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"Es ist, außer Gott, gar nichts wahrhaftig": Fichtes Anweisung zum seligen Leben vor dem Hintergrund von Kants praktischer Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Postulatenlehre

©1995 Masterarbeit 157 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Studium von Kants Kritik der praktischen Vernunft spielte für Fichtes philosophische Entwicklung eine entscheidende Rolle, wie seine Aussage darüber belegt: ‘Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe’. Die Kritik der reinen Vernunft dürfte gleichermaßen zu Fichtes Sinneswandel beigetragen haben, da sie Voraussetzung zum Verständnis der zweiten Kritik ist. Kants philosophischer Einfluß auf Fichte war so entscheidend, daß dieser sich vom Determinismus abwandte. Hatte Fichte zuvor die Ansicht vertreten, jede menschliche Handlung erfolge mit Notwendigkeit aus einem Ursache-Wirkungs-Prinzip, so überzeugte ihn das Studium der Kantischen Kritiken von der Freiheit der Vernunft. Die Konzeption eines unbedingten Sollens in der Formulierung des kategorischen Imperativs sowie die der Korrelation von Freiheit und Sittengesetz bewirkten eine ‘kopernikanische Wende’ in Fichtes Denken hin zur selbstbestimmenden Vernunft. Dies ließ ihn in einem Brief schreiben, er sei jetzt ‘gänzlich überzeugt, daß der menschliche Wille frei sei, und daß Glückseligkeit nicht der Zweck unseres Daseins sei, sondern Glückswürdigkeit.’ Dennoch kritisierte Fichte die Grundlagen der Kantischen Ethik in der Anweisung zum seligen Leben scharf, und grenzte sich in seiner mit der Religionsphilosophie einhergehenden ethischen Konzeption expressis verbis von Kant ab.
Da Philosophieren immer in einem Verhältnis von Philosophen zueinander geschieht, das Gemeinsamkeiten bestätigt oder Unterschiede und konkrete Gegensätze herausarbeitet, ist die Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit, sich nicht von einer Interpretation Fichte gegen Kant oder vice versa leiten zu lassen, sondern die Aufmerksamkeit auf strukturelle Gemeinsamkeiten im vermeintlichen oder behaupteten Unterschied zu richten. Die Kritik Fichtes an den Grundlagen der Moraltheorie Kants gab den Anstoß, die Leitbegriffe der praktischen Philosophie Kants textnah und im Zusammenhang darzustellen, so daß es möglich ist, im Anschluß seine Kritik zu relativieren.
Die Arbeitsgrundlage ist der Anspruch, zwei großen Philosophen gerecht zu werden. Deshalb bemüht sich die Darstellung von Kants ethischer Theorie und Fichtes Religionsphilosophie um die Nähe zum Text und versucht doch, in kritischer Distanz zu einem eigenen Standpunkt zu kommen.
Die praktische Philosophie Kants und seine Postulatenlehre ist Thema des ersten Kapitels. Sie bilden den Ausgangspunkt für […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sigrid Eckold
"Es ist, außer Gott, gar nichts wahrhaftig": Fichtes Anweisung zum seligen Leben vor
dem Hintergrund von Kants praktischer Philosophie mit besonderer Berücksichtigung
der Postulatenlehre
ISBN: 978-3-8428-2198-9
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland, MA-Thesis /
Master, 1995
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2011

INHALT
Einleitung
1
Kapitel 1: Die praktische Philosophie Kants als Hintergrund für Fichtes
Religionslehre
4
1.1 Kants Anspruch an eine Moralphilosophie
4
1.2 Kants Pflichtbegriff
5
1.3 Der Kategorische Imperativ
1
0
1.4 Die Korrelation von Freiheit und Sittlichkeit
2
3
1.4.1 Das Faktum der Vernunft
2
5
1.4.2 Der Mensch als Bürger zweier Welten: Die Begriffe
"intelligibler" und "empirischer" Charakter
28
1.5 Die Postulatenlehre
3
2
1.5.1 Die Konzeption des höchsten Gutes: Ist die Einheit von
Tugend und Glückseligkeit möglich?
3
3
1.5.2 Die Antinomie der praktischen Vernunft
3
4
1.5.3 Die Postulate der Unsterblichkeit der Seele und der
Existenz Gottes: Garanten des höchsten Gutes?
39
1.5.4 Das Postulat der Freiheit
47
1.5.5.Schlußbetrachtung zur Postulatenlehre
5
0
Kapitel 2: Der transzendentale Fragehorizont bei Kant und Fichte
5
8
2.1 Kant und Fichte: Die Frage nach der Einheit der
Erkenntnis
5
8
2.1 Synthesis und Transzendentalphilosophie
6
2
2.3 Die "Ding an sich"-Problematik
6
5
2.4 Fichtes Entwicklung der Transzendentalphilosophie
7
0
2.4.1 Fichte und Spinoza
7
3
Kapitel 3: Der transzendentale Aufbau der Religionslehre
78
3.1 Der Aufstieg zum Absoluten: Die Anweisung zum
seligen
Leben
aus der Perspektive der Wissenschafts-
lehre von 1804
78
3.2 Das "in sich geschlossene Singulum"
8
1
3.3 Die Differenz des Absolutem zum absoluten Wissen:
Das Gesetz der Projektion
8
6
3.3.1 Der Begriff der absoluten Liebe als höchstes Einheits-
und Spaltungsprinzip
9
1
3.3.2 Das Gesetz der Reflexion
9
5
3.4 Das Schema der Fünffachheit
10
1
3.4.1 Der Standpunkt der Sinnlichkeit
10
3
3.4.2 Die Stufe der Legalität
10
6
3.4.3 Der Standpunkt der Moralität
11
4

3.4.4 Der Standpunkt der Religion
12
1
3.4.5 Der Standpunkt der Wissenschaft
12
8
Kapitel 4: Die kantischen Postulate aus der Perspektive von Fichtes
Religionslehre
13
2
4.1 Die Glückseligkeit "jenseits des Grabes": Die
Unsterblichkeit der Seele in der Religionslehre
13
4
4.2 Freiheit als unerläßliche Bedingung der Sittlichkeit -
13
6
Kants Freiheitspostulat im Lichte der Anweisung
4.3 "Es ist, außer Gott, gar nichts wahrhaftig"
14
0
Schlussbetrachtung
14
4
Literaturverzeichnis
1
49

1
EINLEITUNG
Das Studium von Kants Kritik der praktischen Vernunft spielte für Fichtes
philosophische Entwicklung eine entscheidende Rolle, wie seine Aussage dar-
über belegt: "Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der prakti-
schen Vernunft gelesen habe" (GAIII,I,167).
1
Die Kritik der reinen Vernunft
dürfte gleichermaßen zu Fichtes Sinneswandel beigetragen haben, da sie
Voraussetzung zum Verständnis der zweiten Kritik ist. Kants philosophischer
Einfluß auf Fichte war so entscheidend, daß dieser sich vom Determinismus
abwandte. Hatte Fichte zuvor die Ansicht vertreten, jede menschliche Hand-
lung erfolge mit Notwendigkeit aus einem Ursache-Wirkungs-Prinzip, so über-
zeugte ihn das Studium der Kantischen Kritiken von der Freiheit der Vernunft.
2
Die Konzeption eines unbedingten Sollens in der Formulierung des kategori-
schen Imperativs sowie die der Korrelation von Freiheit und Sittengesetz be-
wirkten eine "kopernikanische Wende" in Fichtes Denken hin zur selbstbestim-
menden Vernunft. Dies ließ ihn in einem Brief schreiben, er sei jetzt "gänzlich
überzeugt, daß der menschliche Wille frei sei, und daß Glückseligkeit nicht der
Zweck unseres Daseins sei, sondern Glückswürdigkeit." (GAIII;1,171) Den-
noch kritisierte Fichte die Grundlagen der Kantischen Ethik in der Anweisung
zum seligen Leben scharf, und grenzte sich in seiner mit der Religionsphi-
losophie einhergehenden ethischen Konzeption expressis verbis von Kant ab.
Da Philosophieren immer in einem Verhältnis von Philosophen zueinan-
der geschieht, das Gemeinsamkeiten bestätigt oder Unterschiede und konkrete
Gegensätze herausarbeitet, ist die Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit,
sich nicht von einer Interpretation Fichte gegen Kant oder vice versa leiten zu
lassen, sondern die Aufmerksamkeit auf strukturelle Gemeinsamkeiten im
vermeintlichen oder behaupteten Unterschied zu richten. Die Kritik Fichtes an
den Grundlagen der Moraltheorie Kants gab den Anstoß, die Leitbegriffe der
praktischen Philosophie Kants textnah und im Zusammenhang darzustellen, so
daß es möglich ist, im Anschluß seine Kritik zu relativieren.
1
Fichtes Briefe werden zitiert nach der J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der
Wissenschaften. Hrsg. v. R. Lauth, H. Jacob u. H. Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. Die
röm. Zahl nennt die Reihe, die erste arabische den Band, die zweite die Seite.
Alle Hervorhebungen in den gesamten Zitaten dieser Arbeit stammen aus den zitierten Schriften.
Eigene Hervorhebungen sind kenntlich gemacht.
2
Vgl. Wilhelm G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, S. 21ff.

2
Die Arbeitsgrundlage ist der Anspruch, zwei großen Philosophen gerecht zu
werden. Deshalb bemüht sich die Darstellung von Kants ethischer Theorie und
Fichtes Religionsphilosophie um die Nähe zum Text und versucht doch, in
kritischer Distanz zu einem eigenen Standpunkt zu kommen.
Die praktische Philosophie Kants und seine Postulatenlehre ist Thema
des ersten Kapitels. Sie bilden den Ausgangspunkt für Fichtes Moralbegrün-
dung in der Religionslehre. Weil Fichte darin einen anderen Weg als Kant ein-
schlug, wird der Lehre von den Postulaten besondere Aufmerksamkeit gewid-
met. Zielsetzung ihrer Darstellung ist der Versuch, eine Antwort auf die Frage
zu finden, ob das Kernstück in der "Dialektik" der Kritik der praktischen Ver-
nunft, nämlich der Begriff des "höchsten Gutes" und die Postulate "Gott",
"Freiheit" und "Unsterblichkeit der Seele", nachweislich eine Inkonsequenz
Kants im System der praktischen wie theoretischen Vernunft widerspiegelt.
Weil Fichtes Reflexionsniveau in der Anweisung den methodischen Ort
seiner philosophischen Theorie impliziert und für diese die transzendentale
Fragestellung Kants Bedingung ist, wird im zweiten Kapitel die Antwort Kants
und Fichtes auf die Frage, "Was kann ich wissen?" kurz beleuchtet. Eine Skiz-
ze ihrer Methodik in der theoretischen Philosophie soll gemeinsame Ansätze
und unterschiedliche Weiterführungen andeuten, so daß die Struktur ihres
transzendentalen Fragens in ihren konstitutiven Schwerpunkten ausgelotet
wird.
Im Anschluß daran wird im Rekurs auf den zweiten Vortrag der Wissen-
schaftslehre von 1804 der methodische Weg Fichtes zum Absoluten skizziert,
da Fichtes Religionslehre von 1806, Die Anweisung zum seligen Leben, die in
der Wissenschaftslehre von 1804 systematisch erarbeitete höchste Einheit von
Sein und Denken zum Ausgangspunkt hat. Dieses Vorgehen soll den Boden
bereiten für die dann folgende systematische Darstellung von Fichtes Re-
ligionslehre. Der Exkurs zur Wissenschaftslehre erscheint angebracht, um aus
ihrer Perspektive von 1804 die Anweisung in den Zusammenhang von Fichtes
philosophischer Konzeption zu integrieren.
Die Aufgabe, die Anweisung in ihrer leitmotivischen Aussage "Es ist,
außer Gott, gar nichts wahrhaftig" aus dem Kontext der praktischen Philoso-
phie Kants zu beleuchten, wird sich besonders Fichtes Antwort auf die Fragen
"Was soll ich tun?" und "Was darf ich hoffen?" zuwenden, um seine Moralbe-
gründung darzustellen.

