Leben für die Musik - Reicht die Musik zum Leben?
Beschäftigungsverhältnisse und Lebenssituation von Musikern und Musikschaffenden in Berlin
©2008
Diplomarbeit
131 Seiten
Zusammenfassung
Inhaltsangabe:Einleitung:
Die wirtschaftliche Struktur der Städte und Regionen in den Industriestaaten hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Der Prozess des strukturellen Wandels von einer industriellen zu einer postindustriellen Wirtschaft ist noch lange nicht abgeschlossen. In vielen Ländern soll der Rückgang des Industrie- und des Dienstleitungssektors durch den Anstieg des kreativen Sektors abgefangen werden. Seit Ende der Neunziger versprechen sich Politiker, Investoren und Wirtschaftsfachleute von der auf Information und Innovation basierenden Kreativwirtschaft neue Märkte und Arbeitsformen sowie neue Arbeitsplätze.
Auch Berlin setzt auf die Kultur- und Kreativwirtschaft als Zukunftsbranche, um wirtschaftsstrukturelle Widrigkeiten der vergangenen Jahre zu überwinden. Sie soll die Schlüsselindustrie für wirtschaftliches Wachstum sein und der Stadtentwicklung neue Impulse geben. Gerade für die Musikwirtschaft, die Teil des Kreativsektors ist, hat sich Berlin als einer der zentralen Knotenpunkte der Branche herausgestellt.
Die Stadt bietet sowohl Großkonzernen als auch klein- und mittelständischen Musikunternehmen sowie den Musikern optimale Standortbedingungen. Die hier ansässige Musikindustrie und das Vorhandensein wichtiger Verbände und Institutionen sowie die vielfältige Konzert- und Clublandschaft lassen die Vermutung aufkommen, dass die Stadt eine gute berufliche Perspektive für Musiker und Musikschaffende bietet. Gleichwohl wird die berufliche und private Situation der Kreativen in den Medien kontrovers diskutiert.
Die TAZ widmet bereits 2006 dem Prekären Leben in Berlin eine ganze Serie und weist auf die kritische Lage hinsichtlich der Lebens- und Beschäftigungssituation von Kreativen in Berlin hin. Sie sind hoch motiviert, finden trotz allem keine feste Anstellung und unterbieten sich als Freie gegenseitig.
Der SPIEGEL beschreibt im Artikel Großstadt ohne Größenwahn die Situation auf seine Weise: Es ist diese Lässigkeit, aus der heraus Ideen für morgen geboren werden, auch wenn das kreative Caféleben in der Gegenwart aus dem Hartz-Programm kofinanziert wird Auf Glamour allein kann man keine Stadt gründen, aber Glamour hilft, der Stadt ein neues wirtschaftliches Unterfutter zu geben (DER SPIEGEL 12/2007, 19.03.2007).
Selbstverwirklichung hat für die Kreativen einen so hohen Stellenwert, dass sie oftmals trotz schlechter Einkünfte an ihrem Wunsch festhalten, durch kreatives Schaffen ihren Lebensunterhalt […]
Die wirtschaftliche Struktur der Städte und Regionen in den Industriestaaten hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Der Prozess des strukturellen Wandels von einer industriellen zu einer postindustriellen Wirtschaft ist noch lange nicht abgeschlossen. In vielen Ländern soll der Rückgang des Industrie- und des Dienstleitungssektors durch den Anstieg des kreativen Sektors abgefangen werden. Seit Ende der Neunziger versprechen sich Politiker, Investoren und Wirtschaftsfachleute von der auf Information und Innovation basierenden Kreativwirtschaft neue Märkte und Arbeitsformen sowie neue Arbeitsplätze.
Auch Berlin setzt auf die Kultur- und Kreativwirtschaft als Zukunftsbranche, um wirtschaftsstrukturelle Widrigkeiten der vergangenen Jahre zu überwinden. Sie soll die Schlüsselindustrie für wirtschaftliches Wachstum sein und der Stadtentwicklung neue Impulse geben. Gerade für die Musikwirtschaft, die Teil des Kreativsektors ist, hat sich Berlin als einer der zentralen Knotenpunkte der Branche herausgestellt.
Die Stadt bietet sowohl Großkonzernen als auch klein- und mittelständischen Musikunternehmen sowie den Musikern optimale Standortbedingungen. Die hier ansässige Musikindustrie und das Vorhandensein wichtiger Verbände und Institutionen sowie die vielfältige Konzert- und Clublandschaft lassen die Vermutung aufkommen, dass die Stadt eine gute berufliche Perspektive für Musiker und Musikschaffende bietet. Gleichwohl wird die berufliche und private Situation der Kreativen in den Medien kontrovers diskutiert.
Die TAZ widmet bereits 2006 dem Prekären Leben in Berlin eine ganze Serie und weist auf die kritische Lage hinsichtlich der Lebens- und Beschäftigungssituation von Kreativen in Berlin hin. Sie sind hoch motiviert, finden trotz allem keine feste Anstellung und unterbieten sich als Freie gegenseitig.
Der SPIEGEL beschreibt im Artikel Großstadt ohne Größenwahn die Situation auf seine Weise: Es ist diese Lässigkeit, aus der heraus Ideen für morgen geboren werden, auch wenn das kreative Caféleben in der Gegenwart aus dem Hartz-Programm kofinanziert wird Auf Glamour allein kann man keine Stadt gründen, aber Glamour hilft, der Stadt ein neues wirtschaftliches Unterfutter zu geben (DER SPIEGEL 12/2007, 19.03.2007).
Selbstverwirklichung hat für die Kreativen einen so hohen Stellenwert, dass sie oftmals trotz schlechter Einkünfte an ihrem Wunsch festhalten, durch kreatives Schaffen ihren Lebensunterhalt […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Katja Hermes/Anne Kammerzelt
Leben für die Musik - Reicht die Musik zum Leben?
Beschäftigungsverhältnisse und Lebenssituation von Musikern und Musikschaffenden in
Berlin
ISBN: 978-3-8428-2127-9
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2012
Zugl. Universität Trier, Trier, Deutschland, Diplomarbeit, 2008
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2012
Danksagung
Wir danken allen, die uns bei der Erstellung dieser Arbeit unterstützt haben.
Unser Dank gilt unseren Gutachtern, Herrn Prof. Dr. Heiner Monheim, Frau Prof. Dr.
Marlies Schulz und Frau Dr. Katja Adelhof für die Übernahme der Betreuung der Ar-
beit, ihren wertvollen Anregungen und ihren fachlichen Rat.
Unser besonderer Dank gilt Dr. Marco Mundelius vom Deutschen Institut für Wirt-
schaftsforschung, der uns statistische Daten der Musikwirtschaft zur Verfügung gestellt
hat, sich die Zeit für fachliche und anregende Diskussionen genommen und alle Nach-
fragen geduldig beantwortet hat.
Wir danken allen Interviewpartnern, die zum Gelingen der Studie durch ihre bereitwilli-
ge und offene Auskunft beigetragen haben!
Ein ganz besonderer Dank geht an unsere Familien, die uns während des gesamten
Studiums unterstützt haben und uns bei der Diplomarbeit jederzeit mental zur Seite
standen.
Des Weiteren danken wir Herbert, Sabine, Raimo, Daniel, Isa und Nikola.
