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Unabhängigkeitsbewegungen innerhalb der Europäischen Union

©2011 Diplomarbeit 85 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Unabhängigkeitsbewegungen spielen in Staaten der europäischen Union eine wichtige Rolle. Der erste zentrale Punkt meiner Arbeit fragt nach den Gründen für die Bestrebung, unabhängig zu werden. Demnach lautet die erste Forschungsfrage: Welche Motive für Unabhängigkeitsbewegungen gibt es?
Daran anknüpfend, lautet die zweite zentrale Fragestellung: Wer sind die TrägerInnen dieser Unabhängigkeitsbewegungen?
Die vorliegende Arbeit will nur jene Staaten der Europäischen Union beleuchten, in denen diese Bewegungen eine politische Relevanz besitzen. Dies setzt voraus, dass in den betroffenen Ländern Parteien, Vereine oder andere soziale Vereinigungen – eben TrägerInnen – bestehen, die sich für eine Unabhängigkeit einsetzen. Demnach behandelt diese Arbeit keine Minderheitenprobleme, sondern ausschließlich Regionen, in denen es Menschen und Gruppen gibt, die einen eigenen Nationalstaat fordern.
Ein weiteres gemeinsames Charakteristikum der von mir ausgewählten Staaten ist die Offenheit der Prozesse.
Folgende Kriterien waren für die Auswahl ausschlaggebend:
- Staaten/Regionen, die Mitglied der Europäischen Union sind.
- Politische Relevanz.
- Offenheit der Prozesse.
Demnach wurden folgende Staaten zur näheren Betrachtung von mir ausgewählt: Belgien, Spanien, Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland. Diese Staaten haben also die zuvor beschriebenen Merkmale gemein. Sie sind Mitglied der Europäischen Union, es gibt relevante Gruppierungen innerhalb der Staaten, die eine Unabhängigkeit anstreben und es handelt sich hierbei um offene Prozesse.
Andere Staaten wurden hingegen nicht in die Auswahl aufgenommen:
In Korsika gibt es zwar eine Unabhängigkeitsbewegung, diese scheint jedoch in der Realpolitik Frankreichs nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. 1991 wurde immerhin ein Selbstverwaltungsstatut verabschiedet, in welchem die kulturelle Eigenständigkeit der KorsInnen anerkannt wird. Ähnlich stellt sich die Situation in Südtirol dar. Dort besteht immerhin eine Partei, die für einen Freistaat eintritt, nämlich Die Freiheitlichen. Bei den italienischen Parlamentswahlen von 2008 erreichte man 9,43% der Stimmen. Die Hürde für Parteien von anerkannten Sprachminderheiten in Italien liegt, wenn sie nur in einem Wahlkreis antreten, jedoch bei einem Prozentsatz von 20. Demzufolge ist die Partei nicht im italienischen Parlament vertreten. Ähnlich scheint die Situation in Nordirland zu sein. Dort gibt es zwar […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Auswahl der behandelten Staaten und Regionen
1.3 Aufbau der Arbeit

2 Geschichtliche Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegungen
2.1 Belgien – Der flämische-wallonische Konflikt
2.1.1 Die Ursprünge des belgischen Einheitsstaates
2.1.2 Die Anfänge der Krise
2.1.3 Jüngste Entwicklungen
2.2 Spanien – Zentralstaat vs Autonome Regionen
2.2.1 Die Ursprünge des spanischen Einheitsstaates
2.2.2 Militärdiktatur, Zweite Republik und Bürgerkrieg
2.2.3 Die Ära Franco
2.2.4 Transistion
2.2.5 Jüngste Entwicklungen
2.3 Das Vereinigte Königreich und seine Einzelstaaten
2.3.1 Die Ursprünge des Vereinigten Königreichs
2.3.2 Erster Weltkrieg und der Ausstieg Irlands
2.3.3 Jüngste Entwicklungen
2.4 Vergleich

3 Beweggründe für Unabhängigkeitsbestrebungen
3.1 Flandern
3.1.1 Einleitung
3.1.2 Historisch begründete Motive
3.1.3 Ökonomische Motive
3.1.4 Institutionelle Unabhängigkeit
3.1.5 Die Sprachenfrage
3.1.6 Religiöse und ideologische Motive
3.2 Baskenland / Katalonien
3.2.1 Einleitung
3.2.2 Historisch begründete Motive
3.2.3 Unterdrückung durch zentralistische Kräfte
3.2.4 Ökonomische Motive
3.2.5 Institutionelle Unabhängigkeit
3.2.6 Die Sprachenfrage
3.2.7 Religiöse und ideologische Motive
3.2.8 Traditionen
3.3 Schottland
3.3.1 Einleitung
3.3.2 Historisch begründete Motive
3.3.3 Ökonomische Motive
3.3.4 Institutionelle Unabhängigkeit
3.3.5 Die Sprachenfrage
3.3.6 Religiöse und ideologische Motive
3.3.7 Traditionen
3.4 Vergleich
3.4.1 Verankerung in der Bevölkerung
3.4.2 Historisch begründete Motive
3.4.3 Ökonomische Motive
3.4.4 Institutionelle Unabhängigkeit
3.4.5 Die Sprachenfrage
3.4.6 Religiöse und ideologische Motive
3.4.7 Traditionen

4 Träger der Unabhängigkeitsbewegungen
4.1 Flandern
4.1.1 Parteien
4.1.2 Weitere Organisationen
4.2 Katalonien – Baskenland
4.2.1 Parteien
4.2.2 Fussballvereine
4.2.3 Die Untergrundorganisation ETA
4.3 Schottland
4.3.1 Parteien
4.3.2 Fussballvereine
4.3.3 Weitere Organisationen
4.4 Vergleich
4.4.1 Parteien
4.4.2 Fussballvereine
4.4.3 Weitere Organisationen

5 Die Rolle der EU
5.1 Flandern
5.1.1 Die Region und die EU
5.1.2 Die Parteien und die EU
5.2 Katalonien – Baskenland
5.2.1 Die Regionen und die EU
5.2.2 Die Parteien und die EU
5.2.3 Sichtweise der EU
5.3 Schottland
5.3.1 Die Region und die EU
5.3.2 Die Parteien und die EU
5.4 Vergleich
5.5 Die European Free Alliance

6 Zusammenfassung der Kernbereiche
6.1 Welche Motive gibt es für Unabhängigkeitsbewegungen gibt es?
6.2 Wer sind die Träger dieser Unabhängigkeitsbewegungen?

