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Analyse der Einweisungsdiagnose in einer universitären Schmerzambulanz unter dem besonderen Aspekt des Anteils therapiebedürftiger psychischer Störungen bei Patienten mit Rückenschmerzen, Morbus Sudeck, Phantomschmerzen sowie multilokulären Schmerzen

©2002 Doktorarbeit / Dissertation 395 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung
Schmerz: Geschichte, Definition, Ätiologie und Diagnose Die Frage, was Schmerz eigentlich ist, beschäftigt die Menschheit schon lange. Aristoteles hielt Schmerz für ein Leiden der Seele und glaubte, daß Schmerz als Folge intensiver Aktivitäten in einem der fünf Sinne auftritt und innerhalb der Seele erfahren wird. Der Naturalismus endete mit dem Tode Aristoteles und die vorherrschende Interpretation der Psyche oder der Seele bewegte sich zum subjektiven Spiritualismus, die Seele wurde als vollständig unabhängig vom Körper gesehen. Nicht mehr körperlichen Vorgängen wurde die Ursache von Schmerz zugeschrieben, sondern dieser wurde in erster Linie als Bestrafung für falsches Handeln gesehen. Konsequenterweise wurde Beten als Schmerztherapie empfohlen und praktiziert. Im Mittelalter (11. bis 15. Jh.) lehrte Thomas von Aquin (1225-1274), daß die Seele nicht Teil des Körpers sei, sondern eine unabhängige Einheit. Der Mensch bestand seiner Meinung nach aus Körper und Seele und dieser Dualismus spiegelt sich bis heute in Medizin und Psychologie wider. Im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert entwickelten europäische Philosophen Konzepte zur Beziehung zwischen Körper und Seele. Descartes (1596-1650) ging davon aus, daß Körper und Seele getrennt seien, aber über eine direkte physische Verbindung interagieren. Er schlug das Vorhandensein einer Leitungsbahn für Schmerz aus verschiedenen Körperbereichen zum Gehirn vor. Der zweite Ansatz stammte von Spinoza (1632-1677), der einer Trennung zwischen Körper und Seele widersprach und beide als verschiedene Anteile der gleichen Substanz sah. Er hielt physiologische, ebenso wie psychische Aktivitäten für verschiedene Anteile von Schmerz. Die dritte Lösung wurde von Leibnitz (1646-1716) vorgeschlagen, dessen psychophysischer Parallelismus das dualistische Konzept akzeptierte und Körper und Seele als vollständig voneinander unabhängig sah. Im Rahmen einer vorbestehenden, von Gott festgelegten Harmonie, seien sie aber aufs engste miteinander verknüpft im Sinne einer 1:1 Beziehung zwischen körperlicher Empfindung und der seelischen Wahrnehmung dieser Empfindung.
Kant (1724-1804) übernahm die Annahme einer solchen 1:1 Verknüpfung, schrieb diese aber nicht göttlichen Harmonien zu, sondern physiologischen Mechanismen. Die Wahrnehmung hänge dabei nicht gänzlich von der Erfahrung ab, sondern sei teilweise angeboren (Nativismus). Seine Vorstellung von einer Einheit der Wahrnehmung wurde später das […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Dieter Wettig
Analyse der Einweisungsdiagnose in einer universitären Schmerzambulanz unter dem
besonderen Aspekt des Anteils therapiebedürftiger psychischer Störungen bei
Patienten mit Rückenschmerzen, Morbus Sudeck, Phantomschmerzen sowie
multilokulären Schmerzen
ISBN: 978-3-8428-2300-6
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland, Dissertation /
Doktorarbeit, 2002
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2011

Inhalt
1. Einleitung
13
1.1. Schmerz: Geschichte, Ätiologie und Diagnose
13
1.2. Neure Konzepte
16
1.3. Epidemiologie
20
1.4. Prädiktoren
22
1.5. Komorbidität
23
1.6. Biopsychosocial model (Engel)
24
2. Untersuchte Krankheitsbilder
27
2.1. Rückenschmerzen
27
2.1.1. Definition
27
2.1.2. Epidemiologie
28
2.1.3. Prävalenz
29
2.1.4. Psychosomatische Faktoren bei Rückenschmerzen
31
2.1.5. Behandlung
34
2.2. Multilokuläre Schmerzen
38
2.2.1. Definition
38
2.2.2. Fibromyalgie und deren Begleitsymptome
39
2.2.2.1. Komorbidität
40
2.2.2.2. Epidemiologie
41
2.2.2.3. Psychosoziale Faktoren bei Fibromyalgie
45
2.2.3. Somatoforme Schmerzstörung
46
2.2.3.1. Definition
46

2.2.3.2. Epidemiologie
47
2.2.3.3. Anamnese und klinischer Befund
47
2.2.3.4. Differenzialdiagnose
48
2.2.3.5. Psychosoziale Faktoren bei der Somatoformen
Schmerzstörung
49
2.2.3.6. Psychotherapeutische Behandlung der Fibromyalgie
50
2.3. Phantomschmerz
51
2.3.1. Geschichte
51
2.3.2. Ätiologie, Pathogenese
51
2.3.3. Epidemiologie
52
2.3.4. Prophylaxe und Behandlung
52
2.4. Morbus Sudeck
53
2.4.1. Definition
53
2.4.2. Epidemiologie
54
2.4.3. Psychosoziale Faktoren bei M. Sudeck
54
3. Therapie
56
3.1. Stimulationsverfahren und naturheilkundliche Verfahren
58
3.1.1. Akupunktur
58
3.1.2. Neuraltherapie und Homöopathie
60
3.1.3. Naturheilverfahren
61
3.1.4. Chirotherapie
64
3.1.5. TENS
65
3.2. Analgetika und Koanalgetika
65
3.2.1. Antipyretische Analgetika
65

3.2.2. Opioide
66
3.2.3. Koanalgetika
67
3.2.3.1. Antidepressiva
67
3.2.3.2. Antikonvulsiva
67
3.3. Psychotherapeutische Behandlungsverfahren
68
3.3.1. Psychologische Ansätze bei chronischen Schmerzen
68
3.3.2. Psychologische Faktoren
69
3.3.3. Entspannungsverfahren
71
3.3.4. Biofeedback
72
3.3.5. Hypnose
72
3.3.6. Schmerzbewältigungsverfahren und Verhaltenstherapie
73
3.3.7. Psychoanalytisch fundierte Psychotherapie
73
4. Problemstellung
75
5. Methoden
77
5.1. Patienten
77
5.2. Ablauf der Auswertungen
77
5.3. Instrumente
78
5.3.1. Fragebögen
78
5.3.1.1. SBAS
78
5.3.1.2. SVOR
78
5.3.1.3. Untersuchungsbogen
A2915V+R
78
5.3.2. IASP Klassifikation
79
5.3.3. Mainzer Stadienmodell (Gerbershagen)
81
5.3.4. Biographische Anamnese
83

5.4. Statistische Auswertung
84
5.5. Erläuterung von verwendeten Diagrammtypen
85
6. Ergebnisse
87
6.1. Demographie
87
6.2. Schmerzanamnese
98
6.3. Diagnosen und Beschwerdebild
99
6.3.1. IASP
99
6.3.2. Einteilung nach Gerbershagen
104
6.4. Vorbehandlung
125
6.4.1. Medikamentöse Vorbehandlung
125
6.4.2. Psychotherapie und Entspannungsverfahren
127
6.4.3. Weitere
130
6.5. Ausbildung und berufliche Situation
139
6.6. Hinweise auf besondere biographische Ereignisse
143
6.7. Empfehlung zur Psychotherapie oder Entspannungsverfahren nach Aufnah-
me in die Schmerzambulanz
146
6.7.1. Zusammenfassung
147
6.7.2. Empfehlung zur Psychotherapie oder Entspannungsverfahren in Ab-
hängigkeit von der Stadieneinteilung nach Gerbershagen
148
6.7.3. Empfehlung zur Psychotherapie oder Entspannungsverfahren in Ab-
hängigkeit von der Patienten-Biographie
151
6.8. Eingangs- und Ausgangsdiagnosen
154
6.9. Korrelationen und Logistische Regressionsanalyse
156

7. Diskussion
179
8. Zusammenfassung
205
9. Kasuistiken
213
10. Literatur
295
11. Lebenslauf
307
12. Anhang
309
12.1.
Klassifikation chronischer Schmerzen (IASP)
12.2.
Sozio-Demographischer Fragebogen (SVOR)
12.3.
Strukturierte Biographische Anamnese für Schmerzpatienten (SBAS)
12.4. Untersuchungsbogen
A2915V+R
12.5.
Fragebogen für Schmerzpatienten
12.6.
Aufbereitete Daten in Tabellenform

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
13
Einleitung
Schmerz: Geschichte, Definition, Ätiologie und Diagnose
Die Frage, was Schmerz eigentlich ist, beschäftigt die Menschheit schon lange. Aristote-
les hielt Schmerz für ein Leiden der Seele und glaubte, daß Schmerz als Folge intensiver
Aktivitäten in einem der fünf Sinne auftritt und innerhalb der Seele erfahren wird. Der Na-
turalismus endete mit dem Tode Aristoteles und die vorherrschende Interpretation der
Psyche oder der Seele bewegte sich zum subjektiven Spiritualismus, die Seele wurde als
vollständig unabhängig vom Körper gesehen. Nicht mehr körperlichen Vorgängen wurde
die Ursache von Schmerz zugeschrieben, sondern dieser wurde in erster Linie als Be-
strafung für falsches Handeln gesehen. Konsequenterweise wurde Beten als Schmerz-
therapie empfohlen und praktiziert. Im Mittelalter (11. bis 15. Jh.) lehrte Thomas von A-
quin (1225-1274), daß die Seele nicht Teil des Körpers sei, sondern eine unabhängige
Einheit. Der Mensch bestand seiner Meinung nach aus Körper und Seele und dieser
Dualismus spiegelt sich bis heute in Medizin und Psychologie wider. Im späten 15. und
frühen 16. Jahrhundert entwickelten europäische Philosophen Konzepte zur Beziehung
zwischen Körper und Seele. Descartes (1596-1650) ging davon aus, daß Körper und
Seele getrennt seien, aber über eine direkte physische Verbindung interagieren. Er
schlug das Vorhandensein einer Leitungsbahn für Schmerz aus verschiedenen Körperbe-
reichen zum Gehirn vor. Der zweite Ansatz stammte von Spinoza (1632-1677), der einer
Trennung zwischen Körper und Seele widersprach und beide als verschiedene Anteile
der gleichen Substanz sah. Er hielt physiologische, ebenso wie psychische Aktivitäten für
verschiedene Anteile von Schmerz. Die dritte Lösung wurde von Leibnitz (1646-1716)
vorgeschlagen, dessen psychophysischer Parallelismus das dualistische Konzept akzep-
tierte und Körper und Seele als vollständig voneinander unabhängig sah. Im Rahmen
einer vorbestehenden, von Gott festgelegten Harmonie, seien sie aber aufs engste mit-
einander verknüpft im Sinne einer 1:1 Beziehung zwischen körperlicher Empfindung und
der seelischen Wahrnehmung dieser Empfindung (Egle, 1993a).