3
Das vierte Kapitel betrachtet die Postulatenlehre im Spiegel der Religionslehre
Fichtes. Eine Schlußbetrachtung faßt die Ergebnisse dieser Arbeit noch einmal
zusammen.

4
KAPITEL
1
DIE PRAKTISCHE PHILOSOPHIE KANTS
ALS HINTERGRUND FÜR FICHTES RELIGIONSLEHRE
1.1 Kants Anspruch an eine Moralphilosophie
Alle Philosophie, deren Lehren auf apriorischen Prinzipien ruhen, nennt Kant
zu Beginn der Grundlegung der Metaphysik der Sitten "reine Philosophie", die
in Logik und Metaphysik unterschieden wird (BAIIIff)
3
; die Metaphysik wie-
derum wird nochmals in zwei Gebiete geteilt: Die "Metaphysik der Natur" und
die "Metaphysik der Sitten" (GMS;BAVIf). In der Metaphysik der Sitten, auch
Ethik genannt, findet sich ein empirischer und ein rationaler Aspekt, wobei der
empirische als "praktische Anthropologie", der rationale dagegen mit dem Be-
griff "Moral" bezeichnet werden kann. Kant stellt sich in der Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten die Aufgabe, eine reine Moralphilosophie zu begründen,
die keinerlei empirische Elemente enthält. Wären empirische Elemente in einer
Moralphilosophie anzutreffen, müßte diese de facto der praktischen Anthropo-
logie zugeordnet werden. Um aber die oberste Norm in der Beurteilung der
Sitten festzusetzen, muß eine Metaphysik der Sitten den Ursprung der a priori
in der Vernunft liegenden praktischen Grundsätze erforschen. Mit Hilfe dieser
Grundsätze entwickelt Kant einen Leitfaden, der die Metaphysik der Sitten von
jeglichen empirischen Elementen befreit. Denn er bemüht sich, seinem An-
spruch gerecht zu werden, nach dem eine reine Moralphilosophie ihr Augen-
merk ausschließlich auf Prinzipien a priori richtet, die den Willen bestimmen.
Dieser kann deshalb ein reiner Wille genannt werden (vgl.GMS;BAXIIf.). Aus
diesem Grunde untersucht eine Metaphysik der Sitten - im Gegensatz zur Psy-
chologie - "die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens ..., und
nicht die Handlungen und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt."
(ebd.)
Das praktische Vermögen der Vernunft sieht Kant als die Möglichkeit,
auf den Willen Einfluß zu nehmen. Ihre wahre Bestimmung charakterisiert er
so, daß sie "einen, nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich
3
Kants Werke werden zitiert nach: Immanuel Kant. Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Wilhelm
Weischedel, Darmstadt 1968.

5
selbst guten Willen" hervorbringen muß (GMS;BA6f). In dieser Bestimmung
folgt Kant dem programmatischen Satz des ersten Abschnitts der Grundlegung:
"Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer dersel-
ben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte
gehalten werden, als allein ein guter Wille." (GMS;BA1,2)
In diesem provokativ klingenden Satz kann die Aufforderung an den Menschen
gesehen werden, sich in seinem Denken und Handeln die Frage vorzulegen, ob
seine Absichten "gut" sind. Dabei ist nicht relevant, in welchem Zusammen-
hang sich der Wille äußert; er ist nicht in einer Beziehung gut und in der ande-
ren schlecht: "Er ist, kurz gesagt, gut ohne Einschränkung oder besondere Be-
stimmung oder Vorbehalt."
4
Kant vertritt die Auffassung, daß ein an sich selbst
guter Wille durchaus im natürlichen gesunden Verstand vorgefunden wird und
deshalb nicht gelehrt, sondern vielmehr aufgeklärt werden müsse. Doch wenn
der Begriff eines an sich selbst guten Willens als Bedingung aller moralischen
Handlungen gelten soll, muß ihm eine Analyse des Pflichtbegriffes vorausge-
hen, da dieser den Begriff eines guten Willens, wenn auch "unter gewissen
subjektiven Einschränkungen und Hindernissen enthält ...," die ihn aber um so
mehr hervortreten lassen (GMS;BA8).
1.2 Kants Pflichtbegriff
Kants Definition von Pflicht hat nicht nur Anlaß zu den unterschiedlichsten
Diskussionsstandpunkten gegeben, sondern auch zu mißverständlichen Inter-
pretationen verleitet.
5
In der genauen Beschreibung der Pflicht versucht Kant
in erster Linie, unsere Handlungen nach ihrem moralischen Wert zu unter-
suchen. Er differenziert dabei zwischen Handlungen, die zwar einer Neigung
entspringen und dennoch pflichtmäßig genannt werden können, und denjeni-
gen, die ausschließlich eine moralische Maxime zur Grundlage haben und
deshalb als Pflichterfüllung gelten.
4
H.J. Paton, Der kategorische Imperativ, Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin
1962, S.22f.
5
Eines der frühesten und bekanntesten Mißverständnisse zeigen Schillers Distichen:
"Gewissenskrupel: Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit Neigung, Und so
wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin. / Entscheidung: Da ist kein anderer Rat! Du
mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut."
Friedrich Schiller, Die Philosophen. Zitiert nach: Schillers Werke in fünf Bänden. Hrsg. von
Benno von Wiese, Bd. 4, S. 141.

6
Schillers bekannte Distichen, mit denen er Kants Pflichtbegriff kritisiert, wer-
fen ein Licht auf scheinbare Implikationen im Begriff der Pflicht: Nach Schil-
lers Kant-Verständnis gelten nur die Handlungen als moralisch, die einerseits
aus Pflicht erfolgen und andererseits eine Gegenposition zur Neigung einneh-
men. Genau dies ist ein Mißverständnis, denn für Kant definieren sich diese
Handlungen durchaus nicht als die eigentlich moralischen, wie sich bei
genauerer Betrachtung zeigen wird.
6
Aus der präzisen Unterscheidung
zwischen Handlungen aus Pflicht oder aus Neigung läßt sich auf Kants Absicht
in seiner ethischen Konzeption schließen: er will eine von allem Empirismus
freie Moralphilosophie entwickeln. Deshalb bezeichnet Kant Handlungen als
moralisch gut nur dann, wenn sie aus Pflicht, unabhängig von jeder Neigung,
die im empirischen Bereich angesiedelt ist, geschieht. Diese Bestimmung
trennt konsequent zwischen pflichtmäßigen Handlungen, die sinnlichen
Motivationen entspringen, und denjenigen, die auf einem apriorisch formu-
lierten Gesetz beruhen. Dabei geht es Kant in dieser Differenzierung im
wesentlichen um den "innern Wert" und "moralischen Gehalt" einer Handlung
(GMS;BA9). Das wiederum impliziert, daß der moralische Wert einer
Handlung schon im Denken bestimmt wird, denn dort wird der Entschluß zum
Handeln gefaßt, und die sich hinter ihm verbergende Absicht kann gut oder
schlecht sein. Im Denken soll bereits die Entscheidung für das unbedingt Gute
fallen, entgegen allen subjektiven Wünschen und äußeren Bedingungen. Der
moralische Wert einer Handlung liegt deshalb auch nicht in der daraus
erwarteten Wirkung, sondern im Willen eines vernünftigen Wesen, in dem das
Gute präsent ist. Kant charakterisiert das Gute "als die Vorstellung des
Gesetzes an sich selbst, die freilich nur im vernünftigen Wesen stattfindet ..."
(GMS;BA15,16). Mit dieser Definition beschreibt er als Bestimmungsgrund
des Willens ein "Selbstverhältnis" der Vernunft:
7
Indem der Mensch reflektiert,
erschließt er sich das moralische Gesetz als Vorstellung. Deshalb ist diese
Vorstellung des Gesetzes in der Vernunft zugleich objektiver Grund und
Anstoß seines Willens und steht auf einer Werteskala über jeder Art von äuße-
rer Motivation für eine Handlung. Nur diese beschriebene Innengesetzlichkeit
6
Vgl. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S. 242.
7
Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S. 13. Mit der Aufgabe, "das Handeln des Subjekts auf
Willensfreiheit als ein Selbstverhältnis seiner Subjektivität zurückzuführen ...", nimmt Kant nach
Prauss "etwas ganz Außerordentliches in Angriff", nämlich auch "das Wollen noch als eine Sache
der Vernunft des Menschen - nicht nur zu verstehen, sondern auch in diesem Sinn als eine Wirk-
lichkeit noch nachzuweisen". Kant hat sich nach der Beurteilung von Prauss diese Aufgabe selbst
wieder verstellt. Das Selbstverhältnis der Vernunft wird im Abschnitt über das Faktum der Ver-
nunft näher betrachtet.

7
als Handlungsgrund kann "Gegenstand der Achtung" sein, welche kein
dunkles, unbestimmtes Gefühl ist, das von außen affiziert wurde, sondern aus
der Vernunft selbst entspringt:
"Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit
Achtung, welche bloß das Bewußtsein der Unterordnung meines
Willens unter einem Gesetze, ohne Vermittelung anderer Einflüsse
auf meinen Sinn, bedeutet." (GMS; BA17,Anm.)
Aus diesem Grunde verhält sich zwar das Gefühl der Achtung analog zu Nei-
gung und Furcht, hat aber als seinen Gegenstand nur das Gesetz, das der
Mensch sich selbst auferlegt, weshalb es nicht durch einen Einfluß empfangen,
sondern durch Vernunft selbst gewirkt ist (vgl.GMS;ebd.). Dabei ergibt sich
die Frage, wie dieses Gesetz beschaffen sein muß, um eine reine Achtung zu
erzeugen. Denn diese reine Achtung soll frei von Emotionalität und daraus fol-
genden Neigungen sein. Die Antwort Kants lautet: Das Gesetz muß den An-
spruch eines allgemeingültigen Charakters in allen Handlungen erfüllen und
als Prinzip des Willens gelten. Jede subjektive Entscheidung sollte deshalb die
Frage, ob ihre Maxime jederzeit ein für alle Menschen gültiges Gesetz sein
könnte, eindeutig bejahen können (vgl.GMS;BA17). Wenn eine Maxime als
eine besondere Art von Prinzip zu verstehen ist, kann sie als das subjektive
Prinzip des Handelns definiert werden.
8
Da das Wort "Prinzip" wörtlich
"Anfang" bedeutet, in der Übersetzung des griechischen Wortes
DUFK, von
dem es sich ableitet, darf es genaugenommen keinen höheren Grund haben.
Somit wäre das Grund-Folge-Verhältnis für den idealtypischen Fall, in dem
Handlungen aus Gesetzen abgeleitet werden: Das Gesetz wird aus einem ver-
nünftigen Denken erzeugt, welches eine Fähigkeit des Menschen ist; aus Ach-
tung für das Gesetz trifft das Vernunftdenken eine subjektive Entscheidung, die
dem objektiv erkannten Gesetz entspricht, und in der seiner Maßgabe folgen-
den Handlung erfüllt der Mensch seine Pflicht. In der Konsequenz kann nach
Kant nur diese reine Gesetzmäßigkeit als Prinzip des Willens zugrundegelegt
werden, "wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff
sein soll" (GMS;BA17). Ein "vollkommen guter Wille" befolgt also das all-
gemeingültige, objektive Gesetz nur durch die Vorstellung des Guten
(GMS;BA38). Die im Denken erkannte Notwendigkeit, die in der Folge die
Handlung bestimmt, entspricht dem Begriff der Pflicht: Es ist "die Notwendig-
8
Vgl. Paton, Der kategorische Imperativ, S. 57. Paton verweist auf die Definition von Prinzip in
Kants Logik, Bd. 5, S. 541, § 34, A172.

