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Familienpolitische Regulierungen im internationalen Vergleich

©2006 Diplomarbeit 122 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Wohlfahrtsstaaten Europas haben seit Mitte der 1970iger Jahre mit zwei gegenläufigen Trends zu kämpfen. In den letzten 30 Jahren sind in fast allen Ländern die Kinderraten erheblich zurückgegangen, mit den entsprechenden Folgen für die zukünftige Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme, während die Frauenerwerbstätigenquoten überall erheblich gestiegen sind.
In der Diskussion über sinkende Geburtenzahlen und steigende Erwerbstätigenquoten von Frauen rücken zunehmend die sozialstaatliche Steuerung und Organisation von Familien- und Erwerbsarbeit in den Fokus des politischen und wissenschaftlichen Interesses. Dabei verdeckt die traditionelle Annahme des Prinzips „Kinder oder Karriere“, welches eine Unvereinbarkeit zwischen Erwerbs- und Familienarbeit signalisiert, häufig einen komplexen, wohlfahrtsstaatsspezifischen Wirkungsmechanismus. Die Entscheidung von Paaren für oder gegen ein Kind wird immer innerhalb eines spezifischen familienpolitischen Dreiecks getroffen. Dieses setzt sich aus den wohlfahrtsstaatlichen familienpolitischen Maßnahmen, der weiblichen Erwerbsneigung/-tätigenquote und der Realisierung des Kinderwunsches zusammen.
Gang der Untersuchung:
Diese Diplomarbeit untersucht, auch unter Rückgriff auf arbeitsmarktbezogene Variablen, den Einfluss verschiedener familienspezifischer Regulierungsmechanismen auf die Höhe der Kinderrate. Hierzu wird davon ausgegangen, dass die Kinderrate die abhängige Variable darstellt, die von einer Reihe Erklärungsfaktoren, auch unabhängige Variablen genannt, determiniert wird. Dies sind im Einzelnen: die staatlichen Sozialschutzausgaben, der Mutterschaftsurlaub, der Erziehungsurlaub, die Kinderbetreuungsquote, die Arbeitsmarktintegration von Frauen und das Steuersystem. Gerade die Auswirkungen der unterschiedlichen Steuersysteme (Individual-, Familienbesteuerung („Ehegattensplitting“)) auf die Kinderrate wurden bisher gar nicht untersucht. Diese Lücke soll durch die folgende Arbeit gefüllt werden.
Basis der umfangreichen empirischen Untersuchung sind 16 europäische Länder: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien. Diese werden mit Hilfe der von Lasse Cronqvist entwickelten MVQCA-Methode (Multi-Value Qualitative Comparative Analysis), die eine modifizierte Version des QCA-Ansatzes darstellt, analysiert. Als theoretisches Gerüst dienen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Thomas Groß
Familienpolitische Regulierungen im internationalen Vergleich
ISBN: 978-3-8366-0240-2
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland, Diplomarbeit, 2006
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

1
Inhalt
Vorwort... 3
Zusammenfassung ... 5
Abbildungsverzeichnis ... 7
Tabellenverzeichnis ... 9
Abkürzungsverzeichnis ... 11
Einleitung: Why fertility matters? ... 13
1. Theoretische Ansätze zur Erklärung internationaler Unterschiede bei der
Familienpolitik und der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt... 23
1.1. Der Regimeansatz von Gösta Esping-Andersen... 24
1.2. Familienpolitik als Geschlechterpolitik: Gender-Ansätze in der
vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung... 28
1.2.1. Die grundlegenden genderspezifischen Kritikpunkte an den
drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus ... 28
1.2.2. Die Erklärungskraft des Ernährermodells ­ ,,A husband away from
poverty"!? ... 33
2. Wirkungsanalysen von Familienpolitik ­ Der aktuelle Forschungsstand ... 37
3. Der methodische Aufbau der empirischen Untersuchung... 43
3.1. Der Vergleich in der Politikwissenschaft... 43
3.2. Die angewandte Methode: MVQCA... 46
3.2.1. Die methodische Basis von MVQCA: Ragins QCA-Ansatz (1987)... 46
3.2.2. MVQCA und Tosmana als Erweiterungen des klassischen
QCA-Ansatzes ... 47
3.2.3. Eine Einführung in die Terminologie und Funktionsweise
von MVQCA... 48
3.2.4. MVQCA/ Tosmana in der Anwendung... 52
3.3. Die Variablenauswahl ... 52

2
3.4. Die Fallauswahl... 57
3.5. Die Daten- und Literaturlage... 58
4. Familienpolitische Regulierungsmuster im Vergleich ... 61
4.1. Die Kinderrate ... 61
4.2. Die nationalen Steuersysteme ... 64
4.3. Die Höhe der Sozialausgaben für den Bereich Familien und Kinder ... 67
4.4. Die Höhe und Dauer des Mutterschutzes ... 71
4.5. Die Höhe und Dauer des Erziehungsurlaubes... 75
4.6. Die Kinderbetreuungsquoten... 79
4.7. Die Arbeitsmarktintegration von Frauen... 83
5. Die Datenanalyse mit Tosmana ­ Zu den Bestimmungsfaktoren der Kinderrate ... 87
5.1. Die Ergebnisse der MVQCA... 87
5.2. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum aktuellen Forschungsstand... 96
6. Das Ernährermodell als effektive familienpolitische Strategie!? ... 99
Anhangstabellen ... 105
Tosmana-Ausdruck... 117
Literatur- und Quellenverzeichnis ... 119

3
Vorwort
Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als Studentische Hilfskraft
am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung im Rahmen der Arbeiten zum
Forschungsprojekt ,,Geschlechtergerechtigkeit und neue gesellschaftliche Kooperations-
formen". Die nachfolgenden Ausführungen stellen eine leicht geänderte Version meiner
Diplomarbeit dar, die ich im Oktober 2006 am Otto-Suhr-Institut für Politikwissen-
schaft der Freien Universität Berlin eingereicht habe. Ich danke meinen beiden Betreue-
rinnen, Frau Prof. Dr. Barbara Riedmüller sowie Frau Dr. Sibylle Hardmeier, für die
hilfreichen und zielführenden Kommentare, die den Arbeitsprozess beschleunigten und
letztendlich zu einem sehr guten Ergebnis geführt haben.
Kiel, im Mai 2007