7 Nation – Nationalismus
7.1 Die Nation
7.1.1 Der „subjektive“ Nationsbegriff
7.1.2 Der „objektive“ Nationsbegriff
7.1.3 Der „kulturelle“ Nationsbegriff
7.1.4 Der „ethnische“ Nationsbegriff
7.2 Nationalismus
7.2.1 Nationalismus als Gemisch politischer Ideen, Gefühle und Symbole
7.2.2 Nationalismus als politische Bewegung
7.2.3 Der moderne Nationalismus
7.3 Moderne Nationalismustheorien
7.3.1 Soziale Kommunikation und Nationalismus
7.3.2 Nationalismus, Kultur und Macht der Industriegesellschaft
7.3.3 Die Nation als vorgestellte Gemeinschaft
7.3.4 Die Kontinuität der Ethnie und ihr Einfluss auf den Nationalismus
7.3.5 Aktuelle Themen und Kontroversen
7.4 Nationale Selbstbestimmung in den behandelten Regionen

8 Ausblick

9 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Fragestellung

Unabhängigkeitsbewegungen spielen in Staaten der europäischen Union eine wichtige Rolle. (Vgl. ORF, 2011) Der erste zentrale Punkt meiner Arbeit fragt nach den Gründen für die Bestrebung, unabhängig zu werden. Demnach lautet die erste Forschungsfrage: Welche Motive für Unabhängigkeitsbewegungen gibt es?

Daran anknüpfend, lautet die zweite zentrale Fragestellung: Wer sind die TrägerInnen dieser Unabhängigkeitsbewegungen?

Die vorliegende Arbeit will nur jene Staaten der Europäischen Union beleuchten, in denen diese Bewegungen eine politische Relevanz besitzen. Dies setzt voraus, dass in den betroffenen Ländern Parteien, Vereine oder andere soziale Vereinigungen – eben TrägerInnen – bestehen, die sich für eine Unabhängigkeit einsetzen. Demnach behandelt diese Arbeit keine Minderheitenprobleme, sondern ausschließlich Regionen, in denen es Menschen und Gruppen gibt, die einen eigenen Nationalstaat fordern.

Ein weiteres gemeinsames Charakteristikum der von mir ausgewählten Staaten ist die Offenheit der Prozesse.

1.2 Auswahl der behandelten Staaten und Regionen

Folgende Kriterien waren für die Auswahl ausschlaggebend:

- Staaten/Regionen, die Mitglied der Europäischen Union sind
- Politische Relevanz
- Offenheit der Prozesse

Demnach wurden folgende Staaten zur näheren Betrachtung von mir ausgewählt: Belgien, Spanien, Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland. Diese Staaten haben also die zuvor beschriebenen Merkmale gemein. Sie sind Mitglied der Europäischen Union, es gibt relevante Gruppierungen innerhalb der Staaten, die eine Unabhängigkeit anstreben und es handelt sich hierbei um offene Prozesse.

Andere Staaten wurden hingegen nicht in die Auswahl aufgenommen:

In Korsika gibt es zwar eine Unabhängigkeitsbewegung, diese scheint jedoch in der Realpolitik Frankreichs nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. 1991 wurde immerhin ein Selbstverwaltungsstatut verabschiedet, in welchem die kulturelle Eigenständigkeit der KorsInnen anerkannt wird. (Vgl. Kathe, 2011) Ähnlich stellt sich die Situation in Südtirol dar. Dort besteht immerhin eine Partei, die für einen Freistaat eintritt, nämlich Die Freiheitlichen. (Die Freiheitlichen, 2011) Bei den italienischen Parlamentswahlen von 2008 erreichte man 9,43% der Stimmen. Die Hürde für Parteien von anerkannten Sprachminderheiten in Italien liegt, wenn sie nur in einem Wahlkreis antreten, jedoch bei einem Prozentsatz von 20. Demzufolge ist die Partei nicht im italienischen Parlament vertreten. (Vgl. Parlamento Italiano, 2011) Ähnlich scheint die Situation in Nordirland zu sein. Dort gibt es zwar Parteien und Organisationen, die die Wiedervereinigung mit Irland anstreben, jedoch keine Bewegungen, die auf einen eigenen Nationalstaat drängen. Vielmehr ist das Hauptziel der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin Nordirland vom Vereinigten Königreich loszulösen und an die Republik Irland anzuschließen. (Vgl. Sinn Féin, 2011) Die Situation in Osteuropa scheint nach dem Zerfall der Sowjetunion und der damit verbundenen Entstehung neuer Nationalstaaten momentan relativ stabil zu sein. Die Prozesse sind dort also (zumindest zum erheblichen Teil) abgeschlossen und somit nicht mehr als offen zu bezeichnen.

1.3 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit ist in 8 Kapitel eingeteilt:

In der Einleitung werden zunächst die zwei Forschungsfragen definiert. Danach werden jene Kriterien erläutert, die zur Auswahl der einzelnen Staaten bzw. Regionen führen. Schließlich werden die entsprechenden Staaten bzw. Regionen aufgezählt. Außerdem wird erklärt, welche Regionen nicht in das Auswahlschema passen und warum. Zu guter Letzt wird der Aufbau der Arbeit dargelegt.

Um die Ausgangslage der einzelnen Regionen besser verstehen zu können, ist ein kurzer geschichtlicher Abriss der einzelnen Einheitsstaaten unumgänglich. Deshalb wird im Kapitel 2 auf die historischen Gegebenheiten von Belgien, Spanien und dem Vereinigten Königreich betreffend der Konfliktline Zentralismus vs Föderalismus eingegangen.

In den folgenden zwei Kapiteln gelangt man zum eigentlichen Kern der Arbeit, in dem die Forschungsfragen erörtert werden:

In Kapitel 3 steht die erste Forschungsfrage im Mittelpunkt. Sie soll die Beweggründe zur Unabhängigkeit der einzelnen Regionen ans Tageslicht bringen. Sind nationale/regionale Ungleichgewichte vorhanden? Gibt es sprachliche Differenzen? Welche Rolle spielen wirtschaftliche, religiöse und ideologische Faktoren? Des Weiteren werden auch Probleme zwischen Regionen untereinander und zwischen Regionen mit dem Zentralstaat werden angesprochen.

Danach wird in Kapitel 4 auf die zweite Forschungsfrage des Themas eingehen: Wer sind die Träger dieser Bewegungen? Handelt es sich um lose Gruppierungen, oder sind diese gut organisiert? Welchen Organisationsgrad besitzen sie in der jeweiligen Bevölkerung? Gibt es (nationalistische) Parteien, die einen programmatischen Schwerpunkt auf Unabhängigkeit setzen? Wenn ja, haben diese Parteien einen realpolitischen Einfluss? Gibt es weitere Organisationen, die als TrägerInnen der Bewegungen auftreten?

Kapitel 5 betrachtet die Rolle der Europäischen Union. Wie steht sie zur Forderung einzelner Regionen nach Unabhängigkeit? Wie sehen die nationalistischen Parteien die europäische Integration?

Am Ende jedes Kapitels werden in einem Vergleich die Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede herausgearbeitet. In jenen Kapiteln, in denen sich die Beweggründe und die TrägerInnen der Unabhängigkeitsbewegungen finden, nimmt der Vergleich einen wesentlich größeren Platz ein als in den anderen beiden Kapiteln, da diese für die Forschungsfragen von primärer Bedeutung sind.