8
keit meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz ..., was die
Pflicht ausmacht" (GMS;BA20). Kant impliziert also, daß jeder Mensch weiß,
was er zu tun habe, um ehrlich und gut zu sein. Er räumt deshalb dem prakti-
schen Urteilsvermögen gegenüber einem theoretischen Gebrauch der Vernunft
eine höhere Kompetenz ein. Denn entsprechend der Kritik der reinen Vernunft
verliert sich die theoretische Vernunft in Widersprüche, wenn sie den gesicher-
ten Boden der Erfahrung verläßt; die praktische Vernunft hingegen gewinnt
erst dann an Urteilskraft, wenn sie alle sinnlichen Motivationen ausschließt.
Kants hoher Anspruch an Moral läßt gleichwohl den Schluß nicht zu,
daß er infolge mangelnder Menschenkenntnis den Menschen überschätzt habe.
Er wußte, daß der Mensch "in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht gegen
alle Gebote der Pflicht" fühlt, das entgegen aller Vernunft gewissen Neigun-
gen und Bedürfnissen nachzugeben versucht, um so vermeintlich
"Glückseligkeit" zu erreichen (GMS;BA23). Aus diesem Grunde muß nach
Kants Aussage eine "gemeine Menschenvernunft" unterrichtet werden, um zu
wirklich sittlichem Handeln zu reifen (GMS;BA23f.). In der Kultivierung der
Vernunft kann sie dann aber die "natürliche Dialektik" überwinden, die einen
Hang erzeugt, gegen die strengen Gesetze der Pflicht zu "vernünfteln"
(GMS;BA23). Anders formuliert heißt das, daß Menschen auf die eine oder
andere Weise ihre Handlungen immer rechtfertigen, da dies ihrem Bedürfnis
entspringt, ihren Neigungen nachzugeben, obwohl sie dem in ihrer Vernunft
angelegten Wissen über richtiges und falsches Handeln Folge leisten wollen.
Deshalb hat die Philosophie die Aufgabe, den gesunden Menschenverstand mit
Hilfe der Wissenschaft, die das System der Sitten vollständig erfaßt, über ein
natürlich moralisches Handeln hinauszuführen. Das bedeutet, daß sittliches
Handeln bewußt gemacht werden muß, indem das Wissen im Rekurs auf die
philosophische Wissenschaft erweitert und gefestigt wird, um sich den
strengen Gesetzen der Pflicht annähern zu können (ebd.). Kant ist sich der
psychischen Dispositionen des Menschen durchaus bewußt, und er weiß, daß
sein Pflichtgebot, mit dem er den Maßstab für den moralischen Wert von
Handlung vorgibt, häufig mit egozentrischen Zwecken in Konflikt gerät:
"Ich will aus Menschenliebe einräumen, daß noch die meisten un-
serer Handlungen pflichtmäßig seien; sieht man aber ihr Tichten
und Trachten näher an, so stößt man allenthalben auf das liebe
Selbst, was immer hervorsticht, worauf, und nicht auf das strenge
Gebot der Pflicht, welches mehrmalen Selbstverleugnung erfor-
dern würde, sich ihre Absicht stützet." (GMS; BA 28).

9
Diese Aussage gipfelt darin, daß die "Vernunft für sich selbst und unabhängig
von allen Erscheinungen gebiete, was geschehen soll ... " (GMS;BA28) und
daß die Ideen der Pflicht nicht aufgegeben werden dürfen. Jedoch schließt er
nicht aus, daß es in der Welt womöglich noch keine Handlung gab, die diesen -
von allen empirischen Motivationen freien - moralischen Anspruch erfüllte.
Wie kann Kant dann entgegen aller Erfahrung, sozusagen wider besseres
Wissen, darauf dringen, ein apodiktisches Gesetz der Pflicht zu fordern? Die
Antwort auf diese Frage gibt er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
indem er der reinen Vorstellung der Pflicht und des sittlichen Gesetzes den
größten Einfluß auf den Menschen einräumt (GMS;BA34). Da die apriorischen
sittlichen Begriffe in der Vernunft zu finden sind, müssen sie nach Kants Auf-
fassung formuliert werden, um moralische Gesetze auf die Gemeinschaft der
Menschen anwenden zu können. Ziel dieses moralischen Anspruchs ist es,
"reine moralische Gesinnungen zu bewirken und zum höchsten Weltbesten den
Gemütern einzupfropfen." (GMS;BA35) Weil nur vernünftige Wesen die Fä-
higkeit besitzen, nach einer Vorstellung der Gesetze zu handeln, jedoch der
Wille dieser Wesen nicht immer der Vernunft entspricht, müssen die Gesetzes-
vorstellungen in Form von Imperativen formuliert werden. Ein Imperativ, das
heißt, die Vorstellung eines objektiven Prinzips, die sich durch ein Sollen arti-
kuliert, zeigt die Relation zwischen einem objektiven Gesetz der Vernunft und
dem subjektiven Willen, wobei diese jedoch häufig divergieren.
Deshalb soll der nächste Schritt in Kants "Handlungstheorie"
9
zeigen,
wie man von dem formalen Begriff der Gesetzmäßigkeit, die den Willen be-
stimmen soll, zu den unterschiedlichsten Pflichten und moralischen Handlun-
gen des täglichen Lebens kommt. Dazu muß die Materie betrachtet werden, mit
der dieser formale Begriff gefüllt werden soll. Die materialen menschlichen
Maximen basieren auf Neigungen zu bestimmten Objekten. Um dem Anspruch
einer autonomen Moralphilosophie zu entsprechen, müssen diese Maximen mit
Hilfe des Prinzips der Universalität angenommen oder verworfen werden.
10
9
Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant,
Stuttgart 1992, S.13. Der Ausdruck "Handlungstheorie" ist Willascheks Arbeit entnommen, der
die Ausgangsthese vertritt, daß das Thema "Handlung" von Kant in einem systematischen Ent-
wurf bearbeitet wurde. "Die einzelnen Teilstücke dieser Handlungstheorie finden sich bei Kant",
so Willaschek, "im Kontext ganz unterschiedlicher Themen: von der Kosmologie über die Moral
bis zur Religion". Dennoch sind sie "Teile eines systematischen Entwurfs".
10
Vgl. Paton, Der kategorische Imperativ, S. 75. Paton begegnet der Formalismuskritik an Kant
mit dem Hinweis, daß Kant sich in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten mit dem obersten
Prinzip der Moralität befaßt: "Er behandelt den apriorischen Teil der Ethik im Abstrakten und

10
Das Prinzip der Universalität, den allgemeingültigen Anspruch für alle ver-
nünftigen Wesen, formuliert in der Moralphilosophie Kants der kategorische
Imperativ.
1.3 Der kategorische Imperativ
Mit dem Begriff des Imperativs fächert Kant in drei Schritten systematisch das
Gebiet der praktischen Vernunft - des menschlichen Wollens und Handelns -
auf. Der erste Schritt im vorangegangenen Kapitel zeigte die Ableitung des Im-
perativs aus dem Pflichtbegriff. In diesem Kapitel soll im zweiten Schritt eine
Analyse der möglichen Formen der Imperative Aufschluß ihrer ethischen
Struktur geben und im dritten Schritt die Verbindlichkeit des Imperativs ge-
prüft werden.
11
Die allgemeine Definition eines Imperativs lautet nach Kant:
"Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen
Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die For-
mel des Gebots heißt Imperativ." (GMS; BA37)
Dabei ist hervorzuheben, daß Imperative ausschließlich den menschlichen
Willen bestimmen, da ein göttlicher und demzufolge heiliger Wille das Gute
wollen würde, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen.
12
Imperative sind
also Gebote, die das Wollen einer Handlung für den Menschen durch das Sol-
len dieser Handlung bestimmen. Zu ihrer genaueren Bestimmung trifft Kant
die Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen.
Die hypothetischen Imperative beschreibt er in zwei möglichen Formen: Han-
delt man, weil der Zweck der Handlung möglicherweise gut ist, aber die Frage
relevant ist, wie er erreicht wird, heißt diese Form des Imperativs problemati-
betrachtet die Form der moralischen Handlung unabhängig vom Gegenstand." Dieser konsequent
durchgeführte Ansatz Kants mache es schwer einsehbar, "weshalb man ihn tadelt, weil er sich an
sein Thema hält und Unwesentliches ausschaltet", S.77f. Dem ist zuzustimmen. Vgl. auch: Julius
Ebbinghaus, Gesammelte Schriften (Bd.1), Bonn 1986, Deutung und Mißdeutung des kategori-
schen Imperativs, S. 279-295: Ebbinghaus betont, die Formalität des Imperativs bedeute nicht,
daß er keinen Inhalt habe, sondern daß der formale Charakter der Ethik Kants "statt einer Materie
des Willens die bloße Form der Maximen (d. i. der subjektiven Grundsätze unserer Willkür) ... als
dasjenige angibt, wodurch die Pflicht ihrer Form nach bestimmt wird." (S.283f.)
11
Peter Reisinger. Imperative, kategorischer Imperativ. In: Hist. Wörterbuch der Philosophie,
Darmstadt 1980, Bd. 4, S. 242.
12
Vgl. Paton, Der kategorische Imperativ, S.130f.: Paton betont in diesem Zusammenhang, daß es
wichtig sei, "einen Unterschied zwischen Notwendigkeit (necessitas) und Nötigung (necessitatio)
zu machen", da "ein vollkommen guter Wille sich notwendig, wenn auch spontan in guten
Handlungen manifestieren" würde. Einem unvollkommenem guten Willen dagegen scheint "die
gute Handlung, selbst wenn wir sie ausführen, ... nicht notwendig, sondern abgenötigt zu sein".