5
Zusammenfassung
In der Diskussion über sinkende Geburtenzahlen und steigende Erwerbstätigenquoten
von Frauen rücken zunehmend die sozialstaatliche Steuerung und Organisation von
Familien- und Erwerbsarbeit in den Fokus des politischen und wissenschaftlichen Inte-
resses. Dabei verdeckt die traditionelle Annahme des Prinzips ,,Kinder oder Karriere",
welches eine Unvereinbarkeit zwischen Erwerbs- und Familienarbeit signalisiert, häufig
einen komplexen wohlfahrtsspezifischen Wirkungsmechanismus.
Diese Arbeit untersucht, auch unter Rückgriff auf arbeitsmarktbezogene Wohl-
fahrtsstaatsstrukturen, den Einfluss verschiedener familienspezifischer Regulierungsme-
chanismen auf die Höhe der Kinderrate. Basis der empirischen Untersuchung sind 16
europäische Länder, die mit Hilfe der von Lasse Cronqvist weiterentwickelten QCA-
Methodik und anhand der theoretischen Grundannahmen des Ernährermodells analysiert
werden. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 2000 bis 2004 und greift dabei
hauptsächlich auf Datenmaterial der OECD und von Eurostat zurück.
Die Ergebnisse zeigen eindeutige ernährertypische Kausalitäten. Innerhalb der
analysierten Ländercluster existieren spezifische Wirkungszusammenhänge zwischen
der abhängigen Variable Kinderrate und den unabhängigen Variablen Sozialschutzaus-
gaben, Mutterschaftsurlaub, Erziehungsurlaub, Kinderbetreuungsquote, weibliche Ar-
beitsmarktintegration und Steuersystem. Basierend auf den Analysen können zwei
zentrale Aussagen getroffen werden: Erstens ist eine hohe Kinderrate nur über eine hohe
Kinderbetreuungsquote oder eine qualitativ hohe Integration der Frauen/ Mütter in den
Arbeitsmarkt zu erreichen, verbunden mit der gleichzeitigen Flankierung dieser Integra-
tion mit entsprechenden, die Vereinbarkeitsproblematik reduzierenden policies. Zwei-
tens ist eine niedrige Kinderrate immer feststellbar, wenn sich starke Ernährerstrukturen
in den jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Regulierungsstrukturen widerspiegeln, wie
fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen, lange Erziehungsurlaube mit geringem Leis-
tungsniveau oder die gemeinsame Veranlagung beider Ehepartner im Einkommensteu-
errecht.

7
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Die Kinderraten in 16 europäischen Ländern (1970/75 und 2000/05)... 13
Abbildung 2: Die Entwicklung der Frauenerwerbsquoten zwischen 1970/75 und
2000/05 ... 15
Abbildung 3: Zentrale Bestimmungsfaktoren der abhängigen Variable Kinderrate... 16
Abbildung 4: Hypothetische Wahrheitstafel ... 50
Abbildung 5: Die Kategorisierung der unabhängigen Variablen ... 55
Abbildung 6: Die durchschnittlichen nationalen Kinderraten im Zeitraum 2000-2005. 63
Abbildung 7: Wahrheitstafel: Kinderraten ... 63
Abbildung 8: Wahrheitstafel: Die nationalen Steuersysteme... 67
Abbildung 9: Höhe der Sozialausgaben für den Bereich Kinder/Familie
(in % des BIP) ... 69
Abbildung 10: Wahrheitstafel: Sozialausgaben für den Bereich Kinder/Familie ... 70
Abbildung 11: Die Höhe des tatsächlichen und des effektiven
Mutterschaftsurlaubes (in Wochen, 2006)... 72
Abbildung 12: Wahrheitstafel: Effektiver Mutterschaftsurlaub... 74
Abbildung 13: Die Höhe des tatsächlichen und des effektiven Erziehungsurlaubes
(in Monaten) ... 76
Abbildung 14: Wahrheitstafel: Effektiver Erziehungsurlaub... 77
Abbildung 15: Die nationalen Kinderbetreuungsquoten für die Altersgruppe
von 0-3 Jahren ... 81
Abbildung 16: Wahrheitstafel: Kinderbetreuungsquoten... 83
Abbildung 17: Die Arbeitsmarktintegration von Frauen (Zeitraum 2000-2004) ... 85
Abbildung 18: Wahrheitstafel: Arbeitsmarktintegration von Frauen... 86
Abbildung 19: Wahrheitstafel: Ausprägungsgrad aller Variablen ... 88
Abbildung 20: Hinreichende und notwendige Bedingungen für eine hohe Kinderrate . 90
Abbildung 21: Hinreichende und notwendige Bedingungen für eine
niedrige Kinderrate ... 92

9
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Internationale Studien zum Wirkungspotenzial familienpolitischer
Maßnahmen auf die Kinderrate (Auswahl) ... 105
Tabelle 2: Die Höhe der nationalen Kinderraten für die Zeiträume
1970-75 und 2000-05 ... 106
Tabelle 3: Die nationalen Steuersysteme... 107
Tabelle 4: Die Höhe der Sozialausgaben für den Bereich Familie und Kinder
(in % des Bruttoinlandsprodukts) ... 109
Tabelle 5: Der effektive Mutterschaftsurlaub: Dauer und Höhe der
Lohnfortzahlung ... 109
Tabelle 6: Der effektive Erziehungsurlaub: Dauer und Höhe der Lohnfortzahlung ... 112
Tabelle 7: Die Höhe der nationalen Kinderbetreuungsquoten ... 115
Tabelle 8: Das Ausmaß der weiblichen Arbeitsmarktintegration:
Frauenerwerbstätigenquote und Frauenteilzeitquote,
Zeitraum 2000-2004 ... 116

11
Abkürzungsverzeichnis
ARBINT Arbeitsmarktintegration
BEL
Belgien
DEU
Deutschland
DK
Dänemark
EGS
Ehegattensplitting
EL
Effektive
Lohnersatzleistung
ERZURL Erziehungsurlaub
Eurostat
Statistisches Amt der Europäischen Union in Luxemburg
FB
Familienbesteuerung
FIN
Finnland
fr
flat
rate
FRA
Frankreich
GB
Großbritannien
GRE
Griechenland
IB
Individualbesteuerung
ISL
Island
IRL
Irland
ITA
Italien
ka
keine
Angabe
KIRA
Kinderrate
MUSCH Mutterschutz
(Mutterschaftsurlaub)
MVQCA
Multi-Value Qualitative Comparative Analysis
NL
Niederlande
NOR
Norwegen
OECD
Organization for Economic Co-ordination and Development
ÖST
Österreich
POR
Portugal
QCA
Qualitative
Comparative
Analysis
SOZAUS Sozialschutzausgaben
für
den Bereich Kinder/Familie
SPA
Spanien
STEUER Steuersystem
SWE
Schweden

13
Einleitung: Why fertility matters?
,,Kinder haben die Leute immer."
(Konrad Adenauer, 1957)
Dieser Automatismus, den der erste deutsche Bundeskanzler vor fast 50 Jahren noch
konstatierte, um die Einführung der dynamischen Rentenversicherung zu begründen, ist
überholt. Es ist heutzutage keineswegs mehr selbstverständlich, dass Kinder zu Welt
kommen. Obwohl die Ursachen hierfür vielfältiger Natur sind, ist der negative Trend
eindeutig.
In den letzten 30 Jahren sind in fast allen OECD-Staaten die Kinderraten
1
erheb-
lich zurückgegangen (vgl. Abbildung 1). Alle Länder ­ außer Finnland ­ weisen im
Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2005 eine niedrigere Kinderrate auf als noch im Ver-
gleichszeitraum 1970 bis 1975. In einigen Ländern haben sie aktuell ein Niveau er-
reicht, dass weit unterhalb der Reproduktionsrate der Bevölkerung liegt.
2
Abbildung 1: Die Kinderraten in 16 europäischen Ländern (1970/75 und 2000/05)
0
0,5
1
1,5
2
2,5
3
3,5
4
4,5
ISL
NOR
DK
FIN
SW
E
FRA
BE
L
IR
L
NL
GB
PO
R
ÖST
DEU
IT
A
SP
A
GRE
Länder
Proze
ntpunkte
Quelle: United Nations (2005a: 67-71). Der blaue Balken umfasst die Jahre 1970-75 (Mittelwert), der
violette Balken die Jahre 2000-05 (Mittelwert).
1 Die Kinderrate entspricht der Fertilitätsrate, die die Anzahl der Kinder pro Frau wiedergibt, wohin-
gegen die Geburtenrate die Anzahl der Kinder in Beziehung zur Gesamtbevölkerung setzt. Weitere
Ausführungen zum Begriff im Kapitel 3.3.
2 Die Rate liegt bei ca. 2,1 Kindern pro Frau (vgl. Castles 2003: 210).

