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Gesundheit und soziale Ungleichheit in Deutschland

©2011 Diplomarbeit 89 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Gesundheit ist eines der höchsten Güter des Menschen. Sie ist Grundlage und Voraussetzung für das Funktionieren einer Gesellschaft, für Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit und Selbstverwirklichung ihrer Mitglieder. Eine ganze Industrie ist damit beschäftigt, Gesundheit zu schützen, wiederherzustellen und die Folgen von Krankheit zu beseitigen. Doch Gesundheit und Krankheit sind nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt. Seit Jahrtausenden ist allgemein bekannt, dass die Armen durchschnittlich kränker sind als die Reichen, ein Phänomen, das als ‘gesundheitliche Ungleichheit’ bezeichnet wird. Diese Arbeit soll dafür Belege liefern und untersuchen, wie sich Gesundheit und Krankheit auf verschiedene Bevölkerungsgruppen in Deutschland verteilen. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie gesundheitliche Ungleichheit zustande kommt. Anschließend ist zu fragen, inwieweit dieser Zustand ungerecht ist und mit welchen Mitteln er korrigiert werden kann. Denn wie bei allem im Leben stehen auch für den Gesundheitssektor nur begrenzte finanzielle Ressourcen zur Verfügung, und diese sollten möglichst effizient auf die einzelnen Verwendungsmöglichkeiten verteilt werden.
Kapitel 2 gibt zunächst einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Gesundheitssoziologie bis hin zur Sozial-Epidemiologie, sowohl als wissenschaftliche Disziplin als auch als (politische) Institution.
Im folgenden Kapitel 3 wird das deutsche Gesundheitssystem mit seiner Gesetzlichen und seiner Privaten Krankenversicherung sowie den einzelnen Versorgungsbereichen vorgestellt. Es wird danach gefragt, ob gesundheitliche Ungleichheit gleichsam institutionell verordnet ist.
Kapitel 4 widmet sich der Frage, wie unsere Gesellschaft strukturiert ist und wie man soziale Schichten messen kann. Dazu werden fünf Schichtungsmerkmale mit ihren Eigenschaften und Wirkungen vorgestellt, von der klassischen Schulbildung bis zur ethnischen Zugehörigkeit.
Darauf aufbauend wird in Kapitel 5 untersucht, wie sich bestimmte Krankheitsbilder auf die sozialen Schichten verteilen. Als Beispiele wurden Sterblichkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Erkrankungen und der selbstberichtete Gesundheitszustand ausgewählt. Es werden Ergebnisse aus verschiedenen sozial-epidemiologischen Studien der jüngeren Vergangenheit berichtet.
In Kapitel 6 geht es um Belastungen und Ressourcen, jene Faktoren, die im Zusammenspiel Gesundheit und Krankheit mitverursachen. Wenn Belastungen und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Thomas Peter
Gesundheit und soziale Ungleichheit in Deutschland
ISBN: 978-3-8428-2215-3
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland, Diplomarbeit, 2011
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2011

Inhalt
Tabellenverzeichnis III
Abbildungsverzeichnis III
Abkürzungsverzeichnis IV
1 Einleitung
1
2 Geschichte der Gesundheitssoziologie
3
3 Versorgungsungleichheit
8
3.1 Die Gesetzliche Krankenversicherung
8
3.2 Die Private Krankenversicherung
14
3.3 Der Stand der Forschung
16
4 Soziale Ungleichheit
19
4.1 Schulbildung
19
4.2 Berufsstaus
21
4.3 Einkommen
22
4.4 Lebensstil
24
4.5 Ethnische Gruppe
26
5 Morbidität und Mortalität nach Sozialstatus
30
5.1 Mortalität
30
5.2 Herz-Kreislauferkrankungen 33
5.3 Subjektiver Gesundheitszustand
35
5.4 Psychische Morbidität
37

6 Belastungen und Ressourcen
41
6.1 Arbeitswelt
41
6.1.1 Körperliche Belastungen
41
6.1.2 Psychosoziale Belastungen
42
6.1.3 Arbeitslosigkeit
45
6.2 Haushalt, Familie und Wohnumfeld
47
6.2.1 Körperliche Belastungen
47
6.2.2 Psychosoziale Belastungen
48
6.3 Individuelles Fehlverhalten
50
6.4 Ressourcen
53
7 Prävention
57
7.1 Bedeutung von Prävention
57
7.2 Systematik und Akteure
58
7.3 Primärprävention
60
7.3.1 Verhältnisprävention
60
7.3.2 Verhaltensprävention
62
7.3.3 Moderne Ansätze der Primärprävention
63
8 Empirische Studie
66
8.1 Datenbasis
66
8.2 Methoden
68
8.3 Ergebnisse
70
8.4 Diskussion
75
9 Fazit
76
Literaturverzeichnis 80

1
1 Einleitung
Gesundheit ist eines der höchsten Güter des Menschen. Sie ist Grundlage und
Voraussetzung für das Funktionieren einer Gesellschaft, für Wohlbefinden,
Leistungsfähigkeit und Selbstverwirklichung ihrer Mitglieder. Eine ganze Industrie ist
damit beschäftigt, Gesundheit zu schützen, wiederherzustellen und die Folgen von
Krankheit zu beseitigen. Doch Gesundheit und Krankheit sind nicht gleichmäßig über
die Bevölkerung verteilt. Seit Jahrtausenden ist allgemein bekannt, dass die Armen
durchschnittlich kränker sind als die Reichen, ein Phänomen, das als ,,gesundheitliche
Ungleichheit" bezeichnet wird. Diese Arbeit soll dafür Belege liefern und untersuchen,
wie sich Gesundheit und Krankheit auf verschiedene Bevölkerungsgruppen in
Deutschland verteilen. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie gesundheitliche
Ungleichheit zustande kommt. Anschließend ist zu fragen, inwieweit dieser Zustand
ungerecht ist und mit welchen Mitteln er korrigiert werden kann. Denn wie bei allem im
Leben stehen auch für den Gesundheitssektor nur begrenzte finanzielle Ressourcen zur
Verfügung,
und
diese
sollten
möglichst
effizient
auf
die
einzelnen
Verwendungsmöglichkeiten verteilt werden.
Kapitel 2 gibt zunächst einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung der
Gesundheitssoziologie bis hin zur Sozial-Epidemiologie, sowohl als wissenschaftliche
Disziplin als auch als (politische) Institution.
Im folgenden Kapitel 3 wird das deutsche Gesundheitssystem mit seiner Gesetzlichen
und seiner Privaten Krankenversicherung sowie den einzelnen Versorgungsbereichen
vorgestellt. Es wird danach gefragt, ob gesundheitliche Ungleichheit gleichsam
institutionell verordnet ist.
Kapitel 4 widmet sich der Frage, wie unsere Gesellschaft strukturiert ist und wie man
soziale Schichten messen kann. Dazu werden fünf Schichtungsmerkmale mit ihren
Eigenschaften und Wirkungen vorgestellt, von der klassischen Schulbildung bis zur
ethnischen Zugehörigkeit.
Darauf aufbauend wird in Kapitel 5 untersucht, wie sich bestimmte Krankheitsbilder auf
die sozialen Schichten verteilen. Als Beispiele wurden Sterblichkeit, Herz-Kreislauf-
Erkrankungen, psychische Erkrankungen und der selbstberichtete Gesundheitszustand
ausgewählt. Es werden Ergebnisse aus verschiedenen sozial-epidemiologischen Studien
der jüngeren Vergangenheit berichtet.