11
scher Imperativ. Problematische Imperative können deshalb auch Imperative
der Geschicklichkeit heißen (vgl.GMS;BA40f.).
13
Richtet sich die Handlung
auf den Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen als eine Naturnotwen-
digkeit voraussetzen kann, nämlich die eigene Glückseligkeit, wird dieser Im-
perativ assertorisch genannt (vgl.GMS;BA44). Der Imperativ dagegen, dem
keine "durch ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht als Bedingung"
zugrunde liegt, weil er "dieses Verhalten unmittelbar gebietet", wird katego-
risch genannt (GMS;BA43). Das bedeutet also, daß der kategorische Imperativ
sich auf keine Materie der Handlung bezieht und weder Erfolg noch Mißerfolg
der ausgeführten Handlung berücksichtigt. Er betrifft nur die Form und das
Prinzip, aus dem diese Handlung erfolgen soll; entscheidend ist deshalb die
Gesinnung, aus der gehandelt wird. Sie allein bestimmt auch, ob die Handlung
moralisch gut ist. Aus diesem Grunde nennt Kant den kategorischen Imperativ
auch Imperativ der Sittlichkeit.
In dieser Differenzierung tritt Kants Absicht klar zutage: Der kategori-
sche Imperativ soll sich in seiner Sollensforderung strikt von den hypotheti-
schen Imperativen abheben. Der Grund: sittliche Imperative sollen verhindern,
daß die Menschen unter gegebenen Umständen auch die Mittel zu einem
Zweck billigend in Kauf nehmen oder ihre Handlungen durch einen vorgege-
benen Zweck bestimmen lassen. Kategorische Imperative sind somit unbedingt
und frei von materialen Inhalten allein dem für alle vernünftigen Wesen gel-
tenden Sittengesetz verpflichtet.
Im nächsten Schritt klärt Kant die Struktur des kategorischen Imperativs
und gibt eine Antwort auf die implizite Frage, wie diese Imperative möglich
sind, sofern sie den Willen in ihrem Sinne nötigen (vgl.GMS;BA44,45). Für
die Imperative der Geschicklichkeit oder pragmatische Imperative steht das
nach Kants Ansicht außer Frage, denn wer ein bestimmtes Objekt als Ziel sei-
ner Handlung will, denkt sich verursachend und bezieht den Gebrauch der
Mittel gedanklich mit ein. Dieser Imperativ ist ein analytischer Satz, denn der
pragmatische Imperativ erschließt sich den Begriff notwendiger Handlungen
zu einem bestimmten Zweck bereits aus dem Begriff des Wollens dieses
Zweckes. Der kategorische Imperativ dagegen ist nach seiner Definition "ein
synthetisch-praktischer Satz a priori" (GMS;BA50,51). In der
13
Vgl. Paton, Der kategorische Imperativ, S. 133. Nach Paton weist Kant in der Einleitung zur
Kritik der Urteilskraft selbst darauf hin, daß der Ausdruck eines "problematischen Imperativs"
ein Widerspruch in sich ist und der richtige Begriff dafür "technischer Imperativ" oder "Imperativ
der Geschicklichkeit" ist: KU, Bd.8, S. 178, Erste Einleitung, H 7, Anm.

12
Strukturbeschreibung des kategorischen Imperativs als synthetisch-apriorischer
Satz ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, die Frage zu beantworten, wie in
der praktischen Philosophie synthetische Sätze a priori möglich sind, da dies
schon im Bereich theoretischer Erkenntnisse mit Problemen verbunden ist. Die
Kritik der reinen Vernunft formuliert als eigentliche Aufgabe der reinen
Vernunft die Frage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?"
(KrV;B18ff.). Alle synthetisch-apriorischen Sätze der theoretischen Vernunft
müssen, um diese Aufgabe zu lösen, zu den Anschauungen der sinnlichen Welt
"Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form
überhaupt bedeuten" hinzufügen, auf denen dann "alle Erkenntnis einer Natur
beruht" (GMS;BA111). Diese knappe Aussage der Grundlegung geht auf die
bereits in der Kritik der reinen Vernunft gegebene Auflösung der Frage zurück
(vgl.KrV;B73).
Um die Problematik darzustellen, die Kant in der praktischen Philoso-
phie in der Vermittlung von Freiheits- und Naturgesetzen zu lösen hat, er-
scheint ein Exkurs in die theoretische Philosophie angezeigt, der zeigen soll,
wie Kant die Möglichkeit synthetisch-apriorischer Sätze aus der theoretischen
Perspektive der Vernunft konzipiert hat.
Die Frage ist, wie die Erkenntnis der Natur unter der Voraussetzung syn-
thetisch-apriorischer Sätze zustande kommt. Eine Synthesis im Verstande ent-
steht, weil in den uns innewohnenden reinen Anschauungen a priori - Raum
und Zeit - das angetroffen wird, was nicht im Begriff, aber in der Anschauung,
die ihm entspricht, a priori zu finden ist und mit jenem synthetisch verbunden
werden kann, weshalb aber die Urteile "nie weiter, als auf Gegenstände der
Sinne reichen und nur für Objekte möglicher Erfahrung gelten können"
(KrV;B73). Das heißt, um von den in der Anschauung gegebenen komplexen,
noch unstrukturierten Empfindungen, die sich in Raum und Zeit ausbreiten, zur
Erkenntnis eines objektiven Gegenstandes zu gelangen, muß es das verbin-
dende Element des Begriffes geben, das wiederum unabhängig von der sinnli-
chen Anschauung ist. Die Synthesis wird also aufgrund von Begriffen geleistet,
die diese Empfindungen zu einer Einheit zusammenfügen und sie benennen.
Da die Begriffe nicht aus den Empfindungen stammen, muß ihnen auch ein
synthetisierendes Moment zugrunde liegen, das sie in Anwendung bringt und
welches deshalb auf einer höheren Stufe der Einheit stehen muß. Diese ein-
heitsstiftende Verbindung kann nur im Subjekt aufgefunden werden, weil sie
vor aller empirischer und begrifflich-kategorialer Verknüpfung liegt. Kant
nennt diese nicht mehr hintergehbare Vorstellung die "ursprüngliche

13
Apperzeption", die spontan im Actus des "Ich denke", welches "alle meine
Vorstellungen begleiten können" muß, das allem Bewußtsein zugrunde
liegende Selbstbewußtsein beschreibt (KrV;B132f.). Aus diesem Grunde hat
die reine oder auch ursprüngliche Apperzeption den Status einer
transzendentalen Einheit, weil sie "in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist"
(KrV;B132). Als diese Einheit leistet sie nicht das konkrete Zusammenfassen
der Komplexität der Vorstellungen unter einen reinen oder empirischen
Begriff, sondern sie ist die Bedingung der Möglichkeit für das erscheinende
Moment des "Ich denke" in einem transzendentalen Bewußtsein. Da also der
methodische Ort des "Ich denke" vor aller Erfahrung liegt und mit dem
empirisch-psychologischen Ich nichts gemein hat, muß es als allem
Bewußtsein und Selbstbewußtsein zugrunde liegend gedacht werden.
14
Kant
fand so in der transzendentalen Apperzeption den obersten Grundsatz, "um die
Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen." (KrV;B132f.) Nach
seiner theoretischen Konzeption sind synthetische Urteile a priori in der
Wissenschaft dann möglich, wenn die formalen Bedingungen der Anschauung
a priori, die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit der-
selben in einer transzendentalen Apperzeption auf die Möglichkeit einer Erfah-
rungserkenntnis bezogen werden. Daraus folgt, daß "die Bedingungen der
Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ... zugleich Bedingungen der
Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung ... " sind und "darum objektive
Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori" erhalten
(KrV;B197f,A158f.).
Worauf sich wiederum die transzendentale Apperzeption gründet, ließ
Kant unbeantwortet. Diese fehlende Antwort war dann für Fichte Antrieb, die
Frage nach einem höher liegenden Einheitspunkt zu stellen, aus dem sich in der
Konsequenz das Bewußtsein in der Form von Denken und Handeln oder Ver-
stand und Wille als etwas Sekundäres ableiten läßt.
15
Soweit der Exkurs in Kants theoretische Philosophie. Analog zu den
eben dargestellten synthetisch apriorischen Sätzen der theoretischen Vernunft
soll in der praktischen Vernunft das kategorische Sollen des synthetisch-
praktischen Satzes in der Formulierung des kategorischen Imperatives die
Kluft zwischen menschlichem Wollen und Sollen überbrücken. Das heißt, daß
in einer moralischen Handlung der Wille ohne eine Bedingung aus irgendeiner
Neigung und die aus dem Sollensgebot folgende Tat a priori, damit notwendig
14
Vgl. Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 1983, 3. Aufl. 1992, S. 97-100.
15
Vgl. Siemek, Die Idee des Transzendentalismus bei Fichte und Kant, S. 104.

14
verknüpft wird. Der Imperativ fordert also zum Handeln auf, und der Mensch
verbindet im Vollzug dieser Aufforderung, die seiner Vernunft entspringt,
Denken mit Tun. Aus diesem Grunde ist der kategorische Imperativ
"ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung nicht aus ei-
nem anderen schon vorausgesetzten analytisch ableitet ..., sondern
mit dem Begriffe des Willens als eines vernünftigen Wesens un-
mittelbar, als etwas, das in ihm nicht enthalten ist, verknüpft."
(GMS;BA50, Anm.)
Damit ist eine Analyse der Struktur der Imperative geleistet. Es bleibt aber
noch die tranzendental-philosophische Frage offen, wie der kategorische Impe-
rativ als ein sittlich synthetischer Satz a priori aus reiner Vernunft möglich sein
soll.
16
Nach Kant ist der kategorische Imperativ möglich, weil er als Gesetz der
Freiheit in der Synthesis den Inhalt der Maximen mit einem unbedingten Sol-
len verknüpft.
17
In dieser Funktion spiegelt der kategorische Imperativ "die
synthetische Struktur der Freiheit als intelligibles Vermögen"
18
wider, "eine
Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen"
(KrV;B476,A448), womit Kant in der dritten Antinomie der Kritik der reinen
Vernunft die Frage nach der Freiheit des Willens stellt. Da die Welt der Er-
scheinungen kausaldeterminiert ist, sind demzufolge alle Handlungen des Men-
schen unfrei. Aus der Sicht der theoretischen Vernunft ist zwar "eine wider-
spruchslose Einigung von Freiheit und Kausalität der menschlichen Natur
denkmöglich, aber als objektiver Realvorgang theoretisch prinzipiell unerkenn-
bar".
19
In
der
Kritik der praktischen Vernunft ist es Kants Absicht, die Freiheit
als Wirklichkeit aufzuweisen. Das geschieht, indem er das moralische Gesetz
in der Formulierung des kategorischen Imperativs zur "ratio cognoscendi" der
Freiheit erklärt, weshalb diese in der Grund-Folge-Relation die "ratio essendi"
des kategorischen Imperativ sein muß (KpV;5). Allerdings läßt die Begrün-
dung der Freiheit aufgrund des Bewußtseins eines moralischen Gesetzes die
Frage offen, worauf sich nun die Freiheit selbst gründet. Die Antwort auf die
Frage nach dem Grund der Freiheit könnte in der transzendentalen Apperzep-
tion liegen, wäre diese von Kant als konstitutives Moment schlechthin gedacht
worden. Da Kant diese Konsequenz nicht gezogen hat, kann die Freiheit in ih-
16
Vgl. Peter Reisinger, Imperative, kategorischer Imperativ. In: Hist. Wörterburch der Philosophie,
S. 247.
17
Reisinger, S. 247.
18
Reisinger, S. 247.
19
Reisinger, S. 248.