14
Trotz des gemeinsamen negativen Trends verlief die Entwicklung in allen Ländern
keineswegs einheitlich. Der Zeitpunkt und das Ausmaß des Rückgangs der Kinderraten
waren regional unterschiedlich ausgeprägt.
3
Alle kontinentaleuropäischen Länder wur-
den schon in den späten 1960er Jahren mit zurückgehenden Kinderzahlen konfrontiert,
während die südeuropäischen Staaten erst später, dafür aber umso stärker von dieser
Entwicklung betroffen waren (Neyer 2003: 5). Die Wohlfahrtsstaaten Italien, Spanien
sowie Griechenland haben momentan (Zeitraum 2000-2005) neben den deutschsprachi-
gen Ländern Deutschland und Österreich die niedrigsten Kinderraten in ganz Europa.
Laut Pinl (2003: 8) trifft dies sogar auch für die weltweite Perspektive zu. Etwas besser
stehen die Länder Norwegen, die Niederlande, Belgien und Dänemark da. Von den 16
zu untersuchenden Ländern erreichen aber nur Island, Irland und Frankreich Raten, die
nahe der Reproduktionsrate liegen und somit eine weitgehend konstante Bevölkerungs-
zahl garantieren.
Während die Kinderraten zurückgingen, stiegen im gleichen Zeitraum die Frauener-
werbstätigenquoten in allen 16 zu analysierenden Wohlfahrtsstaaten (siehe Abbildung
2). Die Gründe für diese Entwicklung liegen einerseits in der Verbesserung des schuli-
schen und beruflichen Qualifikationsniveaus junger Frauen (Becker 1993, Pinl 2003).
Andererseits ist die zunehmende Erwerbsneigung von Frauen der Ausdruck ökonomi-
scher Notwendigkeiten. Die zunehmende Erosion des (männlichen) Normalarbeitsver-
hältnisses zwang eine Vielzahl von vormals im privaten Bereich ,,beschäftigten" Frau-
en, sich neben der Kindererziehung eine Tätigkeit außerhalb dieser Sphäre zu suchen
(vgl. Kreimer 2000: 2). Hinzu kommt die steigende Anzahl allein erziehender Mütter,
die ohne Zweiteinkommen sind.
Abbildung 2 verdeutlicht das unterschiedliche Ausmaß dieses Prozesses für die
einzelnen Länder. Die höchsten Frauenerwerbsquoten erreichen die nordischen Wohl-
fahrtsstaaten Island, Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark. Geringere Er-
werbsquoten erreichen die Niederlande, Großbritannien, Portugal, Deutschland sowie
Österreich. Das europäische Schlusslicht bilden die südosteuropäischen Länder Italien,
Spanien und Griechenland.
3 Die Veränderungsraten ­ gemessen als prozentuale Veränderung der Kinderraten ­ reichen von ­
-11% (Dänemark) bis zu -55% (Spanien).

15
Abbildung 2: Die Entwicklung der Frauenerwerbsquoten zwischen 1970/75 und
2000/05
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
ISL
NOR
DK
FIN
SW
E
FRA
BE
L
IR
L
NL
GB
PO
R
ÖST
DEU
IT
A
SP
A
GRE
Länder
Proze
ntpunkte
Quelle: Der blaue Balken umfasst die Jahre 1970-75 (Mittelwert) (OECD 2006). Der violette Balken
bezieht sich auf den Zeitraum 2000-05 (Mittelwert) (OECD 2005a: 240). Für Island sind keine Angaben
für den Zeitraum 1970/75 vorhanden.
Die Betrachtung beider seit 35 Jahren voranschreitenden Entwicklungstrends verleitet
zu der Annahme, dass der Rückgang der Kinderraten das Resultat einer gestiegenen
Frauenerwerbstätigkeit ist (vgl. Neyer 2006: 3). Es scheint, dass sich Frauen entweder
für eine Karriere oder für ein Kind entscheiden müssen und dass diese Entscheidung
zunehmend zugunsten der Karriere getroffen wird.
Diese Sichtweise ist jedoch stark eingeschränkt, weil die Entscheidung von Paa-
ren für oder gegen ein Kind immer innerhalb eines spezifischen familienpolitischen
Dreiecks getroffen wird. Dabei bilden die wohlfahrtsstaatlichen familienpolitischen
Maßnahmen, die weibliche Erwerbsneigung/-tätigenquote und die Realisierung des
Kinderwunsches jeweils die Eckpunkte dieses Dreiecks.
Die nationalen Kinderraten werden nicht nur durch die Erwerbstätigkeit von
Frauen determiniert, ein zentrales Gewicht fällt hierbei der Familienpolitik zu. Deren
Einfluss auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Rahmen einer zunehmenden
weiblichen Erwerbsneigung ist mit entscheidend für die Höhe der Kinderrate.

16
Die vorliegende Diplomarbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die Wirkungsbeziehungen
zwischen der Kinderrate einerseits, der Familienpolitik und der Arbeitsmarktintegration
von Frauen andererseits genauer zu untersuchen (vgl. Neyer 2006). Abbildung 3 ver-
deutlicht die angenommenen Beziehungswirkungen, die zwischen diesen drei Eckpunk-
ten existieren.
Abbildung 3: Zentrale Bestimmungsfaktoren der abhängigen Variable Kinderrate
4
Arbeitsmarktintegration
Familienpolitik
von Frauen
Kinderrate
Eigene Darstellung
Aus dem dargestellten Rückgang der Kinderraten erwachsen dem Wohlfahrtsstaat
5
zentrale strukturelle Probleme, weil sich dadurch der Altersaufbau der Bevölke-
rung(spyramide) verändert (vgl. Neyer 2003: 7). Ohne ausreichende Kinderzahl fehlen
den Sozialsystemen später Beitrags- und Steuerzahler. Somit wird dem Wohlfahrtsstaat
langfristig die finanzielle Grundlage entzogen (Eichhorst/Thode 2002: 13).
Der realisierte oder nicht realisierte Kinderwunsch hat entscheidenden Einfluss
auf demografische Entwicklungstrends und damit gesellschaftspolitische Relevanz (vgl.
Hardmeier/von Wahl 2006). Castles (2003: 210) argumentiert, dass der Rückgang der
Bevölkerungszahl infolge einer zu geringen Geburtenzahl ein viel größeres Problem für
den Wohlfahrtsstaat darstellt als die zunehmende Lebensdauer der Bevölkerung.
Unstrittig ist, dass der ,,demographischen Herausforderung" (Kaufmann 1997:
69) mit familienpolitischen Maßnahmen begegnet werden kann (vgl. Engelbrech 2002:
139; Gupta et al. 2006: 25). Allerdings kann dabei der Familienpolitik keine unmittelba-
re geburtenfördernde Wirkung zugeschrieben werden. Andere Einflussfaktoren wie die
4 Brewster und Rindfuss (2000) beziehen bei ihren Analysen noch die Variable ,,Einstellungen und
Werte" mit ein (siehe auch Hardmeier/von Wahl 2006). Darauf wird hier verzichtet, weil entspre-
chende Surveydaten eine eigene Arbeit rechtfertigen würden.
5 In dieser Arbeit wird der Begriff ,,Wohlfahrtsstaat" definiert als eine Institution, die über politische
Regulierungen in das Marktgeschehen eingreift, um soziale Ungleichheit zu mindern (vgl. Orloff
1996: 2).

