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Glücksspielsucht als soziales/psychosoziales Problem in der Gesellschaft

©2011 Bachelorarbeit 61 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Auch wenn meine erste direkte Begegnung mit dem Glücksspiel schon einige Jahre zurückliegt, werde ich das Gefühl von Anspannung und Nervenkitzel in diesem Moment nicht vergessen. Zwar hatte ich schon zuvor von Casinos gehört und auch Begriffe wie Poker oder Roulette waren mir, nicht zuletzt aus Filmen wie Croupier (1998), Casino (1995) und Bugsy (1991), aber auch durch gelegentliche Pokerspiele im Freundeskreis bekannt. Diese Ereignisse haben jedoch keinen signifikanten Eindruck hinterlassen oder gar den Drang in mir geweckt, selbst einmal um echtes Geld zu spielen. Ausschlaggebend war ein Werbebanner, das mir im Internet schon öfter begegnet war. Es ging dabei um ein Roulette-System, mit dem man ohne Risiko auf Verluste in wenigen Minuten eine nicht unherhebliche Summe Geld ‘verdienen’ könne. Eines Tages übermannte mich meine Neugier - vielleicht war es auch einfach Langeweile - und bevor ich wusste wie mir geschah, hatte ich den Link angeklickt. Grundgedanke dieses Spielesystems war, dass man über eine Anmeldung bei einem Online-Casino auf die erste Einzahlung einen zusätzlichen Geldbetrag (Bonus) als Spielanreiz erhält und ausschließlich mit diesem Bonusgeld nach einem bestimmten Schema seine Wetteinsätze tätigt. Selbst bei Wetteinbußen besteht kein Risiko. Der eingezahlte Betrag wird vom Spielverlauf nicht beeinflusst und kann jederzeit wieder ausgezahlt werden. In der Tat hatte ich bereits nach nur wenigen Mouse-Klicks einen nicht unerheblichen Betrag erspielt. Das Gefühl der Euphorie beim Gewinnen ließ jegliche Anspannung, die während des Spielens von mir Besitz ergriffen hatte, wieder verblassen. Jedoch wühlten mich selbst kleine finanzielle Rückschläge beim Spielen emotional derart auf, dass ich mich entschied, nach einer Woche damit aufzuhören.
Der Begriff ‘Glücksspielsucht’ war mir zu jener Zeit überhaupt nicht in den Sinn gekommen bzw. habe ich ihn eher unbewusst, in einem losgelösten Kontext gesehen, ohne eine bestimmte Handlung damit zu verbinden. Erst während meines Studiums im Rahmen eines Symposiums zum Thema ‘Glücksspielsucht’ ist mir bewusst geworden, dass bei dieser Art der Freizeitgestaltung, ebenso wie offenbar in anderen Bereichen des menschlichen Tuns auch, exzessive Ausprägungen möglich sind.
Wie sich eine Spielleidenschaft aufgrund eines faszinierenden Anfangserfolges entwickeln kann, beschreibt Dostojewski in seinem Roman ‘Der Spieler’ von 1866. Wie der Autor selbst, verfällt auch die Romanfigur […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

1. Einleitung

2. Was versteht man unter Sucht?
2.1. Zur Etymologie des Begriffs „Sucht“
2.2. Stoffgebundene Suchtformen
2.3. Stoffungebundene Suchtformen
2.4. Sucht oder Abhängigkeit?

3. Glücksspielsucht aus Sicht medizinisch-diagonistischer Klassifikationssysteme
3.1. Pathologisches (Glücks-)Spielen nach ICD-10
3.2. Pathologisches Glücksspiel nach DSM-IV-TR

4. Was ist Glücksspiel?
4.1. Glücksspiel aus spieletheoretischer Sicht
4.2. Glücksspiel aus rechtlicher Sicht
4.2.1. Überblick zur Entwicklung des Glücksspielstaatsvertrags
4.2.2. Glücksspiel und Geldspielautomaten
4.2.3. Glücksspiel und Pferdewetten
4.3. Was ist Glücksspiel - Zusammenfassung

