geschichte in der Politik beeinflusst, be-
nutzt oder besetzt wird: Geschichte in jeder denkbaren Form als politisches Mittel, das auf die Errichtung,
Absicherung, Stabilisierung und/oder Veränderung von Herrschaft zielt." (Schmid (2001) S. 23).

6
dächtnis eine weitere und andere, weil dauerhafte Form des Erinnerns dar. Während das
kommunikative Gedächtnis maximal drei Generationen umfasst und nur Erinnerungen aus
der neueren Vergangenheit zu bewahren vermag, schafft das kulturelle Gedächtnis Artefak-
te, die zum Lernen auffordern und durch Bildungsinstitutionen gefördert und abgestützt wer-
den. Das kommunikative Gedächtnis basiert auf Erinnerungen von Zeitzeugen, also einer
historisch abgegrenzten Gruppe, und vergeht mit diesen Trägern. Das kulturelle Gedächtnis
dagegen dient dazu, mit den Bürgern einer Gesellschaft in langfristiger historischer Perspek-
tive überlebenszeitlich zu kommunizieren und sich damit einer Identität zu vergewissern, die
durch Zugehörigkeit zu einer generationsübergreifenden Überlieferung und weitgespannten
historischen Erfahrung entsteht. Mit dem ,,Aussterben" der Zeitzeugen des Holocaust kommt
den nachfolgenden Generationen die verantwortungsvolle Aufgabe zu, das kommunikative
Gedächtnis in ein kulturelles zu transformieren. Durch eine bewusste Transformation wird
gegenwärtig der Versuch unternommen, Formen für eine inter- und transgenerationelle Si-
cherung zu finden, die zu einer nicht abbrechenden sowie nachhaltigen Holocaust-Überliefe-
rung und ,,Erziehung nach Auschwitz" führen sollen.
Unter den verschiedenen kulturellen Artefakten
6
stellt das Denkmal eine eigene Form des
kulturellen Gedächtnisses an den Holocaust dar, die in ihrer Besonderheit Gegenstand mei-
ner Untersuchung sein wird. Zu fragen ist: Wie wurde der ,,Holocaust" in Bremen mit Hilfe
des kulturellen Artefakts ,,Holocaust-Denkmal" erinnerungspolitisch und ästhetisch verarbei-
tet?
Es war nicht einfach, einen adäquaten und für alle zu untersuchenden Objekte treffenden
Oberbegriff zu finden. Ich habe mich für das Wort ,,Holocaust-Denkmal" entschieden, weil es
eine gängige Bezeichnung für die von mir zu untersuchenden Artefakte darstellt.
6
Z.B. Medien, Texte, Museen, Gedenkstätten etc.

7
Das Wort ,,Holocaust" bedeutet in seinem Ursprung ,,Brandopfer" und bezieht sich auf den im
Alten Testament vorgeschriebenen Brauch des Brandopfers.
7
In den 1960er Jahren, als man
in Deutschland noch von ,,Judenverfolgung", ,,Judenvergasung" und ,,Endlösung" sprach,
hatte sich das Wort ,,Holocaust" in der angelsächsischen Geschichtsschreibung als Sam-
melbegriff für die Judenvernichtung bereits verbreitet, wurde jedoch auch auf andere histori-
sche Ereignisse bezogen (z. B. den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki). Nach
der Ausstrahlung des Fernsehfilms ,,Holocaust"
8
verbreitete sich der Begriff im deutschen
Sprachraum und wurde 1978 zum ,,Wort des Jahres" gewählt. Zunächst stand der Begriff
ausschließlich für die Judenvernichtung, wurde aber im Laufe der 1980er Jahre auf die sys-
tematisch-industrielle Ermordung aller KZ-Häftlinge übertragen.
9
Jedes Denkmal lässt sich unter zwei Aspekten betrachten, die in dieser Arbeit berücksichtigt
werden. Das Besondere an einem Denkmal ist, dass es ,,zeitlos" angelegt ist, d. h. jedes
Denkmal wird zu einem bestimmten Zeitpunkt errichtet und ist deshalb ,,zur Hälfte Erinne-
rung an etwas Vergangenes und zur anderen Hälfte Anspruch auf etwas Kommendes. Je-
des Denkmal schaut janusköpfig in Vergangenheit und Zukunft."
10
Diese Janusköpfigkeit gilt
auch für Holocaust-Denkmäler. Jedem Holocaust-Denkmal kommt ein vergangenheits- und
ein zukunftsverpflichtender Aspekt zu. Der vergangenheitsverpflichtende Aspekt orientiert
sich an dem Respekt vor den Opfern; ihre Würde soll ihnen im Nachhinein, soweit es mög-
lich ist, zurückgegeben werden. Der zukunftsverpflichtende Aspekt beabsichtigt einen be-
wussten und bestimmten Umgang mit dem Vergangenheitsmaterial im Blick auf zukünftige
Interessen.
11
Daraus ergeben sich die Fragestellungen, ob die Bremer Holocaust-Denkmäler
7
E. Jäckel hält den Begriff ,,Holocaust" für falsch, weil er das, was passiert ist, in ein falsches Licht rücken
würde. Er führt das Wort ,,Holocaust" auf die in Genesis 22 beschriebene Opfergeschichte, bei der Abraham
seinen Sohn Isaak opfern soll, zurück. Holocaust sei ,,die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes
olakalil, 'was ganz im Rauch aufsteigt', die seltsamerweise in die englische Bibelübersetzung geriet." Seit-
dem sei ,,holocaust ein englisches Wort, das im engeren Sinn 'Brandopfer', wörtlich: 'was ganz verbrannt
wird', meint und im übertragenen Sinne eine vollständige Zerstörung, besonders durch Feuer. Die Geschich-
te in der Bibel ist bekanntlich, dass Gott Abraham versuchen wollte und von ihm verlangte, seinen einzigen
Sohn Isaak, den er lieb hatte, als Brandopfer zu opfern. Es genügt die Geschichte zu lesen, um zu erkennen,
dass das Wort zur Bezeichnung des Mordes an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg nicht nur un-
angemessen, sondern geradezu anstößig ist. Denn Hitler liebte sein Opfer nicht, noch wollte er es opfern,
ganz abgesehen davon, dass Gott schließlich Abraham auftrug, Isaak nicht zu töten, und das Opfer nicht ge-
tötet wurde." (Jäckel (1993) S. 16). Dagegen hält C. Münz mit Elie Wiesel den Begriff aufgrund der ,,Akedah"
für angemessen. Mit der ,,Akedah" ist die gegenseitige Bindung (Interdependenz) zwischen Isaak (der stell-
vertretend für das israelitische Volk steht) und Gott gemeint (Vgl. Münz (2004) S. 154-164). Isaaks Tod
hätte die Vernichtung eines ganzen Volkes bedeutet noch bevor es hätte geboren werden können ­ ,,ein Ge-
nozid im Mikrokosmos". Deshalb ist Isaak in der Lesart Elie Wiesels auch der erste Überlebende. Wiesel
wählte den Terminus ,,Holocaust", um mit ihm die Tragödie als eine jüdische Tragödie zu bewahren. (Vgl.:
Garber/Zuckermann (1989) S. 197-211).
8
In den USA wurde der Film Holocaust von dem Regisseur Marvin Chomsky das erste Mal 1978 ausgestrahlt.
In der BRD strahlten die ,,Dritten Programme" den Film das erste Mal in einer Kooperation im Jahr 1979 aus.
9
Hieran kann man bereits die in den 1980er Jahren verbreitete Entkonkretisierung und Anonymisierung der
Opfer erkennen (Vgl.: Moller (1998): S. 137-140)
10
Assmann (1993): S. 57
11
Vgl. Marchetta (2001) S. 20-22