17
Veränderungen von gesellschaftlichen Wertmustern oder Normvorstellungen sind
gleichfalls relevant. Die Familienpolitik schafft aber die zentralen Rahmenbedingungen
und übt somit eine wichtige Lenkungsfunktion aus (Thenner 2000: 98; Hantrais 2004:
190).
Schwierigkeiten erwachsen der komparativen Forschungsgilde bei der genauen
Wirkungsanalyse dieser Maßnahmen. Die Familienpolitik kann in einer Reihe von
unterschiedlichen Politikbereichen (Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Bildungs- oder Steu-
erpolitik) verortet werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass einige staatlich intendierte
Maßnahmen direkten familienpolitischen Bezug haben (Kinderbetreuungsausgaben,
finanzielle Transfers ...), während andere nur indirekten Einfluss ausüben, wie bei-
spielsweise Bildungsausgaben (vgl. Neyer 2003: 7).
Eine komplette Analyse der Lenkungswirkung direkter und indirekter familien-
politischer Faktoren würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Aus diesem Grund wird
eine Auswahl an zentralen wohlfahrtsstaatlichen Politikvariablen analysiert, die in
engem Zusammenhang mit der Kinderrate stehen. Hierzu gehören das Steuersystem, die
Höhe der Sozialausgaben für den Bereich Kinder/Familie, die Regelungen zum Mutter-
schutz und Erziehungsurlaub, die Kinderbetreuungsquote sowie die Frauenerwerbstäti-
genquote. Somit werden Faktoren, die nicht ursächlich staatlichen Regulierungscharak-
ter haben, wie zum Beispiel soziale Problemlagen (Drogenkonsum, Kohabitationen ...),
in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.
Auffällig für den Output der aktuellen Familienpolitik ist das länderübergreifende Mus-
ter, das sich beim Vergleich der aktuellen Kinderraten und der Frauenerwerbstätigen-
quoten für den Zeitraum 2000-2005 abzeichnet. Länder, die starke Ernährerstrukturen
6
aufweisen, wie Deutschland, Spanien, Griechenland, Italien und Österreich, haben
europaweit die niedrigsten Kinderraten und Frauenerwerbsquoten. Dem stehen diejeni-
gen Staaten gegenüber, die schwache (Frankreich, Belgien) oder keine ernährertypi-
schen Strukturen aufweisen (Norwegen, Dänemark, Schweden, Island und Finnland).
Diese Wohlfahrtsstaaten haben innerhalb des beschriebenen familienpolitischen Drei-
ecks anscheinend eine effektivere Austarierung der drei Eckpunkte gefunden.
6 Das Ernährermodell wird in der sozialwissenschaftlichen Wohlfahrtsstaatsforschung zur Typologi-
sierung wohlfahrtsstaatlicher Systeme verwendet. Eine ausführliche Darstellung und Einordnung in
den Zusammenhang dieser Arbeit erfolgt im 2. Kapitel. Die englische Bezeichnung für ,,Ernähermo-
dell" lautet ,,male breadwinner model" (nach Lewis/Ostner 1994: 7) oder ,,male-breadwinner-
female-homemaker-model" (Kreimer 2000: 1).

18
Ziel dieser vergleichend angelegten Diplomarbeit ist es, anhand einer Fallzahl
von 16 Ländern den Einfluss verschiedener wohlfahrtsstaatlicher Familienpolitiken auf
die Kinderrate zu analysieren. Im Anschluss an die Darstellung der unterschiedlichen
nationalen Familienpolitiken soll versucht werden, die wesentlichen Bestimmungsfakto-
ren für eine effektive Familienpolitik herauszuarbeiten. Die Effektivität wird anhand der
Höhe der Kinderrate gemessen. Sie hängt entscheidend davon ab, wie innerhalb der
jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Systeme die familienpolitischen Rahmenbedingungen
oder Regulierungsmuster ausgestaltet sind.
Die Relevanz institutioneller Faktoren sowie deren Einfluss auf die Entwicklung des
Ernährermodells in den einzelnen Wohlfahrtsstaaten sind nicht Gegenstand dieser Aus-
arbeitung. Meines Erachtens muss vor der Frage nach ,,Do institutions matter?" die
Frage nach ,,Do policies matter?" stehen. Denn bevor die Gründe für ein Gelingen oder
Scheitern von Anpassungsprozessen der nationalen Systeme an veränderte ökonomische
und soziale Rahmenbedingungen eruiert und bewertet werden können, müssen zuerst
die Ziele klar sein. Deshalb steht am Anfang des Anpassungsprozesses die Frage nach
der optimalen/effektiven Familienpolitik. Aus diesem Grunde geht es im Folgenden
nicht darum, die Entwicklungsgeschichte einzelner familienpolitischer Maßnahmen zu
untersuchen (Längsschnittanalyse), sondern die aktuelle länderspezifische Ausprägung
und Wirkungsweise von unterschiedlichen Familienpolitiken zu hinterfragen (Quer-
schnittanalyse).
Der Ausgangspunkt für mögliche Reformvorhaben ist, wie festgestellt worden ist, die
Suche nach der effektivsten Familienpolitik. Es stellen sich in diesem Zusammenhang
immer drei Fragen: 1. Warum hat sich die Familienpolitik innerhalb eines Wohlfahrts-
staats in eine bestimmte Richtung entwickelt? 2. Welches wäre die bessere, im Sinne
einer hohen Kinderrate effektivere Familienpolitik? Und 3. Wie können bestehende
Regulierungsmuster reformiert werden und was sind die Gründe für ein eventuelles
Scheitern? (Zirkelschluss zu Frage 1). Diese Ausarbeitung dient der Beantwortung der
zweiten, für mögliche Reformvorhaben zentralen Frage.
Die Datenauswertung erfolgt im Rahmen einer Sekundäranalyse und mit Hilfe des von
Lasse Cronqvist im Jahre 2003 entwickelten MVQCA-Ansatzes (Multi-Value Qualitati-
ve Comparative Analysis).