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
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Kant (1724-1804) übernahm die Annahme einer solchen 1:1 Verknüpfung, schrieb diese
aber nicht göttlichen Harmonien zu, sondern physiologischen Mechanismen. Die Wahr-
nehmung hänge dabei nicht gänzlich von der Erfahrung ab, sondern sei teilweise ange-
boren (Nativismus). Seine Vorstellung von einer Einheit der Wahrnehmung wurde später
das Herzstück der Gestalttheorie. Fortschritte der Neurophysiologie und Psychophysik
am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts übten starken Einfluß auf
Schmerztheorien aus. Mueller stellte 1840 die ,,Lehre von den spezifischen Nervenener-
gien" auf und sah Schmerz ausschließlich auf neurophysiologischen Mechanismen basie-
rend. In diesem Konzept empfing das Gehirn in einer reaktiv-passiven Weise Reize von
spezifischen Nervenfasern. Von Frey entwickelte Muellers Theorie 1895 weiter und ging
vom Vorhandensein spezifischer Rezeptor-Typen aus, von denen die Schmerzimpulse
über spezifische Nervenbahnen zu einem speziellen Schmerzzentrum im Gehirn gelang-
ten. Dieser Ansatz konnte allerdings bestimmte Schmerzsyndrome wie Phantomschmer-
zen, Kausalgie oder Neuralgie nicht erklären. Auch das Auftreten von Schmerz nur als
Folge einer Aktivität des sympathischen Nervensystems oder akustischer oder visueller
Reize konnte so nicht erklärt werden. Fast zur gleichen Zeit (1894) legte Goldscheider ein
zu von Frey abweichendes Schmerzkonzept vor, das davon ausging, daß Schmerz dann
wahrgenommen wird, wenn die Summe der im Hinterhorn des Rückenmarks einlaufen-
den peripheren Reize eine bestimmte Schwelle überschreitet. Die Vorstellung spezifi-
scher Schmerzrezeptoren oder Nervenbahnen wurde nicht aufrechterhalten. 1943 entwi-
ckelte Livingstone Goldscheiders Ansatz weiter zur zentralen Summationstheorie. Auch
Nordenbos legte 1959 die mit der zentralen Summationstheorie verwandte sensorische
Interaktionstheorie vor, die ein spezielles Reiz-Kontrollsystem annimmt, das normalerwei-
se die Summation sensorischer Reize verhindert. Fast zeitgleich mit Goldscheider legte
Marshall 1894 seine Affekt-Theorie des Schmerzes vor, die von zwei parallelen Systemen
ausging, durch die ein Reiz in Aktion treten kann: Einem affektiven und einem sensori-
schen System (Egle, 1993a).
1965 stellten Melzack und Wall ihre gate-control-Theorie vor und nahmen an, daß körper-
liche und seelische Prozesse bei Schmerz als integrierende dualistische Einheit verstan-
den werden können. Sie unterscheiden zwei Kategorien afferenter sensorischer Fasern
mit unterschiedlichen Funktionen: dicke A-Beta-Fasern, die einen hemmenden Effekt auf

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
15
Effekt auf die Impulsübertragung in der Substantia gelatinosa des Hinterhorns haben und
dünne A-Delta und C-Fasern, die einen verstärkenden Effekt auf den Schmerzprozess
haben. Efferente Fasern sollen zum gate-control-System im Rückenmark zurückführen,
wodurch das zentrale Kontrollsystem das spinale Tor beeinflussen könne. Melzack
entwickelte 1978 die Vorstellung, daß so zum Beispiel selektives Schmerzerleben erklärt
werden könne, wie es unter anderem Beecher 1946 bei Soldaten mit Verwundungen oder
Pawlow 1927 bei konditionierten Hunden beschrieben hatten (Egle, 1993a).
Gegenwärtig wird die Gate-Control-Theorie (Melzack, 1965, 1968) und ihre moderne
Weiterführung zur Neuromatrix-Theorie (Melzack, 1999) am ehesten den multifaktoriellen
Schmerz-Ursachen gerecht, wenngleich es individuell weit differente Auslegungen gibt.
Die Gate-Control-Theorie postuliert ein neurophysiologisch-psychologisches Mehrkom-
ponentensystem, in dem sowohl die Verarbeitung als auch die Kontrolle der Schmerzrei-
ze berücksichtigt wurden. In Bezug auf die Schmerzkontrolle wurden dabei 2 Aspekte
hervorgehoben:
1. Die Interaktion antagonistischer neuronaler Fasersysteme (die Fasergruppen C
und A-Delta auf der einen und A-Beta auf der anderen Seite) könne einen redu-
zierten Input von Schmerzreizen bewirken,
2. Absteigende Hemmungen, die aus spezifischen kortikalen Regionen zur Erfas-
sung und Bewertung von Schmerz stammen, sorgten für eine Unterbrechung des
nozizeptiven Einstroms aus der Peripherie.
Beide Mechanismen üben Kontrolle über ankommende Schmerzreize aus. Sie stellten
die ,,Türkontrolle" (Gate-Control) dar und seien regulär an jeder Form der Schmerzverar-
beitung beteiligt. (Melzack, 1965, 1968, 1978)
In die Neuromatrix-Theorie sind wichtige Erkenntnisse zu sensorischen, genetischen,
endokrinologischen, immunologischen und kognitiven Einflüssen integriert, um den viel-
fältigen Faktoren zur Chronifizierung von Schmerzen gerecht zu werden. (Melzack, 1999)
Bildgebende Verfahren wie PET oder EEG-Mapping ermöglichen die Darstellung der
Hirnaktivität bei Schmerz. Unterschieden wird ein neuronales Netzwerk, in dem primär-

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
16
sensorische Schmerzanteile wie der Ort, die Intensität und Qualität des Schmerzes ver-
mittelt werden. Dazu gehören der primäre und sekundäre somatosensorische Kortex, die
nozizeptiven Informationen aus lateralen Thalamuskernen erhalten. Dagegen gelangen
Informationen, welche die affektive Schmerzkomponente bestimmen, von medialen Tha-
lamuskernen in den anterioren cingulären Kortex, Inselkortex und Präfrontalkortex. Chro-
nische Schmerzen führen zu einer dauerhaften Veränderung der kortikalen und subkorti-
kalen Verarbeitung nozizeptiver Reize. Verantwortlich hierfür sind Prozesse neuronaler
Plastizität, die am Beispiel des primären somatosensorischen Kortex dargestellt werden.
(Wiech et al., 2001)
Neuere Konzepte
Der Schmerz ist eine elementare Erscheinung, ein Urphänomen des Lebens. Als eine
früh beginnende Erfahrung hat der Schmerz prägenden Einfluß auf die Entwicklung und
Gestaltung jedes lebendigen Wesens. (Broniewicz, 1993)
So begleitet der Schmerz den Menschen in allen Lebensphasen (von den äußerst selte-
nen Fällen angeborener Schmerzunempfindlichkeit einmal abgesehen), wobei allerdings
auch die Schmerzvariablen der genetischen Ausstattung, der prägenden kulturellen Ein-
flüsse eine erhebliche Rolle spielen. Schmerz und Leben sind in solchen Fällen als
untrennbare Einheit zu verstehen. (Broniewicz, 1993)
Jeder Einzelne von uns hat schon Schmerzen erlebt, seien es Bauchschmerzen,
Schmerzen bei Prellungen, Kopf- oder Zahnschmerzen. Diese verschwanden in der Re-
gel bald wieder, waren zeitlich limitiert, akut.
Einen anderen Charakter bekommen Schmerzen, wenn sie längere Zeit, vielleicht Mona-
te oder Jahre, anhalten. Anders als akute Schmerzen können sie dann nicht nur den
Moment, sondern vielleicht das ganze Leben und Erleben dominieren. Als chronisch
werden Schmerzen bezeichnet, wenn sie länger als sechs Monate bestehen: Nach Kon-
sensusbildung des Komitees für Taxonomie der IASP (International Association for the
Study of Pain) wurde der Zeitraum von sechs Monaten als Grenze für die Unterscheidung
zwischen akuten und chronischen Schmerzzuständen festgelegt. (nach Merskey, 1986;
Wörz, 1990).

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
17
Die meisten Patienten mit akuten Schmerzen werden durch adäquate, kausale Thera-
piemaßnahmen gesund und nicht chronisch schmerzkrank. Unter den Patienten mit
chronischen Schmerzen lassen sich solche mit überwiegend biologischen Ursachen bis
hin zu solchen mit alleinigen psychischen Ursachen finden. (Geissner & Würtele, 1990)
Die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) definiert diesen so:
,,Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder po-
tentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit begriffen einer solchen Schädigung
beschrieben wird." (nach Merskey, 1986)
Daraus gehen einige Aspekte des heutigen bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses
hervor:
1. Objektivierbare periphere Läsionen im Sinne einer organischen Reizauslösung
können fehlen, Schmerz ist eine subjektive Empfindung;
2. Emotionale und organische Komponenten beim Schmerz werden gleichberechtigt
nebeneinander gestellt;
3. Darüber hinaus ist der Nachweis einer Gewebsschädigung nicht nötig, um zu
chronischen Schmerzen zu führen. (Egle & Nickel, 1998)
Eine wichtige, vor allem von Bonica betonte Grunderkenntnis algesiologischer Forschung
ist, daß sich akute und chronische Schmerzzustände voneinander weitgehend unter-
scheiden: Während akuter Schmerz meist monokausal verursacht wird, mit dem Modell
der Nozizeption zu erklären und syndromal gewöhnlich leicht zu erfassen ist, sind chroni-
sche Schmerzzustände oft multifaktoriell bedingt, in ihrer Entstehung ungleich komplexer
und in der Symptomatik vielschichtig. (Geissner & Würtele, 1990)
Damit soll nicht gesagt werden, daß bei Patienten mit akuten Schmerzen die emotional-
affektive Seite keinen Einfluß auf die Schmerzsituation haben könnte. Es ist allerdings
offenbar, daß bei chronischen Schmerzen diese Seite einen dominierenden Charakter
bekommen kann. (Geissner & Würtele, 1990)