8
ihrer Errichtungszeit gemäß an den Holocaust erinnern und ob sie bzw. wie sie mahnend in
die Zukunft weisen.
Das Wortgefüge ,,Holocaust-Denkmal" umfasst im Folgenden: Ehrenmäler, Denkmäler,
Mahnmale
12
, Gedenktafeln und Gedenksteine
13
, die mit dem Ziel geschaffen worden sind, an
die Verfolgung und Vernichtung der Juden in Bremen und Umgebung jenseits des kommuni-
kativen Gedächtnis zu erinnern. Dazu gehören folgende zwölf Holocaust-Denkmäler im
Stadtgebiet Bremens: Ehrenanlage auf dem Osterholzer Friedhof; Ehrenmal auf dem Jüdi-
schen Friedhof; Gedenktafel Aumunder Synagoge; ,,Gedenkstätte Reichskristallnacht"; Ge-
denktafel Synagoge im Schnoor; Gedenktafel ,,Jüdisches Altenheim"; Gedenkstein Gold-
bergplatz; Gedenkstein Schwachhauser Synagoge, Gedenkstein Justizvollzugsanstalt Os-
lebshausen; Gedenktafel am Hauptbahnhof; Gedenktafel am Barkhof und die Gedenktafel
am Leibnizplatz.
Inwieweit diese Bremer Artefakte zur Erinnerung an die Judenverfolgung und -vernichtung in
Bremen einen Beitrag zu einer vergangenheits- und zukunftsverpflichtenden Rezeption des
Holocaust leisten konnten, hing von den jeweiligen Zeitumständen zwischen 1947 und 2001
ab. Nach dem Zeitpunkt ihrer Errichtung teile ich diese Zeitspanne in vier Perioden ein: Die
erste Periode umfasst die Jahre zwischen 1947-1952 mit zwei Holocaust-Denkmälern; in der
zweiten Periode bis 1978 werden keine errichtet; es folgt eine Periode bis 1988 in der sieben
und eine Periode bis 2001, in der drei Holocaust-Denkmäler errichtet werden. Meine Eintei-
lung der Perioden korrespondiert in weiten Teilen mit ,,geschichtskulturellen"
14
Phasen Nach-
kriegsdeutschlands, in die ich am Anfang eines jeden Kapitels meiner Arbeit einführen wer-
de, um das jeweilige Holocaust-Denkmal seinem zeit- und mentalitätsgeschichtlichen Rah-
men zuzuordnen.
12
Der Begriff ,,Mahnmal" taucht zum ersten Mal 1843 bei Franz Kugler auf. (Vgl. Hoffmann (1998) S. 21 mit
Anm. 70.). Ich werde ihn in meiner Untersuchung einbeziehen, wenn die Frage auftaucht, ob das zu be-
schreibende Objekt die Kriterien eines Mahnmals erfüllt.
13
Eine weitere Gattung von Gedenksteinen bilden die seit Anfang den 1990er Jahre verlegten Stolpersteine.
Vgl.: Kap. 6.2 S. 85-88.
14
Nach J. Rüsen lässt sich ,,Geschichtskultur" als ,,praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein
(vgl. Fußnote 31) im Leben einer Gesellschaft definieren. Er unterscheidet dabei eine ästhetische, eine poli-
tische und eine kognitive Dimension der Geschichtskultur. In jeder Form der historischen Repräsentation (z.
B. auch im Denkmal) gehen alle drei Dimensionen mit unterschiedlichen Anteilen eigenständig und zusam-
mengehörig ein. (Vgl. Rüsen (1994) S. 213 und S. 225)

9
Dabei wird zu überprüfen sein, wie sich eine periodenhafte Rezeption des Holocaust in Form
von Holocaust-Denkmälern auf eine allgemeine, gesamtgesellschaftliche, periodenhafte Re-
zeption übertragen lässt. Dazu werde ich meine Periodisierung mit dem politisch- und
mentalitätsgeschichtlich angelegten Periodisierungsvorschlag von A. Assmann vergleichen.
A. Assmann unterteilt die Rezeption des Holocaust nach 1945 in drei erinnerungsgeschicht-
liche Phasen. Die erste Phase nennt sie ,,Vergangenheitspolitik
15
" (1945-1957), die zweite
Phase ,,Kritik der Vergangenheitsbewältigung" (1958-1984) und die dritte Phase steht bei ihr
unter dem Zeichen der ,,Erinnerung" (ab 1985). Aus der Gegenüberstellung meiner Denk-
malsperioden und A. Assmanns erinnerungsgeschichtlichen Phasen leite ich folgende Unter-
suchungsansätze ab:
1. Wie wirkte sich das jeweilige Zeitgeschehen auf die Ideen der Denkmalsinitiatoren sowie
auf die Art der Denkmäler und deren Vorstellung in der Öffentlichkeit aus?
2. Wie sind die bei der Einweihung gehaltenen Reden historisch mit dem jeweiligen Holo-
caust-Denkmal verbunden sind?
3. Haben an den Holocaust-Denkmälern Gedenkveranstaltungen stattgefunden und finden
diese heute noch statt? Wer hat an welchen Gedenktagen mit welchen Erinnerungs-
handlungen an diesen Gedenkveranstaltungen teilgenommen?
16
Aus diesen Analyseschritten ergibt sich mit der zuvor erhobenen Frage, ob die Bremer Holo-
caust-Denkmäler ihrer Errichtungszeit gemäß an den Holocaust erinnern und ob sie bzw.
wie sie mahnend in die Zukunft weisen, als zusammenfassende Frage: Welche Ansätze des
vergangenheits- bzw. zukunftsverpflichtenden Gedenkens an den Holocaust spiegeln sich in
den zwischen 1947 und 2001 in Bremen errichteten Holocaust Denkmälern wider?
Den Hauptteil der Arbeit habe ich dementsprechend wie folgt gegliedert: In der ersten Perio-
de (Punkt 2) geht es um das Gedenken an den Holocaust auf Friedhöfen. In der zweiten
Periode (Punkt 3) zeige ich auf, wie sich das Gedenken an den Holocaust ohne Errichtung
von Holocaust-Denkmälern in Bremen fortsetzt. In der dritten Periode (Punkt 4) gehe ich auf
die besondere Konjunktur von Holocaust-Denkmälern im Zusammenhang mit dem Geden-
ken an die ,,Reichskristallnacht" ein. In der vierten Periode (Punkt 5) erörtere ich das ,,Ge-
15
Der Begriff Vergangenheitspolitik meint den Umgang mit dem institutionellen und dem personellen Erbe
eines überwundenen (diktatorischen System). ,,Im Zentrum des Interesses von vergangenheitspolitischen
Forschungen stehen (...) justitielle, legislative und exekutive Maßnahmen, die in einem relativ engen zeitlich
Rahmen getroffen werden." (Wolfrum (1999) S. 59)
16
Im Vordergrund steht dabei der 9. November als inoffizieller Gedenktag für die Judenpogrome zwischen dem
7. und 11. November 1938 und der 27. Januar (Befreiung des KZ-Auschwitz) als offizieller Gedenktag. Der
27. Januar wurde auf Anregung von Ignatz Bubis (im Jahr 1995) von Roman Herzog als offizieller Gedenktag
im Jahr 1996 eingeführt.