19
In der deutschen vergleichend arbeitenden Politikwissenschaft hat dieser Ansatz,
der auf Überlegungen von Charles Ragin (1987) basiert, bisher nur wenige Anwender
gefunden. Von besonderem Interesse ist somit der methodische Gewinn dieser Methode
für die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung. Zusätzlich wird bei der Darstellung
und Auswertung der Daten entsprechende Sekundärliteratur zu Rate gezogen.
Die für die Beschreibung und Auswertung der unterschiedlichen Familienpolitiken
zentrale Arbeitshypothese lautet wie folgt: Die Familienpolitik ist ­ gemessen an der
Höhe der Kinderrate ­ in der Tendenz erfolgreicher, je schwächer der Einfluss des
Ernährermodells innerhalb des jeweiligen Wohlfahrtsstaatssystems ist ­ gemessen
anhand von familienpolitischen Regulierungsmustern (Geld-, Zeit- und Dienstleistun-
gen) und dem Ausmaß der Arbeitsmarktintegration von Frauen (Erwerbstätigenquoten).
Dabei stellen die nationalen Kinderraten die abhängige Variable, die länderspezifischen
Familienpolitiken sowie die frauenspezifische Arbeitsmarktintegration die unabhängi-
gen Variablen dar. Diese Arbeitshypothese soll im Rahmen der Datenauswertung mit
MVQCA verifiziert werden, um die Nullhypothese ­ es besteht kein Zusammenhang
zwischen der Kinderrate und der Familienpolitik bzw. der Arbeitsmarktintegration ­
falsifizieren zu können.
Weiterhin wird analytisch mit folgender zentraler Forschungsfrage gearbeitet:
Welchen Einfluss haben die länderspezifischen, wohlfahrtsstaatlich determinierten
familienpolitischen Regulierungsmuster sowie die Arbeitsmarktintegration von Frauen
auf die Höhe der Kinderrate?
Daraus ergeben sich weitere Unterfragen: Welche Art von familienpolitischen
Leistungen (Geld-, Zeit- oder Dienstleistungen) werden in den einzelnen Ländern vor-
rangig angeboten und wie sind diese ausgestaltet? Welches Ausmaß hat die Frauener-
werbstätigkeit, aufgeteilt nach Vollzeit- und Teilzeittätigkeiten? Welche ernährerspezi-
fischen Strukturen weisen die einzelnen Wohlfahrtsstaaten auf? Welche Ausprägungen
der Variablen bedingen eine hohe, welche eine niedrige Kinderrate? Gibt es Gemein-
samkeiten und Unterschiede zwischen den zu untersuchenden Ländern hinsichtlich der
Wirkungsweise der einzelnen erklärenden Variablen? Kann eine oder können mehrere
optimale Familienpolitiken festgestellt werden? Welche Regulierungsmuster sind cha-
rakteristisch für niedrige Kinderraten? Wie gestaltet sich letztendlich die Beziehung
zwischen weiblicher Erwerbstätigkeit und Familienpolitik?

20
Basierend auf den theoretischen Annahmen und der geschilderten Herangehensweise
ergibt sich folgende Gliederung.
Im 1. Kapitel wird die Theoriebildung und -entwicklung im Bereich der verglei-
chenden Wohlfahrtsstaatsforschung im Hinblick auf die geschlechtssensiblen Interpreta-
tionen überblicksartig zusammengefasst. Besonderes Gewicht erhalten hierbei die theo-
retischen Annahmen des Ernährermodells. Es wird sich zeigen, inwieweit Geschlechter-
arrangements zugleich auch Familienarrangements sind und welche Relevanz sie für die
Ausbildung eines familienpolitischen Dreiecks haben können.
Im 2. Kapitel wird der Forschungsstand zur Wirkungsweise von familienpoliti-
schen Maßnahmen auf die Kinderrate dargelegt. Berücksichtigt wird dabei auch die
Rolle der Arbeitsmarktintegration von Frauen. Mittlerweile gibt es eine Reihe von
komparativen Länderstudien und eine Vielzahl von Fallstudien, die bestimmte familien-
politische Instrumente und deren Lenkungswirkung für die Kinderrate zu erfassen su-
chen.
Das 3. Kapitel schafft den methodischen Rahmen für die international verglei-
chende Analyse. Zuerst erfolgt eine kurze Einführung in die methodischen Besonderhei-
ten und Problemlagen, mit denen die vergleichende Politikwissenschaft konfrontiert
wird. Danach wird veranschaulicht, welchen komparativen Mehrwert der MVQCA-
Ansatz bietet und welche Terminologie sowie Verfahrensabläufe diese Methode bein-
haltet. Anschließend werden der Aufbau der Untersuchung (Fall- und Variablenaus-
wahl) dargestellt und theoretisch begründet sowie das anschließende Vorgehen beim
Ländervergleich erläutert. Weiterhin wird die Datenlage (Herkunft, Qualität, Vergleich-
barkeit) erörtert und kritisch hinterfragt.
Im 4. Kapitel erfolgt die deskriptive Analyse der 16 Wohlfahrtsstaaten auf Basis
der im vorangegangenen Kapitel definierten Variablen. Zuerst wird die abhängige Vari-
able Kinderrate dargestellt und erläutert. Anschließend werden die Sozialausgaben, das
Steuersystem, der Mutterschaftsurlaub, der Kindererziehungsurlaub, die Kinderbetreu-
ungsquote und die Arbeitsmarktintegration von Frauen in ihren jeweils länderspezifi-
schen Ausprägungen dargestellt und deren Einfluss auf die abhängige Variable unter-
sucht.
Das 5. Kapitel umfasst die Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse des
Ländervergleiches und deren Auswertung mit Hilfe der von Cronqvist entwickelten PC-
Software (Tosmana). In diesem Zusammenhang werden die hinreichenden und notwen-

21
digen Bedingungen für eine erfolgreiche (hohe Kinderrate) sowie eine nicht erfolgreiche
(niedrige Kinderrate) Familienpolitik ermittelt. Schließlich werden die Ergebnisse die-
ser Ausarbeitung im Hinblick auf gängige Erklärungsmuster interpretiert.
Im 6. Kapitel werden die Analyseergebnisse anhand der aufgestellten Hypothe-
se und Fragestellung der Arbeit abschließend diskutiert und in Beziehung zu neueren
Erklärungsansätzen zum Ernährermodell gesetzt. Weiterhin erfolgt ein Ausblick, wel-
chen komparativen Mehrwert die MVQCA-Methode hat und welche Fragen mit ihr
(noch) nicht beantwortet werden können.