2
In Kapitel 6 geht es um Belastungen und Ressourcen, jene Faktoren, die im
Zusammenspiel Gesundheit und Krankheit mitverursachen. Wenn Belastungen und
Ressourcen ebenfalls ungleich in der Bevölkerung verteilt sind, dann kommt man der
Ursache von gesundheitlicher Ungleichheit ein ganzes Stück näher.
Nachdem auf diese Weise Erklärungsansätze vorgeschlagen wurden, widmet sich
Kapitel 7 der Prävention und somit der Frage, wie sich die allgemeine Gesundheit
verbessern und gesundheitliche Ungleichheit verringern lässt. Prinzipien und Akteure
werden vorgestellt und die einzelnen Arten von Prävention werden mit ihren jeweiligen
Vor- und Nachteilen beleuchtet.
Kapitel 8 stellt eine eigene empirische Studie auf Basis des SOEP 2008 dar. Neben der
Bestätigung der allgemeinen Erkenntnisse geht es um die Frage, ob und wie das
theoretische Konstrukt ,,Selbstverwirklichungsstreben" eine Vermittlerrolle zwischen
sozio-ökonomischem Status (SES) und Gesundheitsverhalten einnimmt.
Kapitel 9 schließt die Arbeit mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse ab. Außerdem
wird ein Fazit gezogen und kurz über ethische und politische Konsequenzen gesprochen.

3
2 Geschichte der Gesundheitssoziologie
Die Gesundheitssoziologie hat eine relativ lange und wechselvolle Geschichte, die
durch viele Phasen der Blüte und der Stagnation, durch Themenverlagerungen und ­
erweiterungen sowie Kompetenzgerangel zwischen Medizinern und Soziologen geprägt
war.
Der Zusammenhang zwischen Arbeits- und Lebensbedingungen einerseits und erhöhter
Krankheitsanfälligkeit und Mortalität andererseits ist schon seit der Antike bekannt.
Geschichtsschreiber berichteten über extreme körperliche Arbeit, Misshandlungen und
giftige Substanzen, denen Sklaven im alten Ägypten oder auch im Römischen Reich
ausgesetzt waren. Sie führten die geringe Lebenserwartung der Sklaven auf genau diese
Zustände zurück.
1
Die Geburtsstunde einer wissenschaftlicheren Herangehensweise an Themen der
Gesundheitssoziologie kam jedoch erst im 19. Jahrhundert mit der Industriellen
Revolution. Das neue Wirtschaftssystem des Kapitalismus schuf auch eine neue
Gesellschaftsstruktur mit neuen Klassen, namentlich Kapitaleignern und Arbeitern, dem
,,Proletariat". Da die Klassen nun mehr und mehr in denselben Städten zusammenkamen,
stachen ihre unterschiedlichen Lebensbedingungen deutlich ins Auge. Angeregt durch
die politische Diskussion, ob das neue Wirtschaftssystem von Ausbeutung der einfachen
Arbeiter durch das Kapital geprägt sei, begannen Ärzte wie Rudolf Virchow, die
unterschiedliche Morbidität und Mortalität nach sozialem Status systematisch zu
untersuchen, um Beweise für die Ungerechtigkeit des Systems zu finden. Virchow
führte z.B. eine Studie über eine 1847 in Oberschlesien ausgebrochene Typhusepidemie
durch und kam zu dem Schluss, dass ,,die geistige und materielle Verarmung, in der
man [das Volk] hatte versinken lassen"
2
, die Körper anfälliger für diese Erkrankung
gemacht habe. Virchow war es auch, der als erster den Begriff ,,soziale Medizin" prägte.
Er engagierte sich in den folgenden Jahren auch politisch, um an einer Verbesserung der
Lebensverhältnisse für die arbeitende Bevölkerung mitzuwirken. Neben Virchow
befassten sich auch so bekannte Persönlichkeiten wie Friedrich Engels und Karl Marx
mit dieser Thematik. Wegen der noch mangelnden Verfügbarkeit detaillierter
sozioökonomischer und medizinischer Daten untersuchten sie in ihren Studien
hauptsächlich die geringere Lebenserwartung und die erhöhte Kindersterblichkeit in der
1
vgl. Oppolzer 1986, S. 15 ff.
2
Virchow, in: Oppolzer 1986, S. 17 f.