10
denken am Ende der Zeitzeugenschaft". Im Schlussteil (Punkt 6) verweise ich auf eine feh-
lende Gedenktafel und skizziere die Anfänge des Bremer Projekts ,,Stolpersteine". Die Er-
gebnisse meiner Untersuchungen fasse ich im Fazit zusammen.

11
2
Gedenken auf Friedhöfen (1947-1952)
2.1 Zeitumstände
Die erste Periode des Gedenkens an den Holocaust in Form von Holocaust-Denkmälern
setzte 1947 in Bremen mit der Errichtung einer Ehrenanlage auf dem Osterholzer Friedhof
ein und hört mit der Errichtung eines jüdischen Ehrenmals am 18. Mai 1952 auf. Das erste
Holocaust-Denkmal auf dem Osterholzer Friedhof in Bremen ordne ich dem nichtjüdischen
Erinnern zu, da es ohne Mitwirkung von Juden realisiert wurde.
Bis zum heutigen Tag steht bei dem nichtjüdischen Erinnern in Deutschland der Aspekt der
Schuld im Zentrum der Erinnerung. Der Umgang mit der Schuld äußerte sich damals bei den
Beteiligten, Mitläufern, Widerstandskämpfern, Anklägern und Angeklagten unterschiedlich.
Diese je andere Sichtweise schlug sich bereits in der ersten Holocaust-Denkmalsperiode
zwischen 1947 und 1952 nieder. Die Notwendigkeit, sich mit der eigenen Schuld auseinan-
derzusetzen, stellte sich in den Nachkriegsjahren bis zur Gründung der beiden deutschen
Teilstaaten am unmittelbarsten.
17
Während dieser Zeit empfanden sich die meisten Deut-
schen als Opfer einer über sie gekommenen Katastrophe. Nur eine Minorität gab eine Mit-
schuld an der Zerstörung und Vernichtung zu, die Deutschland über sich, andere Völker und
über die Juden gebracht hatte. Diese Minderheit engagierte sich in antifaschistischen Orga-
nisationen wie z.B. der ,,Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN)
18
, die in Bremen
schon vor 1947 existierte und von der die Initiative für das erste Bremer Holocaust-Denkmal
ausging.
19
Die VVN betrieb die Auseinandersetzung mit der Schuld durch konkrete Aktionen
wie die Denkmalsinitiative oder die im September 1947 erstmalig abgehaltene ,,Internationa-
le Gedenkwoche". Daneben gab es auch eine theoretische Auseinandersetzung mit der
17
Vgl.: Koch (2002): S.188-201.
18
Die gesamtdeutsche VVN konstituierte sich auf der "ersten interzonalen Länderkonferenz" Mitte März 1947
in Frankfurt am Main. Vorher gab es unterschiedliche regionale Verbände, so auch den von G. Gumpert ge-
leiteten Regionalverband in Bremen. Am 24.7. erfolgte die Anerkennung der VVN in Bremen durch die Mili-
tärregierung. (Vgl. STAB 7,1086) Auf gesamtdeutscher Ebene war die VVN, die 1947 in allen vier Besat-
zungszonen und Berlin zusammen etwa 250 000 Mitglieder hatte, von Anfang an umstritten. Der Parteivor-
stand der SPD für die Westzonen bezeichnete die VVN bereits Ende 1946, als gerade erst zwei Landesver-
einigungen der Organisation in Nordrhein-Westfalen und Hessen bestanden , als neue getarnte Propagan-
daorganisation der Kommunisten und forderte die Mitglieder auf, die Mitarbeit in diesen Vereinigungen zu
verweigern. ,,Zentrale Ziele der VVN waren Aufklärung und Aufarbeitung des Nationalsozialismus, eine politi-
sche und soziale Interessenvertretung der Verfolgten" zu sein, ,,insbesondere in Entschädigungs- und Wie-
dergutmachungsangelegenheiten sowie bei der Entnazifizierung" zu helfen. ,,Mit ihrer Politik strebten sie die
Einheit Deutschlands an, opponierten gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die sog. Not-
standsgesetze und setzten sich die Bekämpfung des Neo-Faschismus zum Ziel. In den 50er Jahren wurde
dem Rat der VVN vor allem wegen seiner deutschlandpolitischen Positionen Staatsfeindlichkeit vorgeworfen
und deshalb 1951 vorübergehend verboten. In Bremen wurde mit der Begründung einer überwiegend sozial-
politischen Tätigkeit der Vereinigung von einem Verbot abgesehen. Auf der Bundeskonferenz 1971 erfolgte
der Beschluss zur namentlichen und konzeptionellen Erweiterung des Vereins zum Bund der Antifaschisten
(BdA)." (STAB 7,1086)
19
STAB: Akte: 3-D.9.Nr.111.1947

12
Schuld, der sich Intellektuelle, Parteien und Gewerkschaften sowie Vertreter der katholi-
schen und evangelischen Kirche widmeten. ,,In den Kirchen waren sowohl Schuldbewusst-
sein als auch Schuldabwehr besonders ausgeprägt. Im Jahr 1945 gab es deutliche Anzei-
chen für eine Anerkennung von Mitschuld am NS. In einer Erklärung der Fuldaer Bischofs-
konferenz vom August finden sich einige Absätze, in der 'Stuttgarter Schulderklärung' des
neu gebildeten Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Oktober einige Sätze,
die die Mitschuld und Mitverantwortung der Christen am NS und seinen Verbrechen deutlich
ansprachen."
20
Die besondere Schuld an der Verfolgung und Ermordung der Juden kam je-
doch bei den Kirchen sowie bei den meisten staatlichen und repräsentativen Stellen über-
haupt nicht in den Blick, man hielt sie nicht für erwähnenswert. Neben soziologischen und
psychologischen Gründen hatten die ,,kirchlich-theologische Traditionen des Antijudaismus,
die Prägung durch den nationalsozialistischen Antisemitismus und ein gleichsam verordneter
Philosemitismus zum Ergebnis: Schweigen."
21
Dieses Schweigen wird von Hermann Lübbe als erster Entlastungsmechanismus herausge-
arbeitet.
22
Neben diesem ersten Entlastungsmechanismus gab es H. Lübbe zufolge noch
zwei weitere Entlastungsmechanismen. Alle drei Entlastungsmechanismen werde ich im
Folgenden kurz skizzieren. Für den ersten Entlastungsmechanismus hebt A. Assmann her-
vor, dass es einen Unterschied zwischen Schweigen und Verdrängen gibt. Unter Verdrän-
gen versteht sie ,,ein Vergessen, das sich nicht darüber bewusst ist, dass es etwas vergisst,
unter Schweigen dagegen eine Kommunikationsbegrenzung, der kein Vergessen zugrunde
liegt. Man weiß sehr wohl, was man nicht zur Sprache zu bringen hat, und verständigt sich
damit ex negativo über die verbindende Kraft einer gemeinsam beschwiegenen Erinne-
rung"
23
. Dieses Schweigen bezeichnet sie im Anschluss an H. Lübbe als das 'kommunikative
Beschweigen'.
24
20
Koch (2002) S.189. Koch hebt hervor, dass ,,das 'Darmstädter Wort' des Bruderrats der Ev. Kirche 'zum
politischen Weg unseres Volkes' von 1947" eine positive Ausnahme in der damaligen Zeit darstellt, da in ihm
,,das frühere deutschnationale Denken und Handeln der Christen in Deutschland expressis verbis genannt
und als Irrweg beurteilt und zu einer Umkehr vor Gott und den Menschen aufgerufen wurde." (Koch (2002)
S.189)
21
Vgl.: Stern (1990): S. 25-42
22
Assmann/Frevert (1999): S. 140
23
Assmann/Frevert (1999): S. 140/141
24
Vgl. Assmann/Frevert (1999): S. 140/141