5. Theoretische Erklärungsansätze zur Entstehung und Aufrechterhaltung pathologischen Glücksspiels
5.1. Gibt es eine Suchtpersönlichkeit?
5.2. Multifaktorielle Betrachtung der Suchtentstehung
5.3. Psychoanalytische Konzepte
5.4. Lerntheoretische Erklärungsansätze
5.5. Neuropsychobiologischer Erklärungsansatz
5.6. Sucht und Gesellschaft - Erkenntnistheoretischer Ansatz

6. Prävention, Früherkennung einer Glücksspielsucht

7. Anhang

8. Literaturverzeichnis / Internetquellen

1. Einleitung

Auch wenn meine erste direkte Begegnung mit dem Glücksspiel schon einige Jahre zurückliegt, werde ich das Gefühl von Anspannung und Nervenkitzel in diesem Moment nicht vergessen. Zwar hatte ich schon zuvor von Casinos gehört und auch Begriffe wie Poker oder Roulette waren mir, nicht zuletzt aus Filmen wie Croupier (1998), Casino (1995) und Bugsy (1991), aber auch durch gelegentliche Pokerspiele im Freundeskreis bekannt. Diese Ereignisse haben jedoch keinen signifikanten Eindruck hinterlassen oder gar den Drang in mir geweckt, selbst einmal um echtes Geld zu spielen. Ausschlaggebend war ein Werbebanner, das mir im Internet schon öfter begegnet war. Es ging dabei um ein Roulette-System, mit dem man ohne Risiko auf Verluste in wenigen Minuten eine nicht unherhebliche Summe Geld „verdienen“ könne. Eines Tages übermannte mich meine Neugier - vielleicht war es auch einfach Langeweile - und bevor ich wusste wie mir geschah, hatte ich den Link angeklickt. Grundgedanke dieses Spielesystems war, dass man über eine Anmeldung bei einem Online-Casino auf die erste Einzahlung einen zusätzlichen Geldbetrag (Bonus) als Spielanreiz erhält und ausschließlich mit diesem Bonusgeld nach einem bestimmten Schema seine Wetteinsätze tätigt. Selbst bei Wetteinbußen besteht kein Risiko. Der eingezahlte Betrag wird vom Spielverlauf nicht beeinflusst und kann jederzeit wieder ausgezahlt werden. In der Tat hatte ich bereits nach nur wenigen Mouse-Klicks einen nicht unerheblichen Betrag erspielt. Das Gefühl der Euphorie beim Gewinnen ließ jegliche Anspannung, die während des Spielens von mir Besitz ergriffen hatte, wieder verblassen. Jedoch wühlten mich selbst kleine finanzielle Rückschläge beim Spielen emotional derart auf, dass ich mich entschied, nach einer Woche damit aufzuhören.

Der Begriff „Glücksspielsucht“ war mir zu jener Zeit überhaupt nicht in den Sinn gekommen bzw. habe ich ihn eher unbewusst, in einem losgelösten Kontext gesehen, ohne eine bestimmte Handlung damit zu verbinden. Erst während meines Studiums im Rahmen eines Symposiums zum Thema „Glücksspielsucht“ ist mir bewusst geworden, dass bei dieser Art der Freizeitgestaltung, ebenso wie offenbar in anderen Bereichen des menschlichen Tuns auch, exzessive Ausprägungen möglich sind.