4
Arbeiterklasse. Insgesamt blieb das Interesse an ,,sozialer Hygiene" jedoch bis zur
Jahrhundertwende gering; die Entdeckung des Tuberkulosebazillus und die neue
medizinische Bakteriologie schienen die Frage nach Krankheitsentstehung und ­
Verbreitung ausreichend zu beantworten.
3
Die Rückbesinnung auf die gesellschaftlichen Ursachen von Krankheiten markiert das
Buch ,,Allgemeine Epidemiologie" von Adolf Gottstein aus dem Jahre 1897. Darin führt
er die Entstehung von Seuchen (z.B. Tuberkulose) auf ,,die Herabsetzung der
Konstitutionskraft weiter Schichten der Bevölkerung" zurück und dies wiederum auf
,,den Übergang der Gesellschaft zur industriellen Beschäftigung". Bis zum 1. Weltkrieg
erlebt die Gesundheitssoziologie eine erste Blütezeit, auch wenn man sich über den
Namen der Forschungsrichtung ­ ,,soziale Ätiologie", ,,soziale Medizin", ,,soziale
Hygiene" oder auch ,,soziale Pathologie" nicht ganz einig ist. Neben Gottstein, der 1907
noch das Buch ,,Die soziale Hygiene ­ ihre Methoden, Aufgaben und Ziele" nachlegte,
gehört der Mediziner Alfred Grotjahn zu den einflussreichsten Vertretern dieser Zeit. In
seinem umfangreichen Werk ,,Soziale Pathologie" analysiert er nicht nur den
Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Sterblichkeit durch Infektions-
krankheiten, sondern bezieht auch andere Krankheiten sowie verhaltensbedingte
Risikofaktoren wie Alkoholismus mit ein. Trotzdem verbleibt der Schwerpunkt zu
dieser zeit noch klar auf den Infektionskrankheiten, die damals für die meisten der
Todesfälle verantwortlich waren. Daher kommt auch der Begriff ,,Epidemiologie", der
heute für die Untersuchung der Verteilung aller Krankheiten, nicht mehr nur der
Infektionskrankheiten benutzt wird. Ein weiterer Klassiker ist der Sammelband
,,Krankheit und soziale Lage" von Mosse und Tugendreich, der 20 Studien sowohl zur
,,sozialen Ätiologie der Krankheiten" (Verursachung) als auch zur ,,sozialen Therapie
der Krankheiten" umfasst. Denn es gehörte schon immer auch zu den Zielen der
Gesundheitssoziologie, Politik und Gesellschaft Vorschläge zur Verminderung der
schichtspezifischen Gesundheitsunterschiede vorzulegen, namentlich die Lebens- und
Arbeitsverhältnisse der unteren Schichten zu verbessern. Bemerkenswert ist, dass die 18
Autoren des Sammelbands zum größten Teil Ärzte waren; daran erkennt man, dass die
soziale Hygiene damals noch ein originäres Interessensgebiet der Medizin war, ein
Umstand, der sich im weiteren Verlauf der Geschichte ändern sollte.
4
Zwischen dem Beginn des 1. und dem Ende des 2. Weltkriegs geriet das Bewusstsein
für gesundheitssoziologische Probleme in Vergessenheit; aus dieser Zeit sind keine
3
vgl. Oppolzer 1986, Mielck 1993
4
vgl. Mielck 1993

5
wegweisenden Arbeiten überliefert. Gerade in Deutschland hatte es die Forschung auch
in den Nachkriegsjahren noch schwer, da die Erinnerung an die Rassenhygiene der
Nationalsozialisten noch zu frisch war. Daher kamen die Impulse für eine
Wiederbelebung dieser Forschungsrichtung nach 1950 auch aus den USA (v.a. Parsons
1958), wo sich die Gesundheitswissenschaften bis heute einen beträchtlichen
Forschungsvorsprung bewahrt haben.
In Deutschland begann alles mit der Veröffentlichung des Sonderbandes 3 ,,Probleme
der Medizin-Soziologie" der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholgie
durch René König und Margret Tönnesmann 1958. Zunächst lag der Fokus der
Forschung also einige Jahre lang auf der Medizinsoziologie, jenem Zweig der
Gesundheitssoziologie, der sich mit den Akteuren und Institutionen der professionellen
Krankenversorgung beschäftigt. Das Thema ,,Krankheit und soziale Ungleichheit", um
das es in der vorliegenden Arbeit geht, fand wenig Beachtung, was u.a. daran liegen
mag, dass die Infektionskrankheiten durch verbesserte hygienische Bedingungen und
die Fortschritte der Medizin inzwischen zurückgedrängt worden waren, aber auch daran,
dass soziale Ungleichheit in der ,,nivellierten Mittelstandsgesellschaft"
5
der
Wirtschaftswunderjahre nicht als Problem angesehen wurde. Stattdessen ging es z.B.
um die Soziologie des Krankenhauses und die Soziologie des Arzt-Patient-Verhältnisses.
Aber ab 1968 kam mehr Bewegung in die Wissenschaftslandschaft: mit den durch die
Studentenbewegung ausgelösten gesellschaftspolitischen Veränderungen kam es auch
zur Kritik am medizinischen Versorgungssystem, am Selbstverständnis der Arzt-Berufe
und an gesundheitlicher Ungleichheit. ,,Diese Kritik, gebündelt vorgetragen auf dem
Marburger Kongress ,Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt' 1973, formulierte
Probleme des Gesundheitswesens und der Medizin, die in der Folgezeit Schwerpunkte
gesundheits- und medizinsoziologischer Forschung wurden und zu einem erheblichen
Teil noch heute Wissenschaft und Politik beschäftigen."
6
Es kam zu einer thematischen
Ausweitung der Forschung (z.B. vergleichende Gesundheitssystemforschung), vor
allem aber zu einer Institutionalisierung von Gesundheitssoziologie an deutschen
Hochschulen. Großen Anteil daran hatte wiederum die medizinische Soziologie, da eine
neue Approbationsordnung jene 1970 als Pflichtprüfungsfach für Medizinstudenten
einführte und dementsprechend neue Lehrstühle geschaffen werden mussten.
Die gesellschaftlichen Ursachen von Krankheit wurden weiterhin nur am Rande
behandelt. Dies änderte sich erst Anfang der Achziger Jahre des letzten Jahrhunderts
5
Gerlinger 2006, S. 37
6
Gerlinger 2006, S. 39