3
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ...3
Abbildungsverzeichnis ...6
Tabellenverzeichnis ...6
1
Einleitung...Katja Hermes (K.H.) / Anne Kammerzelt (A.K.) 7
1.1.1 Fragestellung und Ziele ...9
1.1.2 Aufbau...11
2
Kultur- und Kreativwirtschaft ... Katja Hermes 12
2.1
The Rise of the Creative Class? ...12
2.2
Begriffsbestimmung...13
2.2.1 Kulturindustrie / Cultural Industries ...14
2.2.2 Creative Industrie ...14
2.2.3 Kulturwirtschaft...15
2.2.4 Einigung der Begriffsbestimmung ...16
2.3
Kultur und Kreativwirtschaft im Rahmen der Wirtschafts- und
Stadtentwicklung ...18
2.3.1 Kultur- und Kreativwirtschaft als Zukunftsbranchen für Berlin ...20
2.3.2 Agglomerationen und Standortwahl der Kultur- und Kreativwirtschaft in
Berlin...22
2.3.3 Kultur- und Kreativwirtschaft im Rahmen urbaner Transformations-
prozesse...25
2.4
Zusammenfassung...26
3
Musikwirtschaft ... Anne Kammerzelt 27
3.1
Abgrenzung der Musikwirtschaft...27
3.2
Struktur der Musikindustrie ...31
3.2.1 Musiklabels als zentraler Mittelpunkt der Musikindustrie...33
3.2.2 Independent Labels...33
3.2.3 Major Labels...35
3.2.4 Netzwerke der Musikwirtschaft ...36
3.3
Musik in der Stadt...38
3.4
Zusammenfassung...41
4
Beschäftigungsverhältnisse der Kultur- und Kreativschaffenden...42
4.1
Veränderungen im Arbeitsmarkt ...K.H. 42
4.1.1 Das Phänomen der neuen Selbstständigkeit ... A.K. 44
4.1.2 Bildung und Qualifikation...K.H. 48
4.1.3 Einkommenssituation und Einkommensungleichheiten ...K.H. 49
4.1.4 Netzwerke ...K.H. 51
4.1.5 Mehrfachbeschäftigung ... A.K. 52
4.1.6 Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben ... A.K. 53
4
4.1.7 Arbeitslosigkeit ...K.H. 54
4.1.8 Soziale Absicherung und Altersvorsorge ...K.H. 56
4.2
Zusammenfassung... K.H. / A.K. 58
5
Förderung ...59
5.1
Allgemeine Fördersituation ... A.K. 59
5.2
Öffentliche Förderung...K.H. 61
5.3
Deutsche Musikförderung... K.H. / A.K. 63
5.4
Sponsoring ... A.K. 65
5.5
Zusammenfassung... K.H. / A.K. 66
6
Empirische Untersuchung ... Katja Hermes / Anne Kammerzelt 67
6.1
Zielsetzungen der Untersuchung ...67
6.2
Thesen ...67
6.3
Methodisches Vorgehen und ausgewählte Instrumente...68
6.3.1 Datengrundlage...69
6.3.2 Durchführung der qualitativen Interviews...72
6.3.3 Auswertung der qualitativen Interviews ...73
7
Darstellung der Untersuchungsergebnisse...74
7.1
Die Beschäftigungsverhältnisse und Lebenssituation von Musikern und
Musikschaffenden ...74
7.1.1 Motive für das Leben in der Musikbranche ...K.H. 74
7.1.2 Bedeutung von Qualifikation und Ausbildung für die Beschäftigung und das
Einkommen ...K.H. 76
7.1.3 Festanstellung versus Selbstständigkeit ... A.K. 82
7.1.4 Einkommenssituation der Musiker und Musikschaffenden... K.H. / A.K. 85
7.1.5 Arbeitsvolumen und Arbeitszeiten ... A.K. 89
7.1.6 Mehrfachbeschäftigung in der Musikbranche ...K.H. 93
7.1.7 Netzwerke und Unentgeltliche Arbeit in der Musikbranche ...K.H. 95
7.1.8 Ökonomie versus Kreativität... A.K. 96
7.1.9 Unterstützung durch Familie, Partner und Mäzene...K.H. 98
7.1.10 Soziale Absicherung und Alterssicherung der Akteure ... A.K. 98
7.1.11 Zukunft ... K.H. 100
7.2
Musikförderung...102
7.2.1 Staatliche und institutionelle Musikförderung... K.H. 102
7.2.2 Privatwirtschaftliche Musikförderung ... A.K. 105
7.3
Zusammenfassung... K.H. / A.K. 107
8
Fazit... Katja Hermes / Anne Kammerzelt 110
Quellenverzeichnis...115
Literaturverzeichnis ...115
Anhang...124
5
A.1 Interviewpartner ...124
A.2 Statistische Abgrenzung der Teilmärkte und deren Berufe...125
A.3 Interviewleitfaden Musikbranche ...126
A.4 Anschreiben...128
A.5 Panels...129
6
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Drei-Sektoren-Modell ...19
Abbildung 2: Wertschöpfungskette der Musikwirtschaft ...29
Abbildung 3: Zusammenhang Musikkultur und Musikwirtschaft ...30
Abbildung 4: Professionelles Musikschaffen...31
Abbildung 5: Marktanteile der Majors ...35
Abbildung 6: Netzwerke der Musikindustrie ...37
Abbildung 7: Standorte Berliner Musikunternehmen ...40
Abbildung 8: Entwicklung der Selbstständigen in den Kulturberufen im
Vergleich zu allen Selbstständigen 1995- 2003...45
Abbildung 9: Entwicklung der Versichertenzahlen unterteilt nach den
Kunstbereichen ab dem Jahr 1991 ...56
Abbildung 10: Qualifikationsniveau - Abitur und Hochschulabschluss ...77
Abbildung 11: Anzahl Festangestellte und Selbständige in Berlin und Bund...83
Abbildung 12: Monatsnettoeinkommen der Musiker, der Kreativberufler in
Berlin und allen Berufen im Vergleich mit dem Bund und 6
Regionen im Jahr 2006...86
Abbildung 13: Abendarbeit bei Musikern, Kreativschaffenden und allen
Berufen in Berlin ...91
Abbildung 14: Mehrfachbeschäftigung bei Musikern, Kreativschaffenden
und allen Berufen in Berlin ...93
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Teilmärkte der Kulturwirtschaft in Berlin ...17
Tabelle 2: Abgrenzung Musikwirtschaft...28
Anmerkungen
Bei Personenbezeichnungen wird in dieser Arbeit im Allgemeinen die männliche
Form verwendet, um die Lesbarkeit zu vereinfachen. Damit sind sowohl
männliche als auch weibliche Personen eingeschlossen, falls nicht anders
vermerkt. Die Autoren der einzelnen Kapitel werden lediglich im Inhaltsverzeichnis
vermerkt, um Wiederholungen im Text zu vermeiden.
Einleitung
7
1 Einleitung
Die wirtschaftliche Struktur der Städte und Regionen in den Industriestaaten hat sich in
den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Der Prozess des strukturellen Wandels
von einer industriellen zu einer postindustriellen Wirtschaft ist noch lange nicht abge-
schlossen. In vielen Ländern soll der Rückgang des Industrie- und des Dienstleitungs-
sektors durch den Anstieg des kreativen Sektors abgefangen werden. Seit Ende der
Neunziger versprechen sich Politiker, Investoren und Wirtschaftsfachleute von der auf
Information und Innovation basierenden Kreativwirtschaft neue Märkte und Arbeitsfor-
men sowie neue Arbeitsplätze.
Auch Berlin setzt auf die Kultur- und Kreativwirtschaft als ,,Zukunftsbranche", um wirt-
schaftsstrukturelle Widrigkeiten der vergangenen Jahre zu überwinden. Sie soll die
Schlüsselindustrie für wirtschaftliches Wachstum sein und der Stadtentwicklung neue
Impulse geben. Gerade für die Musikwirtschaft, die Teil des Kreativsektors ist, hat sich
Berlin als einer der zentralen Knotenpunkte der Branche herausgestellt.
Die Stadt bietet sowohl Großkonzernen als auch klein- und mittelständischen Musik-
unternehmen sowie den Musikern optimale Standortbedingungen. Die hier ansässige
Musikindustrie und das Vorhandensein wichtiger Verbände und Institutionen sowie die
vielfältige Konzert- und Clublandschaft lassen die Vermutung aufkommen, dass die
Stadt eine gute berufliche Perspektive für Musiker und Musikschaffende bietet. Gleich-
wohl wird die berufliche und private Situation der Kreativen in den Medien kontrovers
diskutiert.
Die TAZ widmet bereits 2006 dem ,,Prekären Leben in Berlin" eine ganze Serie und
weist auf die kritische Lage hinsichtlich der Lebens- und Beschäftigungssituation von
Kreativen in Berlin hin. Sie sind hoch motiviert, finden trotz allem keine feste Anstellung
und unterbieten sich als Freie gegenseitig.
Der SPIEGEL beschreibt im Artikel ,,Großstadt ohne Größenwahn" die Situation auf
seine Weise: ,,Es ist diese Lässigkeit, aus der heraus Ideen für morgen geboren wer-
den, auch wenn das kreative Caféleben in der Gegenwart aus dem Hartz-Programm
kofinanziert wird...Auf Glamour allein kann man keine Stadt gründen, aber Glamour
hilft, der Stadt ein neues wirtschaftliches Unterfutter zu geben" (DER SPIEGEL
12/2007, 19.03.2007).
Selbstverwirklichung hat für die Kreativen einen so hohen Stellenwert, dass sie oftmals
trotz schlechter Einkünfte an ihrem Wunsch festhalten, durch kreatives Schaffen ihren
Lebensunterhalt zu generieren.