23
1. Theoretische Ansätze zur Erklärung internationaler Unterschiede bei der Familienpo-
litik und der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt
Die Wirkungsanalyse von familienpolitischen Maßnahmen auf die Kinderrate erfordert
ein theoretisches Gerüst, um die unterschiedlichen nationalen Ausprägungen aus ver-
gleichender Perspektive einordnen und bewerten zu können (vgl. Neyer 2003: 10).
Mittlerweile existiert eine Vielzahl von Theorien und Erklärungsansätzen, zur Untersu-
chung der unterschiedlichen policies.
In den Wirtschaftswissenschaften wird die Entscheidung für ein Kind oft aus-
schließlich als Kosten-/Nutzenabwägung der potenziellen Eltern gesehen, die ihrerseits
nur auf die Maximierung ihres ökonomischen Vorteils bedacht sind (Becker 1996;
Meyers et al. 1997; Meier 2005).
7
Diese rein technische Betrachtung der Kinderrate
kann das wohlfahrtsstaatliche Arrangement zwischen Staat, Familie und Markt nur
unzureichend erfassen. Andere Ansätze beschreiben die familieninterne Rollenzuwei-
sung anhand der Verteilung von Einkommen (vgl. Orloff 1996: 4). Weitere Ansätze ­
wie beispielsweise die marxistische Theorie ­ rücken die Rolle des Staates bei der
Schaffung bestimmter familiärer Strukturen in den Mittelpunkt der Analyse (ebd.).
Es existieren demnach unterschiedliche theoretische Herangehensweisen seitens
der verschiedenen Wissenschaftsrichtungen, um die Bestimmungsfaktoren der Kinder-
raten zu erfassen. Aus forschungsökonomischen Gründen muss hier eine umfassende
Darstellung unterbleiben. Dieses Kapitel stellt die gesellschaftliche sowie partnerschaft-
liche Verteilung der familiären Betreuungsarbeit für Kinder in den Mittelpunkt und
fokussiert dabei auf die Wirkungsweise und den -charakter wohlfahrtsstaatlich determi-
nierter Familienpolitiken. Dazu ist es notwendig, den Diskurs über die Ursachen der
unterschiedlichen Ausgestaltung des Dreiecks aus Staat, Markt und Familie innerhalb
der verschiedenen Wohlfahrtsstaaten, der in den letzten Jahrzehnten intensiv und um-
fassend geführt worden ist, näher zu beleuchten. Die breite Palette von Theorien zur
Typologisierung und Erklärung von länderspezifischen Differenzen in der Familienpoli-
7
Kinder verursachen demnach sogenannte Opportunitätskosten. Dies sind Kosten, die entstehen, wenn
Eltern sich für den Konsum des Gutes Kind entscheiden, dafür aber auf den Genuss eines anderen
Gutes (Auto, Urlaub ...) verzichten müssen.

24
tik sowie der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt füllt mittlerweile ganze Bib-
liotheken.
8
Im Folgenden wird zuerst in den Regimeansatz von Esping-Andersen (1990)
eingeführt, um danach die Kritik aus der feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung dem
gegenüber zu stellen. Zudem soll anschließend auf den familienspezifischen Mehrwert
dieser Kritik und deren Erweiterungen eingegangen werden.
1.1. Der Regimeansatz von Gösta Esping-Andersen
In der vergleichenden Sozialpolitikforschung hat vor allem die Arbeit von Esping-
Andersen ,,The three worlds of welfare capitalism" (1990) eine breite und kontroverse
Diskussion entfacht. Angeleitet von der Frage, in welcher Art und Weise Wohlfahrts-
staaten in das Marktgeschehen eingreifen und die Verteilung von Ressourcen beeinflus-
sen, analysierte Esping-Andersen die Strukturen sozialer Ungleichheit beziehungsweise
Gleichheit in den einzelnen Industriegesellschaften. Seine Studie kommt zu dem Ergeb-
nis, dass die institutionellen Rahmenbedingungen und innerstaatlichen Machtverhältnis-
se sowie die politischen und kulturellen Leitbilder die zentralen Triebfedern für eine
spezifische Ausprägung des Systems der sozialen Sicherung in den einzelnen Wohl-
fahrtsstaaten waren. Diese typischen Arrangements sind und waren prägend für die
jeweils spezifische Regulation von Erwerbsarbeit und gesellschaftlicher Wohlfahrt
(Schmid 2002: 83). Durch die Fokussierung auf die ,,innere Logik sozialstaatlichen
Handelns" (Riedmüller 2001: 44), die auch Normen und Wertorientierungen erfasst,
grenzt sich der Regimeansatz von Esping-Andersen explizit von funktionalistischen
Ansätzen der Wohlfahrtsstaatsforschung, die ein ,,Ende der Ideologien" postulieren, ab
(siehe Schmid 2003: 233-237).
Die Kategorisierung der einzelnen wohlfahrtsstaatlichen Regime nimmt Esping-
Andersen anhand von drei Kriterien vor: der Gewährung sozialer Rechte, der Ausgestal-
tung der sozialen Stratifizierung und der Konstruktion des Verhältnisses zwischen
Markt, Staat und Familien (,,familienpolitisches Dreieck", Anm. T. G.) (Esping-
Andersen 1990: 21).
8
Brewster/Rindfuss (2000: 283) merken hier zu Recht an, dass "in reviewing the family policy litera-
ture, it quickly becomes apparent that there are nearly as many ways of classifying family policies as
there are authors."

25
Das erste Kriterium, die Gewährung von sozialen Rechten, wird anhand des wohlfahrts-
staatlich determinierten Dekommodifizierungsgrades gemessen. Dahinter verbirgt sich
nach Esping-Andersen "the degree to which individuals, or families, can uphold a so-
cially acceptable standard of living independently of market participation" (ebd. 37).
Die Dekommodifizierung gilt demnach als Maß für die Entkoppelung der individuellen
Existenzsicherung oder Bedürfnisbefriedigung vom Marktmechanismus mit Hilfe von
wohlfahrtsstaatlichen Leistungen.
9
Die Ausgestaltung des Bürgerstatus, das zweite Kriterium, misst Esping-
Andersen anhand der stratifizierenden Wirkung von Sozialpolitik. Der Wohlfahrtsstaat
greift in die Sozialstruktur der Gesellschaft ein und ordnet sie neu, indem ,,the organiza-
tional features of the welfare state help determine the articulation of social solidarity,
divisions of class, and status differentiation" (ebd. 55).
Die dekommodifizierende und stratifizierende Wirkung sozialer Leistungen jus-
tiert die wohlfahrtsstaatlichen Arrangements zwischen Staat, Markt und Familie in einer
national spezifischen Art und Weise. Basierend auf diesem dritten Kriterium ordnet
Esping-Andersen die einzelnen Wohlfahrtsstaaten idealtypisch in drei Regime ein: in
das liberale, das konservative und das sozialdemokratische (ebd. 26). Jedes dieser
Wohlfahrtsstaatsregime besitzt ein eigenes spezifisches Regulierungsmuster hinsichtlich
der Organisation sozialer Sicherung und der Einflussnahme auf die gesellschaftliche
Ressourcenaufteilung und Schichtung.
Das liberale Wohlfahrtsstaatsregime umfasst die angloamerikanischen Länder
USA, Kanada, Australien sowie Großbritannien und zeichnet sich durch einen geringen
Grad an Dekommodifizierung aus. Die gewährten Transferleistungen sind niedrig, an
eine Bedürftigkeitsprüfung gebunden und entfalten daher oft einen stigmatisierenden
Charakter. Der Staat fördert (und fordert) durch die geringe Reichweite sozialer Leis-
tungen die Erwerbstätigkeit und damit die individuelle Existenzsicherung am Markt.
Die ,,unsichtbare Hand des freien Marktes" (Adam Smith) führt zwangsläufig zu einer
marktförmigen Wohlfahrtsproduktion und Sozialordnung. Weil existente Strukturen
sozialer Ungleichheit bestehen bleiben, ist der Grad der Stratifikation gering. Familien-
politische Maßnahmen wie der Mutterschutz oder der Erziehungsurlaub bewirken eher
9
Der Zwang zum Verkauf seiner Erwerbsarbeit (Kommodifikation) wird reduziert: ,,[...] the introduc-
tion of modern social rights implies a loosening of pure commodity status." (Esping-Andersen 1990:
21).