In Kapitel 6 werden die beiden Forschungsfragen, die in den Kapiteln 3 und 4 beantwortet wurden, nochmals zusammengefasst.

Kapitel 7 behandelt die theoretischen Grundlagen der Begriffe „ Nation “ und „ Nationalismus “. Diese sind für das Verständnis von Unabhängigkeitsbewegungen erforderlich. Die verschiedenen Konzepte werden deshalb kurz beschrieben. Auch auf moderne Nationalismustheorien wird eingegangen. Schließlich versuche ich, die Unabhängigkeitsbewegungen und den damit verbundenen Nationalismen der von mir behandelten Regionen grob zuzuordnen.

Zu guter Letzt versuche ich im letzten Kapitel einen Ausblick zu geben. Hat eine der Regionen, die in meiner Arbeit beschrieben wurde, realistische Chancen, unabhängig zu werden?

2 Geschichtliche Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegungen

2.1 Belgien – Der flämische-wallonische Konflikt

Belgien ist eine parlamentarisch-demokratische Monarchie. 91 Abgeordnete des Unterhauses – Kammer der Volksvertreter – gehören zur flämischen und 59 zur französischen Sprachgruppe. (Vgl. Erbe, 2009, S. 59)

2.1.1 Die Ursprünge des belgischen Einheitsstaates

Auf dem Wiener Kongress wurde Belgien 1815 dem Königreich Niederlande zugesprochen. Im Zuge der Belgischen Revolution wurde 1830 die Unabhängigkeit Belgiens verkündet. Damalige Großmächte wie Frankreich und Großbritannien akzeptierten diese Autonomie. (Vgl. Süßenbach, 2009, S. 3) Obwohl der Großteil der Bevölkerung diese Revolution begrüßte (Vgl. Wils, 2001) standen sich schon seit dessen Staatsgründung zwei völlig unterschiedliche Sprachgruppen gegenüber. (Vgl. Süßenbach, 2009, S. 3) Lange Zeit galt Belgien als liberales Land. Seine von 1831 verabschiedete Verfassung beinhaltete bereits einen Katalog von Grundrechten und begründete darüber hinaus ein gut funktionierendes politisches System. (Vgl. Erbe, 2009, S. 23) Belgien bekam eine liberale Verfassung mit völliger Vereins-, Presse- und Religionsfreiheit sowie ein beschränktes Zensuswahlrecht. (Vgl. Wils, 2001) Durch den ausgeprägten republikanischen Charakter stellte sie sich der autokratischen Herrschaftspraxis von Monarch Wilhelm I. entgegen. Dadurch diente sie zahlreichen anderen europäischen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts als Vorbild. In den Jahren 1893, 1918 und 1948 gab es Wahlrechtsausweitungen, wodurch das politische System schrittweise demokratisiert wurde. (Vgl. Woyke, 2009, S. 451) Wirtschaftlich zeigte sich Belgien als Vorzeigebeispiel einer geglückten Industrialisierung. Auch nach den beiden Weltkriegen konnte sich das Land schnell erholen. (Vgl. Erbe, 2009, S. 25)

2.1.2 Die Anfänge der Krise

Seit den 60er Jahren herrscht allerdings eine Krise vor, die bis heute andauert. Langsam verlagerte sich das ökonomische Übergewicht des früher hoch industrialisierten Südens, der Wallonie, in den nördlichen Landesteil, also Flandern. Letzterer war zuvor agrarisch geprägt. Allmählich glich sich das Wohlstandsgefälle aus und kehrte sich schließlich um. (Vgl. Erbe, 2009, S. 24) Sowohl die Bevölkerung Flanderns als auch jene der Wallonie glaubten nicht mehr an einen belgischen Einheitsstaat. Darum leiteten die politischen Verantwortlichen jener Zeit einen Föderalisierungsprozess ein: (Vgl. Berge / Grasse, 2004)

1970 wurden die drei Sprachgruppen – neben der flämischen und der frankophonen auch die deutsche – zu „ Kulturgemeinschaften “ mit parlamentarischen Vertretungen erhoben. (Vgl. Erbe, 2009, S. 21) Spätestens ab diesem Zeitpunkt verlangten die Volksgruppen mehr Autonomie. (Vgl. Schmitz-Reiner, 2007) 1980 bekamen die Kulturgemeinschaften eigene Parlamente und Regierungen. Seither sind sie auch für das Gesundheitswesen und soziale Belange verantwortlich und dürfen Steuern einheben. (siehe Kapitel 3.1.4) (Vgl. Erbe, 2009, S. 42) 1993 wurde die belgische Verfassung erneuert. (Vgl. Kellerer, 2010, S. 3) Artikel 1 besagt: „Belgien ist ein Föderalstaat, der sich aus den Gemeinschaften und den Regionen zusammensetzt.“ (Vgl. Der belgische Senat) Die nationalen und subnationalen Institutionen der Exekutive und Legislative wurden gleichberechtigt. (Vgl. Kellerer, 2010, S. 3) Durch die Föderalisierung sind die Sprachgruppen im Rahmen ihrer Kompetenzen nunmehr sogar berechtigt, internationale Verträge abzuschließen. (Vgl. Erbe, 2009, S. 42) Bei der Staatsreform von 2001 wurde den Regionen noch mehr Bedeutung zugestanden. Sowohl die Gemeindeaufsicht als auch die Organisation der Gemeinden und Provinzen ist ihnen übertragen worden. Nach wie vor ist der Prozess der Föderalisierung nicht abgeschlossen. (Vgl. Berge / Grasse, 2004) Trotz dieser Bemühungen, Maßnahmen zur Föderalisierungen voranzutreiben, wuchs die innere Zerrissenheit Belgiens immer mehr. (Vgl. Erbe, 2009, S. 43)

2.1.3 Jüngste Entwicklungen

2006 versetzte eine Zeitungsmeldung die Nachbarländer in Erstaunen. Eine im französischsprachigen Teil des Landes ausgestrahlte Nachricht besagte, dass der nördliche Teil Flandern seine Unabhängigkeit erklärt hätte und demnach aus dem belgischen Staatenverband ausscheide. (Vgl. Erbe, 2009, S. 22) Im Zuge dieser Nachricht feierten bereits Tausende Flamen und Fläminnen auf den Straßen, die Enttäuschung folgte, als bekannt wurde, dass man einer Falschmeldung aufgesessen war. Anhand dieses Vorfalls wird die Abneigung der beiden großen Sprachgruppen deutlich. (Vgl. Süßenbach, 2007, S. 3) Diese gegenseitige Antipathie zieht in der Innenpolitik, Wirtschaft und Gesellschaft bis hin zum Bildungswesen und dem kulturellen Leben, Konsequenzen nach sich. (Vgl. Erbe, 2009, S. 23) Durch die Zersplitterung des Parteiensystems und den Interessensgegensätzen der Regionen gibt es mittlerweile seit 2010 keine Regierung mehr. (Vgl. Gabriel / Heinze, 2011) Im März 2011 wurde sogar ein neuer Weltrekord vollbracht. Belgien ist nun jenes Land, welches am längsten ohne Regierung ausgekommen ist. Damit können viele notwendige Reformvorhaben nicht durchgeführt werden. (Vgl. Hasselbach, 2011)