13
Im Jahr 1945 gab es in Bremen den Versuch, dieses Schweigen über den Massenmord an
den Juden zu durchbrechen. In einem Aufruf anlässlich der siebten Wiederkehr der ,,Reichs-
kristallnacht" forderte der Präsident des Senats, Bürgermeister Wilhelm Kaisen
25
, die Bürger
Bremens dazu auf, für die Wiederherrichtung des Jüdischen Friedhofs und für den Neubau
eines Gotteshauses zu spenden. Der Kirchenausschuss der Bremischen Evangelischen Kir-
che, die Handelskammer, die Angestelltenkammer, die Arbeiterkammer, die katholische Kir-
chenkanzlei und die Bremer Volkshilfe unterstützten den Aufruf W. Kaisens.
Als intellektuelle Leitfigur stieß Karl Jaspers den Schulddiskurs durch sein 1946 erschiene-
nes grundlegendes Werk ,,Die Schuldfrage" auf philosophischer Ebene an.
26
Um von dem in
der Öffentlichkeit verbreiteten Begriff der Kollektivschuld wegzukommen
27
, schlug K. Jaspers
in seinem Buch eine Differenzierung von vier Schuldbegriffen vor. Dabei beziehen sich zwei
dieser Schuldbegriffe auf eine freiwillige und einsame Auseinandersetzung mit der Schuld in
der eigenen Seele: moralische und metaphysische Schuld, und die beiden anderen auf For-
derungen und Zwänge, die von außen an das Individuum gestellt werden und abgebüßt
werden können: kriminelle und politische Schuld.
28
In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen ging es um die kriminelle und politische
Schuld. Das Nürnberger Militärtribunal war der erste internationale Strafgerichtshof der
Menschheitsgeschichte. ,,Nur die Deutschen waren angeklagt. Über die Luftbombardements
der Alliierten, die mehr als eine Million deutsche und japanische Zivilisten getötet hatten,
wurde so wenig verhandelt wie über die Ermordung Tausender polnischer Offiziere durch
den sowjetischen NKWD (Katyn). Das war zweifellos ein Makel des Verfahrens, und zumin-
dest die westlichen Alliierten haben dies auch gesehen."
29
Deshalb kursierte unter vielen
Deutschen die Rede von der ,,Siegerjustiz". Die Mehrheit der Nachkriegsdeutschen wollte
sich nicht schuldig sehen. Man verwies auf ,,die anderen" (die meisten auf Hitler und seine
Gefolgsleute) und das eigene Leid. Dieser (nach H. Lübbe) zweite Entlastungsmechanismus
griff auch bei der nach den Nürnberger Prozessen durchgeführten Entnazifizierung. Er ,,be-
25
W. Kaisen wurde nach 1945 als erster Bürgermeister Bremens gewählt. Zur Zeit des Nationalsozialismus
lebte er in ,,innerer Emigration" in Bremen-Borgfeld. (Zur Biografie von W. Kaisen siehe: Sommer (2000):
Wilhelm Kaisen. Eine politische Biografie).
26
,,Der Umgang mit der Schuldfrage, der Anerkennung und Leugnung der Beteiligung oder zumindest Verant-
wortung auch vieler 'normaler' Deutscher begann hier (mit der Verlegung von Jaspers Buch; A.d.V.). Er sollte
ein fester Bestandteil der Auseinandersetzung bis hin zu Daniel J. Goldhagens These vom 'eliminatorischen
Antisemitismus' aller Deutschen oder Martin Walsers Wort von der 'Dauerrepräsentation unserer Schande'
bleiben." (Kuefke (2002): S. 240.)
27
Der Begriff wurde während der Nürnberger Prozesse von den Amerikanern eingeführt und fand durch sie
seine Verbreitung. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung weigerte sich, eine kollektive Schuld und in vie-
len Fällen auch individuelle Schuld anzuerkennen.
28
Vgl.: Jaspers (1946): S. 29-67.
29
Reichel (2002): S. 215

14
ruht auf einer klaren Trennung von Regime und Volk. Die Täter, das war das Regime; das
Volk, das waren die Opfer. An die Stelle der Kollektivschuld trat damit die 'Kollektivun-
schuld'".
30
Statt Schuld einzugestehen, suchte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ihre
Unschuld zu beweisen und an den ,,Persilschein" zu gelangen. Bestürzend ist deshalb, auf
die Gegenwart bezogen, ,,das nahezu völlige Verschwinden dieses Säuberungsprozesses
aus dem Geschichtsbewusstsein
31
", wenn man ,,sich die Breite, in der die Siegermächte die
Entnazifizierung angelegt hatte(n) ­ die Entnazifizierung berührte unmittelbar alle Deut-
schen, die 1947 älter als 18 Jahre waren ­ vergegenwärtigt."
32
Für das Verschwinden des Schulddiskurses aus dem öffentlichen Bewusstsein ist noch ein
weiterer Entlastungsmechanismus verantwortlich - der ,,Anti-Kommunismus". Die Doktrin des
,,Anti-Kommunismus" beeinflusste sowohl die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse als
auch die Durchführung der Entnazifizierung. In den Grundkonsens der neugegründeten
Bundesrepublik Deutschland ,,ist das Westbündnis mit den Alliierten und die Frontstellung
gegen den kommunistischen Ostblock eingeschrieben. (...) Dieses Feindbild, das zur ver-
pflichtenden und verbindenden Staatsideologie der BRD wurde, hielt nicht nur die Gesell-
schaft zusammen, sondern auch die Erinnerung an die eigene Schuld in der NS-Zeit zu-
rück."
33
Diese drei ineinander greifenden Entlastungsmechanismen waren prägend für das
nichtjüdische Erinnern des Holocaust bis 1952. Sie hatten zur Folge, dass in den ersten Jah-
ren nach 1945 weitgehend nur der eigenen Opfer gedacht wurde und in sehr geringem Ma-
ße der ,,anderen Opfer". Dabei ist zu beachten, dass die Juden eigentlich nicht als die ,,ande-
ren Opfer" bezeichnet werden dürften, da sie genauso Teil des deutschen Volkes waren. Ziel
der drei Entlastungsmechanismen war es, die eigene Schuld abzuwehren und die Erinne-
rung einzufrieren.
Die nicht nur von rechten Randgruppen der Bevölkerung erhobene Forderung nach einem
,,Schlussstrich" verband sich mit dem weit verbreiteten Gefühl der ,,Stunde Null" eines Neu-
anfangs. Dieser Schlussstrich-Forderung standen jedoch die weiterhin ungeklärte Schuldfra-
ge, die strafrechtliche Be- und Verurteilung der Täter sowie die notwendige mentale Neuori-
entierung
im Wege. Die Demokratisierung der deutschen Bevölkerung durch das ,,Reeduca-
tion"-Programm oder durch die Rückgriffe auf die demokratische Erfahrung während der
Weimarer Republik zeigten nur sehr geringen Erfolg. Ein Ziel der Schlussstrich-Forderungen
war verknüpft mit dem Versuch einer ,,Wiedergutmachung". Dabei diente eine angeblich er-
30
Assmann/Frevert (1999): S. 141
31
Das Geschichtsbewusstsein setzt sich nach der Definition von Karl-Ernst Jeismann aus Vergangen-
heitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive zusammen. (Vgl. Jeismann (1985) S. 40).
32
Vgl.: Drechsel/Röpcke (1992): S.6-7
33
Assmann/Frevert (1999): S. 141-142