Als Reaktion auf die fortschreitende Individualisierung und die derzeitige Lage auf dem
Einleitung
8
Arbeitsmarkt sehen FRIEBE und LOBO in ihrem Bestseller ,,Wir nennen es Arbeit" die
Entstehung der ,,digitalen Bohème". Darunter subsumieren sie junge, kreative Men-
schen, die nicht nur auf den erschwerten Zugang zur Festanstellung reagieren, son-
dern im Idealfall das Modell eines selbstbestimmten Arbeitslebens innerhalb von Netz-
werken aus Gleichgesinnten auch aus ideologischen Gründen vorziehen. Die Zielset-
zung der ,,digitalen Bohème" lautet: So arbeiten, wie man leben will, und trotzdem aus-
reichend Geld damit verdienen; das Ganze ermöglicht und befördert durch das Inter-
net, und zwar auch in Bereichen, die auf den ersten Blick nichts mit dem Netz zu tun
haben.
Aufgrund der verschiedenen Perspektiven stellt sich die Frage: Wie sieht die Arbeits-
und Beschäftigungssituation der Kreativen und speziell der Musikschaffenden tatsäch-
lich aus? Welche Konsequenzen hat diese Situation für das alltägliche Leben?
Können die kreativen Arbeitsmärkte als ,,Arbeitsmärkte der Zukunft" angesehen wer-
den?
Die folgende Untersuchung setzt sich wissenschaftlich mit den aufgezeigten Fragestel-
lungen auseinander.
Einleitung
9
1.1.1 Fragestellung und Ziele
Die vorliegende Arbeit wurde im Rahmen der Untersuchung ,,Die Einkommenssituation
der Berliner Kultur- und Kreativberufe" des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-
schung (DIW Berlin) erstellt und von der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft,
Technologie und Frauen in Auftrag gegeben.
Während sich die Studie des DIW's auf die gesamte Kultur- und Kreativbranche be-
zieht, ist das Ziel dieser Diplomarbeit, einen empirischen Beitrag mit einer umfassen-
den Betrachtung des Forschungsgegenstandes ,,Beschäftigungsverhältnisse und Le-
benssituation von Musikern und Musikschaffenden in Berlin" zu leisten.
Der aktuelle Forschungsbedarf ergibt sich aus der zunehmenden Bedeutung dieser
Branche, im Hinblick auf die allgemeine Entwicklung der Arbeitsmärkte und der daraus
resultierenden Situation der Beschäftigten.
Zusätzlich zeigt die derzeitige rege öffentliche Auseinandersetzung in den Medien und
in der Wissenschaft die Relevanz des Themas.
Die publizierten wissenschaftlichen Abhandlungen beschäftigen sich hauptsächlich mit
der Situation von Künstlern und Kreativen allgemein. Dabei wird eine empirische Be-
trachtung zur Lage der Selbstständigen außer Acht gelassen. Dieses Defizit erklärt
sich aus der fehlenden Datenlage; da sie nicht sozialversicherungspflichtig sind, tau-
chen die Selbstständigen in keiner Statistik auf.
Aus diesem Grund liegt der Fokus dieser Studie auf der Darlegung einer empirischen,
statistisch belastbaren Datenbasis der Selbstständigen im Kultur- und Kreativsektor am
Beispiel Musik.
Die Musikbranche im Independent Bereich eignet sich besonders, das aktuelle Phä-
nomen der ,,Neuen Selbstständigen"
1
zu repräsentieren, da sich die Akteure haupt-
sächlich aus Musikern und Musikschaffenden, die als Ein-Personen-Unternehmen
agieren, zusammensetzen.
Daraus ergeben sich folgende zentrale Fragestellungen:
· Aus welchen Gründen wählen die Akteure diesen beruflichen Weg?
· Welche Bedeutung hat der Faktor Ausbildung für die Beschäftigung?
· Wie wird das Einkommen generiert?
· Gibt es eine klare zeitliche Trennung zwischen Arbeit und Freizeit?
· Sind soziale Absicherung und Altersvorsorge ausreichend?
1
Die "Neuen Selbständigen" zeichnen sich durch Flexibilität, Mobilität, Parallelarbeit und ein hohes Maß
an Risikobereitschaft aus.
Einleitung
10
Ziel ist es, anhand der Untersuchungsergebnisse die derzeitige Lage der Musiker und
Musikschaffenden darzustellen, gegebenenfalls auf Probleme hinsichtlich der Beschäf-
tigungs- und Lebenssituation hinzuweisen und mögliche Verbesserungsmaßnahmen
aufzuzeigen.
Einleitung
11
1.1.2 Aufbau
Dieses erste Kapitel leitet in die Thematik der vorliegenden Forschungsarbeit ein und
erläutert den Untersuchungsgegenstand und das Ziel der Arbeit.
Kapitel 2 und 3 liefern die wesentlichen theoretischen Grundlagen der Arbeit. Kapitel 2
setzt sich mit den Definitionen und Abgrenzungen der zentralen Begriffe der Kultur-
und Kreativwirtschaft auseinander. Es folgt die Beschreibung der Bedeutung der Kul-
tur- und Kreativwirtschaft für Berlin. Neben der ökonomischen Relevanz hat sie sowohl
Einfluss auf die Standortwahl von Betrieben als auch auf urbane Transformationspro-
zesse in den jeweiligen Bezirken.
In Kapitel 3 wird der Begriff Musikwirtschaft definiert und die Kernbereiche der Musik-
branche vorgestellt. Es erfolgt eine Beschreibung der Musiklabels mit einer detaillieren
Beschreibung von Major und Independent Labels. Mit der Darstellung der verschiede-
nen Netzwerke ist es möglich, die Musikindustrie selbst und ihre Akteure zu verorten.
Die Bedeutung der Musik für die Stadt und die Standorte der Musiker und Musikschaf-
fenden veranschaulicht abschließend die Agglomeration der Branche.
Ein detailliertes theoretisches Grundwissen für den darauf folgenden empirischen Teil
der Arbeit geben Kapitel 4 und 5. Kapitel 4 erläutert die Arbeits- und Lebenssituation
von Kultur- und Kreativschaffenden in der literarischen Diskussion. Ziel der allgemei-
nen Darstellung der Kreativen ist es, diese in der abschließenden Auswertung mit den
eigenen empirischen Ergebnissen zur Musikbranche vergleichen zu können. Kapitel 5
stellt Förderinstrumente für Musiker, sowohl öffentlicher als auch privatwirtschaftlicher
Art vor und stellt beispielhaft deutschlandweite und berlinspezifische Fördermittel vor.
Auf Grundlage der theoretischen Ausführungen werden im 6. Kapitel die empirische
Vorgehensweise, die Datengrundlage sowie die gewählten Forschungsmethoden dar-
gelegt und begründet.
Die Untersuchungsergebnisse der empirischen Erhebung sind Gegenstand des 7. Ka-
pitels. Dabei stehen die Ergebnisse der Analyse der Beschäftigungs- und Lebenslage
in der Musikbranche im Mittelpunkt. Inhaltlich wird ein Zusammenhang zum theoreti-
schen Teil der Kapitel 4 und 5 hergestellt und auf die relevanten Faktoren der Situation
der Musiker und Musikschaffenden eingegangen.
Kapitel 8 fasst die Ergebnisse kurz zusammen und interpretiert die Resultate im Hin-
blick auf die Fragestellung. Abschließend können Schlussfolgerungen aus der Unter-
suchung gezogen werden.
Kultur- und Kreativwirtschaft
12
2
Kultur- und Kreativwirtschaft
2.1 The Rise of the Creative Class?
In der wissenschaftlichen Diskussion über internationale Stadtentwicklung wird den
wissensintensiven Wirtschaftsaktivitäten und den kreativen Berufen eine wachsende
Bedeutung beigemessen. Das Thema boomt. In den letzten Jahren sind weltweit zahl-
reiche Studien veröffentlicht worden, die das Wachstum und die wirtschaftliche Bedeu-
tung dieses Sektors belegen (vgl. SÖNDERMANN 2006, S. 68).
Einer der bekanntesten Vertreter der kreativen Ökonomie ist der US-amerikanische
Ökonom Richard FLORIDA. Kreativität stellt nach seiner These die entscheidende
Ressource für regionale Entwicklung dar, ,,...creativity is the driving force of economic
growth..." (FLORIDA 2002, S. XXvii).
FLORIDA behauptet, dass Städte und Regionen nur in einer globalisierten Ökonomie
erfolgreich sein können, wenn sie in der Lage sind, die kreative Klasse
2
anzuziehen.
Die Faktorkombination der "3T's" Technologie, Talent und Toleranz- sind der Schlüs-
sel für diesen Wachstumserfolg.
Technologie bedeutet für ihn die Konzentration von Innovationen, High-Tech-
Unternehmen und Forschungseinrichtungen innerhalb einer Stadt, die den wirtschaftli-
chen Erfolg der Unternehmen und so auch die Arbeitsplätze in der Region beeinflus-
sen. Mit Talent meint er den Personenkreis, der die Fähigkeit besitzt, Innovationen zu
schaffen oder Unternehmen zu gründen. Die hohe Qualifikation und das spezialisierte
Wissen, die meist durch ein Hochschulstudium erlangt wurden, tragen somit zum
Wachstum der Region bei.