Wie sich eine Spielleidenschaft aufgrund eines faszinierenden Anfangserfolges entwickeln kann, beschreibt Dostojewski in seinem Roman „Der Spieler“ von 1866. Wie der Autor selbst, verfällt auch die Romanfigur Aleksej Iwanowitsch, bei dem Versuch seine finanzielle Situation am Spieltisch zu verbessern dem Roulette. Das Spiel zieht den Protagonisten immer mehr in seinen Bann und füllt ihn schließlich vollständig aus. Der Roman macht deutlich, dass problematisches Glücksspiel nicht ausschließlich ein Phänomen unseres Jahrhunderts ist. Dennoch standen solche und andere exzessive Verhaltensweisen, die sich ohne das Zuführen von Substanzen entfalten können bisher nicht im wissenschaftlichen Wahrnehmungsfokus der Experten. Mittlerweile wird jedoch auch diesen so genannten stoff un gebundenen Formen süchtigen Verhaltens verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt und der aktuelle Forschungsstand von der Fachwelt kontrovers diskutiert (vgl. BATTHYÁNY & PRITZ, 2009:5 f.).

Durch die Auseinandersetzung mit dem Glücksspiel wurde auch ich diesem Thema gegenüber sensibilisiert. Das Phänomen der Glücksspielsucht als eine Form der stoffungebundenen süchtigen Verhaltensmuster soll im Folgenden im Vordergrund der Betrachtung stehen. Zum besseren allgemeinen Verständnis wird zunächst die Herkunft und Geschichte des Suchtbegriffs mit seinen wechselnden Bedeutungen umrissen. Um das pathologische Glücksspiel (umgangssprachlich Glücksspielsucht) innerhalb des umfangreichen Themenkomplexes der Süchte besser einordnen zu können, wird anschließend die Entwicklung zum Suchtverständnis im Bereich der stoffgebundenen Formen der Sucht allgemein und stoffungebundenen suchtartigern Verhaltensweisen am Beispiel der Glücksspielsucht herausgearbeitet. Nach einem Abriss zur fachlichen Diskussion über die Verwendung der Begriffe Abhängigkeit und Sucht werden Erscheinungsbild und Diagnostik des pathologischen Glücksspiels beschrieben. Anschließend erfolgt eine Betrachtung von Glücksspiel unter historischen, spieltheoretischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Gesichtspunkten. Es folgen einige theoretische Erklärungsansätze zur Entstehung und Aufrechterhatung einer Glücksspielsucht. Um einen Praxisbezug herzustellen, wurden dabei an entsprechender Stelle Interviewaussagen eines ehemaligen Glücksspielsüchtigen eingearbeitet. Den Abschluss bildet eine Zusammenfassung möglicher Maßnahmen zur Prävention und Früherkennung einer Glücksspielsucht.

2. Was versteht man unter Sucht?

2.1. Zur Etymologie des Begriffs „Sucht“

Etymologisch betrachtet hat das Wort „Sucht“ seinen Ursprung in „siechen“, an einer Krankheit leiden (vergleiche engl. sick), wobei der Begriff „Sucht“ zunächst als konkreter Gattungsbegriff diente, um „jede krankheit des menschlichen körpers, die mit deutlichen symptomen in erscheinung tritt und nicht auf mechanische ursachen (verletzung oder verwundung) zurückgeht“, zu beschreiben (GRIMM und GRIMM, 1984:858ff.). Diese Bedeutung findet sich heute noch im neuhochdeutschen "dahinsiechen". Dabei lässt sich aus den historischen Krankheitsbezeichnungen meist auch gleichzeitig das auffälligste aller Symptome jeder einzelnen Krankheit ableiten. So ist Fettsucht durch Fettleibigkeit der betroffenen Person gekennzeichnet, der Schwindsüchtige „schwindet dahin“, im Wassersüchtigen sammelt sich Wasser und der Trunksüchtige trinkt zu viel Alkohol. Mit Beginn des 16. Jahrhunderts wird „Sucht“ als allgemeine Krankheitsbezeichnung schrittweise durch „Krankheit“, „Seuche“ und „Siechtum“ verdrängt und findet sich lediglich noch in einigen Bezügen zu Krankheiten im eigentlichen Sinne wie beispielsweise Gelbsucht, Bleichsucht, Wassersucht und Fallsucht (Epilepsie), in zunehmendem Maße jedoch in menschlichen Bedürfnissen und/oder exzessiven Verhaltensweisen wie Rachsucht, Tobsucht, Prahlsucht und Lebsucht wieder (vgl. POPPELREUTER, 1997:21f.). Aufgrund der Verschmelzung bestimmter Worte bzw. Sinnbedeutungen zu einem Begriff und der daraus resultierenden vielfältigen, etymologisch oft undurchsichtigen Zusammensetzungen, wie z.B. die älteren Bildungen Eifersucht oder Sehnsucht, wurde „Sucht“ im neuhochdeutschen Sprachgefühl irrtümlich mit „suchen“ verknüpft - Sucht nach etwas, z.B. Herrschsucht, Selbstsucht. (vgl. DUDEN, 2007:828)