15
folgte ,,Wiedergutmachung" als Basis für die Rechtfertigung eines ,,Schlussstriches". Diese
sog. ,,Wiedergutmachung" war ohne die Gründung der BRD im Jahr 1949 und die daraus
folgenden Gesetzgebungen hinsichtlich der Nazi-Vergangenheit nicht denkbar. Dem Gesetz
zur ,,Wiedergutmachung" gingen etliche Gesetze voraus, die es ermöglichten, die alten ,,Eli-
ten" und Nazi-Funktionäre zu rehabilitieren. ,,Höhepunkt war das sog. 131-er Gesetz, nach
dem Hunderttausende sog. 'Entnazifizierungs-geschädigter' (!) ein Rückkehrrecht auf ihre
früheren Positionen" erhielten.
34
Erst nachdem diese Gesetze beschlossen waren, wagte
man es, in ,,Wiedergutmachungsverhandlungen" mit dem Staat Israel (also keine direkten
Verhandlungen mit den Opfern) einzutreten. Anfang der fünfziger Jahre wurden die Wieder-
gutmachungs-Verhandlungen zwischen Israel und der BRD immer konkreter. Der erste Be-
schluss wurde in dem Luxemburger Abkommen (1952) gefasst.
35
Nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 waren nur noch wenige der Überleben-
den in Deutschland geblieben, die sogenannte ,,Schérit hapletah", ,,der Rest der Geretteten".
Die ,,Schérit hapletah" bestand in erster Linie aus osteuropäischen ,,Displaced Persons"
36
, die
die KZs überlebt hatten. Die anderen Holocaust-Überlebenden waren entweder nach Ameri-
ka oder Israel ausgewandert. Im Jahr 1952 hoffte diese kleine Gemeinschaft der Überleben-
den darauf, für die an ihnen begangenen Verbrechen im Zuge der sog. ,,Wiedergutmachung"
,,entschädigt" zu werden.
In Bremen kam es zu einer ,,Wiedergutmachung" in Form von zwei Globalabkommen. Im
Globalabkommen I einigte sich die Freie Hansestadt Bremen und die Israelitische Gemeinde
,,auf eine Pauschalsumme von DM 500.000, zur Auszahlung kommen allerdings nur 400.000
DM, weil die Abschlagszahlung abgezogen wird."
37
Im Globalabkommen II verpflichtete sich
das Land Bremen gegenüber der Jewish Restitution Successor Organisation (JRSO) zu ei-
ner Zahlung von 1,5 Millionen DM. Abgegolten wurden damit die Wiedergutmachungsan-
sprüche von denjenigen Juden, die verstorben waren oder ihre Rechte an die JRSO abge-
treten hatten.
38
,,Die Summe fließt in den Aufbau des Staates Israel. Nach Hessen ist Bre-
men das zweite Land, in dem es zu einer derartigen Globalabfindung kommt, (...).
39
34
Hamm-Brücher, H. ,,Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit" in: Frankfurter Rundschau vom 22.07.03, S. 7.
35
Mit dem ,,Luxemburger Abkommen" (1952) wurden erste Wiedergutmachungszahlungen beschlossen.
36
Als ,,Displaced Persons" werden nach 1945 diejenigen Menschen bezeichnet, die ihre Heimat verloren haben
und keine feste Bleibe vorweisen können.
37
Johr (2001): S. 14
38
Johr (2001): S. 15
39
Johr (2001): S. 15

16
2.2
Die Ehrenanlage auf dem Osterholzer Friedhof (1947/51)
2.2.1 Nichtjüdisches Erinnern oder die Denkmalszäsur nach 1945
Charakteristisch für die endvierziger und für die fünfziger Jahre war in der BRD das Geden-
ken an die eigenen Kriegsopfer meist auf Friedhöfen, in den Eingangsbereichen oder Sei-
tennischen von Kirchen oder auf markanten Plätzen von Städten und Dörfern. Die Art dieses
Gedenkens war verknüpft mit einer bestimmten Form von Gedenktafeln und Ehrenmälern,
die eine Tradition hatte. Nach dem deutsch-französischem Krieg (1870/71) entstand eine
Denkmalskultur, die die Namen der getöteten Soldaten erinnerte, die um eines ,,höheren
Zieles" willen, nämlich für die deutsche Nation, ihr Leben verloren hatten. In dieser Denk-
malskultur überhöhte die Proklamation des ,,Deutschen Reiches" (1871) den Tod des Ein-
zelnen. So wurde auf diesen Gedenktafeln und Ehrenmälern ausschließlich der deutschen
Soldaten gedacht, die für das Deutsche Reich auf dem ,,Feld der Ehre" ihren ,,Heldentod"
gefunden hatten. Zivile Opfer, Opfer der feindlichen Seite oder das Grauen des Krieges wur-
den nicht erwähnt. Im Vordergrund stand die Ehre, die der Soldat seinem Vaterland erwie-
sen hatte. Diese Tradition wurde nach dem 1. Weltkrieg (1914/18) modifiziert fortgesetzt.
,,Denkmale erinnerten in Deutschland nun vorwiegend an die Opfer und nicht an die Gestal-
ter der Nation. Das Volk rückte zu jenem hypostasierten Souverän auf, in dessen Namen
gekämpft und für den gefallen wurde, geleitet von dem bis in den Zweiten Weltkrieg in ver-
schiedenen Varianten immer wiederkehrenden Topos 'mortui viventes obligant' (Die Leben-
den sind den Toten verpflichtet). (...) Fast jede Gemeinde ließ ein Kriegerdenkmal erbau-
en."
40
In der Weimarer Republik wurde diese Denkmalskultur einerseits auf eine nationalisti-
sche und propagandistische Weise instrumentalisiert, andererseits von liberalen und sozia-
listischen Strömungen kritisiert, da die ,,Trauer einem unverhohlenen Revanchismus weichen
musste".
41
Kriegerdenkmäler dienten dazu, die nationale Identität zu stärken und drückten
nicht die Trauer und das Entsetzen über das massenhafte Sterben im Krieg aus.
42
Zur Zeit
des Nationalsozialismus wurde diese Denkmalskultur von dem Nazi-Regime ideologisiert
und zu nazistischen Propagandazwecken umfunktioniert.
In stilistischer Hinsicht bildete das Jahr 1945 keine Denkmalszäsur, jedoch blieb meist un-
klar, wie sich das Gedenken an die Kriegstoten zum Gedenken an die NS-Opfer verhalten
sollte. ,,Die deutschen Kriegsopfer waren nicht in demselben Sinn Opfer wie die der anderen
Nationen. Sie gehörten im moralischen Sinn zu der Nation der Täter. (...) Man konnte im
Grunde nicht an sie denken, ohne die Opfer der faschistischen Verbrechen im Sinn zu ha-
40
Stavginski (2002): S. 136
41
Stavginski (2002): S. 136
42
Vgl.: Stavginski (2002): S. 136