15
rer Charakteristik in seiner philosophischen Konzeption nur aus der Ambiva-
lenz der theoretischen und praktischen Perspektive bestimmt werden.
20
Deshalb wird der Status des Menschen in der praktischen Vernunft durch seine
Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt wie auch der sinnlichen Welt definiert.
Als Glied der übersinnlichen Welt versetzt ihn die Idee der Freiheit in die
Lage, autonom und dem moralischen Gesetz entsprechend, das er erkennt, weil
er frei ist, seine Entscheidungen zu treffen. Da er zugleich ein Mitglied der
sinnlichen Welt ist, vermag er durch seine Handlungen diese beiden Bereiche
miteinander zu verknüpfen. Sofern der menschliche Wille auch durch empiri-
sche Momente bestimmt werden kann, sollen diese in den Einzelhandlungen
aufgrund der moralischen Forderung in Form des kategorischen Imperativs
überwunden werden. Wenn das kategorische Sollen in der Handlung erfüllt
wird, erhält der sittliche Imperativ objektive Realität. Diese Argumentation
führt Kant zu der Aussage, daß der Wille in einem synthetisch-praktischen Satz
a priori, das heißt ohne Bedingungen aus dem empirischen Bereich, mit dem
konkreten Tun verknüpft wird. Das Sollen der Handlung wird also nicht aus
Seinstatsachen abgeleitet, sondern "die moralische Selbsterfahrung des prakti-
schen Vernunftwesens ... ",
21
spiegelt sich in der Handlung wider, in denen das
Wollen derselben sich unmittelbar mit seinem Willen als ein vernünftiges We-
sen verbindet (GMS;BA50,Anm.). Deshalb ist ein "naturalistischer" oder
"Sein-Sollens"-Fehlschluß nicht gegeben.
22
Kant zeigt somit in der praktischen
Philosophie, daß Handeln aus reiner Vernunft möglich ist, obwohl der Mensch
sowohl der intelligiblen Welt als auch der sinnlichen Welt angehört. Indem wir
moralisch handeln, können wir uns über die kausaldeterminierte Welt der Er-
scheinungen erheben und Einfluß auf sie nehmen. So leistet in Kants ethischem
Modell der kategorische Imperativ als synthetischer Satz a priori die Synthesis
dieser unterschiedlichen Standpunkte des Menschen. Mit dem kategorischen
Imperativ beantwortet Kant die Aufgabenstellung einer reinen praktischen
Vernunft, in welcher diese ein unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens
"als eines freien Willens" in der Formulierung eines allgemeingültigen Geset-
zes sein soll (KpV;78). Die Formalisierung der Willensbestimmung ermöglicht
20
Vgl. dazu: Wilhelm G. Jacobs, Trieb als sittliches Phänomen, Bonn 1976, S. 32-47.
21
Höffe, Immanuel Kant, S. 207.
22
Vgl. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 80.
Vgl. auch: Höffe, Immanuel Kant. S.206 Der auf den britischen Moralphilosophen G.E. Moore
(Principia Ethica, 1903) zurückgehende naturalistische Fehlschluß ist Kant, so Höffe, nicht vor-
zuwerfen. Auch der auf Hume (Treatise on Human Nature) basierende Sein-Sollens-Fehlschluß
liegt, wie im Text gezeigt, nicht vor.

16
ein für alle vernünftige Wesen geltendes Gesetz. Dieses bestimmt den Willen
frei von sinnlichen Motivationen und betrifft den Menschen als
Vernunftwesen, als "Zweck an sich selbst" (GMS;BA65). Diese
Vernunftbestimmung zeichnet den Menschen als Person aus, im Gegensatz zu
vernunftlosen Wesen, die als Mittel benutzt werden und demzufolge als Sache
gekennzeichnet sind. Das bedeutet, daß die Verwirklichung der menschlichen
Vernunft in der Natur Zweck allen Handelns sein soll und Vernunftwesen nie
als Mittel, sondern jederzeit im Hinblick auf ihre Vernunftbestimmung
angesehen werden sollen.
Wenn Kants Aussage in der Kritik der reinen Vernunft: "Gedanken ohne
Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind" (KrV; B76,77,A52)
unter einem handlungstheoretischen Gesichtspunkt abgewandelt wird zu:
"Prinzipien ohne Anwendung sind leer"
23
, muß sich der allgemeine Charakter
des Moralgesetzes nach Anwendungsprozessen auf konkrete Sachverhalte hin
untersuchen lassen.
24
Diese Bedingung ist in Kants Moralphilosophie insofern
erfüllt, als die Kausalität in ihrer Tätigkeit von der praktischen Vernunft er-
kannt werden muß, da sie sonst keine Tat vollbringen könnte. Die Vernunft
bewirkt durch das moralische Gesetz eine praktische Bedeutung des Kausali-
tätsbegriffs, "da nämlich die Idee des Gesetzes einer Kausalität (des Willens)
selbst Kausalität hat, oder ihr Bestimmungsgrund ist." (KpV;87) Das heißt, daß
die Verantwortung für das Handeln bereits in der gedanklichen Formulierung
der Gründe beginnt, die dann den Willen zur jeweiligen Handlung bestim-
men.
25
In der Relation von Gedanke und Tat hebt Kant zwar die Bedeutung der
Gesinnung hervor, die zu einer Handlung führt, indem er betont, daß es "auf
23
Gerhard Pfafferott; Praktische Vernunft und Lebenswelt. In: Realität und Begriff, Festschrift für
Jakob Barion,Würzburg, 1993, S. 63.
24
Vgl. Gerhard Pfafferott, Praktische Vernunft und Lebenswelt, S. 49-64. Pfafferott spricht sich in
seinem Aufsatz gegen eine deontologische Ethik aus, in der seiner Ansicht nach "der Hiatus zwi-
schen Sein und Sollen ... auch bei der selbstgesetzten Norm, bei der Selbstverpflichtungn, nicht
zu überbrücken" ist. S.61. Ein Sittengesetz, das sich aus der Vernunft ableitet, bleibt für ihn le-
diglich Ideal. Er fordert, daß Freiheit und Sittlichkeit sich in einem größeren Kontext aufweisen
lassen müssen, nämlich in der Lebenswelt des Menschen. Dieser Standpunkt übersieht aber, daß
Kant die Würde des Menschen und damit sein eigentliches Selbst darin gründet, daß das Sitten-
gesetz ihn "als Zweck an sich selbst auszeichnet" (GMS;BA84). Erst in der Anerkennung des
apriorischen moralischen Gesetzes wird der Mensch zur "Person" und die Folge daraus ist die
konkrete moralische Handlung in seiner Lebenswelt (GMS;BA65).
Vgl. dazu: Höffe, Immanuel Kant, S. 201: Höffe betont in diesem Zusammenhang zu Recht, der
Sinn einer Maximenethik liege darin, "daß sie das Moralprinzip nicht direkt auf Einzelhandlun-
gen, nicht einmal auf Handlungsregeln, sondern auf gewachsene und bewährte Lebensgrundsätze
bezieht ...".
25
Klaus Hammacher, Das Fundament der Ethik. Zur Bestimmung des Gewissens. In: Phil. Jahrbuch
(76), Freiburg/München, S. 249.

17
die Willensbestimmung und den Bestimmungsgrund der Maxime desselben,
als eines freien Willens" und "nicht auf den Erfolg" ankommt (KpV;79). Dies
darf aber nicht zu dem Schluß verleiten, daß die Tat selbst nicht mehr verant-
wortet werden müsse, sobald sie über das Denken hinausreiche.
26
Das Ver-
hältnis von Denken und Handeln ergibt sich also aus Kants Moralkriterium des
allgemeingültigen Gesetzes, das der ausschließliche Bestimmungsgrund des
menschlichen Willens sein soll, und seine Formulierung im kategorischen Im-
perativ. Dieser hat die Funktion eines synthetisch-praktischen Satzes a priori
und vermittelt in der moralischen Aufforderung zur Tat zwischen Denken und
Handeln. Kants ethische Konzeption sieht allerdings nicht vor, jede erdenkli-
che Handlung bereits im Vorfeld auf ihre Moralität hin zu untersuchen. Die
handlungstheoretische Vorgabe seiner Ethik ist, das im menschlichen Denken
vorgefundene Moralprinzip in Lebensgrundsätze in ethisch relevanten
Situationen umzusetzen.
27
Fichte sah in der Spannung zwischen Gedanke und Tat in Kants Ansatz
die Gefahr, daß die moralische Relevanz in einen reinen Bestimmungsgrund
aufgelöst werden könnte
28
, was in seiner Rezension von 1793 des Buchs von
Leonhard Creuzer: "Skeptische Betrachtungen über die Freiheit des Willens
mit Hinsicht auf die neuesten Theorien über dieselbe" zum Ausdruck kommt.
Hier differenziert Fichte zwischen dem "Tatcharakter der Handlung"
29
als
"Äußerung der absoluten Selbsttätigkeit im Bestimmen des Willens ... "
(SWVIII;413)
30
, welcher nicht erscheint, weil er der rein geistigen, also intelli-
giblen, Welt zugeordnet bleibt, und der bestimmten, "nur auf Eine Art be-
stimmbaren Form, welche als Sittengesetz erscheint." (SWVIII;413) Nur der
sich selbst bestimmende Wille, der ein "übersinnliches Vermögen" ist
(SWVIII;414), kann als frei angenommen werden. Sobald der selbstbestimmte
Wille erscheint und als Ursache der Erscheinung des Bestimmtseins angenom-
men wird, sieht Fichte das als den Versuch, Intelligibles in die Reihe der Na-
26
Klaus Hammacher, S. 250.
27
Vgl. Höffe, S. 201.
28
Vgl. Klaus Hammacher, S. 251.
29
Hammacher, S. 251: Hammacher bezieht sich in seinem Aufsatz auf Fichtes Rezension über das
Buch von Leonhard Creuzer: "Skeptische Betrachtungen über die Freiheit des Willens mit Hin-
sicht auf die neueste Theorie über dieselbe, Gießen 1793", In: Jenaer Allgem. Literatur-Zeitung,
1793, Nr. 303.
30
Fichtes Schriften I-VIII werden zitiert nach: Johann Gottlieb Fichte. Sämtliche Werke. 8 Bde.,
Hrsg. v. I.H. Fichte, Berlin 1845-1846. Sie werden zitiert als SWI-VIII, nach der röm. Ziffer folgt
die Seitenzahl. SWIX-XI werden zitiert nach: Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Werke.
Hrsg. von I. H. Fichte. Bonn 1835-1835.

18
turursachen herabzuziehen und es so zu etwas Gegebenen zu machen, womit es
kein Intelligibles wäre (SWVIII;414). Nach Fichtes Interpretation hat Kant
deshalb bereits gefordert, die Kausalität der Natur als auch die Kausalität der
Freiheit in einem höheren Gesetz zu vereinen, denn nur dann sei die Möglich-
keit gegeben, "gleichsam in einer vorherbestimmten Harmonie der Bestim-
mungen durch Freiheit mit denen durchs Naturgesetz" auch eine moralische
Weltordnung anzunehmen (SWVIII;415). Zu dieser Deutung sieht sich Fichte
berechtigt, weil Kant zwar zwischen einem empirischen und einem
intelligiblen Charakter des Menschen unterscheidet und dennoch die
Zweckmäßigkeit als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft aufstellt, welche
die Kausalität aus Freiheit und die Kausalität der Natur miteinander verknüpft.
Diese Zweckmäßigkeit läßt sich nach Fichtes Folgerung nur durch eine höhere,
dritte Gesetzgebung denken (SWVIII;415).
Fichtes Differenzierung zeigt, daß sich seine Reflexion schon zu dieser
Zeit oberhalb des Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft be-
wegt. Er hat sehr früh auf seinem philosophischen Weg "nach der von Kant oft
erwähnten gemeinschaftlichen Wurzel der sinnlichen und übersinnlichen Welt,
d.h. nach dem ontologischen Einheitsgrund der theoretischen und der prakti-
schen Vernunft, der Natur und der Freiheit"
31
gesucht. Sein Ansatz in der Kant-
Rezeption führt über das disjunktive Verhältnis von noumenaler und phäno-
menaler Welt hinaus und läßt ihn nach einer dritten Sphäre forschen, die den
Gegensatz dieses dualistischen Bildes in sich einschließt und aufhebt. Es ist
dieses "Grenzgebiet zwischen Freiheit und Natur, der noumenalen und der
phänomenalen Welt, der reinen Vernunft der Philosophie und dem empirischen
Umkreis menschlicher Handlungen in der Geschichte und Gesellschaft ..., was
im Brennpunkte des philosophischen Interesses Fichtes von Anbeginn steht."
32
Er beabsichtigt deshalb den Übergang vom Freiheitsbegriff der reinen Form zu
den konkreten Gegebenheiten des sozialen Lebens, des Rechts und der Politik
zu schaffen. Die Begriffe von Pflicht und Sittengesetz sollen in Fichtes Pro-
gramm ihren rein formellen Charakter verlieren, indem sie sich nicht nur auf
eine ausschließlich geistige Bestimmung des Menschen beziehen, sondern sich
auch auf seine bestimmte Aufgabe in der empirischen Welt konzentrieren.
Theoretische und praktische Vernunft, Denken und Handeln sollen in der Ein-
heit eines ihnen übergeordneten Bereiches aufgewiesen werden.
31
Siemek, Die Idee des Transzendentalismus bei Fichte und Kant, Hamburg 1984, S. 90.
32
Siemek, S. 86.