Toleranz und Offenheit gegenüber neuen Ideen, Vielfalt und Verschiedenheit der Le-
bensformen, Menschen anderer ethnischer Herkunft, anderer sexueller Orientierung
sowie die Lebhaftigkeit der künstlerischen Szene führen dazu, dass sich Menschen in
solcher Umgebung leichter integrieren.
Dies bietet die Möglichkeit, durch neue Erfahrungen und Eindrücke innovativer und
kreativer zu sein (vgl. FLORIDA 2002, S. 251f.).
1
Der Kern dieser kreativen Klasse ist laut Florida der ,,super creative core", der sich aus einem breiten
Spektrum an Berufen zusammensetzt: ,,The Super-Creative Core of this new class includes scientists and
engineers, university professors, poets and novelists, artists, entertainers, actors, designers and archi-
tects, as well as the thought leadership of modern society: nonfiction writers, editors, cultural figures, think-
tank researches, analysts and other opinion-makers. Whether they are software programmers or engi-
neers, architects or filmmakers, they fully engage in the creative process" (FLORIDA 2002, S. 68f).
Kultur- und Kreativwirtschaft
13
Die Theorie FLORIDAS ist durchaus streitbar und wird vielfach kritisiert. Zum einen
wird ihm vorgeworfen, er habe Korrelationen überbewertet, unsachgemäße Definitio-
nen der Beschäftigungskategorien verwendet und veraltete Zahlen aus Zeiten vor dem
Zusammenbruch des Dot.com
3
genutzt (vgl. WIESAND 2006, S. 9).
Auch wenn es fraglich bleibt, ob FLORIDAS Theorien ausreichen, um wirtschaftliches
Wachstum in Regionen zu generieren, hat er dennoch eine wichtige Basis geschaffen
für eine öffentliche Diskussion über die Potenziale und Chancen des Kreativsektors.
Unbestritten bleibt, dass die Kultur- und Kreativbranche zu den überdurchschnittlich
wachsenden Bereichen der Wirtschaft zählt. Abzuwarten bleibt jedoch, ob die Antwort
auf den Strukturwandel der postindustriellen Stadt Kreativitäts- und Innovationsreich-
tum sind und ob die Erwartungen sich erfüllen, dass Wachstumsimpulse auch auf an-
dere Branchen übertragen werden können.
Im Folgenden werden nach einer kurzen Abgrenzung und Einteilung der Begriffe die
Merkmale der Kultur- und Kreativwirtschaft mit besonderem Bezug auf Berlin darge-
stellt.
2.2 Begriffsbestimmung
Die verschiedenen Termini Kulturwirtschaft, Kreativwirtschaft, Kulturindustrie, Cultural
Industries oder Creative Industries, die in unterschiedlichen Publikationen und im all-
gemeinen Wortgebrauch auftauchen, stehen in einem engen Zusammenhang und
werden oft synonym benutzt. Dahinter verbergen sich aber zum Teil sehr verschiedene
Konzepte und definitorische Unterschiede. Es existiert nach wie vor keine einheitliche
Definition; zu viele verschiedene Interessenslagen und strategische Verwendungen,
sei es wirtschaftlicher, akademischer oder politischer Art, bedingen diese Situation.
,,Eine verständliche Debatte über Definitionen und Begrifflichkeiten im Verhältnis Kultur
und Wirtschaft konnte sich in Deutschland und in anderen Teilen Europas außerdem
nur unzureichend und erst spät entwickeln, weil die wirtschaftlichen und arbeitsmarkt-
politschen Aspekte des Kultursektors über Jahrzehnte unterschätzt bzw. ignoriert wur-
den" (WIESAND 2006, S. 10).
Viele Publikationen zu diesem Thema bedienen sich eines eigenen Begriffs, der sich
von den bis dahin verwandten mehr oder weniger deutlich unterscheidet. Dies er-
3
Medien geprägter Kunstbegriff für das Platzen einer Spekulationsblase im März 2000, die insbesondere
die so genannten Dotcom-Unternehmen betraf und vor allem in Industrieländern zu Vermögensverlusten
für Kleinanleger führte
Kultur- und Kreativwirtschaft
14
schwert die Diskussion um Begriffsinhalte ebenso wie die Vergleichbarkeit der Zahlen.
Deshalb werden die am häufigsten verwendeten Termini kurz erläutert und abschlie-
ßend für diese Studie auf einen Begriff gebracht.
2.2.1 Kulturindustrie / Cultural Industries
Wenn wir Kultur im anthropologischen Sinne als ,,whole way of life" definieren , müss-
ten all jene Industrien zur Kulturindustrie gehören, die mit der Produktion und dem
Konsum von Kultur zu tun haben. Somit würden die Kleider, die wir tragen, die Möbel
in unseren Häusern und an unseren Arbeitsplätzen, die Autos, Busse und Züge, die wir
für den Transport benutzen sowie das Essen und Trinken zur Kultur gehören, da sie
alle industriell gefertigt werden (vgl. HESMONDALGH 2007, S. 11 f.).
Jedoch wird der Begriff ,,Kulturindustrie" wesentlich restriktiver benutzt. Meist bezieht er
sich auf die Institutionen, die direkt in die Kulturproduktion involviert sind (vgl. ebd., S.
11).
Ursprünglich wurde der Begriff von der Frankfurter Schule als Kritik an der Massenpro-
duktion entwickelt und taucht in dem Aufsatz ,,Kulturindustrie Aufklärung als Massen-
betrug" in der ,,Dialektik der Aufklärung" (ADORNO u. HORKHEIMER, 1994) aus den
1940er Jahren das erste Mal auf. ADORNO und HORKHEIMER prangern den Massen
verdummenden ,,Amüsierbetrieb" an, der kulturelle Güter auf ihren Warencharakter
reduziert, ihre Unterschiede abschleift und dann diese Einheit als Vielfalt verkleidet
verkauft (vgl. ebd., S. 144).
Die Definition ist als gesellschaftskritischer Ansatz zu verstehen. Somit hat Kulturin-
dustrie nach ADORNO u. HORKHEIMER nichts mit der späteren Verwendung des
Begriffs in kulturökonomischen Zusammenhängen zu tun (vgl. MUNDELIUS 2006,
S.9).
Heute ist er hauptsächlich ein akademisches und analytisches Konstrukt und dadurch
komplizierter und stärker anfechtbar als die folgenden Termini.
2.2.2 Creative
Industrie
In der englischsprachigen Literatur hat sich der Begriff der ,,Creative Industries" durch-
gesetzt, ,,...the most often preferred alternative to cultural industries is creative indust-
ries" (Hesmondhalgh 2007, S. 15 f.). Das Konzept der ,,Creative Industries" ist vorwie-
Kultur- und Kreativwirtschaft
15
gend ein politisches und geht im Gegensatz zum Diskurs der ,,Kulturindustrie" aus poli-
tischen Erwägungen hervor.
,,Creative Industrie" ist Kulturwirtschaft im erweiterten Sinne. Hier steht der Faktor
Kreativität im Zentrum. ,,Er ist Ausdruck des Versuchs neue Arbeitsformen, neue Ar-
beitplätze sowie gleichzeitig innovative Märkte zu identifizieren" (vgl. HESSE u. LANGE
2007, S.66). Der damit verbundene Begriff von ,,Kultur"
4
verbindet sich zunehmend mit
Marktwerten und dadurch mit der Möglichkeit, mit Kulturprodukten komplexe Wert-
schöpfungsketten zu generieren.
In Großbritannien wurde 1998 im Zuge der ,,Cool Britain"-Initiative der Wert des Sek-
tors erkannt. Als Folge wurden die Untersuchung und Förderung vorangetrieben. Zu
den Creative Industries gehören hier 12 Branchen
5
: die klassischen Kulturbranchen wie
Werbung, Architektur, Mode und Design, Film, Musik, Kunsthandwerk als auch Soft-
ware, Fernsehen, Radio und Computerspiele (vgl. DCMS 1998, S. 10). Dabei findet
eine Mischung traditioneller Sparten der Kulturwirtschaft mit Teilen der Telekommuni-
kationswirtschaft statt und somit eine Integration neu entstandener Produktions- und
Distributionsformen.
Für kulturpolitische Auswertungen erscheint diese Erweiterung von Nachteil, weil sie
weniger trennscharf ist als der folgende Begriff der ,,Kulturwirtschaft". Zweifellos aber
ist dieser Begriff sinnvoll, wenn kreative Berufe insgesamt betrachtet werden.