Zusammengehalten werden die beiden Landesteile lediglich vom schwer zu lösenden Problem, was aus Brüssel werden sollte – beide reklamieren die Hauptstadt für sich – und zum anderen durch die Institutionen der Monarchie. (Vgl. Erbe, 2009, S. 43) Eine Trennung könnte jedenfalls dennoch gewaltfrei vor sich gehen. Die alleine möglicherweise nicht überlebensfähige Wallonie könnte Frankreich angeschlossen werden. (Vgl. Hoffmann-Ostenhof, 2010)

2.2 Spanien – Zentralstaat vs Autonome Regionen

2.2.1 Die Ursprünge des spanischen Einheitsstaates

Entscheidend für die Entwicklung eines einheitlichen Spaniens war die Heirat der kastilischen Thronerbin Isabella mit dem aragonienesischen Kronprinzen Ferdinand 1469. Dadurch wurden die Landesteile Kastilien und Aragonien vereinigt. (Vgl. Hettlage, 1994, S. 149) Spätestens seit 1492 kann man von Spanien als staatliche Einheit mit einer Identität sprechen. (Vgl. Barro / Dirscherl, 1998, S. 429) Dennoch blieb das Land noch jahrhundertelang fragmentiert in verschiedene Nationen mit unterschiedlichen Interessen. (Vgl. Hettlage, 1994, S. 150)

2.2.2 Militärdiktatur, Zweite Republik und Bürgerkrieg

1923 erfolgte ein Putsch des Generals Miguel Primo de Riveira zur angeblichen „Rettung des Vaterlandes“. Dieser wurde von König Alfons XIII. gutgeheißen. Es folgte eine Diktatur Riveras von 1923 bis 1930. Sowohl der katalanische als auch der baskische Nationalismus gerieten unter Druck. (Vgl. Seidel, 2010, S. 116f) Dies drückte unter anderem durch das Verbot der regionalen Sprachen als auch der nationalistischen Symbole, beispielsweise den Flaggen, aus. (Vgl. Schlögl, 2008, S 74) 1931 wurde die Zweite Republik ausgerufen. Bei den Kommunalwahlen erzielten neben dem republikanischen und dem monarchistischen Block auch die Nationalisten Erfolge. (Vgl. Seidel, 2010, S. 118) 1936 ging das Wahlbündnis „ Volksfront “ als Sieger hervor. Ihr gehörten sozialistische, sozialrevolutionäre und republikanische Parteien an. (Vgl. Seidel, 2010, S. 124) Im darauffolgenden Bürgerkrieg standen sich Anhänger einer demokratischen Republik und die faschistischen RebellInnen des Generals Franco gegenüber. (Vgl. Schulze-Marmeling, 2010, S. 46) Durch Interventionen nationalsozialistischer, faschistischer und sowjetischer Truppen vergrößerte sich das Leid der Zivilbevölkerung in ungeahntem Ausmaß. Die sich gegenüberstehenden Kriegsparteien waren sehr heterogen. Die Gewalt richtete sich gegen das verhasste Madrider System. Viele Priester und Ordensleute wurden ermordet. Gleichzeitig traten die Monarchisten für die Rückkehr von Alfons VIII. ein. (Vgl. Seidel, 2010, S. 125) Die Falange wollte ein faschistisches Staatssystem errichten (Vgl. Falange) und Teile des Militärs forderten eine Militärdiktatur (Vgl. Seidel, 2010, S. 125) Insgesamt forderte der Krieg eine halbe Million Menschenleben, weitere 150000 wurden von den Faschisten exekutiert. (Vgl. Niebel, 2010)

2.2.3 Die Ära Franco

In der Zeit des Franco -Regimes wurde die sprachlich-kulturelle Identität der drei sogenannten historischen Nationalitäten (Baskenland, Katalonien, Galicien) unterdrückt. (Vgl. Hildebrand, 1998, S. 103) (Siehe Kapitel 3.2.3) Das Regime betonte die Einheit des spanischen Nationalstaates und hob sämtliche Autonomieregelungen, die während der Zweiten Republik geschaffen wurden, auf. (Vgl. Seidel, 2010, S. 134) Bereits in dieser Zeit forderten nationalistische Parteien im Baskenland (PNV, EE) und in Katalonien (CDC, ERC) politische Autonomie. (Vgl. Bernecker / Pietschmann, S. 370) Im Zuge der Entwicklungen im Baskenland und Katalonien wurden auch weitere Regionen in ihrem Streben nach Autonomie bestärkt. (Vgl. Hildebrand, 1998, S. 103)

2.2.4 Transistion

Jedoch wurde erst nach dem Tod Francos 1975 im Jahr 1978 ein pluralistisches Spanien durch die Verfassung anerkannt. In dieser Verfassung wurde der Status der Autonomen Regionen manifestiert. (Vgl. Barro / Dirscherl, 1998, S. 430) In Katalonien wurde die Selbstregierung wiederhergestellt und im Baskenland der Baskische Generalrat. (Vgl. Hildebrand, 1998, S. 104) Zwar gab es bereits in früheren Verfassungen Ansätze zur Dezentralisierung in Spanien, jedoch kam es nur für das Baskenland und für Katalonien zu praktischen Erfahrungen damit. (Vgl. Busch, 1988, S. 9-13) Seit 1983 besitzen die Regionen eigene Verfassungen. (Vgl. Göbel, 1994, S. 627) Die Gründung des Autonomiestaates kann als Antwort des immer stärker auftretenden Regionalismus vor allem im Baskenland und in Katalonien nach dem Tod Francos 1975 verstanden werden. Die Autonomen Gemeinschaften sollen die regionale Vielfalt Spaniens in politischen Institutionen wiederspiegeln. (Vgl. Hildebrand, 1998, S. 101)

2.2.5 Jüngste Entwicklungen

1996 benötigte die Partido Popular nach ihrem Wahlsieg die Unterstützung der bürgerlichen NationalistInnen Kataloniens (CiU), des Baskenlandes (PNV) und der Kanarischen Inseln (CC) um regieren zu können. Im Gegenzug wurden den Regionen größere Finanzleistungen zugesprochen. Ab diesem Zeitpunkt konnten die Regionen anstatt bisher 15 % nun über 30% der Lohn- und Einkommenssteuer eigenverantwortlich verfügen. (siehe Kapitel 3.2.5.) Gleichzeitig wurde die Verantwortung der Häfen und der Arbeitsämter den Regionen übertragen. Durch die steigende Bedeutung von Regionalparteien konnte die Regierung nicht jene spanisch-nationalistische Politik betreiben, wie es im Wahlkampf angekündigt wurde. (Vgl. Bernecker / Dirscherl, 1998, S. 18f)