17
ben. Denkmale waren zu Mahnmalen geworden. Die Krieger- und Siegerdenkmale ver-
schwanden weitgehend, es entstanden zumeist reine Totenmale in Kreuz- und Grabstein-
form mit dem Verzeichnis der Toten. Der Tod im Krieg erschien nur noch als sinnfordernd,
nicht mehr als sinnstiftend, die Inschriften vermittelten keine Botschaft mehr."
43
Die Texte auf
den Mahnmalen erinnerten nicht an die Verbrechen der Täter und Mittäter. Sie gaben keine
Informationen über die Ideologie der Judenvernichtung, obwohl das Wissen darüber zur Ver-
fügung stand. Die Autoren der Mahnmalsinschriften hatten sich noch nicht um eine klare
sprachliche Vermittlung der geschehenen Gräueltaten bemüht.
Auch in Bremen spiegelt sich
diese mangelnde Versprachlichung in den Texten auf den Bronzetafeln der Ehrenanlage auf
dem Osterholzer Friedhof wider.
Beim nichtjüdischen Erinnern legte man in den ersten Nachkriegsjahren vor allen Dingen
Wert darauf, der Opfer des eigenen Volkes würdevoll zu gedenken. Im Vordergrund standen
dabei wie nach dem Ersten Weltkrieg die gefallenen Soldaten. Das Besondere an der Eh-
renanlage auf dem Osterholzer Friedhof ist der Versuch, das Gedenken an gefallene Solda-
ten und getötete KZ/Arbeitslager-Häftlinge in einer Anlage zusammenzufassen. Ein Hinweis-
schild macht den Besucher auf diese Tatsache aufmerksam (,,Ehrenfeld deutscher Soldaten
und KZ-Opfer"). Bezeichnend ist, dass auf diesem Schild die deutschen Soldaten zuerst ge-
nannt werden; die KZ-Opfer werden wie ein Anhängsel der deutschen Soldatenopfer gleich-
sam mit abgehandelt.
2.2.2 Beschreibung der Ehrenanlage
Die Ehrenanlage auf dem Osterholzer Friedhof besteht aus zwei Bereichen: einem langge-
streckten Grabhügel mit zehn Steintafeln für die KZ-Opfer aus Bremen und Umgebung und
einem Soldatenfriedhof. Zwischen beiden Bereichen öffnet sich ein Platz mit von Steinplat-
ten eingefassten qua-dratischen Grasflächen, an dessen Stirnseite sich ­ wenige Stufen
erhoben - das 1951 eingeweihte Ehrenmal ,,Brüderlichkeit im Tod" befindet.
2.2.3 Grundsteinlegung 1947
Die Grundsteinlegung für die Ehrenanlage erfolgte am 14. September 1947. In den Grund-
stein eingemauert wurde folgende Urkunde: ,,Nach 12 Jahren einer tyrannischen Diktatur,
die Menschenwürde und Menschenleben missachtete, errichteten am 14. September 1947
der Senat und die Bürgerschaft der Freien Hansestadt Bremen diese Gedenkstätte. Von den
Trägern der nationalsozialistischen Staatsgewalt, ohne Verfahren und ohne Recht gemordet,
ruhen hier die Aschen der sterblichen Überreste von 577 Personen. Entgegen den Anord-
43
Stavginski (2002): S. 137-138

18
nungen der Machthaber sicherten menschlich denkende Beamte diese Aschen, die be-
helfsmäßig in alle Winde verstreut werden sollten. Die Namen der Opfer sind bekannt, konn-
ten aber auf den Urnen damals nicht eingetragen werden. Namenlos sind sie jetzt, deren
Heimat fern dieser Stätte liegt. Der Tod vereint brüderlich Franzosen und Deutsche, Italiener
und Russen, Balten und Polen, Jugoslawen und Norweger, Dänen und Holländer, Angehöri-
ge fast aller europäischen Völker. Was irdisch an ihnen war, ist ausgelöscht, was bleibt, ist
das Gedenken und die Mahnung, sich stets bewusst zu sein, dass über aller Menschlichkeit
edles Menschentum steht. Im Tode sind alle Menschen Brüder. Mögen sie lernen, es auch
im Leben zu sein! Bremen, Sonntag, den 14. September 1947. Der Präsident des Senats,
gez. Kaisen, Bürgermeister"
44
Die Erklärung zur Grundsteinlegung enthält keine Aussage darüber, warum die Betroffenen
von der nationalsozialistischen Staatsgewalt ermordet wurden und von wann bis wann die
12-jährige Diktatur währte. Außerdem ist sie für den Besucher nicht lesbar, da sie im Grund-
stein unter Verschluss liegt.
2.2.4 Die Reden zur Grundsteinlegung
Zur Ansprache von Bürgermeister W. Kaisen
W. Kaisen hob in seiner Rede am 14. September 1947 sehr deutlich die Schicksale der ein-
zelnen Opfer hervor. ,,Wir trauern um die vielen auf den Schlachtfeldern in Europa und Asien
und um die, die in den Bombennächten der Heimat gefallen sind. Wir gedenken der ermor-
deten Bekenner aller politischen Parteien, wir gedenken der Vergasten und Vergifteten. Wir
gedenken unserer gefallenen, vermissten, vertriebenen und verschleppten Söhne, Väter,
Mütter und Kinder. Mit uns trauern die Völker der Welt um Millionen Tote."
45
Seinen Opfer-Nekrolog ließ W. Kaisen bei den Soldaten und zivilen Opfern des Krieges be-
ginnen und enden. Sie stehen im Mittelpunkt seines Gedenkens. Erstaunlich ist jedoch, wie
klar er in dieser im Jahr 1947 gehaltenen Ansprache das beschreibt, was den Opfern der
Konzentrations- und Arbeitslager angetan wurde.
44
Studienkreis: Deutscher Widerstand: (1992): S. 50
45
,,Staatsakt für Faschistenopfer. Grundsteinlegung für ein Bremer Ehrenmal" in: Weser Kurier vom 16.9.1947,
S. 2.