6
mit der Veröffentlichung des sogenannten Black Reports in Großbritannien. Nachdem
die Arbeitsgruppe um Townsend dort ,,gravierende Mortalitätsunterschiede nach
sozialer Klasse" aufgezeigt hatte, erschienen nach und nach auch in Deutschland immer
mehr sozial-epidemiologische Studien. Die Disziplin entwickelte sich dabei erst
langsam aber kontinuierlich weiter. Für die soziale Schicht wurden verschiedene
Indikatoren verwendet, angefangen bei den klassischen Indikatoren Schulbildung,
Berufsstatus und Einkommen, über zusammengesetzte Sozialschichtindizes bis hin zu
mehrdimensionalen Einordnungen, die das Milieu und den Lebensstil mit einbeziehen.
Es wurden Zusammenhänge zwischen der Sozialschicht und den verschiedensten
Krankheitsbildern, Risikofaktoren und Belastungssituationen untersucht; zur Erklärung
wird unterschieden zwischen der Drifthypothese (Krankheit verursacht sozialen Abstieg)
und der Kausationshypothese (Mangel an Ressourcen macht krank). Auch
psychiatrische Störungen und Erkrankungen erfahren seit einigen Jahren die erhöhte
Aufmerksamkeit, die ihnen nach Meinung des Verfassers gebührt. Neben ihrer eigenen
pathologischen Bedeutung wird ihnen auch eine Vermittlerrolle zwischen sozialer
Ungleichheit und somatischen Erkrankungen zugeschrieben; Siegrist führte z.B.
kardiovaskuläre Erkrankungen teilweise auf berufliche Gratifikationskrisen zurück, also
auf eine subjektiv erlebte Diskrepanz zwischen beruflichen Belastungen und
(ungenügender) Entlohnung. Die größte Schwierigkeit für die Entwicklung der
sozialepidemiologischen Forschung ist mit Sicherheit die mangelnde Verfügbarkeit von
empirischen Daten. Viel zu selten werden sozioökonomische und medizinische Daten
gemeinsam erhoben. Anders als z.B. in Großbritannien fehlt auf deutschen
Sterbeurkunden der zuletzt ausgeübte Beruf. Deshalb griffen lange Zeit die meisten
Studien auf dieselben Daten der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (DHP)
bzw. der Sozioökonomischen Panels (SOEP) zurück. Inzwischen hat sie die Lage etwas
gebessert, aber es wäre zu wünschen, dass Krankenkassen vermehrt sozio-ökonomische
Daten routinemäßig aufzeichnen.
Die Erkenntnisse der Sozial-Epidemiologie strahlten auch auf die Gesundheitspolitik
aus. Mitte der 1980er Jahre verlagerte sich deren Interesse von der kurativen
Individualmedizin in Richtung einer flächendeckenden Präventionspolitik. Dieses
,,Public Health" genannte Konzept berücksichtigte eine neue Sichtweise aus den USA,
wonach Gesundheit entsteht durch die Balance zwischen Anforderungen und
Belastungen einerseits und individuellen Handlungsressourcen andererseits. In der
Ottawa-Charta der WHO von 1986 wurde diese Definition festgeschrieben und fand

7
weltweit große Beachtung. Für Deutschland bedeutete dies, dass die
Gesundheitsförderung im Rahmen des Public Health die Lebenssituationen der
Individuen berücksichtigen und ihre Bewältigungsmöglichkeiten stärken sollte.
Ging diese Entwicklung von der Wissenschaft aus, so wurde die Wissenschaft ihrerseits
wieder von der politischen Situation beeinflusst. Die Sozial-Epidemiologie erlangte
noch mehr Aufmerksamkeit, und in den 1990er Jahren entwickelte sich das Fach
Gesundheitswissenschaften an deutschen Hochschulen.
Die gegenseitige Abhängigkeit von Politik und Wissenschaft verstärkte sich in den
folgenden Jahren. Angesichts der großen Herausforderungen im Gesundheitssystem
wuchs die Bedeutung gesundheitswissenschaftlicher Erkenntnisse für die politische
Entscheidungsfindung und ­legitimation. Eine dieser Herausforderungen: die hohen
Kosten. Aus diesem Grund gewann die Versorgungsforschung, das letzte neue
Themengebiet, das in diesem Überblick erwähnt werden soll, seit Mitte der 1990er
Jahre stark an Bedeutung. Die Versorgungsforschung beschäftigt sich mit der
Inanspruchnahme und Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens bei gleichzeitiger
Sicherstellung und Kontrolle der Versorgungsqualität, es bestehen also große
Schnittmengen mit der Gesundheitsökonomie.
7
Die Gesundheitssoziologie, speziell die Sozialepidemiologie, ist in Deutschland eng mit
dem Namen Andreas Mielck verbunden. In den von ihm herausgegebenen
Sammelbänden finden sich sowohl Übersichten über die bisherigen Ergebnisse
sozialepidemiologischer Forschung in Deutschland als auch Beiträge internationaler
Autoren und Erstveröffentlichungen neuer Studien. Und auch Mielck steuert immer
wieder eigene Beiträge zu seinen Sammelbänden bei. 1993 erstellte er eine relativ
vollständige tabellarische und kommentierte Auflistung aller bis dahin in Deutschland
veröffentlichter empirischer Studien. Bei Mielck kommen solch renommierte Forscher
wie Alfred Oppolzer und Johannes Siegrist zu Wort.
7
vgl. Mielck 1993, S.35-39; vgl. Oppolzer 1986, S. 15-26; vgl. Gerlinger2006, S. 34-56