Der Begriff „Nationalität“ ist dem Baskenland, Katalonien und Galicien, also den „ historischen Nationalitäten“ vorbehalten. Sie unterscheiden sich vom übrigen Spanien nicht nur historisch, sondern auch sprachlich-kulturell und teilweise ethnisch. (Vgl. Bernecker / Pietschmann, S. 370) Die Sonderstellung der drei „ historischen Nationalitäten “ Baskenland, Katalonien und Galicien wird von den restlichen Regionen abgelehnt und verschärft die politische und gesellschaftliche Spaltung des Landes. (Vgl. Eichhorst, 2005, S. 193) Die Bedeutung regionaler Parteien wuchs bei Wahlen auf der Ebene der Autonomen Gemeinschaften. In den verschiedenen Regionen existieren eigene Parteiensysteme mit unterschiedlichen Strukturen und Entwicklungen. (Vgl. Bernecker / Pietschmann, S. 372) Seit 2006 darf sich Katalonien als „ Nation “ bezeichnen. (Vgl. Scharfreiter-Carrasco, 2006)

2.3 Das Vereinigte Königreich und seine Einzelstaaten

2.3.1 Die Ursprünge des Vereinigten Königreichs

Wales wurde schon im 13. Jahrhundert an England angebunden. Staatsrechtlich existiert Wales nicht mehr, der Begriff „ England “ schließt in diesem Sinne das Gebiet Wales ein. Im Jahr 1706/07 vereinbarten die bis dahin selbstständigen Königreiche England und Schottland, sich aufzulösen und einen gemeinsamen neuen Staat, Großbritannien, zu bilden. Diese Vereinigungserklärung ist im Act of Union festgeschrieben. (Vgl. Weber, 1999, S. 183f) Grund für die Vereinigung war unter anderem die aussichtslose Lage der schottischen Wirtschaft zu jener Zeit. Trotzdem war die Bevölkerungsmehrheit gegen einen Bund mit England. (Vgl. Morawietz, 2009) Denn mit diesem Bündnis wurde das schottische Parlament zugunsten eines gemeinsamen Parlaments mit England aufgegeben. (Vgl. Baedeker, 2000, S. 21) In diesem sind auch eine Reihe von weiteren Einzelfestlegungen getroffen worden, unter anderem wurde die Weiterführung des schottischen Rechts- und Gerichtswesens vereinbart. (Vgl. Weber, 1999, S. 183)

1801 entstand das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland. Bereits zuvor wurde Irland vom britischen Königreich beherrscht. (Vgl. Weber, 1999, S. 184) Im 19. Jahrhundert wanderten viele IrInnen nach Schottland ein. Die meisten von ihnen waren, im Gegensatz zu den Einheimischen, KatholikInnen. Die Gegensätzlichkeit zwischen Katholizismus und Protestantismus bestimmt heute noch die Rivalität der beiden Glasgower Fußballklubs, dem katholischen Celtic Glasgow und dem protestantischen Glasgow Rangers. Die Zugehörigkeit zu einer Konfession hat allerdings so gut wie keinen Einfluss auf Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands. (Vgl. Maurer, 2010, S. 219)

Sowohl Wales als auch Schottland verloren ihre Rechtspersönlichkeit, es entstand demzufolge also kein föderales System. (Vgl. Weber, 1999, S. 184)

2.3.2 Erster Weltkrieg und der Ausstieg Irlands

Im ersten Weltkrieg erwiesen sich die SchottInnen als britische PatriotInnen und kämpften an der Seite der EngländerInnen. Erstere zählten nach vier Jahren doppelt so viele Gefallene als Zweitere, womit sie ihrem Ruf als besonders tapfere und todesmutige SoldatInnen einmal mehr gerecht wurden. Dieser Krieg schmiedete Schottland und England fester aneinander als zuvor. (Vgl. Maurer, 2010, S. 233) Infolge des Krieges trat 1922 ein Großteil der irischen Grafschaften aus der Union aus, somit wurde das Reich in Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland umbenannt. (Vgl. Weber, 1999, S. 184) Dazu zählen England, Schottland, Wales und Nordirland. (Vgl. Baedeker, 2000, S. 10)

2.3.3 Jüngste Entwicklungen

Seit den 60er Jahren wurde die Devolution, also stärkere föderale Strukturen, gefordert. (Vgl. Mergel, 2005, S. 168) Die Wahlen von 1979, welche Margareth Thatcher für sich entscheiden konnte, brachten eine schwere Niederlage sämtlicher Autonomiebewegungen innerhalb des Vereinigten Königreiches. Erst 1997, mit dem Wahlsieg der Labour Party, kam das Thema wieder an die Tagesordnung. Tony Blair – der schottische Wurzeln hat (Vgl. Maurer, 2010, S. 293) – war schon mit dem Versprechen der Devolution angetreten. (Vgl. Mergel, 2005, S. 171) Dies war ein Versprechen an die schottische und walisische Bevölkerung. (Vgl. Maurer, 2010, S. 293) Er verwirklichte die Durchsetzung eines Referendums vor und nicht nach dem Erlass eines Gesetzes. Vier Monate später wurde eine Volksabstimmung initiiert, in der eine überwiegende Mehrheit der SchottInnen für ein eigenes Parlament mit finanziellen Vollmachten stimmte. (Vgl. Mergel, 2005, S. 171) Sämtliche wichtige Parteien in Schottland, also sowohl die SNP, als auch die Labour und die Liberal Party, unterstützten dieses Vorhaben. (Vgl. Maurer, 2010, S. 293) Hingegen fiel in Wales der Entscheid zugunsten der Vollmachten nur hauchdünn aus. Im Gegensatz zu Schottland verfügt Wales über weitaus weniger Vollmachten. (Vgl. Mergel, 2005, S. 171f) Es verfügt zum Beispiel über keinerlei Steuerkompetenz. (Vgl. Kay, 2008, S. 62)

Die Entwicklung der Föderalisierung ist nach wie vor im Gange. (Vgl. Mergel, 2005, S. 172)

2.4 Vergleich

Die Vereinigung Spaniens wurzelt im 15. Jahrhundert, in welchem Kastilien und Aragonien vereinigt wurden. Wales wurde schon im 13. Jahrhundert an England angeschlossen, die Vereinigung mit Schottland erfolgte Anfang des 18. Jahrhunderts. 1801 kam auch noch Irland hinzu, der Großteil des Landes wurde jedoch 1922 unabhängig von England. Bis heute sind irische Einflüsse in Schottland zu verzeichnen. Die mit Abstand jüngste gemeinsame Geschichte verschiedener Landesteile weist Belgien auf, da man erst seit 1830 als einheitlicher, von andern Staaten unabhängiger Staat auftreten konnte. In allen drei Ländern gab es schon zu Beginn Differenzen zwischen den verschiedenen Landesteilen.