19
Zur Rede von Pastor Wilhelm Garlipp
W. Garlipp, Pastor der Gemeinde St. Stephani-Nord
46
, wurde vom Senat gebeten eine Ein-
weihungsrede zur Grundsteinlegung der Ehrenanlage zu halten.
47
Die Wahl des Redners fiel
weder auf den Präsidenten noch auf den Schriftführer der Bremischen Evangelischen Kir-
che.
W. Garlipps Rede war einerseits geprägt von Vorstellungen und Einstellungen eines ,,Be-
kennenden Christen"
48
, andererseits aber auch von einem politisch engagierten und motivier-
ten Menschen. W. Garlipp gliederte seine Rede in zwei Teile. Im ersten Teil stand die christ-
lich-religiöse Aufarbeitung des Holocaust im Vordergrund und im zweiten Teil die politische.
In beiden Teilen sprach W. Garlipp Täter und Opfer des Holocaust an. Als Deutungsrahmen
für das massenweise Morden wählte W. Garlipp die Geschichte von Kains Brudermord an
Abel aus dem 1. Buch Mose
49
. W. Garlipp zitierte zunächst aus dem 4. Kapitel der Genesis
den 4. Vers: ,,(...) Die Stimme fragt: Wo ist dein Bruder Abel?" und fährt dann fort: ,,Ihr aber
habt die Stimme nicht gehört. Ihr werktet trunken, lärmend und betört im Fiebertaumel um
den Turm zu Babel."
50
Das Geschehen des Brudermords übertrug Garlipp auf den Mord, den
die Mehrheit der Deutschen an ihren Mitmenschen (Brüdern) begangen hatte: ,,Und wenn wir
auch die Stimme Abels in seiner millionenfachen Gestalt nicht mehr hören können, sein Blut
schreit weiter. Und wenn wir uns auch den Schreien dieses vergossenen Blutes zu entzie-
hen verstünden, das Echo vom Himmel herab wird uns treffen: Wo ist dein Bruder Abel?"
51
Auf die Sünde des Mords folge nach W. Garlipp die Möglichkeit zur persönlichen, menschli-
chen und christlichen Sühne, die im ersten Schritt Gerechtigkeit gegenüber den Opfern er-
fordere, im zweiten Schritt auf Gnade hoffen ließe. W. Garlipp warnte davor, ,,Gnade" im Zu-
sammenhang des nationalsozialistischen Massenmords ,,vorschnell zu gebrauchen", und
empfahl stattdessen, den Begriff ,,Gerechtigkeit" zu verwenden, ,,da sich die Opfer nach den
Jahren des Grauens nach Gerechtigkeit sehnen, die nicht durch Nachrufe, Gedenksteine
und Totenehrung zurückgegeben werden" könnte.
52
Dieser gedankliche Ansatz war für das
Jahr 1947 überaus bemerkenswert, da er die Sichtweise und Probleme der Täter und der
Opfer differenziert ansprach, eine Sichtweise, die dem Gros der Bevölkerung fremd war. W.
46
Die Gemeinde St. Stephani Nord leistete als ,,Bekennende Kirche" vor allen Dingen zum Ende des Nazire-
gimes Widerstand.
47
,,Staatsakt für Faschistenopfer. Grundsteinlegung für ein Bremer Ehrenmal" in: Weser Kurier vom 16.9.1947,
S. 1.
48
Garlipp war während des ,,Dritten Reichs" ,,Bekennender Christ".
49
,,Kains Brudermord" 1. Buch Mose 4:1-16
50
LKA: Akte: C 172.2-1502: S. 1
51
LKA: Akte: C 172.2-1502: S. 1
52
LKA: Akte: C 172.2-1502: S. 2

20
Garlipp zeigte darüber hinaus eine Möglichkeit auf, wie sowohl Täter als auch Opfer zur Ge-
rechtigkeit finden könnten, und zwar, indem jeder, anstatt zu behaupten, er hätte ja gar
nichts getan, sich die Frage stellt: ,,Was habe ich denn für sie (die Opfer; A.d.V.) getan?".
53
Nach den christlich-ethischen Überlegungen zur Sühne widmete W. Garlipp den zweiten Teil
seiner Rede der politischen Dimension des Massenmordens. ,,Die Sache der Opfer des Fa-
schismus ist nicht mit ein bisschen Religion abzumachen".
54
Es sei notwendig, auf Selbst-
rechtfertigung zu verzichten und die Verbrechen an den Opfern anzuerkennen, damit ihnen
endlich Gerechtigkeit widerfahre. W. Garlipp wollte jedoch seinen Zuhörern kein ,,politisches
Rezept" vorstellen, da er nicht als Vertreter einer politischen Partei spräche, sondern für ein
Programm, das über ,,allen Programmen Gültigkeit" habe. Er forderte deshalb zur Beschäfti-
gung mit der ,,eigenen Verantwortlichkeit" auf sowohl in Bezug auf die ,,Schuld der Vergan-
genheit" als auch auf die Fragen der ,,Zukunftsaufgaben."
55
Die Zukunft der Deutschen und
ihre Zukunftsaufgaben sollten sich daran orientieren, dass ,,eins (...) nie wieder, nie wieder
geschehen" dürfe, ,,dass der Mensch verachtet" werde.
56
Damit dies nicht passiere, müsse
man in sich gehen und sich ,,an die eigene Nase" fassen.
2.2.5 Die Einweihung des Ehrenmals ,,Brüderlichkeit im Tod" (1951)
Auf der von dem Bildhauer Paul Halbhuber dargestellten Tafel sind unterschiedliche Opfer in
Totenhemden reliefartig dargestellt. Von den sechs Figuren reichen sich die beiden mittleren
die Hand und blicken sich ins Angesicht, die anderen gucken sich nicht an und verbergen
ihre Hände. Anlässlich der Enthüllung des Ehrenmals für die Kriegsopfer auf dem Osterhol-
zer Friedhof hielt Bürgermeister W. Kaisen eine ,,Weiherede" für die Opfer.
57
Die Weiherede für das Ehrenmal kreiste um die Bedeutungen, die dem Relief ,,Brüderlichkeit
im Tod" zukommen und zukommen werden. Ein Ziel des Ehrenmals sei es, die Opfer nicht in
Vergessenheit geraten zu lassen, ein weiteres die unterschiedlichen Opfer des Zweiten
Weltkrieges zu vereinen.
58
Neben der Bedeutung des Ehrenmals wies W. Kaisen mehrmals
auf die hohe Zahl der auf unterschiedlichen Gräberfeldern des Osterholzer Friedhofs begra-
53
LKA: Akte: C 172.2-1502: S. 2
54
LKA: Akte: C 172.2-1502: S. 3
55
LKA: Akte: C 172.2-1502: S. 3-4
56
LKA: Akte: C 172.2-1502: S. 2
57
Die Landesrundfunkanstalt ,,radio bremen" schnitt die Rede live mit (Schallarchiv ,,radio bremen": Archiv-
nummer RUO1951). Ich werde im Folgenden nach einer von mir angefertigten Transkription zitieren. Vgl.:
Anlage 1 im Anhang.
58
Vgl.: Transkript der Einweihungsrede (1951) von W. Kaisen: S.1-4