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18
Da bei chronischen Schmerzsyndromen Persönlichkeitsfaktoren, psychische Prozesse,
psychosoziale Bezüge und kulturelle Einflüsse sehr viel bedeutsamer als bei Akut-
schmerz sind, befassen sich die aktuellen Analysen zunehmend mit bio-psycho-sozialen
Aspekten der Ätiologie und Therapie chronischer Schmerzen. (Wörz, 1990).
Man ist sich gegenwärtig einig, bei Patienten mit chronischen Schmerzen die biologi-
schen, psychischen und sozialen Ursachen abzuklären und gegebenenfalls therapeutisch
anzugehen. Das bedeutet, daß das bio-psycho-soziale Verständnis nicht nur den Raum
zu Diagnostik und Therapie gibt. Darüber hinaus gibt es zunehmend Hinweise, daß die
bio-psycho-sozialen Komponenten in individuell wechselndem Ausmaß auch als Chroni-
fizierungsfaktoren eines initial akuten Schmerzsyndroms angesehen werden können. In-
sofern ist die frühere monokausale Sicht biologischer Einflüsse zur Chronifizierung schon
seit längerem einem multifaktoriellen Modell gewichen, das zweifellos die Grundlage von
Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzen ist. Mit anderen Worten ist es unum-
gänglich, vor die Therapie chronischer Schmerzen eine ausreichende organische, psy-
chische und soziale Diagnostik zu stellen. Aus dem Ergebnis, das kaum anders als inter-
disziplinär lösbar ist, resultieren Therapieschwerpunkte, sei es in organischer, psychi-
scher, sozialer Hinsicht oder in einer Kombination dieser. Es ist gegenwärtig ungeklärt, in
welchem Zeitablauf die differentialdiagnostische Kausalitätsklärung mit adäquater Thera-
pieschlußfolgerung stattfinden muß. Von einer Gleichzeitigkeit ist auszugehen. (Geissner
& Würtele, 1990)
Zur Klärung können letztlich nur kontrollierte Verlaufsstudien beitragen, die die unter-
schiedlichen fachlichen Standards bio-psycho-sozialer Diagnostik und Therapie in gleich-
rangiger Form berücksichtigen. An internationalen und nationalen Therapiezentren hat
sich diese multifaktorielle Sicht meistens schon länger etabliert, aus wissenschaftlicher
Sicht ist sie allerdings noch nicht ausreichend geklärt.
Die hohe Zahl chronischer Schmerzkranker ­ man schätzt ihre Zahl in Deutschland auf
über 3 Millionen (Zimmermann & Seemann, 1986) - ist gleichbedeutend mit hohem sub-
jektivem Leidensdruck, herabgesetzter psychischer und körperlicher Leistungsfähigkeit,
langen Arbeitsunfähigkeitszeiten, vielfältigen und über Jahre wiederholten diagnostischen
und therapeutischen Prozeduren, Krankenhausaufenthalten, Operationen, Medikamen-
tenverbrauch bis -mißbrauch, häufigem Arztwechsel und häufigen Frühberentungen.

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
19
häufigen Frühberentungen. (Egle, 2000) Hieraus resultiert eine erhebliche ökonomische
Belastung - Schmerzkranke kosten viel Geld. Frühdiagnostik und -therapie sind deshalb
von hohem Stellenwert.
Offenbar gibt es einen großen Anteil von Patienten mit chronischen Schmerzen, denen
auf der organischen Ebene nicht oder nicht ausreichend geholfen werden kann. Dies legt
nahe, daß außer dem Einsatz organisch orientierter Behandlungsverfahren auch andere
therapeutische Verfahren (Entspannungstherapie, Psychotherapie u.a.) zum Einsatz
kommen müssen. (Geissner & Würtele, 1990)
Egle & Nickel (1998) gibt folgende psychische und soziale Faktoren an, die im Rahmen
einer bio-psycho-sozialen Vernetzung Einfluß auf das individuelle Schmerzerleben neh-
men können:
1. Aufmerksamkeit und Ablenkung. Dies kann zu einem Circulus vitiosus führen:
Schmerz - Aufmerksamkeit - verstärkter Schmerz - erhöhte Aufmerksamkeit;
2. Angst und Depression. Angst oder Depression können die Schmerzschwelle sen-
ken und damit das Schmerzempfinden verstärken;
3. Sekundärer Gewinn / Verstärker. Wenn der Schmerzpatient schon vor Einsetzen
der Schmerzen als unangenehm erlebte Tätigkeiten abgenommen bekommt oder
ein vorher nicht gekanntes Ausmaß an Zuwendung oder Aufmerksamkeit erhält,
dann kann dies zur Schmerzaufrechterhaltung und -verstärkung beitragen;
4. Krankheitsattributierung und Bewältigungsmechanismen. Fühlt der Patient sich
zum Beispiel seinen Schmerzen schicksalshaft ausgeliefert, so stellt diese Art der
Krankheitsattributierung eine Voraussetzung für Chronifizierung dar. Prognostisch
ungünstig ist auch eine Neigung des Patienten zu Katastrophengedanken (Ka-
tastrophisierung), dies stellt einen ungünstigen Konflikt- oder Krankheitsbewälti-
gungsmechanismus dar;
5. Schmerzerfahrungen in Kindheit und Jugend können mit spezifischen Affekten
konnotiert sein und später im Leben zu rein psychisch bedingten oder psychisch
mitbedingten Schmerzen führen.

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
20
Bei der organischen und psychosozialen Diagnostik ist eine Begrenzung auf die notwen-
digen Maßnahmen sinnvoll. Dies erfordert Standfestigkeit gegenüber weiteren unbe-
gründeten Forderungen der Patienten nach Wiederholung und Erweiterung der Diagnos-
tik. Ein solches Vorgehen kann nur auf dem Hintergrund eines tragfähigen Kontaktes ge-
lingen, in dem der Patient sich angenommen und als Kranker akzeptiert fühlt. Übersehen
oder Unterbewertung psychosozialer Aspekte der Schmerzerkrankung führt zu häufigem
Arztwechsel (,,medical shopping", ,,doctor hopping") und Chronifizierung durch wiederhol-
te invasive diagnostische und therapeutische Maßnahmen, einschließlich operativer Ver-
suche, Wiederholung von Hoffnung und Enttäuschung, Idealisierung und Entwertung.
Gemeinsames Problem von Arzt und Patient ist oft die einseitige Suche nach der
Schmerzursache im Körper, der multikausalen Diagnostik und Therapie wird zu wenig
Aufmerksamkeit geschenkt.
Epidemiologie
Zimmermann und Seemann geben 1986 für die alten Bundesländer Deutschlands rund
drei Millionen Schmerzpatienten, die jährliche Analgetikakosten von 373,5 Millionen Mark
verursachen, an. (Zimmermann & Seemann, 1986)
Zahlreiche dieser Schmerzkranken hatten bereits seit mehr als 10 Jahren Schmerzen
und waren in dieser Zeit zum Teil bei 10 und mehr Ärzten in Behandlung, letztendlich a-
ber ohne Erfolg. (Zimmermann & Seemann, 1986)
Eine jüngste Befragung in 5 Facharztpraxen in Bochum ergab, daß 36% aller Patienten
an chronischen Schmerzen litten, wobei Frauen doppelt so häufig betroffen waren wie
Männer und die 4 häufigsten Schmerzlokalisationen der Rücken, der Kopf, die Gelenke
und die Beine waren. 15% der
Patienten
mit chronischen Schmerzen waren aufgrund der
Schmerzen berentet oder hatten einen Rentenantrag gestellt. Psychologische Therapie
hatten nur 5% der
Patienten
erhalten. Die bisherige Therapie der Schmerzen bestand
überwiegend aus physikalischer und / oder medikamentöser Therapie. 30% der
Patienten
gaben an, daß bisher keine der durchgeführten Therapien ihre Schmerzen zufrieden stel-
lend hätte lindern können. (Willweber-Strumpf et al., 2000)

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
21
François schreibt 1997, daß chronischer Schmerz verbreitet ist und bei bis zu 15% aller
Personen einer zufällig ausgewählten Bevölkerungsstichprobe vorkommt. Dabei seien
psychosoziale Faktoren häufig involviert und auch Faktoren, die mit Verletzungen durch
Berufs- oder Verkehrsunfälle assoziiert seien. Eine interdisziplinäre Schmerzambulanz
oder -klinik sei sehr hilfreich in der Behandlung komplexer Fälle, insbesondere wenn
auch Psychologen, Sozialarbeiter, Ergo- und Physiotherapeuten bei der Behandlung mit
herangezogen würden. (François, 1997)
Eine Zufallsstichprobe (n=10.000) der schwedischen Bevölkerung (Altersgruppe 18-58
Jahre) zeigte bei einer Fragebogenerhebung (Rücklaufquote: 77.1%) eine Prävalenz
chronischer Schmerzen von 26%. (Mullersdorf & Soderback, 2000)
Zimmermann & Seemann (1986)
3 Mio. Schmerzpatienten (nur alte Bun-
desländer)
François (1997)
Prävalenz bis zu 15% in einer zufällig
ausgewählten Stichprobe. (Das wären
etwa 12 Mio. Schmerzpatienten in ganz
Deutschland)
Willweber-Stumpf et al. (2000)
36% aller Patienten in 5 befragten Fach-
arztpraxen in Bochum
Mullersdorf & Soderback (2000)
Prävalenz 26% in einer zufällig ausge-
wählten Stichprobe in Schweden. (Das wä-
ren etwa 21 Mio. Schmerzpatienten in
ganz Deutschland)
Tabelle 1: Angaben zur Zahl chronischer Schmerzpatienten in Deutschland.
In den USA lagen die Kosten chronischer Schmerzen für die Volkswirtschaft schon 1981
zwischen 85 und 90 Milliarden US $. (Seres et al., 1981)
Egle (1999) nennt für 1986 im Bereich der alten Bundesländer Deutschlands volkswirt-
schaftliche Kosten von ca. 30 bis 40 Milliarden DM für Schmerzpatienten und jährliche
Verordnungen von mehr als 1.000.000 Kilogramm Schmerzmittel und rund 86.000.000
Schmerzmittelrezepte.

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22
Zimmermann & Seemann (1986)
Jährliche Analgetikakosten: 373,5 Mio.
Mark
Egle (1999)
Volkswirtschaftliche Kosten (alte Bundes-
länder) in Deutschland (1986): etwa 30-40
Milliarden Mark
Schmidt (1999)
Umsatz der 66 verordnungshäufigsten
Analgetika im Jahr 1997: 766,2 Mio. Mark
Tabelle 2: Kosten chronischer Schmerzen in Deutschland
Prädiktoren
Das Schmerzausmaß während Verletzungen oder Infekten ist ein wichtiger Prädiktor für
das Ausmaß chronischer Schmerzen (Melzack, 1999)
Auch andere Faktoren, vor allem psycho-soziale, beeinflussen das Entstehen chroni-
scher Schmerzen, z. B. von Rückenschmerzen (Egle, 1999):
1. Patientenalter, weibliches Geschlecht, Arbeitslosigkeit;
2. Schwere der körperlichen Arbeit und Art der erforderlichen Körperhaltung;
3. Unterstützung durch die Familie und Krankheitsgewinn;
4. Schmerzverhalten, Krankheitsattribution, psychopathologische Komorbidität;
5. Schmerzdauer, Therapieerfahrungen, Operationen, Informationsstand zum
Krankheitsbild,
6. Länge der Krankschreibung, Verordnung von Schonung,
7. Biographische Risikofaktoren wie Mißbrauch, Mißhandlung, Vergewaltigung.