2.2.3 Kulturwirtschaft
In Deutschland wurde der Begriff der Kulturwirtschaft in den 1990er Jahren durch die
drei Kulturwirtschaftsberichte des Landes Nordrhein-Westfalen geprägt (vgl.ARBEITS-
GEMEINSCHAFT KULTURWIRTSCHAFT 2001, S. 4).
Im Mittelpunkt der Forschung stand die Analyse des Verhältnisses von öffentlich geför-
derten Kulturbereichen und der privatwirtschaftlichen Kulturwirtschaft.
Die NRW-Studie unterteilt sie in Kulturwirtschaft ,,im engeren Sinne" (z.B. selbstständi-
ge Künstler, private Theater, Musiker) und Kulturwirtschaft ,,im weiteren Sinne" (z.B.
Designbüros, Antiquariate, Buchbindereien). Diese Einteilung verdeutlicht die Tren-
nung des kulturwirtschaftlichen Kernbereichs und die Tätigkeitsfelder von den Berei-
4
Es kommt zu einer Aufweichung von Hoch- und Subkultur.
5
Dies ist in Europa der umfassendste Definitionsansatz.
Kultur- und Kreativwirtschaft
16
chen der Kulturwirtschaft, die nur in mittelbaren Beziehungen zum Kernbereich stehen
(vgl. ARCULT 1992, S. 22).
Kulturwirtschaft wird hier wie folgt definiert: ,,Kulturwirtschaft ist eine ausdifferenzierte
Gruppe von oft miteinander verflochtenen Wirtschaftsbranchen. Sie umfasst alle Wirt-
schaftsbetriebe, Selbständigen und erwerbswirtschaftlichen Aktivitäten, die für die Vor-
bereitung, Schaffung, Erhaltung und Sicherung von künstlerischer Produktion, Kultur-
vermittlung und/oder medialer Verbreitung Leistungen erbringen oder dafür Produkte
herstellen oder veräußern" (ARBEITSGEMEINSCHAFT KULTURWIRTSCHAFT 1995,
S.4).
Im Vordergrund der Studie steht nach wie vor das wirtschaftliche Wachstum durch Kul-
tur als Produkt. Eine Grundannahme des Berichts ist, dass die private Kulturwirtschaft
sehr stark von dem durch die öffentlichen Kulturausgaben geförderten kreativen Po-
tenzial profitiert.
Mittlerweile haben viele Städte und Bundesländer die Potenziale der Kulturwirtschaft
erkannt und eigene Kulturwirtschaftsberichte veröffentlicht.
2.2.4 Einigung der Begriffsbestimmung
Im Berliner Kulturwirtschaftsbericht 2005, der die Grundlage dieser Studie bildet, sind
die zentralen Teilmärkte: Der Buch- und Pressemarkt, die Film- und Fernsehwirtschaft,
der Kunstmarkt, Softwareentwicklung/Datenbankanbieter/Telekommunikation, die Mu-
sikwirtschaft, die Werbebranche, Architektur und kulturelles Erbe und die Darstellende
Kunst (s. Tabelle 1).
Der Bericht umfasst somit den erwerbswirtschaftlichen Sektor und damit alle Unter-
nehmen und Selbstständigen, die kulturelle Güter produzieren, vermarkten, verbreiten
oder damit handeln (vgl. SEN/WTF
6
U. SEN/WFK
7
2005, S.8).
Berlin wollte mit seinem Kulturwirtschaftsbericht die Potenziale der Hauptstadt im Ver-
gleich mit anderen Metropolen in Europa aufzeigen und bezog im Einklang mit Wien
und London, aber im Gegensatz zur Mehrzahl der deutschen Kulturwirtschaftsberichte,
die Teilmärkte Softwareentwicklung und Werbung in seinen Bericht ein. Die Stadt nä-
hert sich damit dem Begriff der ,,creative industrie" aus der internationalen Diskussion
an.
6
Senat für Wirtschaft, Technologie und Frauen
7
Senat für Wissenschaft, Forschung und Kultur
Kultur- und Kreativwirtschaft
17
Tabelle 1: Teilmärkte der Kulturwirtschaft in Berlin
Quelle: Eigene Darstellung, nach SEN/WTF U. SEN/WFK 2005, S.8
Vor diesem Hintergrund der Auseinandersetzung scheint es sinnvoll, in dieser Studie
zusätzlich zum Kulturwirtschaftsbegriff die kreative Komponente mit einzubinden. So-
mit wird im Folgenden der Begriff ,,Kultur- und Kreativwirtschaft" verwendet. Diese Ein-
teilung erscheint vor allem für den deutschsprachigen Raum am treffendsten, da mit
der Definition die Grundgesamtheit gewählt wurde. Kulturwirtschaft schließt die Kern-
akteure, die Künstler und deren künstlerische sowie kulturellen Produktionen mit ein,
während im erweiterten Bereich der Kreativwirtschaft ,,Kreativität" als Ausgangspunkt
von branchenspezifischen Produktionen und Dienstleistungen betrachtet wird. Es ver-
binden sich künstlerische Ideen mit technologischer, innovativer und wissenschaftlicher
Kreativität (vgl. DEUTSCHE ENQUETE KOMMISSION 2006, S. 341).
Kultur- und Kreativwirtschaft
18
2.3 Kultur und Kreativwirtschaft im Rahmen der Wirtschafts-
und Stadtentwicklung
Generell gelten Kultur und Wirtschaft als gegensätzliche Bereiche. Kultur umfasst
Kunst und kulturelle Bildung, meist vom Staat finanziert, weil sie sich ökonomisch nicht
selbst tragen kann. Wirtschaft beschäftigt sich mit Produkten und Dienstleistungen; die
Ziele sind ausschließlich ökonomischer Ausrichtung.
Dass öffentliche kulturelle Einrichtungen wie Museen, Theater und deren Angebote
über eine Vielzahl an Wirkungsfeldern mit der Regional- bzw. Wirtschaftsentwicklung
und der Stadterneuerung verknüpft sind und sie in unterschiedlicher Weise tangieren,
bedarf mittlerweile keiner besonderen Betonung. So wird der traditionelle Kultursektor
heute beispielsweise in den Städten und Regionen ganz selbstverständlich von vielen
Akteuren als ein stadtentwicklungsrelevanter Imagefaktor angesehen.
Jedoch haben in den letzten Jahren die verschiedenen Wirkungsfelder der Kultur in der
Regional- bzw. Wirtschaftsentwicklung und der Stadterneuerung einen Bedeutungs-
wandel erfahren.
In diesem Zusammenhang hat sich die Struktur des gesamten Kultursektors verändert,
War sie über viele Jahre eine Domäne der öffentlich geförderten Kultur, so ist heute vor
allem die Bedeutung der erwerbswirtschaftlichen Kulturwirtschaft viel ausgeprägter als
noch vor 20 oder 30 Jahren (vgl. GAULHOFER u. HASELBACH 2006, S. 13).
Die öffentlich geförderte Kultur, Staat und die privatwirtschaftliche, erwerbswirtschaftli-
che Kultur bilden gemeinsam mit den gemeinnützigen Organisationen (intermediärer
Sektor) ein arbeitsteiliges und interdependentes Beziehungsgeflecht, das ,,Drei-
Sektoren-Modell".
Kultur- und Kreativwirtschaft
19
Abbildung 1: Drei-Sektoren-Modell
Quelle: WECKERLE u. SÖNDERMANN 2003: Umschlagseite
Der öffentliche und der intermediäre Teilsektor sind nicht gewinnorientiert, dagegen gilt
der private Sektor als kommerziell ausgerichtet und wird mit dem Begriff ,,Kreativwirt-
schaft" bezeichnet. Diese integrierende Sichtweise der drei Sektoren ist die Vorausset-
zung, um Austauschbeziehungen zwischen öffentlichen, privaten und intermediären
Sektoren zu erkennen und zu gestalten. Immer weniger Künstler und Kreative sind
ausschließlich im öffentlichen Sektor beschäftigt, da die weniger werdenden Mittel der
öffentlichen Hand dies nicht weiter zulassen. (vgl. WECKERLE u. SÖNDERMANN
2003, S. 6/7)
Kultur- und Kreativwirtschaft
20
Im Rahmen der Regional- und Wirtschaftsentwicklung beziehen sich die Wirkungen
von ,,Kultur und Kreativwirtschaft" vor allem auf drei Felder:
· Kultur und Kreativwirtschaft als Zukunftsbranche für Berlin
· Agglomerationen und Standortwahl der Kultur und Kreativwirtschaft in Berlin
· Kultur und Kreativwirtschaft im Rahmen urbaner Transformationsprozesse
2.3.1 Kultur- und Kreativwirtschaft als Zukunftsbranchen für Berlin
Berlin hat in den letzten fünfzehn Jahren einen starken Zuwachs an Bedeutung und
Potential im kultur- und kreativwirtschaftlichen Sektor erfahren, ganz im Gegensatz zur
vergleichsweise schlechten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Beschäftigungs-
krise (vgl. KRÄTKE 2005, S. 77, HESSE u. LANGE 2007, S. 64f. und GEPPART u.