26
eine Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit als eine längere Phase der Marktabsenz
(ebd. 26f).
Den zweiten Regimetyp charakterisiert Esping-Andersen als konservativ- korpo-
ratistisch. Hierzu zählen vor allem kontinentaleuropäische Länder wie zum Beispiel
Deutschland, Österreich, Frankreich oder Italien. Zentrales Ziel der wohlfahrtsstaatli-
chen Politik dieser Staaten ist der Erhalt von Statusunterschieden innerhalb der Gesell-
schaft. Die Höhe der gewährten Sozialleistungen ist einerseits abhängig von den geleis-
teten Beiträgen und damit von der individuellen Fähigkeit zur Erwerbstätigkeit am
Markt. Zudem ist andererseits der familiäre Status des Individuums entscheidend. Ge-
mäß dem Subsidiaritätsprinzip unterstützt der Staat eine hilfebedürftige Person erst,
wenn die finanzielle Leistungsfähigkeit der Familie erschöpft ist. Dadurch und mit einer
Reihe von weiteren Maßnahmen, beispielsweise dem Ehegattensplitting, werden traditi-
onelle Formen des Zusammenlebens sozialpolitisch unterstützt. Der Dekommodifizie-
rungsgrad ist allgemein höher als im liberalen Regime, die Wirkungsweise ist im Ver-
gleich dazu klassen- und familienspezifisch. Die Statuszentriertheit sozialer Leistungen
festigt somit die bestehenden Strukturen sozialer Ungleichheit innerhalb des konservati-
ven Regimetyps. Zudem entfaltet diese Wohlfahrtspolitik eine besonders negative Wir-
kung für die eigenständige soziale Existenzsicherung von Frauen, weil sie die klassische
Rollentrennung innerhalb der Familie manifestiert (ebd. 27).
Das dritte Wohlfahrtsstaatsregime umfasst die skandinavischen Länder Norwe-
gen, Schweden, Finnland sowie Dänemark und wird von Esping-Andersen als sozial-
demokratisch charakterisiert. Gemäß den Prinzipen des Universalismus zielen soziale
Leistungen und Dienste auf eine Nivellierung von Ungleichheit und damit auf die sozia-
le Gleichstellung aller Personen hin. Die Fokussierung auf die individuelle Bedürftig-
keit, unabhängig von der Form des Zusammenlebens, der individuellen Leistungsfähig-
keit oder der Klassenzugehörigkeit, drückt sich in einem hohen Dekommodifizie-
rungsgrad aus. Zudem ist die stratifizierende Wirkung wohlfahrts-staatlicher Politik
hoch, wie die Ausdehnung der Mittelschichten deutlich belegt. Dieser Regimetypus
drängt die Rolle der marktförmigen und familiären Wohlfahrtsproduktion für die indivi-
duelle Existenzsicherung zugunsten der staatlichen zurück. Die sozialpolitisch flankierte
Vergesellschaftung von familiärer Pflege- und Betreuungsarbeit wirkt sich zudem posi-
tiv auf die Arbeitsmarktintegration der Frauen aus, weil sie von dieser Art von Tätigkei-
ten zunehmend entlastet werden (ebd. 27f).

27
Die Rolle der Familie und deren Einfluss auf die gesellschaftliche Wohlfahrts-
produktion wird bei der Konstruktion der drei Indikatoren zur Bewertung wohlfahrts-
staatlicher Politik zwar explizit von Esping-Andersen genannt, ihre konkrete Aufgabe
und Einflussnahme bleibt aber im Unklaren. Pfau-Effinger (2000) weist zu Recht darauf
hin, dass die Relevanz kultureller und politischer Leitbilder für die geschlechtsspezifi-
sche Arbeitsteilung nicht ausreichend von Esping-Andersen dargestellt wird (ebd. 32).
Diesen Mangel, der von feministischer Seite an seinem Ansatz immer wieder aufgezeigt
worden ist, versuchte Esping-Andersen (1999) dahingehend zu beheben, dass er die
Bedeutung der privaten Haushalte für die gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion mit
berücksichtigte und einen weiteren Indikator in sein bisheriges Modell einfügte, das
Ausmaß der (De-)Familialisierung:
,,A familialistic system [...], is one in which public policy assumes ­ indeed insists ­ that
households must carry the principal responsibility for their members welfare. A de-familializing
regime is one which seeks to unburden the household and diminish individuals' welfare de-
pendence on kinship" (ebd. 51).
Die bekannte 3er-Typologie verändert sich nicht grundlegend. Im liberalen Modell wird
der Mangel an Betreuungsinfrastruktur damit ausglichen, dass entsprechende Dienstleis-
tungen am Markt zugekauft werden, was verständlicherweise nicht für alle Einkom-
mensschichten in Frage kommt. Die sozialdemokratischen Länder haben einen breiten
staatlichen Dienstleistungssektor geschaffen und somit die private Betreuungsarbeit
vergesellschaftlicht. Im konservativen Modell verbleibt diese Form der Arbeit innerhalb
des Verantwortungsbereiches der Familien und fällt somit größtenteils den Frauen zu. In
allen drei Regimetypen wird zusammenfassend sichtbar, dass die Höhe der Kinderrate
immer das Resultat der Interaktionsbeziehungen von Staat, (Arbeits-)Markt und Familie
ist (Esping-Andersen 1999: 74-86).
Trotz der familien- bzw. frauenspezifischen Erweiterung des Drei-Welten-
Konzepts gelingt es Esping-Andersen (1999, 2002) nicht, das zentrale Grundproblem
seines Ansatzes zu lösen, nämlich die Kontinuitäts-/Pfadabhängigkeitsthese. Dingeldey
(2000c: 24) weist zu Recht darauf hin, dass die von Esping-Andersen auf der Basis von
Daten aus den späten 1970er und frühen 1980er Jahren konstruierte Pfadabhängigkeits-
these zu enge Grenzen hinsichtlich der Berücksichtung neuer Entwicklungstrends setzt.
Meines Erachtens sind Veränderungen wie zum Beispiel die steigende Erwerbsneigung
von Frauen oder der Rückgang der Kinderraten mit dem ,,Drei-Welten-Ansatz" nur