Auch wenn die wahre oder ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Sucht“ durch jene volksetymologische Anknüpfung an „suchen“ verdunkelt wurde (vgl. GRIMM & GRIMM, 1984:888) und nicht mehr seiner Urbedeutung entspricht, scheint diese volkstümliche Ableitung, in Anbetracht der vielfach thematisierten Beziehung von „Sucht“ und „suchen“, dennoch nicht unbegründet zu sein. So greift der italienische Psychiater Luigi Zoja das Element des Suchens im Zusammenhang mit Sucht auf und bezeichnet in seinem Buch „Sehnsucht nach Wiedergeburt“ den Süchtigen als „negativen Helden“, der bei seiner Suche nach Individuation oft durch innere Ängste und Forderungen derart belastet ist, dass er in dem Versuch, den eigenen Zustand zu überwinden einer Sucht verfällt. (vgl. ZOJA, 1997:26ff.) FÜCHTENSCHNIEDER & WITT (1998:5) führen dazu aus: „Ein Phänomen, das bei fast allen Suchtkranken zu beobachten ist, ist eine tiefe Sehnsucht (...) [nach] Harmonie, Geborgenheit und die Bestätigung, wichtig und liebenswert zu sein.“ Papst Johannes Paul II äußert sich in seiner Ansprache anlässlich der internationalen Studientagung über Drogen und Alkoholismus am 23. November 1991 wie folgt: „Auch bei den Opfern des Drogen- und Alkoholmissbrauchs, so will es mir scheinen, handelt es sich um Menschen ’unterwegs’, die etwas suchen, an das sie glauben können (…)“. SCHMIDT (in MÜLLER & MÖDE, 2001:43) bezeichnet den Menschen als das stets strebende, sich sehnende, unruhige Wesen, das im Gegensatz zum instinktgesicherten, fest mit der Natur verwurzelten Tier nicht festgelegt ist, sondern weltoffen und erreichbar für viele Einflüsse stets Gefahr läuft, sich zu irren und zu fehlen. Sein Leben ein ständiges Wagnis, im Angesicht der Ungewissheit die rechte Entscheidung zu treffen, das richtige Maß zu finden, könne den Menschen bei seiner Suche auch zeitweise oder dauerhaft auf den Irrweg der Sucht führen.

Obwohl sich diese Beispiele eher auf süchtiges Verhalten allgemein beziehen, kann nach RIEGER (1905:18) jedoch nur die moralische Sucht, die als „Trieb oder Gier oder Begierde, ohne jede Beimischung von Pathologischem“ beschrieben wird, etymologisch direkt mit Suchen in Verbindung gebracht werden. Neben den bereits erwähnten Süchten wie z.B. Tobsucht und Rachsucht nennt RIEGER (1905:16) diesbezüglich u.a. die Genusssucht, Putzsucht, Habsucht, Gewinnsucht, aber auch die Spielsucht - letztere ist heute eine offiziell anerkannte Krankheit. Noch erhalten gebliebene, ursprüngliche Krankheitsbezeichnungen wie zum Beispiel Gelbsucht, Schwindsucht und Mondsucht, die nicht mit „suchen“, sondern ausschließlich mit „Seuche“ in Verbindung stehen, werden von RIEGER (1905:27) zu den krankhaften Süchten gezählt, bei denen man „an gar nichts anderes denken kann als an die Seuche oder Krankheit“ selbst. Wobei z.B. im Fall der Spielsucht, die Betroffenen vermutlich auch zu jener Zeit gedanklich stark davon eingenommen waren, nur das dem nicht die Bedeutung einer Krankheit zukam.