21
benen Opfer des 2. Weltkrieges hin.
59
Im mittleren Abschnitt seiner Rede interpretierte W.
Kaisen die sechs von dem Bildhauer P. Halbhuber entworfenen reliefartigen Gestalten.
,,Ganz rechts erkennen wir die kämpferische Geste des Soldaten, daneben das Schmer-
zens-Antlitz des zu Tode Getroffenen, von links her die herbe Duldung des seiner Freiheit
und Gesundheit Beraubten, ihm zur Seite das empörende zu Schmerz gepeinigte Aufbäu-
men des Gefolterten, daneben die duldende Frau und Mutter, wie sie mit den Kindern leiden
musste, gepeinigt von der Ungewissheit in ihrem Heim oder vergraben unter den unter
Bomben einstürzenden Kellern und Ruinen, leidend in der Heimat, an der Front oder in Ge-
fangenschaft. Ja, leider heute noch in Gefangenschaft."
60
Am Ende dieser Ausführungen
bedankte sich W. Kaisen ,,im Namen der Angehörigen der hier ruhenden Toten" für die
künstlerische ,,Ausführung des Ehrenmal(s)"
61
und beschloss seine Rede mit einem Ausblick
in die Zukunft, indem er betonte, dass die einzige Hoffnung für die Menschen Deutschlands
und der Welt in der ,,Vereinigung der Nationen" zu ,,einer demokratischen Gemeinschaft"
läge.
62
Eine Distanz zu den unmittelbar Betroffenen durchzog W. Kaisens Rede. Schon zur Begrü-
ßung nahm er keine Differenzierung zwischen Opfern und Tätern vor. Für ihn gab es in ers-
ter Linie ,,Opfer". ,,Die Toten rings um uns, sie können nicht reden, stumm liegen sie da,
friedlich nebeneinander, Freund und Feind, Deutsche und Ausländer, alle im Tode vereint."
63
So heißt auch das Ehrenmal ,,Brüderlichkeit im Tod". Solche Harmonisierungsversuche sind
heutzutage äußerst fragwürdig, aber für die damalige Zeit nichts Ungewöhnliches. ,,In der
Bundesrepublik wird (zwischen 1950-1960; A.d.V.) der 'Opfer' verschiedener '- ismen' ge-
dacht, und zwar möglichst ausgewogen: Den Opfern des Stalinismus ­ Den Opfern des Na-
tionalsozialismus." Damit ,,wird ein Gedenken praktiziert, das die Tatsache des Todes, nicht
die des Getötetwerdens, ins Zentrum des Bewusstseins stellt und für das deshalb das 'im
Tode sind wir alle gleich' gilt."
64
Diese vereinfachende und subsumierende Form des Geden-
kens nahm nach der Gründung des ,,Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V." im
Jahr 1952 zu. Mit Inschriften wie ,,Hier ruhen ..." ,,Den Opfern ..." versuchte man, die unter-
schiedlichen Opfer des NS-Regimes zusammenzufassen. Mit solchen Inschriften wurde ein
konkretes Erinnern verwischt. An die Stelle der Täter trat ein anonymes Schicksal (der
59
Vgl.: Transkript der Einweihungsrede (1951) von W. Kaisen: S.1-4
60
Transkript der Einweihungsrede (1951) von W. Kaisen: S. 2
61
Transkript der Einweihungsrede (1951) von W. Kaisen: S. 3
62
Transkript der Einweihungsrede (1951) von W. Kaisen: S. 4
63
Transkript der Einweihungsrede (1951) von W. Kaisen: S. 3
64
Haß (1990): S. 138.

22
Krieg), dem die unterschiedlich Betroffenen zum Opfer gefallen waren.
65
Der Friedhof als Ort
des Totengedenkens verweist auf die Tatsache des Todes, jedoch nicht darauf, wie die dort
bestatteten Menschen zu Tode gekommen sind. Erst die Inschrift auf den Mahnmalen könn-
te davon zeugen, dass Menschen durch ein Unrechtsregime umgebracht worden sind. Die
harmonisierenden Inschriften der Jahre bis 1960 leisteten dies nicht.
66
Ziel der in der ersten
Holocaust-Denkmalsperiode verfassten Inschriften war es, den Tod ,,auf das existentielle
Allgemeine" zu reduzieren.
67
Dazu passen die von W. Kaisen in seiner Rede gebrauchten
Formulierungen: ,,Unter den Deutschen ruhen im weiten Rund unter den schlichten Holz-
kreuzen gebettet 600 deutsche Soldaten, zu ihnen gelegen ist das Massengrab von 800 Un-
bekannten. Sehr viele darunter sind Ausländer, die hier in Bremen als Märtyrer in Arbeitslä-
gern und Konzentrationslägern umgekommen sind und jetzt hier gemeinsam bestattet wur-
den."
68
2.2.6 Die Einweihung der Steintafeln (1951)
Auf dem langgestreckten Grabhügel für die KZ-Opfer sind zehn Steintafeln der Reihe nach
angeordnet. Neben der ersten Tafel befinden sich neun weitere Steintafeln, auf denen in
alphabetischer Reihenfolge die Namen derjenigen Opfer eingeschrieben sind, die man aus
den Totenlisten des Osterholzer Friedhofs ermitteln konnte. Insgesamt sind ungefähr ein
Viertel der Opfer, die unter diesem und einem weiteren Grabhügel begraben sind, bekannt.
Auf der ersten von P. Halbhuber gestalteten Tafel befindet sich neben einer in Umrisslinien
dargestellten trauernden Frau eine Inschrift in deutscher, französischer, russischer und latei-
nischer Sprache:
,,UNTER DIESEM HÜGEL RUHEN DIE STERBLICHEN ÜBERRESTE VON 1367 TOTEN. ALS
ANGEHÖRIGE VIELER NATIONEN FANDEN SIE IN KONZENTRATIONS- UND ARBEITSLAGERN IN
DER UMGEBUNG BREMENS WÄHREND DES KRIEGES 1939-1945 DEN TOD. DIE NAMEN VON
794 TOTEN SIND UNBEKANNT."
69
Inschriften in lateinischer Sprache waren für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich. Das La-
teinische diente damals wie Englisch heute als übernationale Sprache.
70
Stellvertretend für
die romanischen Sprachen wählte man Französisch und Russisch stellvertretend für die
slawischen Sprachen. Auffällig ist, dass keine jüdische Sprache (Jiddisch oder Hebräisch)
65
Vgl.: Haß (1990): S. 138.
66
Vgl.: Haß (1990): S. 138.
67
Haß (1990): S. 139
68
Transkript der Einweihungsrede (1951) von W. Kaisen: S. 3
69
Vgl.: Studienkreis: Deutscher Widerstand: (1992): S. 50. ,,Nach neueren Erkenntnissen wurden über 6 000
Tote in dem Massengrab beigesetzt." (Puvogel: (1995) S. 221)
70
Vgl.: Haß (1990): S. 138.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783836602600
Dateigröße
1.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bremen – Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften, Studiengang Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
bremen judenvernichtung gedenkstätte vergangenheitsbewältigung kollektives gedächtnis geschichte nationalsozialismus stolperstein erinnerungskultur holocaust denkmal kulturelles
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Titel: Die Holocaust-Denkmäler in Bremen
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