28
unzureichend analysier- und erklärbar. Insofern macht es keinen Sinn, Esping-
Andersens theoretische Annahmen für den weiteren Verlauf dieser Arbeit zu nutzen.
Alternative Erklärungsansätze, die einen besseren theoretischen Rahmen bieten, finden
sich im Bereich der feministischen vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung.
1.2. Familienpolitik als Geschlechterpolitik: Gender-Ansätze in der vergleichenden
Wohlfahrtsstaatsforschung
Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus haben von verschiedenen Seiten umfang-
reiche Kritik und Erweiterungen erfahren. Dabei wurden Esping-Andersens theoretische
Annahmen nie völlig verworfen, wohl aber in unterschiedlicher Art und Weise ergänzt.
Diese Ausarbeitung konzentriert sich im Folgenden auf die Kritik und Modifizierung
seines Regimeansatzes durch feministische Ansätze der vergleichenden Wohlfahrts-
staatsforschung. Diese Konzepte berücksichtigen mit der Relevanz familienpolitischer
Maßnahmen beziehungsweise der Arbeitsmarkintegration von Frauen in ihren theoreti-
schen Annahmen zentrale Analysekriterien, die die Basis für die spätere Datenaus- und
-bewertung bilden. Von zentraler Bedeutung im Zusammenhang mit der Erklärung
national spezifischer familienpolitischer Regulierungsmuster ist die theoretische wie
praktische Erklärungskraft des Ernährermodells als zentrales Konstrukt der feministi-
schen Wohlfahrtsstaatsforschung.
1.2.1. Die grundlegenden genderspezifischen Kritikpunkte an den drei Welten des
Wohlfahrtskapitalismus
Aus feministischer Perspektive ist der zentrale Einwand gegen die theoretischen An-
nahmen des Regimeansatzes, wie sie Esping-Andersen (1990) getroffen hat, die falsche
Schwerpunktsetzung innerhalb des ,,Wohlfahrtsdreiecks" (Ostner 1998: 228) von Staat,
Markt und Familie. Das Hauptaugenmerk ist auf die sozialpolitische Regulation markt-
förmiger Strukturen und somit auf die Ausgestaltung des Markt-Staat-Verhältnisses und
deren Wirkungsbeziehungen gerichtet. Gemäß diesen Annahmen greift der Staat über
wohlfahrtsstaatliche Politiken in das Marktgeschehen ein und nimmt somit auf die
marktförmige Ressourcenverteilung zwischen den einzelnen Individuen Einfluss (vgl.
Pfau-Effinger 2000: 29). Der konstitutive Beitrag unbezahlter familiärer Arbeit für die
gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion, die zum großen Teil durch Frauen geleistet

29
wird, bleibt bei Esping-Andersen weitgehend unberücksichtigt. Die familien- bezie-
hungsweise frauenspezifische Wirkungsweise von Sozialpolitik wird fast vollkommen
vernachlässigt (Christopher 2002: 62). Entsprechend formuliert Orloff (1993: 312):
"This dimension [das Verhältnis Staat, Markt und Familie, Anm. T. G.] should be re-
constructed based on the recognition of the importance of families and women's unpaid
work to the provision of social welfare." Neben der Berücksichtigung der Bedeutung
privater Arbeit für die gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion müssen zudem auch die
familiäre Rollenzuschreibung sowie die daraus resultierende private Arbeitsteilung
erfasst werden (ebd. 315).
Die Konstruktion des zentralen Strukturierungsindikators ,,Dekommodifizierung" ist ein
weiterer genderspezifischer Kritikpunkt an Esping-Andersens Theorie. Dieser Indikator
ist nur aus männerzentrierter Perspektive als zentrales Gütekriterium zu verstehen
(Ostner 1998: 229; Sainsbury 1996, 1999). Hierbei wird generell davon ausgegangen,
dass kein geschlechtsspezifischer Unterschied hinsichtlich der Partizipationschancen am
Arbeitsmarkt existiert und alle Individuen die gleichen Chancen haben, ,,dekommodifi-
ziert" zu werden. Ohne eine gleichberechtigte Teilhabe beider Geschlechter am Ar-
beitsmarkt kann aber eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen gar nicht dekommo-
difizierend wirken. Somit müssen alle Erwerbsfähigen zuerst die gleichen Partizipati-
ons- beziehungsweise Kommodifikationschancen haben.
Gleichzeitig kann es für Frauen und Familien zu einer Wirkungsumkehr von
einzelnen sozialpolitischen Maßnahmen kommen, wenn diese ausschließlich auf den
männlichen Alleinernährer ausgerichtet sind.
10
Das Resultat dieser Politikausrichtung ist
die Entstehung eines frauenspezifischen Vereinbarkeitsproblems zwischen Beruf und
Kindererziehung, das sich auf die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion und
die Höhe der Kinderraten auswirkt. Deshalb fordert Orloff (1993: 317):
,,Decommodification, as a dimension of policy regimes, must be understood in the context of
gender relations and must be supplemented by a new analytic dimension: the extent to wich
states guarantee women access to paid employment and services that enable them to balance
home and work responsibilities [...]".
10 Das Ehegattensplitting im Steuerrecht hat auf den Ehemann dekommodifizierende Wirkung, weil es
ihm einen geldwerten Vorteil verschafft. Die Kommodifizierung der Ehefrau wird erschwert, weil
die finanzielle Attraktivität einer Erwerbstätigkeit zurückgeht.

30
Der letzte zentrale Indikator Esping-Andersens, der Grad der Stratifikation, wird aus
feministischer Sicht ebenfalls heftig kritisiert, weil der Einfluss von sozialpolitischen
Leistungen auf die Genderhierarchie sowie die Machtverteilung innerhalb der Familie in
den drei Welten vollkommen ausgeblendet werden:
,,[Esping-Andersen, Anm. T. G.] have not adressed two significant ways that states reinforce the
gender hierarchy: 1. privileging full-time paid workers over workers who do unpaid work or
combine part-time paid work with domestic and caring labour, and 2. reinforce the sexual
division of labour in which women do the bulk of unpaid work" (Orloff 1993: 314).
Die unterschiedliche öffentliche wie private Arbeitsteilung, resultierend aus einer tradi-
tionellen geschlechtsspezifischen Rollenverteilung, reproduziert frauenspezifische
Strukturen von gesellschaftlicher Ungleichheit. Frauen, die sich auf die familiäre
Betreuungsarbeit konzentrieren (müssen), können am öffentlichen Marktgeschehen gar
nicht teilhaben und somit auch keine marktgestützten sozialen Bürgerrechte erwerben
(vgl. Ostner 1998: 229).
Die feministischen Ansätze der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung haben mit
ihrer Kritik an Esping-Andersens theoretischen Annahmen gezeigt, dass die Typisierung
wohlfahrtsstaatlicher Systeme ausdifferenziert, wenn weitere Indikatoren, wie die Fami-
lie, Familienpolitik oder die Frauenerwerbstätigkeit, mit berücksichtigt werden. Die drei
Welten des Wohlfahrtskapitalismus sind daher zur Wirkungsanalyse und Bewertung
familienpolitischer Maßnahmen innerhalb des Dreiecks aus Staat, Markt und Familie
wenig geeignet.
Aufgrund dieser Mängel schlägt Orloff (1993: 318-322) vor, zusätzlich zu den
drei Dimensionen Esping-Andersens (1990) zwei weitere geschlechtsspezifische Di-
mensionen zur Typisierung von Wohlfahrtsstaaten zu verwenden: zum einen den Zu-
gang von Frauen zu bezahlter Arbeit (access to paid work) und zum anderen die Mög-
lichkeit, eine von der Marktarbeit autonome private Existenz zu führen (the capacity to
form an maintain and autonomous household). Meines Erachtens fällt unter die Bedin-
gungen für eine autonome Existenz von Frauen auch die Entlastung von familiärer
Betreuungsarbeit. Dies würde eine Neujustierung der geschlechtsspezifischen privaten
Rollen- und Arbeitsteilung erforderlich machen. Die Folge wäre eine Einschränkung der
privaten Autonomie für Männer und Väter. Weiterhin würde das Vereinbarkeitsproblem
zwischen privater Familien- und öffentlicher Erwerbsarbeit in den Mittelpunkt staatli-

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836602402
Dateigröße
513 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin – Politik- und Sozialwissenschaften, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
familienpolitik regulierung gender studies kinderbetreuung politikwissenschaft wohlfahrtssystem
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Titel: Familienpolitische Regulierungen im internationalen Vergleich
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