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23
Der Zusammenhang mit sexuellem Mißbrauch im Kindesalter ist zunächst überraschend
und gilt als empirischer Beleg zur Bedeutung psycho-sozialer Belastungsfaktoren (Egle &
Nickel, 1998)
Vor einer Überbewertung nur dieses einen Faktors wird abgeraten, das Hinzutreten wei-
terer Risikofaktoren scheint wichtig zu sein. (Egle, 1999)
Linton berichtet 1997 von einer Untersuchung von zufällig ausgewählten Personen der
Altersgruppe 35 bis 45 Jahre. Diese wurden eingeteilt in Personen ohne Schmerzen,
Personen mit milden Schmerzen und Personen mit ausgeprägten Schmerzen. Mittels
Fragebogen wurden Daten zu physischer Mißhandlung und sexuellem Mißbrauch in der
Patientenvorgeschichte erhoben. 2% der Frauen in der Gruppe ohne Schmerzen und 8%
der Frauen in der Gruppe mit ausgeprägten Schmerzen berichteten von physischer Miß-
handlung. 23% der Frauen in der Gruppe ohne Schmerzen und 46% der Frauen in der
Gruppe mit ausgeprägten Schmerzen berichteten von sexuellem Mißbrauch. Für Frauen
konnte festgestellt werden, daß physische Mißhandlung das Risiko ausgeprägte Schmer-
zen zu entwickeln um den Faktor fünf erhöhte und daß sexueller Mißbrauch dieses Risiko
um den Faktor vier erhöhte. Bei Männern war dieser Zusammenhang nur gering ausge-
prägt. (Linton, 1997)
Psychische Komorbidität
Unter psychischer Komorbidität versteht man Depression, Angst, Persönlichkeitsstörun-
gen und Abhängigkeit. Das Vorhandensein einer oder mehrerer dieser Erkrankungen
beeinflußt die Prognose chronischer Schmerzen bzw. die therapeutischen Möglichkeiten
ungünstig. Eine Schmerztherapie ohne Erfassung dieser Morbidität engt die schmerzthe-
rapeutischen Möglichkeiten empfindlich ein. (Egle, 1999)

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
24
Gatchel et al. stellen eine auffallende Komorbidität bei Patienten mit chronischen Len-
denwirbelsäulen (LWS) -Schmerzen fest. Wird die Therapie psychopathologischer Sym-
ptome wirksam in das physiotherapeutisch-medizinische Behandlungs-Konzept einge-
baut, ist das Ergebnis der funktionellen Wiederherstellung gut. Dadurch könnte die psy-
chosozioökonomische Belastung der verbreiteten und teuren Erkrankung aufgehalten
werden. (Gatchel et al., 1994) ­ ein Beleg für die Wichtigkeit psychischer Diagnostik und
Therapie im Rahmen chronischer Schmerzen.
Biopsychosocial model (Engel)
Das Biopsychosoziale Modell nach Engel (1977) geht davon aus, daß biologische und
psychologische Faktoren, sowie gesellschaftliche Einflüsse zusammenwirken und die
Reaktion eines Menschen auf Schmerz mitbestimmen (Abbildung 1).
Einen besonderen Einfluß kann die psychische Komorbidität bekommen. Dies ist eine
psychische Erkrankung, die mit chronischen Schmerzen, aber auch verschiedenen ande-
ren körperlichen Erkrankungen vergesellschaftet sein kann. Psychische Komorbidität und
psychologische Faktoren wie maladaptatives Coping oder psychische Stressoren sind
nicht dasselbe (Gralow, 2000).

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
25
Abbildung 1: Biopsychosocial model nach Engel (1977)
Die Inzidenz des Zusammentreffens von chronischen Schmerzen mit psychischen Er-
krankungen wird unterschätzt. In der neuesten Auflage des Zenz/Jurna (Lehrbuch der
Schmerztherapie) findet man diesen Begriff nicht im Stichwortverzeichnis. Es ist jedoch
seit längerem bekannt, daß die Prävalenz der psychischen Komorbidität unter Patienten
mit chronischen, nicht-tumorbedingten Schmerzen gegenüber der Normalbevölkerung
überrepräsentiert ist (Gatchel & Epker, 1999).
Unter psychischer Komorbidität versteht man Depression, Angst- und Persönlichkeitsstö-
rungen, psychische Abhängigkeit sowie andere psychiatrische Erkrankungen, wenn diese
mit chronischen Schmerzen verbunden sind. Das Vorhandensein einer oder mehrerer
dieser Erkrankungen beeinflußt die Prognose chronischer Schmerzen bzw. die therapeu-
tischen Möglichkeiten ungünstig (Egle, 2000; Gralow, 2000). Eine Schmerztherapie ohne
Erfassung dieser therapiebedürftigen psychischen Komorbidität engt die schmerzthera-
peutischen Erfolg empfindlich ein. (Egle, 1999; Gralow, 2000)
PAIN BEHAVIOR
SUFFERING
PAIN
NOCI-
CEPT.

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
26
Wird allerdings die psychische Komorbidität bei Patienten mit chronischen Rücken-
schmerzen therapeutisch in das Gesamtkonzept eingebaut, behindert die Psychopatho-
logie nicht mehr ein erfolgreiches Therapieergebnis (Gatchel et al., 1994).
Bei einer Prävalenz psychischer und psychosomatischer Störungen in Deutschland von
20-25% (Schepank, 1987) ist mit einer psychische Komorbidität also etwa bei jedem 4.
bis 5. Patienten mit chronischen nozizeptiven oder neuropathischen Schmerzen zu
rechnen (Egle, 1999), die Prävalenz dürfte bei Schmerzpatienten eher noch höher lie-
gen (Gatchel & Epker, 1999). Neueste Prävalenzdaten (Lebenszeit) in Deutschland
(Allgemeinbevölkerung) liegen ebenfalls höher (Meyer et al., 2000), nicht zuletzt auch
wegen der Berücksichtigung von Störungen durch Substanzkonsum inklusive Tabak mit
25,8%.
Allerdings war bisher nicht abschließend zu klären, ob diese Psychopathologie die Ur-
sache oder die Folge chronischer Schmerzen ist (Weisberg & Keefe, 1999).
Auf der Basis des bio-psycho-sozialen Modells müssen alle chronifizierenden Faktoren in
die Therapie einbezogen werden, also auch die psychische Komorbidität. Das gilt nicht
nur für den psychogenen Schmerz (Egle, 1999).
Dadurch könnte die psychosozioökonomische Belastung der verbreiteten und teuren Er-
krankung aufgehalten werden (Gatchel et al., 1994) ­ ein Beleg für die Wichtigkeit psy-
chischer Diagnostik und Therapie im Rahmen chronischer Schmerzen.
Die therapeutischen Konsequenzen für Patienten mit inadäquater Krankheitsbewältigung
und Patienten mit Komorbidität sind auch bei Schmerzpatienten unterschiedlich. Die bio-
psychosoziale Perspektive sei besonders relevant, wenn es um das Verständnis chroni-
scher Schmerzen gehe, denn dann bestünden besonders viele Gelegenheiten, daß
Schmerzen durch biologische, psychologische oder soziale Faktoren beeinflußt werden
könnten (Engel, 1977).

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27
Untersuchte Krankheitsbilder
Die untersuchten Krankheitsbilder, die alle nach der IASP-Klassifikation eingeteilt und
deren Diagnosen nach ICD-10 codiert wurden, werden weiter unten im Text näher
beschrieben.
Rückenschmerzen
Definition
Der Begriff Rückenschmerzen wird hier als Diagnosegruppe benutzt, in die eine oder
mehrere der folgenden Diagnosen fallen können:
1. Schmerzen im Bereich der HWS (ICD M54.2)
2. Schmerzen im Bereich der BWS (ICD M54.6)
3. Schmerzen im Bereich der LWS (ICD M54.4)
4. Schmerzen im Bereich des Steißbeins (ICD M53.3)
Der Mensch verfügt im Gegensatz zu vielen Tieren nicht über ein Panorama-
Gesichtsfeld. Der Rücken und die Lumbalregion sind der visuellen Kontrolle entzogen.
Das begrenzte Gesichtsfeld, das 180°-200° nicht überschreitet, könnte ein Grund dafür
sein, daß sich der Rücken als Projektionsfeld für Konflikte anbietet. Davon zeugen auch
Redewendungen, etwa ,,Rückgrat raus!", ,,Rückgrat haben", ,,einen breiten Rücken ha-
ben", ,,mit dem Rücken zur Wand", ,,dem wurde das Kreuz gebrochen" oder aber eine
übertrieben opportunistische Anpassung : ,,katzbuckeln", ,,zu Kreuze kriechen"). Der Rü-
cken als Projektionsort für feindliche innere und äußere Objekte findet auch sprachlich
seinen Ausdruck: im Angelsächsischen lautet das Idiom für Diffamierung back-biting (,,in-
den-Rücken-beißen"), im Deutschen weist der ,,Hexen-,, oder ,,Elbenschuß" auf eine von
außen kommende Verursachung hin. (Schultz-Venrath, 1993)