19
Die Rezension des Buches von Creuzer zeigt, daß Fichte schon 1793
Überlegungen nach einem gemeinsamen Grund von noumenaler und sinnlicher
Welt anstellt, die damit auch theoretische und praktische Aspekte der Philoso-
phie auf eine Ebene transponieren, die beide in sich einschließt. In seinen Ge-
danken ist die Tendenz zu erkennen, die Synthesis von intelligibler und sinnli-
cher Welt nicht erst zu leisten, sondern sie in der reinen Tätigkeit des Geistes -
in einer Einheit von Denken und Handeln - vorzufinden. Fichte wendet sich
gegen einen Dualismus von Geist und Materie, Sittlichkeit und Sinnlichkeit.
Indem er nach der Verbindung zwischen sittlichem und sinnlichen Leben fragt,
kritisiert er an Kants Moralphilosophie, den "reinen Willen in Gegensatz zum
natürlichen Triebleben ..."
33
zu stellen, was den konkreten Gehalt sittlichen
Lebens negiere. Deshalb beabsichtigt seine ethische Konzeption, das Sinnliche
und die Materie in die Freiheitsphäre des Menschen mit einzubeziehen und als
Mittel zur sittlichen Vervollkommnung zu werten.
34
Diese Idee einer konkreten
Ethik bereitet den Boden für die spätere Kritik an Kants praktischer Philoso-
phie, wie sie in der Anweisung zum seligen Leben explizit zum Ausdruck
kommt. Wie Fichte seine ethische Konzeption konkretisiert, wird im Kapitel
über seine Religionslehre dargestellt.
Kehren wir zurück zu Kants Grundlegung der Moralphilosophie. Kant
leitet Denken und Handeln nicht aus einem einheitlichen Prinzip ab, wie das
Fichtes Bestreben ist. Der Leitbegriff seiner transzendentalen Methode in sei-
ner Erkenntnis- und Handlungstheorie ist die Synthesis von Denken und Sein,
Freiheit und Natur, weil er die Trennung zwischen sittlicher und sinnlicher
Welt schon voraussetzt.
35
Doch wird in der Frage nach der Möglichkeit einer
Kausalität aus Freiheit bereits in der Kritik der praktischen Vernunft deutlich,
daß Kant das Problem einer gemeinschaftlichen Wurzel, einer hypothetischen
Einheit der noumenalen und phänomenalen Welt antizipiert. Darin reicht "ihre
theoretische Struktur weit über den ethischen Horizont ... " hinaus.
36
Wie gezeigt, soll die Synthesis in der praktischen Philosophie in der
Formulierung des kategorischen Imperativs den Gegensatz von sittlicher und
sinnlicher Welt aufheben. Das Steuerungsmoment für ein Vernunftwesen in der
Konstellation von Pflicht und Neigung ist der sittliche Imperativ, der prüft, ob
die Absichten moralisch sind. Eine Synthesis des sinnlichen und übersinnli-
33
Vgl. Heimsoeth, Fichte, S. 154.
34
Vgl. Heimsoeth, Fichte, S. 155.
35
Vgl. Heimsoeth, Fichte, S. 111.
36
Siemek, Die Idee des Transzendentalismus bei Fichte und Kant, S.89.

20
chen Bereiches wird erzielt, weil der kategorische Imperativ ein Sollen ist, das
einer vernunftmäßigen Ordnung entspringt. Wenn wir auf unsere innere
Stimme hören, die der Forderung Nachdruck verleiht, können wir den Konflikt
zwischen einer moralischen Entscheidung oder dem subjektiv Angenehmen,
aber Unmoralischen zum Guten lösen. Das bedeutet auch, daß die strenge
Verallgemeinerung des kategorischen Imperativs sich auf moralisch relevante
Entscheidungen bezieht und nicht in jeder Einzelhandlung zu Rate gezogen
werden muß.
37
Aber nur dann, wenn dem kategorischen Sollen der Vernunft
Folge geleistet wird, kann in der empirischen Welt sittliches Handeln
erscheinen.
Zu individuellen und moralisch guten Handlungen kommt es, weil sich
der kategorische Imperativ als objektives Gesetz auf "subjektive Gründe der
Handlungen" (KrV;B840f,A812f) von endlichen Vernunftwesen bezieht.
Damit stellt Kant in nur sehr knapper Form dar, wie die empirischen Bedin-
gungen der Vernunftwesen nach dem sittlichen Anspruch eines schlechthin
Guten bestimmt werden sollen: da die Absichten und Handlungen im Leben ei-
nes Menschen sehr vielfältig sind, muß es subjektive Prinzipien für das Indivi-
duum geben, die leitmotivisch seine Lebensentscheidungen bestimmen. Des-
halb bezieht sich der kategorische Imperativ auf Maximen, die "praktische
Grundsätze sind ..., welche eine allgemeine Bestimmung des Willens
enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat." (KpV;35,§1) Diese
"sind subjektiv, oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des
Subjekts gültig von ihm angesehen wird ... " (ebd.). Wenn der Mensch nach
seinen subjektiven Maximen handelt, bedeutet das nicht, daß diese Handlungen
notwendig auch moralisch sind. Nur wenn in den unterschiedlichen Ent-
scheidungen des einzelnen Subjekts die Grundsätze, nach denen es sein Leben
führt, in einem idealen Sinn in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz sind,
können seine Einzelhandlungen moralisch gut sein. In diesem Fall handelt der
Mensch nach objektiven oder praktischen Gesetzen (vgl.KpV;35,§1). Maximen
sind dennoch nicht mit Imperativen zu verwechseln, da die subjektiven Grund-
sätze, auch wenn sie den allgemeingültigen Status des Sittengesetzes zum Aus-
druck bringen, "nur den Willen" bestimmen (KpV;37). Das heißt, daß nur in ei-
nem idealtypischen Fall die Lebensgrundsätze, die eine konkrete Handlung
initiieren, in Übereinstimmung mit dem praktischen Gesetz sind. Beliebigkeit
37
Vgl. Höffe, Immanuel Kant, S. 201: Es ist eine falsche Vorstellung, so Höffe, daß Kants Idee der
Autonomie und überhaupt der Moralität zu einer "Übermoralisierung" führe, "nach der man jeden
Handgriff auf seine Moralität hin zu befragen habe".

21
der subjektiven Grundsätze wie auch außergesetzliche Inhalte sind
ausgeschlossen, denn die Frage "Was soll ich tun?" initiiert in reflexivem
Selbstbezug die subjektive Maxime, die dem allgemeinen, für alle vernünftigen
Wesen geltenden Gesetz entspricht und die dann in der Antwort für das
Individuum in eine moralische Entscheidung münden kann. Die im
Sittengesetz enthaltene Aufforderung, moralisch, d.h. allgemeingültig zu
handeln, muß aber nicht zwangsläufig auch eine moralische Handlung nach
sich ziehen, wie es sich in der Untersuchung des Freiheitsaspekts noch zeigen
wird. Unter der Maßgabe des kategorischen Imperativs können Maximen als
"Grundhaltungen, die einer Vielzahl, auch Vielfalt konkreter Absichten und
Handlungen ihre gemeinsame Richtung geben",
38
bezeichnet werden. Sie
spiegeln Lebenshaltungen unter einem sittlichen Aspekt wieder, die sich in
Handlungen konkretisieren, weil sie als Beurteilungsprinzipien in den Situatio-
nen dienen, welche moralische Entscheidungen erfordern.
Die praktische Vernunft kann den Schritt vom Denken zum Handeln als
reine Vernunft, d.h. frei von allen empirischen Motivationen, nur dann vollzie-
hen, wenn der Mensch seine subjektiven Maximen nach dem kategorischen
Imperativ ausrichtet. In der Folge kann er durch moralisches Handeln aufgrund
einer vernünftigen Einsicht der Vernunft "objektive, obgleich nur praktische
Realität" geben (KpV;83). Kants Streben richtet sich mit der Möglichkeit eines
synthetisch-praktischen Satzes a priori auf eine "begründbare Vereinbarkeit"
von einer "in unserer Welt möglichen Freiheitskausalität mit der in unserer
Welt durchgängigen Naturkausalität" und dem grundlegenden Problem, ob der
Mensch in seinem "Wollen und Handeln" frei sein kann.
39
Deshalb ist der Freiheitsbegriff für Kant "der Schlüssel zur Erklärung
der Autonomie des Willens" (GMS;BA97). Seine Aussage begründet er damit,
daß der Wille als "eine Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünf-
tig sind" definiert wird, und dieser das Attribut der Freiheit trägt, aufgrund des-
sen er unabhängig von heteronomen Bestimmungsfaktoren agieren kann (ebd.).
Diese Erklärung beschreibt zwar nur den negativen Begriff von Freiheit, der
38
Otfried Höffe, Immanuel Kant, S. 186f. Höffe plädiert für eine Maximenethik, die sich entgegen
einer Regel- oder Normenethik zwar auf gleichbleibende Beurteilungsprinzipien gründet, aber
unterschiedliche Regeln oder Normen zuläßt, die den wechselnden Bedingungen des Lebens und
den individuellen Fähigkeiten der Handelnden angepaßt werden. Maximen sind nach Höffes
Ansicht weit mehr der Gegenstand für Fragen der "moralischen Identität" und im Zusammenhang
damit "für Fragen der moralischen Erziehung und Beurteilung von Menschen" als die Normen.
S.188f.
39
Hans Wagner, Kants Auflösung der dritten Antinomie. In: Realität und Begriff, Festschrift für
Jakob Barion, S. 226.