MUNDELIUS 2007, S. 485ff.).
Nach einer kurzen wiedervereinigungsbedingten positiven Wirtschaftsentwicklung zeigt
sich für Berlin seit 1994, dass die Wachstumsraten deutlich unter dem bundesdeut-
schen Durchschnitt liegen. Trotz positiver Konjunkturtendenzen befindet sich Berlin im
Regionalvergleich der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Bundesländer weiterhin
in der unteren Hälfte der Rankingskala. Mit dem Wegfall der Berlinsubventionen und
dem einhergehenden Strukturwandel kommt es zu einem massiven Arbeitsplatzabbau,
insbesondere in der Industrie. Auch 2007 sind weitere Arbeitsplatzverluste im verarbei-
tenden Gewerbe und im Baugewerbe zu verzeichnen. Vor allem im Bereich der Dienst-
leistungen nimmt die Erwerbstätigkeit zu. Es fehlen Berlin hochwertige unternehmens-
bezogene Dienstleistungen (vgl. SEN/WTF U. SEN/IAS
8
2007, S. 18).
Die derzeitige Situation Berlins ist in einem Spannungsverhältnis zu sehen: Einerseits
ist sie vom Hauptstadt-Boom und den sich daraus ergebenden Erwartungen hinsicht-
lich einer gleichwertigen europäischen Metropole geprägt, andererseits dominieren
Massenarbeitslosigkeit und Anzeichen sozialer Polarisierung die Stadt (vgl. SEN/WTF
U. SEN/IAS 2007, S. 21).
Angesichts dieser Entwicklung könnte die Konzentration auf die Kreativitätsbranche
eine mögliche Perspektive für Berlin sein.
8
Senat für Integration, Arbeit und Soziales
Kultur- und Kreativwirtschaft
21
Mittlerweile liegt Berlin
9
unter den sieben führenden kreativwirtschaftlichen Zentren an
zweiter Stelle hinter der Region München (vgl. GEPPART u. MUNDELIUS 2007, S.
485). Nach dem 2005 veröffentlichten Branchenbericht arbeiten acht Prozent der Be-
schäftigten in diesem Sektor und elf Prozent des Umsatzes werden aus der Kultur- und
Kreativbranche erwirtschaftet (vgl. SEN/WTF U. SEN/WFK 2005, S. 22).
Der Berliner Studie wird jedoch vorgeworfen, im Wettkampf um bessere creativity-
index Zahlen
10
auch entfernte Branchen zum kreativen Sektor zu zählen, z.B. die ge-
samte Telekommunikationsbranche und die Druckereien, die in Berlin wirtschaftlich
schon immer eine große Bedeutung spielten (vgl. VEIHELMANN 2007, S. 38).
Gemessen an FLORIDAS Stadtentwicklungsthesen erzielt Berlin unterschiedliche Wer-
te in den Kriterien. Nach ihm bestimmt das Zusammenspiel von Technologie, Talent
und Toleranz die Attraktivität einer Stadt sowie deren Produktivität und Wohlstand;
denn das Humankapital einer Region ist ihr entscheidender Wachstumsfaktor. Umso
wichtiger ist es für die Städte, sich der kreativen Klasse als Ort dieser 3 T's zu präsen-
tieren, um im nationalen und internationalen Standortwettbewerb zu bestehen (vgl.
FLORIDA 2002, S. 251f.).
Besonders im dritten Kriterium, Toleranz, kann Berlin ein hohes Niveau aufweisen.
Berlin bietet im europäischen Vergleich spartenübergreifend ein vielfältiges kulturelles
Angebot im Bereich der populären Kultur und der Hochkultur. Über 1.500 kulturelle
Veranstaltungen finden tagtäglich in Berlin statt (vgl. SEN/WTF U. SEN/WFK 2005,
S.12).
Als Ort der Bohemiens
11
, der Galerien, Künstlerateliers und Clubs hat sich Berlin inter-
national einen Namen gemacht. Aus der ganzen Welt kommen junge Musiker, Desig-
ner und Künstler nach Berlin, das ihnen als eine der interessantesten Städte der Welt
gilt.
9
gemessen an den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten
10
Der ,,Creativity Index" setzt sich aus vier Indikatoren zusammen: dem ,,Innovation Index" (Patentanmel-
dungen pro Kopf), dem ,,High-Tech Index" (regionaler Anteil an Beschäftigten in der High-Tech-Industrie),
dem ,,Talent Index" (Prozentsatz der Bevölkerung mit Hochschulabschluss) und dem ,,Tolerance Index",
bzw. dem ,,Gay Index13" (misst die Verschiedenheit der Bevölkerung) (vgl. FLORIDA 2002, 332ff).
11
Der Blick auf die kulturelle Oberfläche legt nahe, dass die Bohème, als Leitbild und Rollenmodell immer
mehr an Aktualität und Attraktivität gewinnt. Schon im frühen 19. Jahrhundert bestand die Arbeitsgesell-
schaft nicht nur aus den beiden tendenziell verfeindeten Lagern Bourgeoisie und Proletariat. Dazwischen
war in den Großstädten, zuerst in Paris, eine Fraktion entstanden, die in keines der Lager passen wollte,
keiner geregelten Erwerbstätigkeit nachging, stattdessen viel Zeit in Kaffeehäusern und Kneipen verbrach-
te, aber doch auf ihre Weise ausgesprochen produktiv war. Sie bildeten einen Mikrokosmos, ein Netzwerk
von Produzenten, Schriftstellern, Offizieren, Journalisten und Künstlern. Weil man sie für fahrendes Volk
aus Böhmen hielt, nannte man sie Bohème. (vgl. LOBO u. FRIEBE 2006, S.30)
Kultur- und Kreativwirtschaft
22
Berlin ist ein wichtiger Standort für Messen und Branchentreffs der Kreativszene. Hier
finden unter anderem die Musikmesse ,,Popkomm", mehrere Modemessen sowie die
,,Berlinale", die Internationalen Filmfestspiele, statt.
Rund 13 Prozent der Berliner sind Ausländer. Laut STATISTISCHEM BUNDESAMT
hat Berlin somit den höchsten Ausländeranteil in Deutschland gemessen an der Ge-
samtbevölkerung. (http://www.statistik-portal.de/statistik-portal/de_jb01_jahrtab2.asp)
Berlin hat mit etwa 14.600 Studierenden in 44 Medien- und kommunikationswissen-
schaftlichen Studiengängen und einer Vielzahl von öffentlich getragenen und privaten
Hochschulen und Bildungseinrichtungen mehr Ausbildungsmöglichkeiten für Berufe der
Kulturwirtschaft als jede andere Stadt in Deutschland. HANK gibt in seinem Artikel
,,Zehn deutsche Städte im Test: Wohin zieht es die kreative Klasse?" im FAZ.NET,
jedoch zu bedenken, dass es selbst seit der Wiedervereinigung bis heute nicht gelun-
gen ist, ausreichend Wirtschaftskraft zu generieren. Trotz der Vielzahl von Universitä-
ten in Berlin kommen Spitzenleistungen in Forschung und Lehre eher aus dem Süd-
westen des Landes (vgl. http://rangliste.faz.net/staedte/article.php?txtid=einfuehrung).
2.3.2 Agglomerationen und Standortwahl der Kultur- und
Kreativwirtschaft in Berlin
Die Konzentrationsprozesse der Kreativwirtschaft finden verstärkt in urbanen Räumen
und Metropolregionen statt (vgl. SCOTT 2000, FLORIDA 2002, KRÄTKE 2002). Hin-
tergrund dieser Agglomerationen ist nach SCOTT, dass weiterhin die Nähe der Akteure
für die wirtschaftliche Effizienz ausschlaggebend ist, ,,...when many different interrela-
ted firms and workers lie in close aproximity to one another, their complex interactions
are tightly circumscribed in space and time" (vgl. POWER u. SCOTT 2004, S.7).
Auch wenn im digitalen Zeitalter Räume weniger wichtig erscheinen, fallen gerade auf
lokaler Ebene Austauschbeziehungen oft intensiver aus. Zufällige Begegnungen, ge-
meinsame Projekte, gleiche Szenentreffen sind nur bedingt digital möglich.
Diese Paradoxie, einerseits sich Güter, Informationen und Technik überall per Internet
beschaffen zu können, andererseits die Wichtigkeit der Einbettung in eine Stadt bzw.
Szene, die nur durch geographische Nähe zu erlangen ist, nennt PORTER das
,,Standortparadox in einer globalen Wirtschaft" (PORTER 1999, S, 52).