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28
Am lumbosakralen Übergang finden sich mehr als 200 radiologische und anatomische
Anomalien, die für sich allein jedoch keinen Krankheitswert haben. Da es sich beim chro-
nischen Verlauf um ätiologisch mindestens ebenso vielfältige Schmerzsyndrome handeln
kann wie beim akuten, ist es gerechtfertigt, von den Lumbago-Ischialgie-Syndromen (LIS)
zu sprechen. (Schultz-Venrath, 1993)
Am Beispiel des LIS sollen hier einige somatische Konzepte vorgestellt werden, die teil-
weise auch für Rückenschmerzen der oberen Wirbelsäulensegmente gelten:
Degenerative Wirbelsäulenveränderungen - alltagssprachlich ,,Verschleiß" genannt -
konnten schon an Fossilien und Neandertalern, aber auch an ägyptischen Mumien und
Pueblo-Indianern nachgewiesen werden. Insofern widersprechen diese Beobachtungen
wohl der gängigen Auffassung , degenerative Veränderungen seien erst ein Phänomen
der Neuzeit. Bis zu den von einem Neurochirurgen und Orthopäden eingeleiteten Para-
digmenwechsel, daß der Bandscheibenvorfall (Diskushernie) alleinige Ursache aller LIS
sei, wurde ein breites Spektrum verschiedenster Ätiologien postuliert, das von lokalen
(Neuritiden) bis zu allgemeineren Entzündungstheorien (Erkältung) und von externen
Druckphänomenen (Luftdruckschwankung) bis zu intern mechanischen Ursachen (Tu-
mor) reichte. (Schultz-Venrath, 1993).
Epidemiologie
Rund 90% der Bevölkerung haben mindestens einmal im Leben klinisch relevante Rü-
ckenschmerzen. Sofern sie Tätigkeiten ausüben, die den Rücken belasten, haben rund
drei Viertel dieser Personen einmal im Jahr Rückenschmerzen. Rückenschmerzen sind
das häufigste Schmerzproblem in der Bevölkerung und der häufigste Grund für eine
Arbeitsunfähigkeit. Die Kosten des Rückenschmerzes in Deutschland werden von Egle
et al. 1999 auf 34 Milliarden Mark im Jahr geschätzt, wobei hiervon 30% auf Behand-
lungskosten und 70% auf Kosten für den Arbeitsausfall entfallen. 60 - 70% der Patien-
ten, die länger als 6 Monate wegen Arbeitsunfähigkeit wegen Rückenschmerzen nicht
arbeiten konnten, kehren nicht mehr in den Arbeitsprozess zurück. (Hildebrand et al.,
1997)

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29
Zenz schreibt 1995, daß in Deutschland statistisch gesehen ständig jeder Dritte unter
Rückenschmerzen leidet, daß Rückenschmerzen die häufigste Ursache für einen Arzt-
besuch und eine stationäre Krankenhausbehandlung seien, daß 165 Millionen Arbeits-
unfähigkeitstage pro Jahr in Deutschland dadurch entstehen und 22 Milliarden Mark als
Folgekosten alleine durch Produktionsausfall in Deutschland dadurch entstehen. 80%
der Patienten erleben laut Zenz (1995) einen Rückgang der Beschwerden innerhalb von
8 Wochen, unabhängig von der Behandlung. Die jährliche Inzidenzrate liegt bei 15-
30%, Rezidive treten in 60-80% der Fälle auf, 7% der Patienten mit akuten Rücken-
schmerzen sind längerfristig arbeitsunfähig und verursachen 80% der Gesammtbe-
handlungskosten des Krankheitsbildes Rückenschmerz. 22% aller Erkrankungsfälle und
32% aller Erkrankungstage mit geschätzten Folgekosten von 42 Milliarden Mark pro
Jahr in Deutschland werden durch chronische Rückenschmerzen verursacht. Chroni-
sche Rückenschmerzen seien für 17% aller Neuzugänge bei Erwerbsunfähigkeits- (EU)
und Berufsunfähigkeits- (BU) Renten und für 36% aller Fälle stationärer Reha-
Maßnahmen verantwortlich. (Zenz, 1995)
Baumann (1998) schreibt, daß 80% der ländlichen Bevölkerung zwischen dem 30. Und
60. Lebensjahr mit akuten bzw. chronischen Kreuzschmerzen belastet seien. Etwa 63%
leiden irgendwann in ihrem Leben an lumbovertebralen Schmerzen, wobei auffällig oft
eine Diskrepanz zwischen den subjektiven Beschwerden und den objektivierbaren Be-
funden bestehe. 20% aller Arbeitsunfähigkeitsfälle in Deutschland erfolgen wegen akuter
oder chronischer Kreuzschmerzen, 50% aller Frührentenanträge seien die Folge von
LWS-Beschwerden. Da speziell die Altersklasse zwischen 40 und 50 Jahren betroffen
sei, verschärfe sich die volkswirtschaftliche Bedeutung dieses Leidens. (Baumann, 1998)
In den USA stieg die Zahl der Invaliden durch lumbales Rückenleiden 14 mal schneller
als die Gesamtbevölkerung . Nur die Hälfte der Patienten, die länger als sechs Monate an
Rückenschmerzen leiden, kehren an ihren Arbeitsplatz zurück. (Schultz-Venrath, 1993).
Prävalenz
Von der im deutschen nationalen Gesundheitssurvey Ost (NGO) von 1991/92 präsentier-

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30
präsentierten Liste von rheumatischen Beschwerden werden Rückenschmerzen mit
Abstand am häufigsten genannt. Rund 26% der Befragten leiden zum
Befragungszeitpunkt unter Rückenschmerzen (Punktprävalenz), 62% geben
Rückenschmerzen ,,während der letzten 12 Monate" an (Jahresprävalenz) und 68%
hatten schon jemals in ihrem Leben Rückenschmerzen (Lebenszeitprävalenz). Um diese
Daten aus Ostdeutschland mit Daten aus der westdeutschen Bevölkerung vergleichen zu
können, wurden mittels postalischer Befragungen 1991/92 in Lübeck und 1990 sowie
1993/94 in Bad Säckingen Daten erhoben. Der Vergleich mit den Bad Säckinger Daten
von 1993/94 betrifft nur Frauen zwischen 35 und 74 Jahren. Die standardisierten
Prävalenzen von Rückenschmerzen in Ostdeutschland lagen 12 bis 19 Prozentpunkte
unter den entsprechenden Werten für die westdeutsche Regionen. (Berger-Schmitt,
1996)
Mit einer Prävalenz von 32% waren chronische Rückenschmerzen das häufigste Ge-
sundheitsproblem in einem Kollektiv von 974 Arbeitern und Angestellten eines Metallbe-
triebes in Deutschland. Dabei waren physische Faktoren wie Heben und Tragen beson-
ders stark mit chronischen Rückenschmerzen assoziiert (multivariable odds ratios > 2.8),
wogegen psychosoziale Stressoren wie Zeitdruck, Konflikte mit Kollegen und Vorgesetz-
ten weniger ausgeprägt mit chronischen Rückenschmerzen assoziiert waren (multivariab-
le odds ratios zwischen 1.4 und 1.8). (Wanek et al., 1998)
Aufgrund methodischer Verschiedenheiten, verschiedenen Zielpopulationen und ver-
schiedenen Zielsetzungen kommt es zu unterschiedlichen Aussagen zur Schmerzpräva-
lenz von Rückenschmerzen in verschiedenen Studien: Die Punktprävalenz wird mit 0.8-
41% und die Einjahresprävalenz mit 15-56% in generellen Gesundheitserhebungen an-
gegeben, während spezielle Erhebungen zu Rückenschmerzen Punktprävalenzen von
14-42% und Lebenszeitprävalenzen von 51-84% angeben. Die höchste Prävalenz wird in
der Altersgruppe der 50-64-jährigen gefunden. (Schochat & Jackel, 1998)
In einer kanadischen Studie wurde die Prävalenz chronischer oder rezidivierender Rü-
ckenschmerzen seit Dienstantritt kanadischer Polizisten mit 54.9% angegeben. Dieser
Wert deckt sich mit der Lebenszeitprävalenz chronischer oder rezidivierender Rücken-
schmerzen der gesamten kanadischen Bevölkerung. (Brown et al., 1998)

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31
Taimela et al. schreiben 1998, daß tiefer Rückenschmerz eine recht häufige Beschwerde
bei Adoleszenten in Finnland sei und ein bedeutsamer Anteil der 14-jährigen leide bereits
an chronischen Rückenschmerzen. (Taimela, 1998)
Zenz (1995)
Punktprävalenz: 33%
Jährliche Inzidenz:15-30%
Berger-Schmitt (1996)
Punktprävalenz: 26%
Jahresprävalenz: 62%
Lebenszeitprävalenz: 68%
(Alle Angaben betreffen neue Bundeslän-
der. Standardisierte Prävalenzen für alte
Bundesländer: 12-19 Prozentpunkte höher)
Hildebrand et al. (1997)
Lebenszeitprävalenz: etwa 90%
Baumann (1998)
Lebenszeitprävalenz: 63%
Wanek et al. (1998)
Punktprävalenz: 32% (in einem deutschen
Metallbetrieb)
Schochat & Jackel (1998)
Punktprävalenz: 0,8 ­ 41%
Jahresprävalenz: 15 ­ 56 %
Lebenszeitprävalenz: 51 ­ 84%
Brown et al. (1998)
Lebenszeitprävalenz: etwa 55% (Kanada)
Tabelle 3: Epidemiologie chronischer Rückenschmerzen in Deutschland (und Kanada).
Psychosomatische Faktoren bei Rückenschmerzen
In der ,,South Manchester Back Pain Study" wurde der Zusammenhang zwischen frühe-
ren Episoden von Rückenschmerz und dem erneuten Auftreten von Rückenschmerz

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32
Rückenschmerz untersucht. 3,1% der Männer und 4,75 der Frauen hatten eine neue
Episode von Rükkenschmerz, die in der Nachbeobachtungszeit von 12 Monaten zum
Aufsuchen eines Arztes führten, während 30,7% der Männer und 32,1% der Frauen
zwar neu aufgetretene Rückenschmerzen hatten, aber sich nicht in Behandlung
begaben. (Papageorgiou et al., 1996)
Beim chronifizierten Rückenschmerz besteht allerdings häufig keine enge Korrelation
zwischen dem Grad der körperlichen Erkrankung und dem Ausmaß subjektiver
Schmerzempfindung sowie der daraus resultierenden lebenseinschränkenden Behinde-
rung. Die bisherigen Ergebnisse epidemiologischer und klinischer Schmerzforschung
lassen den Schluß zu, daß der Chronifizierungsprozeß als ein Resultat komplexer In-
teraktionen somatischer und psychischer Dimensionen sowie sozialer Unterstützungs-
systeme zu verstehen ist. (Gralow, 2000)
Turk & Flor schreiben 1987, daß Nichtbeachtung psychosozialer, psychophysiologischer
und medizinisch-physikalischer Faktoren zu einem unzureichenden Verständnis des Pa-
tienten und unangemessenem therapeutischen Vorgehen führen kann.
Bei 38 Rückenschmerzpatienten mit einer Erkrankungsdauer zwischen 6 Wochen und 6
Monaten wurde 3 Wochen lang das Ulmer Schmerztagebuch (UST) geführt (Kessler &
Hrabal, 1997). Die Analyse der Zusammenhänge zwischen Schmerzintensität, Stimmung
und medizinischen Maßnahmen zeigte signifikante Korrelationen zwischen diesen drei
Variablen. Die Berechnung von Partialkorrelationen ergab neben einem hohen Zusam-
menhang zwischen Schmerzintensität und Stimmung, daß die medizinischen Maßnah-
men weniger mit der Schmerzintensität zusammenhängen als mit dem Ausmaß der
Stimmungsbeeinträchtigung.
Psychosoziale Variablen wurden von Hasenbring & Ahrens im Rahmen einer Pilotstudie
mit prospektivem Studiendesign untersucht, so die Variablen Depressivität und sensori-
sche und affektive Aspekte des Schmerzerlebens. Die Gruppe von Patienten, die nach
Abschluß der Behandlung weiterhin Schmerzen mit oder ohne Sensibilitätsstörungen
angaben, ohne daß eine organische Ursache gefunden werden konnte, unterschied
sich schon vor der Behandlung durch eine deutlich erhöhte Depressivität von den übri-
gen Patienten. Mit dem BDI (Becks Depression Inventory) war eine richtige Vorhersage