In Belgien begann sich der Gegensatz zwischen den Sprachgruppen in den 1960er Jahren zu vertiefen. Die Krise dauert bis heute an, bei den jüngsten langwierigen Koalitionsverhandlungen wurde und wird dies einmal mehr sehr deutlich. Zwar wurden in den letzten Jahrzehnten tiefgehende Föderalisierungsmaßnahmen durchgesetzt, dennoch scheint die Kluft zwischen den EinwohnerInnen beider Landesteile tiefer denn je zu sein. Die tiefe Abneigung gegen den Zentralismus in Spanien wurde vor allem durch die Unterdrückung der diktatorischen Regime gestärkt. Vor allem unter Francos Herrschaft wuchs der Hass auf den Zentralstaat. Nach dessen Tod und dem Ende der Diktatur erreichten die Autonomiebewegungen regen Zulauf. Regionale und nationalistische Parteien wurden immer wichtiger. 1987 wurde der Status der Autonomen Regionen durchgesetzt. Die nationalistischen Parteien sind pragmatisch im Umgang mit den Großparteien. Im Vereinigten Königreich wurde seit den 1960er Jahren (vor allem durch die schottische Nationalpartei) eine Devolution gefordert. Hier setzten die Föderalisierungsmaßnahmen am spätesten ein, nämlich in den 1990er Jahren. Erst 1998 wurde ein eigenes schottisches Parlament eingesetzt.

3 Beweggründe für Unabhängigkeitsbestrebungen

3.1 Flandern

3.1.1 Einleitung

In etwa 40 Prozent der flämischen Bevölkerung identifizieren sich primär mit der flämischen Gemeinschaft und nur 42 Prozent sehen sich in erster Linie als BelgierIn. (Vgl. Kellerer, 2010, S. 8) Historisch gewachsene Ressentiments sowie das Armutsgefälle zwischen den beiden großen Landesteilen Flandern und der Wallonie sind die wichtigsten Ursachen für Unabhängigkeitsbestrebungen in Belgien. (Vgl. Schmitz-Reiners, 2007) Noch spricht sich eine klare Mehrheit für den belgischen Einheitsstaat aus. Doch nicht einmal die Hälfte glaubt, dass dieser in 20 Jahren noch bestehen wird. (Vgl. Woyke, 2009, S. 475) Vor allem flämische Eliten streben nach Unabhängigkeit. Je höher der Bildungsgrad ist, umso eher wird Autonomie gewünscht. (Vgl. Kellerer, 2010, S. 8)

3.1.2 Historisch begründete Motive

Zur Flämischen Region gehört das niederländische Gebiet mit den Provinzen Westflandern, Ostflandern, Antwerpen, Limburg und Flämisch-Brabant. (Vgl. Nowak, 1994, S. 160) Die Region Flandern kann kaum auf eine gemeinsame Geschichte verweisen, der Begriff Flamen existiert sogar erst seit 150 Jahren. Erst zwischen 1840 und 1860 etablierten sich die Gebiete des heutigen Flanderns. (Vgl. Hecking, 2003, S. 84) Dennoch fühlen sich laut einer 1999 durchgeführten Umfrage knapp über 40 Prozent gleichermaßen sowohl als Flame bzw. Flämin als auch als BelgierIn. Das Zugehörigkeitsbewusstsein zur eigenen Sprachregion ist in Flandern deutlich ausgeprägter als in der Wallonie. Für eine völlige Loslösung des Landesteiles sprachen sich zu diesem Zeitpunkt allerdings nur 12 Prozent aus. (Vgl. Erbe, 2007, S. 97)

Im 19. Jahrhundert war die Wallonie ein Zentrum des industrialisierten Europas. Die WallonInnen waren reich und wurden zur Elite. Dies ließen sie den Flamen und Fläminnen zum Beispiel bei der Unterdrückung der Sprache (siehe Kapitel 3.1.3) spüren. (Vgl. Hoffmann-Ostenhof, 2010) Zu jener Zeit galt Flandern als Armenhaus Belgiens. (Vgl. Schmitz-Reiners, 2007)

Seit den 1940er Jahren entwickelte sich das Bevölkerungswachstum zugunsten der der flämischen Gesellschaft, weshalb der Ruf nach mehr politischer Mitbestimmung lauter wurde. 1970 lag der Anteil an frankophonen WallonInnen (ausgenommen der Brüsseler Bevölkerung) nur mehr bei 32 Prozent. (Vgl. Erbe, 2009, S. 37)

Das wirtschaftlich ursprünglich unterentwickelte Flandern wurde zwischen 1965 bis 1976 zum Motor des Landes. Gründe hierfür lagen im Rückgang der Wertschöpfung im Bergbau, was vor allem die rückständige wallonische Kohleproduktion betraf. Die Flamen und Fläminnen verstanden es, ihre Wirtschaftskraft auf profitablere Wirtschaftszweige zu verlagern und sich auf Dienstleistungen zu konzentrieren. Daraus resultierte ein gesteigertes Selbstbewusstsein der flämischen EinwohnerInnen. (Vgl. Erbe, 2009, S. 93)

3.1.3 Ökonomische Motive

Der nördliche Teil Belgiens will nicht länger Nettozahler für die wirtschaftlich weitaus schwächere Wallonische Region sein. Vom derzeitigen belgischen Staatsmodell profitieren die WallonInnen, welche deshalb das belgische Einheitsmodell favorisieren. (Vgl. Gabriel, Hetzel, 2011) Man kann in Belgien von einer existierenden „Wohlfahrtsgrenze“ sprechen: (Vgl. Hecking, 2003, S. 75) Flandern ist merklich reicher als Wallonien. (Vgl. Woydt, 1998) Hier liegt das Einkommen bei 118 Prozent des EU-Durchschnitts, während es in der Wallonie nur bei 85 Prozent liegt. (Vgl. Hoffmann-Ostenhof, 2010) Dies liegt vor allem an den günstig liegenden Häfen in Antwerpen und Seebrücken. Die Gebiete um Antwerpen sind heute das wirtschaftliche Zentrum Belgiens. (Vgl. Süßenbach, 2007, S. 11) Der südliche Landesteil hat außerdem mit großen Strukturproblemen zu kämpfen; die Arbeitslosenquote beträgt etwa 17 bis 21 Prozent und übersteigt somit die flämische deutlich. (Vgl. Gabriel, Hetzel, 2011) Die Pro-Kopf Produktivität ist im südlichen Landesteil um ein Fünftel niedriger als im nördlichen Pendant. (Vgl. Hoffmann-Ostenhof, 2010) Jährlich werden über zehn Milliarden Euro von Flandern in die Wallonie überwiesen, (Vgl. Hetzel, 2007) was 6,6 Prozent des flämischen Sozialproduktes ausmacht. (Vgl. Reichenstein, 2005) Für viele Flamen sind die Transferzahlungen undurchsichtig und zu großzügig bemessen. (Vgl. Vlaams Belang) Bis vor einigen Jahren war die Teilung Belgiens nur für Rechtspopulisten ein Thema. Doch mittlerweile ist der Wille, Belgien zu spalten, zum Allgemeingut geworden. (Vgl. Vogt, 2010) Dies zeigt sich zum Beispiel am 2005 veröffentlichten Manifest von führenden Vertretern der flämischen Wirtschaft. Darin heißt es, dass die finanzielle Umverteilung von Flandern in die Wallonie zu hoch sei. Außerdem sei das komplizierte föderale System Belgiens zu teuer. (Vgl. Reichenstein, 2005)