22
aber durch den Kausalitätsbegriff in Kants Darlegung ein positives Element
enthält: denn nach dem Grund-Folge-Verhältnis folgt aus der Freiheit als Ei-
genschaft des Kausalitätsbegriffs das Vermögen des Willens, sich selbst ein
Gesetz zu sein, das wiederum Allgemeingültigkeit zum Gegenstand hat
(vgl.KpV;BA97). Da es unmöglich ist, eine Vernunft zu denken, die im Be-
wußtsein ihrer selbst andere Antriebe für ihre Urteile gelten ließe, muß sie sich
nach Definition "als Urheberin ihrer Prinzipien" ansehen (GMS;BA101). Aus
diesem Grund muß die Vernunft in ihrer Funktion als praktische Vernunft oder
als Wille eines Vernunftwesens sich selbst als frei betrachten. Der Wille eines
vernünftigen Wesens kann also "nur unter der Idee der Freiheit ein eigener
Wille sein, und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen bei-
gelegt werden" (GMS;BA101).
In dieser Beweisführung Kants wird vor allem deutlich, daß das Vermö-
gen, frei zu handeln, nicht in einem empirisch-psychologischen Sinne gefaßt
wird. Wenn die Überzeugung, die zum Handeln veranlaßt, aus vernünftiger
Einsicht geschieht, ist sie im "praktischen Sinn" frei, wenn sie hingegen ohne
vorhergehende kausale Faktoren eine Handlung bestimmt, ist sie sogar im
"transzendentalen Sinne" frei:
40
Denn die Freiheit ist im letzteren Sinne die
Bedingung der Möglichkeit, den Willen zu bestimmen und Handlungen daraus
folgen zu lassen, und muß deshalb unbedingt und "schlechthin Grund ihrer
selbst" sein.
41
Aufgrund der Freiheit wird der Wille also a priori durch die ob-
jektive Form eines Gesetzes bestimmt, das sich als synthetisch-praktischer Satz
dem Bewußtsein aufdrängt. Das Bewußtsein dieses Grundgesetzes, durch das
der Mensch einen epistemischen Zugang zur Freiheit hat, nennt Kant deshalb
"ein Faktum der Vernunft" (KpV;55f.), das "unleugbar" ist (KpV;57).
42
In der
Freiheit und Autonomie des Willens findet sich dann das Prinzip der Sittlich-
keit, das in der Formel des kategorischen Imperativs das Sein dem Sollen an-
gleicht, wenn der Mensch nicht durch Vernunft allein bestimmt wird
(vgl.GMS;BA97f. u. KpV;37). Um das moralische Gesetz an sich oder in der
Formulierung eines Imperativs in der Handlung Realität werden zu lassen, ist
40
Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, S. 95.
41
Wilhelm G. Jacobs, Trieb als sittliches Phänomen, Eine Untersuchung zur Grundlegung der
Philosophie nach Kant und Fichte, Bonn 1967, S. 42.
42
Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, S. 227f. Willaschek erörtert die Frage, ob die unbe-
dingte Geltung des Sittengesetzes als Ergebnis eines "Faktums der Vernunft" im Gegensatz zur
Freiheit die eigentliche Basis der Moralbegründung bei Kant sei. Er kommt zu dem Schluß, daß
der Mensch aus der "Anerkennung" des Sittengesetzes seine Freiheit erschließt, die seine Morali-
tät begründet. Der Mensch ist, wenn er selbständig und frei handelt, immer auf die Geltung des
Sittengesetzes festgelegt, das deshalb unleugbar und in sich nicht mehr begründbar ist.

23
die conditio sine qua non, den Menschen als frei zu denken. Denn der Gedanke
"einer frei handelnden Ursache" (KpV;84) kann aus der Sicht der praktischen
Vernunft nur in der Verbindung von Freiheit und Sittengesetz "unbezweifelte
Realität" (KpV;86) erhalten. Wenn sich daraus auch eine Dialektik der Ver-
nunft ergibt, da in der Betrachtung des Willens
"die ihm beigelegte Freiheit mit der Naturnotwendigkeit im Wi-
derspruch zu stehen scheint ... , so ist doch in praktischer Absicht
der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem es möglich ist,
von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu
machen ..." (GMS; BA114).
In der praktischen Ausrichtung der Vernunft auf das Handeln muß sich also
zeigen, wie sich in der konkreten Handlung Freiheit und Sittlichkeit wechsel-
seitig bedingen.
1.4 Die Korrelation von Freiheit und Sittlichkeit
Wie sich gezeigt hat, formuliert Kants handlungstheoretische These einen ana-
lytischen Zusammenhang von Freiheit und Moral. Das moralische Gesetz exi-
stiert "als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst ... freilich nur im vernünf-
tigen Wesen ... " (GMS; BA15), und nur wenn es von uns erkannt und aner-
kannt wird, im Sinne der "Achtung für dieses praktische Gesetz", können wir
daraus auf unsere Freiheit schließen (ebd.). Deshalb ist das moralische Gesetz
als Innengesetzlichkeit im Menschen der Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi)
der Freiheit, diese aber wiederum der Seinsgrund (ratio essendi) für dieses Ge-
setz (KpV;5). Das bedeutet, daß die Freiheit ihren Status für uns in der Aner-
kennung des moralischen Gesetzes gewinnt, aus der wir sie für uns erschließen.
Es bedeutet nicht, daß wir das Sittengesetz als ratio cognoscendi der Freiheit
nur kennen müssen, um daraus zu folgern, daß wir frei sind: So weisen also
"Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz ... wechselweise auf einander zu-
rück" (KpV;53), indem der Mensch urteilt,
"daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll,
und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische
Gesetz unbekannt geblieben wäre." (KpV;54)
Ein freies Wesen, das sich von der Vernunft leiten läßt, hat demnach im Sitten-
gesetz, das im kategorischen Sollen seinen Ausdruck findet, ein Motiv, dieses

24
Gesetz zu befolgen.
43
Insofern sein Wille kausal aus seiner selbstgesetzgeben-
den Funktion bestimmt wird, ist der Mensch unabhängig von äußeren Ursachen
und handelt autonom und damit frei, denn mit "der Idee der Freiheit ist nun
der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden (GMS;BA108).
Wenn Kant diese Verknüpfung von Freiheit und Moral in der Beziehung auf
moralische Handlungen aufweist, drängt sich die Frage auf, ob auch unmorali-
sche Handlungen auf die Freiheit des Menschen zurückgeführt werden können.
Sind Handlungen frei, obwohl sie der Vernunft widersprechen und deshalb
unmoralisch oder nicht erlaubt sind? Kants Freiheitskonzeption impliziert
nicht, daß nur Handlungen, die dem Verallgemeinerungsprinzip des Sittenge-
setzes entsprechen, frei sind. Denn der subjektive Grund, der eine Handlung
bestimmt,
"muß aber immer wiederum selbst ein Actus der Freiheit sein
(denn sonst könnte der Gebrauch, oder Mißbrauch der Willkür des
Menschen, in Ansehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zuge-
rechnet werden, und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch
heißen)." (REL;BA7)
Das heißt, daß alle Handlungen gerade aufgrund des moralischen Gesetzes frei
sind, weil dieses das Beurteilungskriterium ist, welches die Handlungen als gut
oder böse einschätzt. Auch der Grund des Bösen liegt nach Kant nur im Ge-
brauch der Freiheit, d.i. in einer Maxime, wodurch unmoralische oder uner-
laubte Handlungen aufgrund von Reiz-Reaktionsmechanismen des
Naturtriebes ausgeschlossen sind. Die Konsequenz des Kantischen Freiheits-
begriffs ist deshalb, daß der Mensch "allgemein als Mensch" durch seine Maxi-
men "zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt" (REL;B8) und Urheber
seiner Handlungen ist. Deshalb ist eine Schuldzuweisung an die Natur nicht
möglich. Hier spricht Kant von einer meta-empirischen Ebene, die vor einem
zeitlichen Akt liegt, in dem die Naturkausalität noch nicht gilt. Innerhalb der
Zeitreihe ist allerdings die Möglichkeit einer heteronomen Bestimmung der
Handlungen gegeben. Das hat die Konsequenz, daß es unmoralisches Handeln
infolge übermächtiger Neigungen geben kann - z. B. alle Handlungen, die auf-
grund einer pathologischen psychischen Disposition erfolgen, oder jegliche Art
von Suchtverhalten, die deshalb nicht frei genannt werden können. Nach Kants
These ist aber auch das Böse "von Natur" in der Freiheit gegründet, denn
dieser Hang muß "nicht als Naturanlage, sondern als etwas, was dem
43
Vgl. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 238.

25
Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden" (REL;B27). Die
Menschheit als Gattung ist also auch frei darin, als obersten - in einem
transzendentalen Sinn - subjektiven Grund aller Maximen das Böse zu wählen.
Diese Konsequenz aus dem Freiheitsbegriff Kants impliziert, daß wir keine
Opfer negativer Umstände oder der Erziehung sind, sondern die
Verantwortung für das Gute wie das Böse unserer Handlungen tragen.
Wesentlich ist der Moralphilosophie Kants, daß der Mensch in seiner Freiheit
das moralische Gesetz erkennen und anerkennen an, wodurch er den "Keim des
Guten" wiederherstellen kann (REL;B51f). Dies bestätigt seine Lehre vom
"Faktum der Vernunft".
1.4.1 Das Faktum der Vernunft
Die Erkenntnis der wechselseitigen Bestimmung von Freiheit und unbedingtem
praktischem Gesetz führt Kant zu der Frage, wie dem Menschen das morali-
sche Gesetz zugänglich ist, durch welches er wiederum erkennen kann, daß er
frei ist (KpV;53). Kant formuliert das Bewußtsein dieser Verpflichtung für den
Menschen als das
"Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft:
Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." (KpV;54)
Daraus folgt, daß mit dieser unbedingten praktischen Regel der Wille objektiv
und kategorisch bestimmt wird. Deshalb ist die reine Vernunft "unmittelbar ge-
setzgebend" (KpV;55) - obwohl Kant einräumt, daß ein apriorischer Gedanke
einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, ohne Anleihen an Erfahrung oder
eine äußere Gesetzmäßigkeit zu machen, zwar als ein Gebot gelten kann, aber
dennoch befremdlich bleibt. Kant differenziert im Anschluß zwischen einer
Vorschrift, nach der Handlungen geschehen sollen, und einer Regel, die den
Willen a priori bestimmt, und hebt hervor, daß dieses Gesetz, das die subjek-
tive Form der Grundsätze "durch die objektive Form eines Gesetzes überhaupt"
bestimmt, zumindest denkbar ist (KpV;55). Er nennt das Bewußtsein dieses
Grundgesetzes der praktischen Vernunft
"ein Faktum der Vernunft, weil man es nicht aus vorhergehenden
Datis der Vernunft, z.B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses
ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern
weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a