8
3 Versorgungsungleichheit
Wenn es darum geht, die sozialen Ursachen von gesundheitlicher Ungleichheit
aufzuzeigen und zu erklären, so muss zunächst einmal ausgeschlossen werden, dass
diese Ungleichheiten durch ungleiche medizinische Versorgung (mit-) verursacht
werden. Zu diesem Zweck wird im Folgenden zunächst das deutsche Gesundheitswesen
mit seinen Prinzipien, Akteuren, Leistungen und Finanzierungsformen vorgestellt.
Systemimmanente Versorgungsungleichheiten sollten sich, soweit vorhanden, schon in
den Gesetzen und Organisationsformen zeigen. Im Anschluss erfolgt ein Überblick über
die Ergebnisse einiger ausgewählter (empirischer) Studien, die sich mit
Versorgungsungleichheit in Abhängigkeit von sozialer Lage oder Versichertenstatus
beschäftigen.
Dieses Kapitel fokussiert nur auf das System der Krankenversorgung. Der gesamte
Bereich der Pflege wird aus inhaltlichen Überlegungen ausgeklammert, der Bereich der
Prävention kommt gesondert in Kapitel 7 zur Sprache.
3.1 Die Gesetzliche Krankenversicherung
In Bezug auf Gesundheitssysteme werden staatliche, privat-wettbewerbliche und
Sozialversicherungssysteme unterschieden. In der Realität sind diese in ihrer Reinform
jedoch fast nirgendwo anzutreffen, es dominieren Mischformen. In Deutschland ist seit
dem Ende des 19. Jahrhunderts ein sehr komplexes, verflochtenes Gesundheitssystem
mit vielen Akteursgruppen gewachsen, das im Kern als Sozialversicherung angelegt ist,
in das jedoch nach und nach Elemente der anderen Systemtypen eingefügt wurden.
8
Die ursprüngliche Leitidee, die im dem Grundsatz nach bis heute gilt, ist, dass jeder,
unabhängig von seiner individuellen Zahlungsfähigkeit, alle medizinisch notwendigen
Leistungen erhalten soll. Daher sind prinzipiell alle Bürger versicherungspflichtig in der
Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Ausnahmen, so wie auch alle übrigen
Bestimmungen, sind im SGB V geregelt. Um das oberste Ziel einer umfassenden
Versorgung zu erfüllen ist die GKV nach drei Prinzipien organisiert: dem
Bedarfsdeckungsprinzip, dem Solidarprinzip und dem Sachleistungsprinzip. Nach dem
Bedarfsdeckungsprinzip erhalten alle Versicherten alle medizinisch notwendigen
8
vgl. Rothgang 2006, S. 304

9
Leistungen; nach dem Solidarprinzip ist die Leistungsgewährung unabhängig von der
Höhe der Beitragszahlung: diese richtet sich nur nach dem Erwerbseinkommen des
Versicherten, so dass Leistungsstärkere für Schwächere mitbezahlen, Gesündere für
Kranke und Alleinstehende für Familien (beitragsfreie Mitversicherung von
Familienangehörigen); nach dem Sachleistungsprinzip erhalten Versicherte ihre
Versorgung als Sachleistung, ohne den Leistungserbringer direkt zu bezahlen.
9
Die Aufgabe der konkreten Ausgestaltung des Gesundheitssystems hat der Staat auf die
Verbände der Leistungserbringer und Finanzierungsträger übertragen, welche den
Status von Körperschaften öffentlichen Rechts haben und sich selbst verwalten dürfen
(,,Selbstverwaltung"). Der Gesetzgeber setzt die Rahmenbedingen und legt zentrale
Merkmale wie den Leistungskatalog der GKV die Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ)
fest; weitere Maßnahmen wie die Einführung neuer Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden, Maßnahmen zur Prävention oder zur Qualitätssicherung sind
zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und den Verbänden der
Krankenkassen auszuhandeln. Dabei stellt der gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte
und Krankenkassen das oberste Gremium dar. Die Richtlinien werden zunächst auf
Bundesebene aushandelt und sind dann von den Landesverbänden der Ärzte und
Krankenkassen, danach auf regionaler Ebene immer weiter zu konkretisieren und
kollektivvertraglich festzulegen. Der Sicherstellungsauftrag für die ambulante
Versorgung liegt bei den KVen, jener für die stationäre Versorgung bei den
Bundesländern. Alle medizinischen Leistungen müssen dabei ausreichend, zweckmäßig,
und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
10
Ambulante Versorgung
Die ambulante Versorgung wird in Deutschland von niedergelassenen Ärzten getragen,
die zur Behandlung von Kassenpatienten als Vertragsärzte der Krankenkassen
zugelassen sein müssen. Dies trifft auf über 90% aller niedergelassenen Ärzte zu,
insgesamt ca. 133.000 in 2005, Tendenz steigend. Die Arztdichte ist mit weniger als
260 Einwohnern je Arzt im internationalen Vergleich relativ hoch.
11
Die nieder-
gelassenen Ärzte sind nicht nur für die Diagnose, Behandlung und Beratung der
Patienten bei leichten und mittelschweren Beschwerden zuständig, sondern sie
veranlassen auch einen Großteil aller anderen Leistungen im Gesundheitssystem. Sie
9
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 125 f.
10
vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 97 ff.
11
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 151

10
verschreiben Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel, weisen Patienten bei Bedarf in ein
Krankenhaus ein und stellen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus.
12
In diesem
Zusammenhang kommt dem sog. Hausarzt eine zentrale Rolle zu: Er soll als erste
Anlaufstelle
integrierte
Behandlungsabläufe
mit
mehreren
beteiligten
Leistungserbringern koordinieren und durch seine Kenntnis der Lebensumstände der
Patienten besser auf deren Bedürfnisse eingehen können. Die Politik verspricht sich von
einer Stärkung der Hausarztposition eine effizientere Versorgung und
Kosteneinsparungen.
13
Trotzdem existiert kein sog. ,,Gate Keeper"-System wie in
anderen Ländern: Versicherte dürfen jeden niedergelassenen Vertragsarzt, auch
Fachärzte, direkt aufsuchen, sie müssen nicht jedes Mal den ,,Umweg" über ihren
Hausarzt gehen.
14
In der Entlohnung der Vertragsärzte dominiert sie sog.
Einzelleistungsvergütung. Jeder Einzelleistung ist durch den Einheitlichen
Bewertungsmaßstab (EBM) ein relativer Punktbetrag zugeordnet (inzwischen auch für
pauschal-ähnliche Ordinationskomplexe); zwischen den KVen und Verbänden der
Krankenkassen wird ein Gesamtbudget ausgehandelt und an die KVen überwiesen;
diese verteilen die Gesamtvergütung nach der erbrachten Leistungsmenge auf die
Vertragsärzte, die Pflichtmitglieder der KVen sind. Es besteht also keine
einzelvertragliche Bindung, weder zwischen Patient und Arzt, noch zwischen
Krankenkasse und einzelnem Arzt. Die Einzelleistungsvergütung schafft für die Ärzte
finanzielle Anreize zur unindizierten Leistungsausweitung. Diesem Problem versucht
der Gesetzgeber mit Praxisbudgets zu begegnen: erbringen Ärzte dieselbe Leistung
innerhalb eines Abrechnungszeitraums zu häufig, werden die über das Budget
hinausgehenden Anwendungen mit einem reduzierten Punktwert vergütet.
15
Stationäre Versorgung
Wenn ambulante Behandlung nicht mehr ausreicht, z.B. weil der Patient kontinuierlich
beobachtet werden muss oder weil der Einsatz teurer Großgeräte geboten ist, so wird er
zur stationären Versorgung in ein Krankenhaus eingewiesen. Es gibt in Deutschland
allgemeine Krankenhäuser, psychiatrische Krankenhäuser sowie Tages- und Nacht-
kliniken, die je nach Größe und Spezialisierung in Einrichtungen der Grund-, Regel-,
Schwerpunkt- und Maximalversorgung unterteilt werden. Anders als bei der ambulanten
12
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 153
13
vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 109 f.
14
vgl. Janßen et al. 2009, S. 152
15
vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 116 ff.