Besonders kreative Unternehmen, die abhängig sind von spezifischem Wissen, Zulie-
ferungen, spezialisierten Arbeitskräften, Kunden und Märkten finden in Großstädten
optimale Standortbedingungen. Clustering kann nicht nur anhand direkter urbaner Ag-
Kultur- und Kreativwirtschaft
23
glomerationsvorteilen erklärt werden, sondern die Erwartungen an den Standort spie-
len eine nicht mindere Rolle.
12
Kreative Zentren wirken als Magneten für junge Leute
und Start-Ups aus anderen Gegenden. Sie denken, dass die persönliche und berufli-
che Erfüllung am besten durch die Migration in ein Zentrum erlangt werden kann, in
dem diese Art von Arbeit bereits gut entwickelt ist (vgl. SCOTT 2005, S. 17).
Die grundlegende These FLORIDAS ist, dass die Kreativen nicht dorthin gehen, wo sie
eine Beschäftigung finden (people follow jobs), sondern die Standortwahl der Unter-
nehmen sich an den Wohnortpräferenzen der Kreativen orientiert (jobs follow people)
(vgl. FLORIDA 2004, S. 220).
Auch LÄPPLE u. WALTER gehen davon aus dass, vor allem für die freiberuflichen,
kreativ arbeitenden und künstlerischen Metiers, der lokale Absatzmarkt nicht so sehr
interessant ist, sondern vor allem bestimmte Szenerien, symbolisch aufgeladene ,,pla-
ces to be" (vgl. LÄPPLE u. WALTER 2003, S. 3).
In Berlin gruppieren sich die Akteure und Unternehmen in vier wesentlichen Zentren
innerhalb des S-Bahnrings.
Der Kern mit der höchsten Konzentration befindet sich in den Quartieren rund um den
nordöstlichen Teil des Stadtteiles Mitte (Spandauer, Rosenthaler und Oranienburger
Vorstadt) und dem südwestlichen Teil des Stadtteils Prenzlauer Berg sowie Friedrichs-
hain-Kreuzberg mit lokalen Zentren im nordöstlichen Stadtteil Friedrichshain und in den
östlichen und zentralen Lokalisationen im Stadtteil Kreuzberg. Ein weiteres Zentrum
befindet sich in Charlottenburg/Nord-Wilmerdorf. Hinzu kommen kleinere Ballungen in
Schöneberg (vgl. FASCHE u. MUNDELIUS 2008, S.33).
In mehreren Untersuchungen des DIW wurde die Standortwahl der Kreativen in ver-
schiedenen Stadtquartieren Berlins ausführlich untersucht. Die Studien kommen zu
folgendem Ergebnis: Die Akteure zeichnen sich durch eine hohe Loyalitätsbindung
gegenüber den Orten aus, an denen sie sich wohl fühlen. Nicht die Firma und damit
einhergehende Karriereaussichten, sondern die von einem Ort ausgehende ,,Spirituali-
tät" entscheiden die Standortwahl (vgl. ebd. 2006, S. 191).
Die Diversität einer kulturellen sowie freizeitorientierten Infrastruktur sowie die Einbet-
tung in einen urbanen, kreativen Kontext wirken szenebildend und in einem sich selbst
verstärkenden Prozess entstehen kleinere Unternehmen in der Stadt bzw. in einem
bestimmten Viertel. Meist wählen Sie ihren Standort eher intuitiv; ,,...denn oftmals lie-
12
Agglomerationseffekte beziehen sich vor allem auf Unternehmen, die sich in der entsprechenden Ag-
glomeration niederlässt und so z.B. aus der räumlichen Nähe zu Zulieferern profitiert. Eng verbunden mit
den Agglomerationseffekten ist die Clusterbildung von Unternehmen die Betrachtung und Wirkung er-
folgt lediglich aus einer anderen Perspektive. Während die Agglomerationseffekte aus dem Blickwinkel der
Unternehmen betrachtet werden, beziehen sich die Cluster auf die Regionalentwicklung. Durch clusterpoli-
tische Ansätze der Regionalentwicklung sollen vorhandene Potenziale gestärkt und die Attraktivität der
Region als Wirtschaftsstandort erhöht werden (vgl. MAIER et al. 2006, S. 162)
Kultur- und Kreativwirtschaft
24
gen keine rationalen Abwägungen zu Grunde", ,,...harte Standortfaktoren flankieren
vielmehr die Entscheidung" (HERTZSCH 2005, S. 96).
Diese kreativen Milieus
13
, beispielsweise die Galerienszene in Mitte oder die Musik-
szene rund um die Oberbaumbrücke, begünstigen die Ansiedlung von weiteren Unter-
nehmen der Kulturwirtschaft und die Entwicklung Ideen generierender Netzwerke; sie
tragen wesentlich zu der Anziehungskraft der Stadt bei (vgl. SEN/WTF U. SEN/WFK
2005, S. 12).
Zahlreiche transnational agierende Unternehmen sind auf Standorte mit solchen kultu-
rellen Szenen bzw. kreativen Milieus angewiesen. Die Anzahl und Größe global agie-
render Unternehmen der Kulturproduktion und der Medien sind zentrale Faktoren für
Erfolg und Dynamik der Kulturwirtschaft in Großstädten. Diese weisen intensive Vor-
und Rückwärtsverbindungen in andere Metropolregionen auf und können durch diese
Vernetzung sowohl die kulturellen Innovationen lokaler Cluster schneller aufgreifen als
auch Produkte der Kulturwirtschaft weltweit besser vermarkten (vgl. KRÄTKE 2003, S.
607f.).
Die räumliche Nähe dazu erleichtert beispielsweise in der Musikwirtschaft die Entde-
ckung von Talenten. Es lassen sich frühzeitig Trends ablesen für die Produktentwick-
lung und deren Vermarktung (vgl. KRÄTKE 2002, S. 243).
Jedoch sollten auch Stimmen aus der populärwissenschaftlichen Literatur Beachtung
finden, die ein wichtiges Berlin spezifisches Standortkriterium ansprechen: ,,Berlin ist
billig" (DER SPIEGEL 12/2007, 19.03.2007).
LOBO u. FRIEBE behaupten, dass stets die billigen Mieten als erste Begründung ge-
nannt werden, warum es so viele internationale Künstler, Musiker und Kulturschaffende
nach Berlin zieht. Berlin sei trotz oder gerade wegen des wirtschaftlich schlechten Zu-
stands für die Kreativen attraktiv (vgl. LOBO u. FRIEBE S. 147). Auch der Spiegel re-
sümiert: ,,In wohl keiner anderen deutschen Stadt gibt es ein so großes akademisches
Prekariat, das sich Werbeagenturen, Zeitungsredaktionen und Lobbyistenbüros an-
dient, um mit dem Titel Praktikant entlohnt zu werden...Die miese Lage sorgt erstaunli-
cherweise nicht für trübe Stimmung. Vielleicht liegt es daran, dass das Leben fast nir-
gendwo so billig ist wie an der Spree. Berlin ist die Discount-Hauptstadt der westlichen
Welt, die Metropole der Mini-Preise" (DER SPIEGEL 12/2007, 19.03.2007).
13
Kreative Milieus: In innovativen Milieus ist die Schaffung und Verbreitung von Wissen von zentraler
Bedeutung und der Innovationsprozess wird als Ausdruck eines interaktiven Lernprozesses gesehen. Die
eher formellen Beziehungen zwischen Unternehmen, etwa die Zulieferer-Abnehmer- Beziehungen in der
Wertschöpfungskette und die Zusammenarbeit von Unternehmen in Netzwerken werden durch die infor-
mellen Milieubeziehungen ergänzt. Als Voraussetzung für die Entstehung eines innovativen Milieus gelten
geografische Nähe und die Existenz vielfacher Beziehungen zwischen den Akteuren. (vgl. FROMHOLD-
EISEBITH 1999, 169f)
Kultur- und Kreativwirtschaft
25
2.3.3 Kultur- und Kreativwirtschaft im Rahmen urbaner Transformations-
prozesse
Die kulturwirtschaftlichen Branchen sind als bedeutsam für eine erfolgreiche Entwick-
lung und Zukunft von urbanen und metropolitanen Wirtschaftsräumen erkannt worden
,,Das gesamte lokale System der Produktion, der Beschäftigung und des sozialen Le-
bens bildet ein geographisch strukturiertes kreatives Feld, das unter passenden Bedin-
gungen als Quelle von Lern- und Innovationseffekten wirkt" (SCOTT 2005, S. 24). Die
postfordistische
14
Stadt zeichnet sich nicht nur durch Agglomerationen aus, sondern
verändert auch die Städte in ihrer Landschaft.