3.1.4 Institutionelle Unabhängigkeit

1980 wurde in Belgien eine umfassende Staatsreform durchgeführt. (Vgl. Koll, 2007, S. 4) Dabei erhielten die drei Regionen – das niederländischsprachige Flandern, die französischsprachige Wallonie und das zweisprachige Brüssel – eigene Parlamente. (Vgl. Kellerer, 2010, S. 4) Ursprünglich galten diese als wirtschaftliche Einheiten. Sie sind unter anderem zuständig für Umwelt- und Wasserpolitik, Wirtschafts- und Energiepolitik, Wohnungsbau und Infrastruktur. (Vgl. Berge / Grasse, 2004)

Daneben entstanden drei Gemeinschaften, nämlich die flämische, die wallonische und die deutschsprachige. Diese bildeten sprachgebundene Kultureinheiten (Vgl. Berge / Grasse, 2004) und bekamen ebenfalls eigene Parlamente und Regierungen. (Vgl. Koll, 2007, S. 37) Die flämische und die wallonische Gemeinschaften sind auch in Brüssel aktiv. Dementsprechend gibt es dort sowohl frankophone als auch niederländischsprachige Schulen. Die Gemeinschaften sind zum Beispiel für folgende Politikbereiche verantwortlich: Sprach- und Kulturpolitik, Bildung, Medien, Gesundheit, Sozialfürsorge. (Vgl. Berge / Grasse, 2004)

Im Zuge dieser Staatsreform vereinigten sich die Flämische Region und die Flämische Gemeinschaft, während in der Wallonischen Region dieser Schritt nicht vollzogen wurde. (Vgl. Hecking, 2003, S. 47) Durch die Zusammenlegung der Region und der Gemeinschaft in Flandern werden weniger Kosten verursacht als in der Wallonie. (Vgl. Delmartino, 2004, S. 63) Im Zuge weiterer Staatsreformen wurden mehr und mehr Kompetenzen des Bundesstaates auf die subnationale Ebene verschoben. (Vgl. Kellerer, 2010, S. 5)

3.1.5 Die Sprachenfrage

Darüber hinaus ist der Sprachenstreit von Bedeutung, (Vgl. Gabriel / Hetzel, 2011) welcher „seit dem frühen 19. Jahrhundert geführt wurde“ (Erbe, 2009, S. 25) Obwohl dieser viele Regierungsstürze und politische Krisen ausgelöst hat (Vgl. Nowak, 1994, S. 157) steht er nicht im Zentrum des flämisch-wallonischen Interessenskonfliktes. (Vgl. Schilling / Taubrich, 1989, S. 107) Oft ist dieser Konflikt nur ein Vorwand für tiefergehende Streitigkeiten zwischen den Volksgruppen, bei dem es um Macht und Territorium geht. (Vgl. Kellerer, 2010, S. 6) Die Sprachhomogenität und Region sind meist identisch. (Vgl. Hecking, 2003, S. 69) Als flämisch gelten zum einen sämtliche im Norden gesprochene niederländische Dialekte und zum anderen das Hochniederländische. (Vgl. Erbe, 2009, S. 27) Der Anteil jener, die die Sprache der jeweils anderen Volksgruppe sprechen, ist sehr gering. (Vgl. Hecking, 2003, S. 72)

Im 19. Jahrhundert sahen sich die aufgrund ihrer prosperierenden Wirtschaft reicheren WallonInnen als Elite. (Vgl. Hoffmann-Ostenhof, 2010) Im Zuge dessen wurde Französisch als Sprache der Regierung und des tonangebenden Bürgertums und Flämisch als Bauernsprache angesehen. (Vgl. Göbel, 1994, S. 84) Französisch wurde zur Verwaltungssprache Belgiens. Auch an Universitäten und Mittelschulen setzte sich die Französisierung fort. Diese hemmte das flämische Kleinbürgertum an ihrem sozialen Aufstieg. (Vgl. Wils, 2001) Dies führte sogar dazu, dass selbst die flandrische Oberschicht nicht mehr flämisch sprechen wollte. (Vgl. Hoffmann-Ostenhof, 2010) Erst ab 1873 gestattete die Regierung den Flamen und Fläminnen, ihre Sprache im Umgang mit Behörden und Gerichten zu gebrauchen (Vgl. Schmitz-Reiner, 2007) und erst 1936 wurde eine simultane Übersetzung im belgischen Parlament eingerichtet. Bis dahin musste dort Französisch gesprochen werden. (Vgl. Nowak, 1994, S. 159) Die Unterdrückung des Flämischen erweckte Rachegelüste und ist eine der Hauptursachen für den gegenwärtig immer stärker werdenden flämischen Separatismus. (Vgl. Hoffmann-Ostenhof, 2010) Durch die Rachegefühle der Flamen und Fläminnen ist so gut wie keine nationale Solidarität mehr vorhanden. (Vgl. Schmitz-Reiner, 2007)

3.1.6 Religiöse und ideologische Motive

Überdies bestehen ideologische Differenzen. Das ländliche Flandern gilt als eher katholisch, während die Wallonie eher sozialistisch geprägt ist. (Vgl. Schmitz-Reiners) In Wallonien haben deshalb linke Parteien bessere Chancen, in Flandern rechte. (Vgl. Goavert, 2010) Darüber hinaus sind gegenseitige Vorurteilsstrukturen vorhanden. (Vgl. Berge / Grasse, 2004) Für viele Flamen und Fläminnen sind die WallonInnen die Hauptschuldigen an der ihrer Meinung nach falschen Einwanderungspolitik. Neben der positiven Haltung zur Einwanderung aus muslimischen Staaten lehnen die Flamen und Fläminnen auch die wallonischen Vorstellungen eines Umverteilungsstaates ab. (Vgl. Vogt, 2010) Dies liegt vor allem daran, dass dem vermeintlich reformunwilligen Süden vorgeworfen wird, den Norden in seiner Entwicklung zu hemmen. (Vgl. Berge / Grasse, 2004) Hinsichtlich Kultur und Religion entspricht Flandern eher den Niederlanden. (Vgl. Göbel, 1994, S. 84) Die lange Zeit unterdrückte Kultur der Flamen und Fläminnen begünstigte das Entstehen eigener Organisationen und Interessensgruppen, die die Wahrung und Förderung der eigenen Kultur zum Ziel hatte. (Vgl. Kellerer, 2010, S. 6) Als Kulturgrenze besteht vor allem auch die Sprachgrenze. (Vgl. Hecking, 2003, S. 73)