11
Versorgung, die durch privatwirtschaftliche Praxen bereitgestellt wird, befinden sich
Krankenhäuser in privater, freigemeinnütziger oder staatlicher Trägerschaft.
16
Der
Sicherstellungsauftrag für die stationäre Versorgung liegt bei den Bundesländern. Sie
stellen Krankenhauspläne auf und sind für die Investitionsfinanzierung, also den Bau
neuer Häuser, die Finanzierung von Großgeräten usw., zuständig. Ein Krankenhaus, das
in den Landeskrankenhausplan aufgenommen wird, hat Anspruch auf Abschluss eines
Versorgungsvertrags mit den Krankenkassen.
17
Analog zu den KVen gibt es zwar auch
Landeskrankenhausgesellschaften sowie den Spitzenverband Deutsche Krankenhaus-
gesellschaft, sie verfügen jedoch nicht über die gleichen Steuerungskompetenzen wie
die KVen im ambulanten Sektor; es dominieren die oberste und die unterste
Steuerungsebene, also der Staat und das einzelne Krankenhaus.
18
Während die
Investitionskosten von den Bundesländern getragen werden, werden die laufenden
Kosten von den Krankenkassen erstattet (Duale Finanzierung). Nach mehreren
Gesundheitsreformen erfolgt die Vergütung inzwischen über diagnosebezogene
Fallpauschalen, die Diagnosis Related Groups nach australischem Vorbild. Die Anreize,
die von diesem System ausgehen, verleiten die Krankenhäuser dazu, sich
,,einfache" Fälle auszusuchen, den Behandlungsaufwand pro Fall zu reduzieren und
Patienten schnell zu entlassen, um sie bei Bedarf erneut aufzunehmen. Daher wurden im
SGB V verstärkte Qualitätssicherungsmaßnahmen, z.B. über den Medizinischen Dienst
der Krankenkassen, vorgesehen.
19
Der stationäre Sektor nimmt eine zentrale Rolle im deutschen Gesundheitssystem ein.
Obwohl die Krankenhäuser bis auf wenige, neu eingeführte Ausnahmen keine
ambulanten Behandlungen durchführen dürfen, verursachen sie mit 50,3 Mrd. den
größten Ausgabenanteil der GKV (34 % in 2005).
20
Die größte Bedeutung haben
Krankenhäuser für den medizinisch-technischen Fortschritt: neue Behandlungs-
methoden und innovative Großgeräte werden zuerst im Krankenhaus erprobt.
21
Die Zahl der Krankenhäuser in Deutschland ist in den letzten Jahren kontinuierlich
zurückgegangen und betrug 2009 noch 2084. Ebenso gesunken ist die Zahl der Betten
von 609.000 (1995) auf 503.341 (2009). Der Trend geht zu höheren Fallzahlen und
häufigeren (Wieder-) Einweisungen aufgrund demographischer Entwicklungen und
16
vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 137 f.
17
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 169
18
vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 138 f., S.158 ff.
19
vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 152 ff.; vgl. Bäcker et al. 2008, S. 173 ff.
20
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 136
21
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 169

12
steigender Morbidität, aber kürzeren Verweildauern. Neben den Krankenhäusern im
eigentlichen Sinne existieren noch 1.240 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen
mit 171.489 Betten (2009), deren Inanspruchnahme ebenfalls von der GKV bezahlt
wird. Jene gewinnen durch den Vormarsch von chronisch-degenerativen und psycho-
sozialen Erkrankungen immer mehr an Bedeutung, da sie u.a. die Aufgabe haben, die
Erwerbsfähigkeit erkrankter oder behinderter Personen wiederherzustellen.
22
Arzeimittelversorgung
Arzneimittel haben eine außerordentlich große Bedeutung in Diagnostik und Therapie,
so wohl ambulant als auch stationär. Eine Behandlung mit Arzneimitteln bedeutet eine
im Vergleich mit anderen Therapieformen geringe Belastung des Patienten, birgt jedoch
die Gefahr, dass es sich der Arzt mit einer Verordnung ,,zu einfach macht" und die
persönliche Situation des Patienten nicht genügend berücksichtigt. Im Schnitt wird in
Deutschland bei jedem Arztbesuch ein Medikament verordnet, das ergibt insgesamt ca.
570 Mio. Verordnungen in 2004, wobei Frauen mehr Medikamente nehmen als Männer,
Ostdeutsche mehr als Westdeutsche und Alte mehr als Jüngere. Jeder gesetzlich
Versicherte hat im Prinzip einen Anspruch darauf, jedes notwendige Arzneimittel zu
Lasten der Kasse verordnet zu bekommen.
23
Der Markt für Arzneimittel weist einige Besonderheiten auf. An Arzneimittel werden
hohe Ansprüche in Bezug auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit gestellt; aufgrund
fehlender Fachkenntnisse ist Konsumentensouveränität nicht gegeben, und die
Nachfrage ist, speziell bei lebensnotwendigen Medikamenten, preisunelastisch. Die
Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln erfolgt durch eine Vielzahl von
Pharmaunternehmen, deren ausgeprägte wirtschaftliche Interessen im Konflikt zum
öffentlichen Interesse an einer qualitativ hochwertigen und bezahlbaren Versorgung
stehen. Der Vertrieb erfolgt, gesetzlich so vorgeschrieben, durch öffentliche Apotheken,
die die Arzneimittel von Großhändlern beziehen. Nur ausgebildete Apotheker dürfen
eine Apotheke betreiben, und auch erst seit kurzem dürfen sie bis zu drei Filialen
gründen.
24
Jedoch haben die Apotheken nicht mehr das uneingeschränkte Monopol, der
Internetversandhandel mit Medikamenten gewinnt an Bedeutung.
25
22
vgl. Satistisches Bundesamt 2010 (12.05.2011)
23
vgl. Bäcker et al. 2004, S. 161 ff.
24
vgl. Janssen et al. 2009, S. 153
25
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 164 ff.; vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 167 ff.