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
33
war eine richtige Vorhersage des Behandlungsergebnisses in 86,84% der Fälle möglich.
Zum einen wird hier die im BDI vor allem auf der somatischen und kognitiven Ebene
erhöhte Depressivität als Reaktion auf jahrelang schon bestehende Schmerzen
gedeutet, zum anderen werden diese Ergebnisse als Ausdruck einer "lavierten
Depression" verstanden. Der BDI erwies sich hier als ein hilfreiches Screening-
Instrument. Mit ihm kann auf Patienten hingewiesen werden, für die im Einzelfall eine
differenzierte Psychodiagnostik notwendig ist, so daß, begleitend zur notwendigen
medizinischen Therapie, psychologische Behandlungsangebote gemacht werden
können. (Hasenbring & Ahrens, 1987)
In einer Studie an 82 Patienten
mit lumbalem Bandscheibenvorfall, die sich erstmalig
einer Nukleotomie unterzogen, wurde der Versuch einer statistischen Fundierung und
somit weiterführenden Replikation früherer Ergebnisse von Hasenbring unternommen.
Die Ergebnisse der Studie haben erneut hervorgehoben, daß neben den depressiv-
ängstlichen Vermeidern auch die 2 speziellen Untergruppen mit kognitiven und behavio-
ralen Durchhaltetendenzen ein erhöhtes Risiko bezüglich eines ungünstigen Gene-
sungsverlaufs aufzuweisen scheinen. Diese Daten weisen darauf hin, daß auch psychi-
sche und nicht allein somatische Befunde das Heilungsergebnis von Bandscheibenope-
rationen erheblich beeinflussen können. Dieser Umstand hat dazu geführt, daß operati-
ve Fächer die Indikation zu Bandscheibenoperationen wesentlich enger stellen (Greb-
ner et al., 1999)
Chronische LIS-Patienten über 50 Jahre mit einer mehrjährigen LIS-Krankengeschichte,
einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als vier Monaten, fehlendem neurologischen Defizit,
fehlendem Diskusprolaps, psychosozialen Schwierigkeiten und lumbalen Voroperationen
gehören zu jenen, die von einer Operation, gleich welcher Art, nicht profitieren (Dvorak et
al., 1988; Alaranta et al., 1990)
Eine Untersuchung an 86 ambulanten Rückenschmerzpatienten erbrachte das Ergebnis,
daß körperliche Beschwerden bei der untersuchten Stichprobe im wesentlichen als De-
pressions- und Chronifizierungsäquivalent anzusehen seien. (Hildebrand et al., 1997)
Eine vermehrte Aufmerksamkeitsfokussierung auf körperliche Mißempfindungen (im Sin-
ne einer hypochondrischen Persönlichkeit) konnte dabei nicht bestätigt werden. Die Un-

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
34
Untersuchung ist als weiterer Hinweis darauf zu interpretieren, daß körperliche Beschwer-
den und Depressivität bei Schmerzpatienten in einem circulus vitiosus gesehen werden
können.
Dworkin et al. befragten 1016 Patienten einer großen Health Maintenance Organization
der USA mittels Fragebogen, um Daten zum Vorkommen von fünf Arten von Schmerzen
(Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Abdominalschmerzen, Brustschmerzen und Tem-
poromandibularschmerzen) und deren Assoziation zu affektiven Störungen, Somatisie-
rung und psychischem Streß zu erhalten. Eine logistische Regressionsanalyse zeigte
eine hochsignifikante Beziehung zwischen der Anzahl der berichteten Schmerzzustände
und der Ausprägung von Somatisierung, gemessen nach der Symptom Checklist 90 -
Revised. Individuen mit zwei oder mehr Schmerzzuständen hatten ein erhöhtes Risiko
einer algorithmisch diagnostizierten Depression als Personen, die nur unter einer
Schmerzart litten. (Dworkin et al., 1990)
Behandlung
Die medikamentöse Therapie und weitere Therapiearten müssen kontroverse Probleme
berücksichtigen: u. a. Nebenwirkungen, Kosten, Wirkungen, therapeutischer Nutzen.
Die Behandlung von Rückenschmerzen hat sich in letzten Jahren gewandelt: Mittlerweile
besteht ein breiter Konsens über die Wichtigkeit von aktiven, trainings- und verhaltensori-
entierten Interventionen unter Einschluß edukativer Elemente. Dieses Konzept wurde in
den 80er-Jahren von Mayer und Gatchel vorgestellt. (Mayer & Gatchel, 1998)
Die Bewegungstherapie findet Anwendung im Sinne eines sportmedizinischen Trainings
von Kraft, Ausdauer, Flexibilität und Koordination wie zum Beispiel in Programmen zur
Behandlung von Rückenschmerzen. (Hansen et al., 1998)

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
35
In Göttingen wurde 1990 begonnen, Programme, die ursprünglich aus dem angelsäch-
sischen Bereich vorgestellt wurden, in die Praxis umzusetzen und bezüglich ihrer Effek-
tivität zu analysieren. Sporttherapeutische, ergotherapeutische, physiotherapeutische
und psychotherapeutische Interventionen sind in einem standardisierten Gesamtkon-
zept integriert. Dazu kommt eine differenzierte Berücksichtigung der Arbeitsplatzsituati-
on und die entsprechende Einbindung arbeitsspezifischer Haltungen und Bewegungen
in die Therapie. (Pfingsten, 1998)
In der Ambulanz für Schmerzbehandlung an der Universität Göttingen wurde ein multi-
modales Behandlungskonzept an einer klinischen Stichprobe von 138 Rückenschmerz-
patienten überprüft. Die Patienten durchliefen ein Vorprogramm, wurden während des
fünfwöchigen Hauptprogramms sieben Stunden täglich behandelt und nahmen optional
an einem Nachprogramm teil, wobei während dieser Zeit die schrittweise Wiederauf-
nahme der Arbeitstätigkeit erfolgte (Hildebrandt et al., 1996). Nach Abschluß dieser
Forschungsstudie wurde das Programm auf insgesamt fünf Wochen (eine Woche Vor-
programm, vier Wochen Hauptprogramm) ohne Qualitätsverlust und mit vergleichbaren
Ergebnissen verkürzt durchgeführt. Auch eine nochmalige Verkürzung auf insgesamt 20
Behandlungstage und Reduktion des täglichen Behandlungsumfanges auf sechseinhalb
Stunden ergab keine Verschlechterung des Ergebnisses. (Hildebrandt et al., 2000) Zum
Behandlungsplan des Göttinger Rücken Intensiv Programms (GRIP) gehören Ausdau-
ertraining, Sport/ Spiele, Gruppenpsychotherapie, Entspannungstraining (Progressive
Muskelrelaxation nach Jacobson), Koordinationstraining, Muskelfunktionstraining,
Work-Hardening, Abwärmen (Entlastungsübungen) in 5 Terminen pro Woche (Montag-
Freitag), insgesamt 4 Wochen, pro Termin 6 Stunden Behandlungszeit, zusätzlich Ein-
zelbehandlungen (Krankengymnastik, Psychotherapie) (Hildebrandt et al., 1996, 1997).
Bei den Teilnehmern des Programms handelte es sich um ein Patientenklientel mit er-
heblicher körperlicher, psychischer und sozialer Beeinträchtigung. Von 73 Patienten, die
zuvor im Durchschnitt 9 Monate arbeitsunfähig gewesen waren, arbeiteten zum Zeit-
punkt der 12-Monats-Katamnese über 61% wieder. Besonders aussagekräftig ist, daß
auch noch 2 Jahre nach der Behandlung dieser Wert stabil war (Hildebrandt et al.,
1997)

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36
Als Gesamtersparnis pro Patient in 2 Jahren geben Hildebrandt et al. (1997) an (in DM):
1. Arztkonsultationen:
2.981
2. Medikamente:
946
3. Physikalische Behandlung:
1.438
4. Krankenhausbehandlung:
5.248
5. Stationäre Rehabilitation:
3.176
6. Arbeitsausfallkosten:
53.641
Das ergibt eine Summe von DM 67.430 pro Patient, bzw. DM 33.715 pro Patient und
Jahr.
Mit dem die Aktivität der Patienten fördernden GRIP wurden auch Untersuchungser-
gebnisse (Wadell, 1987) berücksichtigt, die die Abwendung von passiven Maßnahmen
(Ruhe) und die Hinwendung zur aktiven Wiederherstellung der Funktion forderten.
Cassisi et al. berichten 1989 von einer Untersuchung bei 236 Patienten, die wegen
chronischer Rückenschmerzen der LWS zum University of Miami Comprehensive Pain
and Rehabilitation Center (UMCPRC) überwiesen wurden. 61% dieser Patienten konn-
ten telefonisch zu ihren Beschwerden über durchschnittlich 22,5 Monate befragt wer-
den. Die Autoren kommen zum Schluß, daß das UMCPRC-Programm ein effektives
Programm zur Behandlung chronischer LWS-Schmerzen ist. (Cassisi et al., 1989)
Hinsichtlich der Gruppentherapie von LIS-Patienten liegen kaum kontrollierte Untersu-
chungen vor. ,,Patienten mit Wirbelsäulensyndromen" weisen eine wesentlich höhere Ab-
brecherquote (36%) auf als ,,Rheumakranke" (6%) oder ,,heterogene Schmerzkranke"
(25%), was angesichts der spezifischen Persönlichkeitsstruktur und des Autonomie-
Abhängigkeitskonflikts nicht unerwartet scheint (Beutel, 1988).
Um erstmals Daten zur Behandlungseffektivität von Patienten
unter vertragsärztlichen
Bedingungen zu erhalten, dokumentierten in der Region Mittelfranken Vertragsärzte und

------------------------------ Einleitung ----------------------------------
37
deren Patienten
am Anfang und am Ende eines 6 Monate dauernden Behandlungsinter-
valls Daten zur Ergebnisqualität der Therapie. Von 2.100 angeschriebenen Vertragsärz-
ten nahmen 35 (1,7%) Kollegen teil. Nur Patienten, die seit mindestens 4 Wochen über
Rückenschmerzen klagten, wurden eingeschlossen. Hierbei wurden 157 Patienten do-
kumentiert, wovon 20% bei Studienaufnahme dem Chronifizierungsstadium I nach Ger-
bershagen (Gerbershagen, 1986) angehörten, 57% dem Stadium II und 23% dem Stadi-
um III. Die Behandlung war nicht standardisiert und enthielt das bekannte Spektrum nicht-
operativer Verfahren. Die Schmerzintensität, schmerzbedingte Beeinträchtigung im Alltag,
Depressivität und Lebensqualität verbesserten sich zwar signifikant, jedoch waren die
mittleren prozentualen Änderungen sowie die Effektstärken klein. Maximal ein Drittel aller
Patienten verbesserten sich um 30% und mehr vom Ausgangswert oder im Chronifi-
zierungsstadium um eine Stufe. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage änderte sich nicht
signifikant. Prädiktoren für Therapieresponder konnten nicht gefunden werden. (Lang et
al., 2000)
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Rückenschmerzen häufig sind und einen
gesundheitspolitisch bedeutsamen Kostenfaktor darstellen. Die alleinige somatische The-
rapie chronischer Rückenschmerzen hat sich als Irrweg erwiesen. Rückenschmerzpatien-
ten können geradezu als Modell bio-psycho-sozialer Zusammenhänge gesehen werden,
was sowohl ätiologisch, diagnostisch und therapeutisch gilt.