26
priori, der auf keiner weder reinen noch empirischen Anschauung
gegründet ist ... " (KpV;56f.).
Entscheidend ist die Aussage, daß dieses Faktum der Vernunft weder aus einer
reinen noch auf einer der Empirie entnommenen Anschauung stammt und da-
durch aus der reinen Vernunft als gesetzgebend folgt. Es ist "kein auf Affek-
tion, auf Rezeptivität der Sinnlichkeit gegründetes Faktum"
44
und ist somit
"kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft ..., die sich
dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt"
(KpV;57). Interpretiert man nach dieser Aussage "Faktum" im lateinischen
Wortsinne als "Tat" oder "zuschreibbare Handlung" und nicht als die im Deut-
schen synonymisch verwendete "Tatsache"
45
, so leitet sich das Tätige der Ver-
nunft, die das Gesetz erzeugt, schlüssig her: Faktum ist keine Tatsache als et-
was Gegebenes, sondern die Aktivität der Vernunft, die ihre konkrete Tat be-
stimmt. Das Faktum der Vernunft ist somit nichts, auf das der Mensch als eine
bereits vorliegende Tatsache zurückgreift - das Gesetz wird von ihm im kon-
kreten Vollzug erkannt. Das heißt, wenn er handeln muß, greift er fragend:
("Was soll ich tun?") auf seine Vernunft zurück, die in ihm aktiv das allge-
meine Gesetz erzeugt, das dann als Form seiner subjektiven Grundsätze dient,
aus der sich die konkreten Handlungen herleiten.
46
Eine reine praktische Ver-
nunft muß also auch nicht in ihrem reinen Vermögen kritisiert werden, wenn
geprüft werden soll, ob sie dieses nicht in Analogie zur spekulativen Vernunft
in ihren Möglichkeiten überschreite:
44
Reisinger, Imperative, Kategorischer Imperativ. In: Hist. Wörterbuch der Phil., S. 247.
45
Willaschek, Praktische Vernunft, S. 177-183. Willaschek analysiert die Bedeutung des Wortes
"Faktum" in seiner metaphorischen wie auch in seiner wörtlichen Bedeutung an den unterschied-
lichsten Textstellen Kants und kommt zu dem Schluß, daß Faktum als "Tat" übersetzt werden
muß, wenn es auch eine Doppeldeutigkeit in diesem Begriff gibt. Den Zusammenhang von Tat
und Tatsache der Vernunft erschließt Willaschek so, daß es sich beim Factum der Vernunft "um
eine Tat und zugleich um eine Tatsache handeln kann - allerdings nicht um eine Tatsache als et-
was bloß Gegebenes (datum), sondern um eine Tat-Sache als das Ergebnis einer Tat (factum)".
S. 181.
46
Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S. 62-70. Prauss kritisiert, daß das Faktum der
Vernunft mit dem das Moralgesetz der Freiheit aufgewiesen werden soll, eine "Verzweiflungstat"
und "Selbstüberredung" Kants sei, wozu er veranlaßt wurde, weil es ihm nicht gelungen sei, eine
eigentümliche Gesetzlichkeit aufzuweisen, "an der die Freiheit positiv als ein Vermögen eigener
Kausalität erkennbar und damit als eine Wirklichkeit deduzierbar wäre ..." (S. 67). Da Kant je-
doch mit dem Faktum der Vernunft die Selbsttätigkeit der Vernunft beschreibt, mit der er seinem
Anspruch nachkommt, ein Gesetz a priori, das nicht deduziert werden kann, aufzuweisen, ist die
Kritik von Prauss gegenstandslos. Das Faktum der Vernunft läuft somit nicht auf ein "Unding"
hinaus, wie Prauss behauptet (S. 68).

27
"Denn wenn sie, als reine Vernunft, wirklich praktisch ist, so be-
weiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles
Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich."
(KpV;3)
Indem die reine Vernunft im Menschen das Sittengesetz erzeugt, ist die Mög-
lichkeit gegeben, eine vernünftige Handlung zu initiieren. Das allgemeine Ge-
setz des Bewußtseins wird erst durch die Tat der Vernunft als ein von ihr
"Gemachtes" zum "Faktum". Damit liegt die Betonung auf der Aktivität und
der Spontaneität der Vernunft: das Sittengesetz wird nicht faktisch vorgefun-
den, sondern ist im Vollzug vernünftigen Denkens geschaffen worden. Im Be-
wußtsein des Moralgesetzes artikuliert sich der Anspruch der moralisch-prakti-
schen Vernunft an den Menschen, und dieser sittliche Vernunftanspruch "läßt
sich als Herausforderung des Menschen an sich selbst"
47
, als eines endlichen,
aber mit Vernunft begabten Wesens, verstehen. In seiner Chance, diesem An-
spruch zu folgen und damit seine Selbstbestimmung zu erreichen, liegt seine
Freiheit. Weder ein göttliches noch ein ausschließlich kausal determiniertes
Wesen könnten unter dem Anspruch des Sittengesetzes stehen: Ein göttliches
Wesen hätte einen vollkommenen Willen und wäre deshalb keinem Sollen aus-
gesetzt; andererseits hätte ein Wesen, das der Notwendigkeit unterworfen ist,
nicht die Freiheit, autonom zu handeln. Gerade weil der Mensch den Status ei-
nes endlichen Wesens einnimmt, das vernunftbegabt ist und doch heteronomen
Bestimmungen unterliegt, kann er die Aufforderung der Vernunft vernehmen.
48
Die ihm dadurch gebotene Chance nicht zu ergreifen, würde den Menschen
seiner "Persönlichkeit"
49
berauben.
47
Klaus Konhardt, Faktum der Vernunft? - Zu Kants Frage nach dem "eigentlichen Selbst" des
Menschen, in: Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt am Main, 1986,
S.
181.
48
Vgl. auch: Konhardt, Faktum der Vernunft?, S. 172-183. In seinem Aufsatz vertritt Konhardt die
Rahmenthese, daß sich ein moralneutraler Begriff menschlichen Handelns philosophisch nicht
zureichend begründen läßt, womit er sich vor allem gegen die Interpretation von Prauss wendet,
die nach Konhardts Ansicht die Moralität an die Peripherie des Kantischen Systems verdrängt.
Konhardt argumentiert dafür, daß gerade die Moralität eine zentrale Position in Kants System
einnimmt. Letzterem ist zuzustimmen, wenn Kant auch die moralindifferenten Handlungen be-
rücksichtigt.
Siehe dazu auch: Willaschek, Praktische Vernunft, S. 326, Anmerkung 1 zu Kapitel IV, und
S. 340, Anmerkung 34 zu Kapitel IV: Willaschek wiederum rechnet Konhardt zu den Autoren,
welche die Auffassung vertreten, Kant reduziere die Menge der freien Handlungen entweder auf
die Menge der moralisch guten oder die der moralisch relevanten Handlungen und übersehe, daß
Kant auch den moralunabhängigen Aspekten des Handelns Rechnung trägt.
49
Vgl. Konhardt, Faktum der Vernunft?, S. 182. Konhardt zitiert mit "Persönlichkeit" Kants
Religionslehre, B18, A16.

28
Kant zeigt mit der Beschreibung dieser Tätigkeit der Vernunft, die ein
freies Handeln motiviert, daß sich daraus das Bewußtsein der Freiheit für den
Menschen ergibt. Aus diesem Grund kann das Faktum der Vernunft nicht aus
vorgegeben Daten der Vernunft, wie einem Bewußtsein der Freiheit
"herausvernünftelt" werden (KpV;55). Indem Kant den analytischen Zusam-
menhang von Freiheit und Moral zeigt, sichert er die Gültigkeit des Sittengese-
tzes als Ergebnis der Autonomie der Vernunft. Und durch den Akt der Selbst-
gesetzgebung, in der sich der Tatcharakter der Vernunft zeigt, wird auch der
mögliche Vorwurf einer Zirkelstruktur zurückgewiesen: die Freiheit konstitu-
iert sich jeweils neu, weil eine Handlung unmittelbar dadurch bestimmt wird,
daß das Sittengesetz nicht als Tat-Sache, sondern wesentlich als Tat der Ver-
nunft anerkannt wird.
50
Aufgrund dessen "sieht Kant im Bereich der Prakti-
schen ... die reine Vernunft als real erwiesen", und "reine praktische Vernunft,
die Moralität, erscheint nicht länger als ein lebensfremdes Sollen, sondern als
eine Wirklichkeit, die wir immer schon anerkennen".
51
Somit läßt jede ver-
nünftige Handlung den betreffenden Menschen in seiner Entscheidung für das
moralisch Richtige auch seine Freiheit erkennen.
1.4.2 Der Mensch als Bürger zweier Welten: Die Begriffe "intelligibler"
und "empirischer" Charakter
Die Problematik des transzendentalen Freiheitsaspekts ergibt sich in der theo-
retischen wie auch der praktischen Philosophie Kants wesentlich aus seiner
Konzeption des intelligiblen und empirischen Charakters
52
des Menschen: der
Mensch ist als intelligibles oder noumenales Wesen frei und zugleich in einer
und derselben Handlung der empirischen Welt der Phänomene und ihrer Na-
turkausalität unterworfen. Die Frage, wie ein Mensch in der Entscheidung zu
einer Handlung frei sein kann und dennoch in der Wirklichkeit dem empiri-
schen Ursache-Wirkungs-Prinzip ausgesetzt ist, soll die Bedeutung der Begrif-
fe "intelligibel" und "empirisch" innerhalb der von Kant beschriebenen Gesetz-
lichkeit klären.
50
Vgl. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 191ff.
51
Otfried Höffe, Immanual Kant, München 1983, S. 204.
52
Vgl. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II, Berlin-New York 1967, S. 346: Der Terminus
"Charakter" darf nicht im Sinne menschlich-personaler Haltung und Verfassung verstanden wer-
den, sondern im Sinne von Unterscheidungsmerkmal, Unterscheidungszeichen. - Vgl. auch:
Willaschek, Praktische Vernunft, S. 118.

29
Kants strikte Trennung zwischen der Welt der Noumena und der Welt
der Phänomena zieht die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit auch aus
handlungstheoretischer Perspektive nach sich. Denn es stellt sich vor allem die
Frage nach der Zurechenbarkeit der Handlungen eines Menschen, wenn man
ihn als Bürger zweier Welten ansieht. Aus dieser Problematik ergeben sich
Fragen, die zumindest erwähnt werden sollen: Kann der Mensch noch als frei
gedacht und angesehen werden, wenn er in der sinnlichen Welt der Naturkau-
salität unterworfen ist? Wie hat der Mensch Handlungen, die gegen das Sollen-
sprinzip verstoßen, unter dem Imputabilitätsaspekt zu beurteilen? Menschliche
Zurechnungen für Handlungen anderer können allerdings nie direkt auf die
Gesinnung und Handlungspontaneität - damit auf seine konkrete Moralität im
Gegensatz von bloßer Legalität - bezogen werden. Zurechnung aus der
menschlichen Gemeinschaftsperspektive kann sich deshalb nur "an Gegeben-
heiten des empirischen Charakters in seinen gleichfalls empirischen Äußerun-
gen halten".
53
Die Freiheit des Menschen nachzuweisen, ist allein Aufgabe der prakti-
schen Vernunft. Sie betrachtet den Menschen aus seiner Denk- und Hand-
lungsperspektive in seiner Spontaneität aus Freiheit, in der dieser unabhängig
von Zeitbedingungen agiert. Darin unterliegt sie nicht dem Fehler eines theore-
tischen Blickpunktes, der sich in der Freiheitsfrage in Begriffsanalysen verlie-
ren kann, denen kein korrespondierender Gegenstand in der Anschauung ent-
spricht (KrV;B76f.,A52). Kant gesteht der praktischen Vernunft aus diesem
Grunde den Primat in ihrer Verbindung mit der spekulativen Vernunft zu
(vgl.KpV;215,216ff.). Bereits in der Kritik der reinen Vernunft räumt er in der
Auflösung der dritten Antinomie die Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit
ein. Das bedeutet, das dasjenige, was in der Sinnenwelt, der Welt der Phäno-
mena, als Erscheinung angesehen werden muß, dennoch an sich selbst zugleich
ein Vermögen hat, das nicht Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist und
mit dem es Erscheinungen verursachen kann:
"So kann man die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten be-
trachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an
sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als ei-
ner Erscheinung der Sinnenwelt." (KrV;B566f,A538f)
Dieser doppelten Betrachtung entsprechend weist Kant einem Subjekt erstens
einen "empirischen Charakter" zu, dessen Handlungen als Erscheinungen kon-
53
Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II, S. 372.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
1995
ISBN (eBook)
9783842821989
DOI
10.3239/9783842821989
Dateigröße
726 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München – Philosophische Fakultät, Philosophie
Erscheinungsdatum
2011 (November)
Note
1,0
Schlagworte
postulatenlehre praktische philosophie kant theoretische wissenschaftslehre fichte
Produktsicherheit
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Titel: "Es ist, außer Gott, gar nichts wahrhaftig": Fichtes Anweisung zum seligen Leben vor dem Hintergrund von Kants praktischer Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Postulatenlehre
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