13
Die Arzneimittelausgaben der GKV betrugen im Jahr 2005 25,9 Mrd. und waren
damit die zweitgrößte Leistungsart der GKV
26
, hinter der Krankenhausbehandlung aber
noch vor der ambulanten ärztlichen Versorgung. Diese Zahl bezieht sich nur auf
Arzneimittel, die von Vertragsärzten verordnet wurden; Arzneimittel, die im
Krankenhaus ausgeben wurden sind darin genauso wenig enthalten wie private
Ausgaben zur Selbstmedikation. Die Tendenz der Arzneimittelausgaben-Entwicklung
ist steigend, und die relative Höhe ist im internationalen Vergleich recht hoch. Deshalb
und wegen der erwähnten Besonderheiten des Arzneimittelmarktes erlässt der
Gesetzgeber immer neue Maßnahmen, um die Qualität zu sichern und die Kosten zu
dämpfen.
Qualitätssicherung: Nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) bedürfen Arzneimittel einer
Zulassung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
oder einer Zulassung durch EU-Institute. Das deutsche Zulassungsrecht stellt jedoch
praktisch keine ausreichend hohen Anforderungen, so dass das Angebot mit
zwischenzeitlich über 50.000 Präparaten auch für Ärzte unübersichtlich groß geworden
war. Inzwischen sind nur noch verschreibungspflichtige Medikamente durch die GKV
erstattungsfähig, eine Negativliste schließt zusätzlich umstrittene Arzneimittel von der
Erstattungspflicht aus. Eine sog. Positivliste könnte das die Versorgungsqualität weiter
erhöhen, ihre Einführung ist jedoch immer wieder am Widerstand der Pharmaindustrie
gescheitert. Beispiele für kostendämpfende Maßnahmen sind die Aut-idem-Regelung,
Fest- bzw. Höchstbeträge, Budgets und Reimporte. Nach der Aut-idem-Regelung sollen
Ärzte nur noch einen Wirkstoff verschreiben, die Apotheken sind dann dafür zuständig,
ein entsprechendes Präparat aus dem unteren Preisdrittel, z.B. ein Generikum,
auszuwählen. Festbeträge sind Preisgrenzen, bis zu denen der Preis eines Medikaments
von den Kassen erstattet wird. Liegt der Marktpreis darüber, muss der Patient die
Differenz bezahlen; in der Praxis hat dies dazu geführt, dass die Herstellerpreise
gesunken sind, auch wenn die Pharmaindustrie zwischenzeitlich Schlupflöcher
gefunden hatte, ihre Wenigereinnahmen auszugleichen, z.B. mit sog. Analogpräparaten.
Mit Arzneimittelbudgets wurde einige Zeit lang versucht, die Gesamtmenge der
verordneten Arzneimittel zu begrenzen, allerdings wurde diese Regelung 2001 wieder
aufgehoben. Apotheken sind dazu verpflichtet, einen gewissen Prozentsatz (2003: 7 %)
ihres Umsatz mit importierten Medikamenten zu machen, da diese im Ausland zumeist
billiger sind.
26
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 136

14
Eine Kostendämpfungsmaßnahme ist von besonderer Relevanz für dieses Kapitel, da sie
im Verdacht steht, Versorgungsungleichheit zu verursachen: die Zuzahlungen. Seit
2004 müssen gesetzlich Versicherte 10 % des Preises jeder Verordnung selbst tragen
(jedoch mindestens 5, höchstens 10 ). Dies soll zum einen die Kassen direkt entlasten,
zu anderen indirekt ein zurückhaltendes Nachfrageverhalten der Patienten bewirken.
Eine solche Steuerungswirkung kann allerdings kaum erreicht werden, da wie gesagt
der Patient nicht souverän über seine Nachfrage entscheidet, sondern die Medikamente
zumeist verordnet bekommt. Der Effekt ist also vor allem eine Umverteilung
zuungunsten der Kranken, die nicht mit dem Solidarprinzip vereinbar ist. Allerdings ist
der Effekt, auch durch eine spezielle Überforderungsklausel, eher geringfügig, so dass
man nicht von einer Unterversorgung oder Versorgungsungleichheit ausgehen kann.
27
3.2 Die Private Krankenversicherung
Die bisher behandelte GKV ist von überragender Bedeutung für die gesundheitliche
Versorgung, sind doch ca. 88 % aller Menschen in Deutschland dort versichert.
Allerdings sind bestimmte Personengruppen von der Versicherungspflicht in der GKV
befreit: Beamte, Selbständige, und abhängig Beschäftigte mit einem Einkommen
oberhalb der sog. Versicherungspflichtgrenze. Solche Personen können sich in der
Privaten Krankenversicherung (PKV) versichern, indem sie mit einer der ca. 100
privaten Versicherungsunternehmen einen Versicherungsvertrag abschließen. Der PKV-
Markt ist stetig im Wachstum begriffen, 2005 waren immerhin schon rund 10 Mio.
28
Menschen privatversichert, GKV-Versicherte mit privaten Zusatzversicherungen nicht
inbegriffen.
Da die Akteure der PKV gewinnmaximierende Unternehmen sind, existieren einige
grundlegende Unterschiede zwischen den Versicherungssystemen der GKV und der
PKV. In der PKV gilt nicht das Solidarprinzip, sondern das Risikoäquivalenzprinzip,
das heißt, die Höhe der Versicherungsprämie richtet sich nicht nach dem Einkommen
des Versicherten, sondern nach seinem Krankheitsrisiko. Das Risiko wird bemessen
nach Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen. Anders als in der GKV besteht auch kein
Kontrahierungszwang, so dass die Versicherungsunternehmen Kunden mit zu hohen
27
vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 172 ff.; vgl. Bäcker et al. 2008, S. 166ff.
28
vgl. Janßen et al. 2009, S. 152