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38
Multilokuläre Schmerzen
Definition
Hierzu zählen in dieser Untersuchung alle Patienten mit Schmerzen an drei oder mehr
Körperregionen. In diese Diagnosegruppe können folgende Diagnosen fallen, sofern da-
bei Schmerzen an drei oder mehr Körperregionen vorkommen:
1. Fibromyalgie (ICD M79.0)
2. Somatoforme Schmerzstörung (ICD F45.4)
3. Polymyalgia rheumatica (ICD M35.3)
4. Polymyositis (ICD M33.2)
5. Dermatomyositis (ICD M33.1)
6. Tumoren (ICD C80)
7. Entzündlich bedingte Radikulopathien (ICD M54.1)
8. Wurzelkompressionssyndrome (ICD M54.1)
9. Myofasziales Schmerzsyndrom (ICD M79.1)
10. Metastasenschmerzen (ICD C80)
11. Arthralgien (ICD M25.5)
12. Arthroseschmerzen (ICD M19.9)
Viele Patienten aus der Diagnosegruppe ,,Multilokuläre Schmerzen" leiden unter Fibro-
myalgie, deswegen soll dieses Krankheitsbild nachfolgend näher dargestellt werden.
Eine weitere große Gruppe innerhalb der Diagnosegruppe ,,Multilokuläre Schmerzen"
stellen Patienten mit somatoformer Schmerzstörung, die deswegen nach dem Kapitel
,,Fibromyalgie" kurz dargestellt werden soll.

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39
Fibromyalgie und deren Begleitsymptome
Ecker-Egle & Egle beschreiben 1993 die Fibromyalgie als ein nichtendzündliches, loka-
lisatorisch generalisiertes und im Verlauf chronisches Schmerzsyndrom im Bereich der
Muskeln, dem Bindegewebe und um Gelenke herum bei dem sich Immer begleitend
zusätzliche vegetative und funktionelle Störungen finden lassen.
Mindestens 11 von 18 Punkten müssen bei digitaler Palpation mit einem Druck von 4
kg/cm
2
an definierten Körperstellen schmerzhaft sein. Die Fibromyalgie weist eine hohe
Inzidenz von Somatisierungen auf:
1. Trockener Mund
2. Hyperhidrose der Hände
3. Raynaud-Syndrom
4. Orthostatische Kreislaufdysregulation
5. Tremor der Hände
6. Respiratorische Arrhythmie
7. Dermographismus
8. Schlafstörung
9. Erschöpfbarkeit
10. Colon irritabile
11. Globusgefühl
12. Herzbeschwerden
13. Atembeschwerden
14. Urogenitalbeschwerden
15. Par-(Dys-)ästhesien. (Ecker-Egle & Egle, 1993)

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40
Nach Ecker-Egle & Egle (1993) kommen folgende Begleitsymptome häufig bei einer
Fibromyalgie vor:
1. Abgeschlagenheit: 78,2%
2. Morgensteifigkeit: 76,2%
3. Schlafstörungen: 75,6%
4. Parästhesien: 67,1%
5. Kopfschmerzen: 54,3%
6. Angst: 44,9%
7. Funktionelle Abdominalbeschwerden: 35,7%.
Die Ätiologie ist weitgehend unbekannt, Hypothesen zur Pathogenese sind wissen-
schaftlich ungesichert und eine standardisierte Therapie ist strittig. Zur Prognose zeigen
Langzeitbeobachtungen, daß durch unterschiedliche Therapiearten zwar das Ausmaß
des subjektiven Erlebens der Krankheit verbessert werden kann, eine Beschwerdefrei-
heit meist jedoch nicht zu beobachten ist. (Ecker-Egle & Egle, 1999)
Der Begriff ,,Fibromyalgie" löste seit seiner Einführung 1976 frühere Bezeichnungen wie
,,Fibrositis", ,,generalisierte Tendomyopathie" oder ,,Weichteilrheumatismus" weitgehend
ab. Bisher hat sich kein primär somatisches Krankheitskonzept bestätigt, ein eindeutig
objektivierbares organisches Substrat hat sich trotz vielfacher Bemühungen nicht nach-
weisen lassen. (Hausotter, 1998)
Komorbidität
Fibromyalgie imponiert mit multilokulären Schmerzen und nimmt an Bedeutung immer
mehr zu, dabei spielt die psychische Komorbidität eine große Rolle.

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41
Epstein et al. (1999) untersuchten an 73 Fibromyalgie-Patienten, ob psychiatrische Ko-
morbidität und psychische Variablen prädiktiv für Fibromyalgie sind. Bei diesen Patienten
wurde eine hohe gegenwärtige und Lebenszeitprävalenz für Depression (major depressi-
on) und Panikattacken gefunden. Die häufigsten Störungen waren:
1. Depression (major depression): gegenwärtige Prävalenz: 22%, Lebenszeitpräva-
lenz: 68%
2. Dysthymia: gegenwärtige Prävalenz: 10%, Lebenszeitprävalenz: fehlt
3. Panikattacken: gegenwärtige Prävalenz: 7%, Lebenszeitprävalenz: 16%
4. Phobie (simple phobia): gegenwärtige Prävalenz: 12%, Lebenszeitprävalenz: 16%
Benjamin et al. (2000) untersuchten mittels Fragebogen eine Zufallsstichprobe aus der
Bevölkerung, die 1953 Personen einschloß (75% Rücklaufquote). Die Beziehung zwi-
schen chronischem weitverteiltem Schmerz (chronic widespread pain, CWP) und psy-
chischen Störungen, wie Angst oder Depression, wurde mittels logistischer Regressions-
analyse untersucht. Die Autoren fanden für psychische Störungen eine Prävalenz von
11,9%. Die Wahrscheinlichkeit unter psychischen Störungen zu leiden, war für Patienten
mit CWP 3,18 mal höher als für Patienten ohne CWP (Konfidenzintervall: 1,97 bis 5,11).
(Benjamin et al., 2000)
Epidemiologie
Am Beispiel der Fibromyalgie soll die Epidemiologie multilokulärer Schmerzen darge-
stellt werden. In Deutschland leiden etwa ein bis zehn Prozent der Bevölkerung an einer
Fibromyalgie, Frauen häufiger als Männer.
Die Fibromyalgie hat
1. eine Prävalenz von mind. 1-2% in der Bevölkerung und tritt in Europa wesentlich
häufiger auf als die chronische Polyarthritis,
2. kommt bei 3,7-20% aller Rheumapatienten vor,
3. betrifft Frauen 2-3 mal häufiger als Männer und

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42
4. beginnt meistens im 25.-50. Lebensjahr. (Zenz, 1995)
Berg gibt eine Prävalenz von 1 bis 10% des Fibromyalgiesyndroms an. (Berg, 2000)
Keitel gibt für die Fibromyalgie folgende Prävalenz an: 1 bis 10% in verschiedenen In-
dustrieländern, 5,8% der Frauen im Alter von 40 bis 60 Jahren in den USA, in Deutsch-
land 7,8%. Finanzielle Belastungen erwachsen der Gesellschaft durch Fibromyalgie im
gleichen Ausmaß wie durch Arthrosen. Bei einem Viertel der Betroffenen bestünde Ar-
beitsunfähigkeit, die Zahl der jährlichen Arbeitsunfähigkeitstage dieser Krankheitsgruppe
ist mit 160 in Deutschland fast zehnmal so hoch wie die der Gesamtbevölkerung; in eini-
gen Gegenden Norwegens sei die Fibromyalgie die häufigste Ursache der Frühinvalidität
bei Frauen. (Keitel, 1999)
Berg (2000)
Prävalenz: 1-10%
Zenz (1995)
Prävalenz: 1-2%, das wären umgerechnet
0,8-1,6 Mio. Pat. in ganz Deutschland
Keitel (1999)
Prävalenz: 1-10%, das wären 0,8-8 Mio.
Patienten in ganz Deutschland.
7,8% der Frauen im Alter von 40-60 Jahren
in Deutschland
Tabelle 4: Epidemiologie der Fibromyalgie in Deutschland
Mittels Fragebogen (Rücklaufquote: 60%) wurden niederländische Allgemeinmediziner
nach dem Vorkommen von CFS und Fibromyalgie befragt. Die daraus geschätzte Präva-
lenz von 157 Fibromyalgiepatienten pro 100.000 Einwohner und 112 CFS-Patienten pro
100.000 Einwohner wird von den Autoren als Minimumschätzung bezeichnet. (Bazel-
mans et al., 1999)
In einer Zufallsstichprobe von 3.006 Personen in Wichita, Kansas, USA, fand sich eine
Prävalenz der Fibromyalgie von 2,0% (95% Konfidenzintervall: 1,4 bis 2,7) für beide Ge-