3.2 Baskenland / Katalonien

3.2.1 Einleitung

Im Kreis der Autonomen Regionen spielen das Baskenland und Katalonien aus ökonomischen, kulturellen und historischen Gründen eine herausragende Rolle. (Vgl. Borgmann, 1991, S. 2) Für den bekannten baskischen Intellektuellen Fernando Savater waren das Baskenland und Katalonien nie freiwillig ein Teil Spaniens, sondern fühlten sich „stets als seine Gefangenen, seine Kolonien oder seine Opfer“. Seiner Meinung nach hat sich im 20. Jahrhundert das Bewusstsein Katalane oder Baske zu sein vor allem darauf begründet, nicht spanisch zu sein. (Vgl. Savater, 1984, S. 87) Wegen ihrer eigenen Geschichte im Mittelalter fühlen sich die KatalanInnen heute noch als eigene Gruppe und lehnen den spanischen Zentralismus ab. (Vgl. Nowak, 1994, S. 26) Nur ungefähr jedeR Fünfte fühlt sich jedoch ausschließlich als Katalane. (Vgl. Schulze-Marmeling, 2010, S. 181) Dennoch befürwortet fast die Hälfte der katalanischen Bevölkerung eine Loslösung von Spanien. (Vgl. Niebel, 2010) Mit dem Baskenland identifizieren sich gegenwärtig ungefähr 90 Prozent der Bevölkerung, doch für 60 Prozent ist die spanische Identität mit der baskischen vereinbar. Nur knapp ein Drittel sieht sich ausschließlich als Basken. (Vgl. Seidel, 2010, S. 163) Über 70 Prozent sind mit dem bestehenden Autonomiestatus im Großen und Ganzen zufrieden. (Vgl. Seidel, 2010, S. 177) Zwar erhält das Baskenland im Ausland aufgrund der Terrororganisation ETA eine höhere Aufmerksamkeit im Ausland, trotzdem hat das regionale Bewusstsein in den letzten Jahren am stärksten in Katalonien zugenommen. Für das Ziel, einen eigenen, unabhängigen Staat zu errichten, spricht sich sowohl in Katalonien als auch im Baskenland nur eine Minderheit aus. (Vgl. Hildebrand, 1998, S. 110f) Es gäbe weitaus weniger extremistische Nationalisten, wenn nicht nach wie vor ein zentralistischer Druck von Madrid aus spürbar wäre. Gleichzeitig wäre die Ablehnung gegenüber der baskischen sowie der katalanischen Eigenständigkeit nicht so ausgeprägt, würden diese weniger aggressiv gegenüber den „Restspaniern“ auftreten. (Vgl. Barro / Dirscherl, 1998, S. 434)

3.2.2 Historisch begründete Motive

Von allen Regionen Spaniens ist der politische Regionalismus in Katalonien und im Baskenland am stärksten ausgeprägt. (Vgl. Hildebrand, 1998, S. 112) Die politische Grundüberzeugung der verschiedenen Regionalismen war und ist unterschiedlich. Es gibt Gruppierungen, die konsensbereit zur Zentralregierung sind, aber auch welche, die die totale Unabhängigkeit fordern. (Vgl. Bernecker / Pietschmann, S. 372)

Seit 2000 Jahren trotzten die Basken allen Assimilationsversuchungen. (Vgl. Nowak, 1994, S. 81) Das spanische Baskenland verfügt seit dem Jahr 1979 über einen eigenständigen Autonomiestatus. (Vgl. Riedel, 2006, S. 22) Katalonien war nur im frühen Mittelalter ein selbstständiger Staat mit eigenständiger Kultur und Sprache. Wegen dieser eigenständigen Geschichte fühlen sich die KatalanInnen heute noch als eigenes Volk mit eigener Kultur und lehnen den spanischen Zentralismus ab. (Vgl. Göbel, 1994, S. 361) Im Gegensatz zur absoluten Monarchie in Kastilien entwickelten sich in Katalonien schon im frühen 13. Jahrhundert eine Mitbestimmung der Stände und eine der ersten parlamentarischen Regierungen der Welt. (Vgl. Schulze-Marmeling, 2010, S. 181) Im 12. Jahrhundert wurde Katalonien mit Aragón und im 15. Jahrhundert mit Kastilien vereinigt. Schon seit damals gab es Unabhängigkeitsbestrebungen. Diese gingen vor allem von einem starken Bürgertum von der katalanischen Hauptstadt Barcelona aus. (Vgl. Göbel, 1994, S. 361) Als der Bourbone Philipp V. 1714 Barcelona eroberte, wurden alle autonomen Institutionen Kataloniens abgeschafft. Zum Gedenken an diese Niederlage wird noch heute an jedem 11. September erinnert. Die katalanischen „Renaixanca“ läutete den Weg der Eigenständigkeit ein. Diese kulturelle Renaissance wurde durch den industriellen und wirtschaftlichen Aufschwung möglich. (Vgl. Nowak, 1994, S. 175) Doch Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Barcelona mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen zu kämpfen. Auf diesem Boden wurde sie eine Stadt des Widerstandes und Protests. Gewerkschaften und anarchistische Arbeiterbewegungen gewannen an Bedeutung. (Vgl. Schulze-Marmeling, 2010, S. 33) Als Primo de Rivera 1923 eine Militärdiktatur durchsetzte, waren die konservativen Kräfte Kataloniens zunächst auf seiner Seite, da vage Autonomieversprechen gemacht wurden. Doch da diese nie eingehalten wurden, rückte das Bürgertum rasch auf Distanz zum Regime. (Vgl. Schulze-Marmeling, 2010, S. 39) 1932 erhielt Katalonien schließlich einen Autonomiestatus. In der Franco-Zeit wurden die KatalanInnen unterdrückt. (siehe Kapitel 3.2.3) (Vgl. Nowak, 1994, S. 175) 1939 marschierten falangistische Schlägertrupps in Barcelona ein und übernahmen das Kommando. (Vgl. Schulze-Marmeling, 2010, S. 56)

In den Jahren des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie (1976-1980) kam es zu einem explosionsartigen Anstieg des regionalen Bewusstseins. (Vgl. Hildebrand, 1998, S. 109) Vor allem im Baskenland und in Katalonien war die Forderung nach Redemokratisierung mit regionalistischen Zielen verbunden. Dies wird verständlich, wen man bedenkt, dass gerade diese Regionen im Franco-Regime unter massiven Repressionen zu leiden hatten. (Vgl. Hildebrand, 1998, S. 103)

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2011
ISBN (eBook)
9783842820791
Dateigröße
595 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johannes Kepler Universität Linz – Gesellschafts- und Sozialpolitik, Sozialwirtschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1
Schlagworte
flandern schottland unabhängigkeit baskenland katalonien
Produktsicherheit
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Titel: Unabhängigkeitsbewegungen innerhalb der Europäischen Union
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