Wie kaum eine andere Stadt steht Berlin für die Veränderungsprozesse, die sich aus
der politischen Wiedervereinigung Deutschlands 1990 ergeben haben. In den ersten
Nachwendejahren siedelten sich in Mitte und im Prenzlauer Berg in den vielfach leer
stehenden Gewerberäumen der Mietshäuser sowie in den Gewerbehöfen und Etagen-
fabriken, mit häufig ungeklärten Eigentumsverhältnissen, immer mehr Künstler, Gale-
rien, Clubs und Szene-Kneipen an (vgl. KRAJEWSKI 2006, S. 102).
Die Entstehung subkultureller Zentren gilt als Pionierphase der Transformation. Diese
Veränderungen ziehen auch meist öffentliche Initiativen zur städtischen baulichen Mo-
dernisierung nach sich, da sie das Image der Bezirke steigern und den Wert der Bo-
den- bzw. Immobilenpreise erhöhen (vgl. ebd. 2006, S. 313f.).
Infolge der Anpassungs- und Modernisierungsprozesse sind die Mietpreise im Osten
Berlins stetig gestiegen und haben sich den Mieten im Westen immer weiter angegli-
chen. Sie liegen in den Szenebezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain teil-
weise sogar über dem Westniveau.
15
Zu den Gentrifizierungserscheinungen, die im Zuge postsozialistischer urbaner Trans-
formation auftauchen, gehören soziale und bauliche Aufwertungsprozesse, die von
einer Aufwertung der funktionalen Nutzungsstruktur begleitet werden. Symbolische
Aufwertung, wie sie beispielsweise im Imagewandel eines Stadtviertels zum Ausdruck
kommt, kann des Weiteren als eine übergeordnete Dimension der Gentrification aufge-
fasst werden (vgl. ebd., S. 313).
14
Fordismus: industrielle politische Konzeption der weitestgehenden Rationalisierung und Standardisie-
rung der Produktion (vgl. DUDEN 2007, S. 471)
15
Insgesamt stiegen die Mieten im Mietspiegel 2007 im Vergleich zum Mietspiegel 2005 (in genau zwei
Jahren) um 5,8 %. Das entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Entwicklung von rund 2,9 %. Im Ver-
gleich zum letzten Berliner Mietspiegel ist die durchschnittliche Nettokaltmiete über alle Wohnungen von
4,49 /m² auf 4,75 /m² angestiegen. Das bedeutet eine Zunahme von 0,26 /m² im Zeitraum von zwei
Jahren. Jährlich haben sich die Mieten damit um 0,13 /m² durchschnittlich erhöht.
(vgl.http://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/mietspiegel/de/download/Endbericht_MSP_2007.pdf)
Kultur- und Kreativwirtschaft
26
Nachdem ,,Mitte" heute kaum noch Potenziale für die Kreativszene bietet und die Auf-
wertung in all ihren Dimensionen fortgeschritten ist, sind im Prenzlauer Berg und in
Friedrichshain diese Entwicklungen in geringerer Dynamik und mit einer gewissen Ver-
spätung zu beobachten. (vgl. ebd., S. 312)
Es bleibt abzuwarten wie sich diese Entwicklung auf die kreative Szene und Bezirke
weiterhin auswirken wird.
2.4 Zusammenfassung
Das Kapitel erläutert die Schwierigkeiten der Definition und Begriffsbestimmung der
Kultur- und Kreativwirtschaft. Zudem wird ein kurzer Abriss über die Merkmale der Kul-
tur und Kulturwirtschaft im Rahmen der Wirtschafts- und Stadtentwicklung gegeben.
Für die Musikbranche ist die Gesamtentwicklung der Stadt und des kreativen Sektors
im Netz der Branchenentwicklung entscheidend. Die Grenzen der Teilmärkte sind un-
scharf; die Musikszene benötigt z.B. die Filmbranche für Musikvideos oder Liveauf-
nahmen und die Kunst- und Grafikszene für Coverdesign oder Pressephotos.
Des Weiteren haben sich in Berlin zahlreiche Musiksoftwarefirmen sowie Redaktionen
von Musikzeitungen niedergelassen.
Berlin wird national und international als Kultur- und Kreativmetropole und wichtiger
Standort dieser wahrgenommen. Die junge, kreative Stadt mit einer Mischung aus sub-
kultureller Szene, Hochkultur und Geschichte, der hohen kreativen Branchendichte und
-vielfalt sind ein herausragender Standortvorteil Berlins.
Ein kulturell interessantes Umfeld trägt zudem zur Inwertsetzung von Immobilien bei.
Sie kann sowohl die direkte Aufwertung des Stadtteils umfassen oder als weicher
Standortfaktor dienen.
Auch die Senatsverwaltung hat erkannt, dass der Bereich der Kultur- und Kreativwirt-
schaft ein wichtiges Potenzial für das Wirtschaftswachstum und die Stadtentwicklung in
Berlin darstellt. ,,Es ist das einzige was in Berlin wächst. Das Einzige, was wir haben.
Berlin wird nie mehr eine Industriestadt sein. Deshalb müssen wir diese einzige Karte
spielen" (Tanja Mühlhans, TAZ 2006, 20.06.2006).
Doch was ist mit den Beschäftigten, den eigentlichen Akteuren? Profitieren auch sie
vom Image- und Attraktivitätsgewinn, von der anhaltenden Aufbruchstimmung und dem
derzeitigen Zustrom anderer Kreativer?
Musikwirtschaft
27
3 Musikwirtschaft
Im Folgenden wird der Begriff Musikwirtschaft definiert und abgegrenzt. Die Hauptak-
teure der Musikindustrie werden mit ihren Netzwerkstrukturen vorgestellt und die Be-
deutung von Musik für den Standort aufgezeigt.
3.1 Abgrenzung
der
Musikwirtschaft
Derzeit gibt es noch keine allgemeinverbindliche Übereinkunft darüber, was unter dem
Begriff ,,Musikwirtschaft" zu verstehen ist. Viele Bezeichnungen wie beispielsweise Mu-
sikmarkt, Musikbusiness oder Musikbranche werden synonym verwendet. Auch in der
vorliegenden Arbeit werden diese Begriffe bedeutungsgleich angewandt.
Die Musikwirtschaft ist sowohl ein Teil der Kulturwirtschaft als auch ein Teil der Me-
dienwirtschaft. Allen Definitionen ist die Verbindung von der Musikwirtschaft mit der
Unterhaltungsindustrie, der Kulturwirtschaft und der Medien- und Telekommunikati-
onswirtschaft gemein (vgl. SÖNDERMANN 2001, S. 2). Demzufolge kann eine Vielzahl
von Beschäftigungsfeldern in der Musikwirtschaft sowohl der Kultur als auch der Wirt-
schaft zugerechnet werden.
In einer Definition nach GNAD umfasst Musikwirtschaft ,,alle Wirtschaftsbetriebe und
öffentlichen sowie private Aktivitäten, die in unmittelbaren Zusammenhang zur Vorbe-
reitung, Schaffung, Erhaltung, Verbreitung und Sicherung von Musik Leistungen
erbringen und/oder Produkte herstellen und deren wirtschaftlicher Zweck die Erzielung
von Einkommen oder Umsatz ist" (GNAD 1994, S.65).
Die Tatsache, dass einzelne Beschäftigungsfelder der Musikwirtschaft in amtlichen
Statistiken in mehrere Kategorien von Wirtschaftszweigen zugehörig sind und nicht
immer deutlich der Musikwirtschaft zuzuordnen sind, macht eine eindeutige statistische
Zuordnung unmöglich. So zählen beispielsweise die Musikverlage zur Verlagsbranche
und demzufolge zur Medienwirtschaft.
SÖNDERMANN unterscheidet die in Frage kommenden Wirtschaftszweige in Kern-
Musikwirtschaftzweige und ergänzende Zweige (s. Tabelle 2). Bei der Unterteilung
bezieht er sich auf die amtlichen Datenbestände der Umsatzsteuerstatistik des Statisti-
schen Bundesamts und die Datenbestände der Beschäftigtenstatistik der Bundesagen-
tur für Arbeit in Anlehnung an die methodischen Ansätze des Europäischen Konzepts
von Kulturwirtschaft und der Kulturwirtschaftsberichte des Landes Nordrhein- Westfa-
len (vgl. SÖNDERMANN 2006, S.1). Die Darstellung des Definitionsansatzes nach
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2008
- ISBN (eBook)
- 9783842821279
- DOI
- 10.3239/9783842821279
- Dateigröße
- 2.7 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Trier – Geographie/Geowissenschaften FB VI, Geographie
- Erscheinungsdatum
- 2011 (Oktober)
- Note
- 2
- Schlagworte
- musik beschäftigungsverhältnis berlin kreativwirtschaft kultur
- Produktsicherheit
- Diplom.de