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43
Geschlechter, 3,4% (95% KI: 2,3 bis 4,6) für Frauen und 0,5% (95% KI: 0,0 bis 1,0) für
Männer. Die Prävalenz nahm mit dem Alter zu, wobei sich die höchsten Werte in de Alters-
gruppe 60 bis 79 Jahre fanden (> 7,0% bei Frauen). (Wolfe et al., 1995)
Bei den Fibromyalgiepatienten überwiegen Frauen deutlich gegenüber Männern, im Ver-
hältnis 85 zu 15. Angaben über die Häufigkeit sind sehr unterschiedlich. In den USA be-
stehe bei 2% der von Hausärzten betreuten Patienten eine Fibromyalgie, bei 5% der von
Internisten betreuten Patienten und bei 10-20% aller Patienten in rheumatologischen
Fachkliniken. Es findet sich auch die Angabe von etwa 3% der Bevölkerung. (Hausotter,
1998)
Prävalenz
Beim Rheumatologen sind mindestens 20% der neuen Patienten von Fibromyalgie be-
troffen, beim Hausarzt mindestens 5%. Auffallend ist die familiäre Häufung: 68% der
Fibromyalgie-Kranken haben mindestens einen Verwandten ersten Grades mit der glei-
chen Erkrankung. Ob dies genetisch bedingt ist oder durch erlernte Verhaltensmuster bei
gleichen psychosozialen Bedingungen innerhalb der Familie, bleibt unklar, denn die Ur-
sachen der Erkrankung sind nach wie vor unbekannt.
Beschwerdebild
Die Beschwerden können ein breites Spektrum umfassen: Außer Schmerzen auch De-
pression, Schlafstörungen oder funktionelle Herzkreislaufbeschwerden.
Inanspruchnahme von Therapie
Fibromyalgiepatienten nehmen häufiger als andere rheumatologische Patienten alternati-
ve Therapien in Anspruch (91% versus 63%) und werden mindestens dreimal häufiger
operiert (Wirbelsäule, Appendix, Karpaltunnel, Hysterektomie).
Arbeitsunfähigkeit, Berentung, Prognose
Die Fibromyalgie ist einer der häufigsten Gründe für Arbeitsunfähigkeit und vorzeitige
Berentung. Die Annahme, dass Fibromyalgie nur in Ländern mit modernem Sozialversi-
cherungssystem vorkommt, ist umstritten. In einer Studie aus den USA war die Fibromy-

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Fibromyalgie-Prävalenz in einer ,,Amish-Community" ohne Sozialversicherungssystem
sogar höher als in der umgebenden, versicherten ,,Normalbevölkerung" (7,2% versus
3,3%). In Großbritannien ist jeder zweite Betroffene nach 4 Jahren nicht mehr berufstätig.
Auf der anderen Seite fanden britische Studien heraus, dass bei verweigerter
Krankengeldzahlung 50% der Betroffenen nach 2 Jahren geheilt sind. Deutsche
Langzeituntersuchungen an über 1000 Patienten über 7 bis 10 Jahre belegen die
Hartnäckigkeit der Symptome der Fibromyalgie. Den meisten Patienten geht es im
Verlauf nicht besser, auch nicht nach einer im arbeitsfähigen Alter stattfindenden
Berentung.
Kosten
Die direkten Kosten, die in Deutschland durch Fibromyalgie entstehen sind erheblich, sie
liegen zwischen einer und acht Milliarden Mark pro Jahr. Bei der Therapie entstehen pro
Patient durchschnittlich 2.500 Mark Kosten pro Jahr. Da die Heilungschancen schlecht
sind, ist eine langjährige Therapie die Regel. Die größten Kostenblöcke betreffen die ärzt-
liche Behandlung mit durchschnittlich 634 Mark, die Medikamentenkosten mit 536 Mark
und die dringend nötige Psychotherapie mit 479 Mark pro Jahr (dazu kommen weitere,
kleinere Kostenblöcke). Dazu addieren sich allerdings noch die indirekten Kosten durch
Arbeitsunfähigkeit (6.630 Mark pro Patient und Jahr) und die Kosten für Berufs-
/Erwerbsunfähigkeit und Frühverrentung (rund 40.000 Mark pro Patient und Jahr). Die
Berechnung geht davon aus, dass die Fibromyalgie zu 89% Frauen im mittleren Alter
zwischen 35 und 50 Jahren betrifft, von denen etwa die Hälfte im Verlauf der Erkrankung
auch an Schlaflosigkeit und Depressionen leidet. (Rautenstrauch, 2000)

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Wolfe et al. (1995)
2% in Kansas (USA)
Hausotter (1998)
3% in USA
Bazelmans et al. (1999)
0,157% Fibromyalgie und 0,112% CFS in
Holland (Minimalschätzung)
Rautenstrauch (2000)
Prävalenz: 3,3% in den USA
Tabelle 5: Epidemiologie der Fibromyalgie in Holland und den USA
Psychosoziale Faktoren bei Fibromyalgie
1987 beschreiben Turk et al. in einer Übersichtsarbeit die Rolle, die Familien in der Ätio-
logie chronischer Schmerzen spielen, den Beitrag, den Familien bei der Unterhaltung
chronischer Schmerzen leisten können und den negativen Einfluß, den chronische
Schmerzen auf Familien haben können. (Turk & Flor, 1987)
1985 stellte Roy die Rolle von Mißbrauch oder Vernachlässigung in der Kindheit beim
Entstehen chronischer Schmerzen heraus und schlug weitere, breit angelegte Forschung
vor. (Roy, 1985)
48 Patienten mit Fibrositissyndrom (von Hell et al. auch generalisierte Tendomyopathie
genannt, Synonym: Fibromyalgie) und 25 Patienten mit chronischer Polyarthritis (bis
Stadium II nach Steinbrocker) wurden in einer Studie auf ihre psychosozialen Merkmale
und ihre Persönlichkeitszüge hin untersucht. Dabei ergaben sich folgende statistisch
signifikante Unterschiede: Die Patienten mit Fibrositissyndrom waren in ihren ersten
Lebensjahren häufiger von ihren Eltern getrennt (25% gegenüber 8%) und hatten selte-
ner eine kameradschaftliche Beziehung durch mindestens einen Elternteil gehabt als
die cP-Patienten (8% gegenüber 48%). Zu ihrer aktuellen Lebenslage sowie zu ihrer
Lebenssituation unmittelbar vor Ausbruch der rheumatischen Erkrankung wiesen sie

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signifikant (p<0,01 bzw. p<0,025) mehr belastende Problembereiche auf als die cP-
Patienten. Verlassenheitsgefühl (durch Partnerverlust) und Einschränkung der eigenen
Leistungsfähigkeit (durch eigene Krankheit) gehen bei zwei Drittel der Patienten mit
Fibrositissyndrom der rheumatischen Erkrankung voraus. Nach den Befunden schildern
sich die Patienten als psychosomatisch gestörter, aggressionsgehemmter, verschlosse-
ner, durchsetzungsunfähiger und emotional labiler als die cP-Patienten. (Hell, 1982)
Die geschilderten psycho-sozialen Einflußfaktoren deuten darauf hin, daß vor einer
Therapie chronischer Schmerzen unbedingt eine umfassende Diagnostik auf diesem
gebiet einschließlich einer biographischen Anamnese wichtig ist. Dabei ist die
Berücksichtigung früher Trennungssituationen oder Verlust eines Elternteils, die Erfas-
sung von Schmerzen in Kindheit und Jugend sowie die genaue Untersuchung der Le-
bensumstände, in der erstmals Symptome einer Fibromyalgie auftraten, aufschluß-
reich. Der Erhebung der biographischen Anamnese kommt bei der Differenzierung psy-
chogener von organischen Schmerzsyndromen eine vermutlich größere Bedeutung zu
als psychodiagnostischen Testverfahren. (Ecker-Egle & Egle, 1993)
Somatoforme Schmerzstörung
Mitunter kann ein fließender Übergang der Diagnose ,,Multilokuläre Schmerzen" zur So-
matoformen Schmerzstörung gesehen werden, und zwar dann, wenn sich überhaupt kein
somatisches Korrelat findet und die Kriterien für die Fibromyalgie nicht erfüllt sind.
Definition
Im Vordergrund der somatoformen Schmerzstörung steht eine schon wenigstens sechs
Monate lang anhaltende Schmerzsymptomatik, welche durch einen physiologischen Pro-
zeß oder eine körperliche Erkrankung nicht hinreichend erklärt werden kann. Neben dem
Ausschluß einer zugrunde liegenden körperlichen Ursache muß gleichzeitig im nahen
zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Schmerzsymptomatik eine psychosoziale
Belastungssituation oder eine innere Konfliktsituation nachweisbar sein. Ein psychophy-
siologischer Mechanismus mit nozizeptiver Reizung, beispielsweise eine funktionelle

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47
funktionelle muskuläre Verspannung oder die Druckpunkte der Fibromyalgie, darf nach
dieser Definition dem Schmerzgeschehen nicht zugrunde liegen. (Egle, 2000).
Epidemiologie
Meyer et al. (2000) haben in einer Studie zur Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen
in Deutschland bei 12,9% somatoforme Störungen gefunden, wobei der Großteil
Schmerz-Störungen darstellt.
In der Universitäts-Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie Mainz liegt der Anteil
bei nicht tumorbedingten Schmerzpatienten bei 25-30%. (Schwab, 1997) Diese Daten
sind durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Klinik für Psychosomatik gesi-
chert, allerdings dürfte die Zuweisungspraxis aus der Umgebung diese hohe Zahl beein-
flussen.
Schwab (1997)
25-30% in einer universitären Schmerzam-
bulanz
Meyer et al. (2000)
Lebenszeitprävalenz: 12,9% in Deutsch-
land, das wären umgerechnet etwa 10,3
Mio. Menschen in Deutschland, die (mind.)
einmal in ihrem Leben von somatoformen
Schmerzen betroffen wären.
Tabelle 6: Epidemiologie der somatoformen Schmerzstörung in Deutschland.
Anamnese und klinischer Befund
Somatoforme Schmerzpatienten beschreiben ihre Schmerzen gehäuft mit affektiven Beg-
riffen (zum Beispiel scheußlich, grauenhaft, beängstigend) und einem hohen Wert auf
einer visuellen Analogskala (VAS: 0 bis 100) zwischen 80 und 100; auffällig ist oft die da-
zu diskrepante geringe affektive Beteiligung bei der Schmerzschilderung. (Egle, 2000)
Der Beginn der Schmerzsymptomatik liegt meist vor dem 35. Lebensjahr, nicht selten in
Kindheit und Jugend. Frauen sind 2-3 mal häufiger betroffen. Besonders häufig betroffen
sind die Extremitäten, aber auch Gesichtsbereich und Unterleib. Auffällig ist eine Häufung

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783842823006
Dateigröße
1.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz – Medizin
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
2
Schlagworte
schmerz akupunktur phantomschmerz multilokulärer psyche
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Titel: Analyse der Einweisungsdiagnose in einer universitären Schmerzambulanz unter dem besonderen Aspekt des Anteils therapiebedürftiger psychischer Störungen bei Patienten mit Rückenschmerzen, Morbus Sudeck, Phantomschmerzen sowie multilokulären Schmerzen
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