15
Risiken ablehnen können. Die Finanzierung der Leistungen erfolgt in der GVK durch
das Umlageverfahren, in der PKV durch das Anwartschafts- bzw. Kapitaldeckungs-
verfahren: der Versicherte hat soviel an Beiträgen zu zahlen, dass es seiner
rechnerischen Inanspruchnahme im Laufe seines Lebens entspricht. Daher steigen die
Beiträge mit steigendem Lebensalter, und zusätzlich werden in jungen Jahren gesetzlich
vorgeschriebene Altersrückstellungen (verzinslich) angelegt.
In der PKV existiert kein einheitlicher Leistungskatalog wie in der GKV; Kunden
können je nach Anbieter aus unterschiedlichen ,,Paketen" wählen, wobei einige GKV-
Leistungen fehlen können, und andere Leistungen über das GKV-Angebot hinausgehen.
Während Leistungen in der GKV nach dem Sachleistungsprinzip erbracht werden, gilt
in der PKV das Kostenerstattungsprinzip. Der Patient tritt z.B. mit seinem Arzt in eine
Vertragsbeziehung und erhält eine Rechnung, die er bei seiner Kasse einreicht. Diese
erstattet ihm, je nach gewähltem Versicherungstarif, anteilig die Behandlungskosten.
Zwischen Krankenkasse und Arzt besteht keine Vertragsbeziehung. Hier deutet sich
schon an, dass die privaten Krankenkassen und ihre Verbände kaum in die Steuerung
des Gesundheitssystems eingebunden sind und demnach auch keine Kontrolle über
Kostenentwicklung und Qualitätssicherung haben. Lediglich im Krankenhaussektor sitzt
der
PKV-Verband
bei
Verhandlungen
zwischen
GKV-Verbänden
und
Krankenhausgesellschaften ,,mit am Tisch".
Die Behandlung von Privatpatienten wird nicht nach dem EBM, sondern nach der
Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) vergütet, die von der Bundesregierung erlassen wird.
Ärzte dürfen die jeweiligen festen Punktwerte dann noch mit sog. Aufschlagfaktoren
um das bis zu 3,5-fach erhöhen. Auch deshalb sind die Ausgaben der PKV in den
letzten Jahren noch stärker gestiegen als jene der GKV und beliefen sich 2008 auf
immerhin 24,9 Mrd. .
29
Die Existenz der PKV und die Zugangsregelungen mit der Versicherungspflichtgrenze
relativieren das Solidarprinzip der Sozialversicherung, denn sie erlauben es Besser-
verdienenden, aus der Solidargemeinschaft auszutreten und ihr ihre finanzielle
Leitungskraft vorzuenthalten. Vor allem jüngere, gesündere und alleinstehende
Menschen nutzen diese Möglichkeit, da für sie die Beiträge unterhalb derjenigen der
GKV liegen und sie das Recht zur beitragsfreien Mitversicherung von Familienange-
hörigen nicht benötigen. Ob aus dem Nebeneinander von GKV und PKV tatsächlich
29
vgl. Statistisches Bundesamt 2010

16
eine relevante Chancenungleichheit in Bezug auf die gesundheitliche Versorgung
erwächst, wird im nächsten Abschnitt zu klären sein.
30
3.3 Versorgungsungleichheit: Der Stand der Forschung
Das deutsche Gesundheitssystem stellt eine umfassende Versorgung sicher. Der
Umfang und die Qualität der Versorgung sind im internationalen Vergleich nach
Meinung von Janßen et al. auf einem relativ hohen Niveau. Dazu trage vor allem eine
hohe Arzt-, Krankenhaus- und Apothekendichte bei, aber auch der moderne
technologische Stand der Ausstattung mit diagnostischen und therapeutischen Geräten
sowie die ,,einfachen Zugangsmöglichkeiten zur ambulanten und stationären
Behandlung". Ob trotzdem in einigen Bereichen wie der integrierten Versorgung, der
Ausbildung der Ärzte im Hinblick auf evidenzbasierte Leitlinien und psychosomatische
Beschwerden, oder der Ausgabenentwicklung noch Verbesserungspotentiale liegen, soll
an dieser Stelle nicht das Thema sein, denn dies betrifft alle Patienten gleichermaßen.
Festzuhalten ist, dass Versorgungsungleichheit nach sozialer Schicht nach dem Gesetz
ausgeschlossen worden ist. Alle GKV-Versicherten, und das ist die große Mehrheit der
Einwohner, haben die gleichen Ansprüche auf umfassende aber wirtschaftliche
Versorgung. Wichtig: auch die Bezieher von Arbeitslosengeld (ALG I) und Hartz IV
sind in der GKV pflichtversichert.
31
Theoretisch existiert also keine Versorgungsungleichheit. In der Realität kann unter
Umständen aber doch Versorgungsungleichheit aus sozioökonomischer Ungleichheit
entstehen. Mögliche Ursachen dafür sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Einschränkungen der Grundprinzipien der Sozialversicherungen, z.B.
Einkommensbemessungsgrenze, Zuzahlungen
- Unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten
- Unterschiede in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient
- Nebeneinander der Systeme GKV und PKV
30
vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2004, S. 103 ff.; vgl. Bäcker et al. 2008, S. 143 ff.
31
vgl. Bäcker et al. 2008, S. 126 f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2011
ISBN (eBook)
9783842822153
DOI
10.3239/9783842822153
Dateigröße
1005 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Bergische Universität Wuppertal – Fachbereich B - Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Finanz- und Bankwirtschaft
Erscheinungsdatum
2011 (November)
Note
2,0
Schlagworte
gesundheit ungleichheit schichtungsmerkmal gesellschaft gesundheitssystem
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Titel: Gesundheit und soziale Ungleichheit in Deutschland
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