Anhand bisheriger Definitionsversuche, was denn nun konkret unter Sucht zu verstehen ist, wird eines deutlich, der Suchtbegriff bewegt sich seit jeher im Spannungsfeld zwischen körperlicher Krankheit und abweichendem Verhalten. War Sucht ursprünglich die allgemeine Bezeichnung für Krankheit wie Schwarzsucht, Schwindsucht oder Trunksucht, wurde der Begriff während des 16. Jahrhunderts, wie anfangs angedeutet, zusehends moralisch konnotiert und mit menschlicher Schwäche im Sinne von Laster oder Sünde (z.B. Geldsucht oder Lustsucht) in Verbindung gebracht (vgl. STING & BLUM, 2003:27).

2.2. Stoffgebundene Suchtformen

Als im 19. Jahrhundert das Laster der „Trunksucht“ medizinisch beschreibbar und erforschbar wurde, etablierte sich erneut die Auffassung von Sucht als physische Krankheit, jedoch nicht synonym mit Krankheit im Allgemeinen, sondern bezogen auf einen unwiderruflichen Kontrollverlust über den Gebrauch psychoaktiver Substanzen, wobei der Fokus zunächst auf der Untersuchung des Alkoholismus lag. Dieser Abschnitt in der Begriffsentwicklung begann im Jahre 1810 als der britisch-US-amerikanische Mediziner und Sozialreformer Dr. Benjamin Rush in einer seiner Arbeiten erstmals Alkohol als süchtig machende Droge beschrieb und Sucht (engl. „addiction“) als Krankheit definierte (vgl. COOMBS & HOWATT, 2005:36). Im Zuge der Entdeckung und Entwicklung immer neuer psychoaktiver Wirkstoffe, die ähnlich dem Alkohol auch zur Sucht führen können, wurde der Suchtbegriff immer wieder ausgeweitet, um auch diese Substanzen erfassen zu können. (vgl. SPODE in STING & BLUM, 2003:27) Auch wenn suchtbedingte Symptome nicht ständig vordergründig waren, galt Sucht als unheilbare Krankheit, die nur durch komplette Abstinenz behandelt werden konnte (vgl. COOMBS & HOWATT, 2005:36). Auch GRUNST & SURE (2006:451) führen diesbezüglich aus : „Eine Abhängigkeit ist eine chronische Krankheit, sie heilt nicht aus, kann aber durch Abstinenz zum Stillstand gebracht werden.“ Diese Sichtweise wurde von offiziell anerkannten Organisationen wie der American Psychiatric Association (APA), die sogar Dr. Benjamin Rush als „Father of American Psychiatry“ in ihrem Siegel führen, sowie der World Health Organisation (WHO) übernommen und adaptiert.

Gemäß einer von der WHO im Jahre 1950 formulierten Definition ist Sucht ein für das Individuum und die Gesellschaft schädlicher Zustand „periodischer oder chronischer Intoxikation“, der auf den Gebrauch von Drogen zurückzuführen ist (vgl. STING & BLUM, 2003:27), wobei für das Vorliegen einer Sucht drei Charakteristika ausschlaggebend waren: ein unbezwingbares Verlangen oder Bedürfnis, den Drogengebrauch fortzusetzen (Kontrollverlust), eine Tendenz die Dosis zu erhöhen (Toleranzentwicklung) sowie eine psychische und manchmal auch physische Abhängigkeit von den Wirkungen der Droge. (vgl. SCHEERER, 1995:13) Jedoch müssen Toleranz, psychische und physische Abhängigkeit nicht zwangsläufig bei allen Substanzen gemeinsam auftreten, wie zum Beispiel beim Kokain, das zwar zu ausgeprägter psychischer Abhängigkeit, aber zu keiner Toleranzentwicklung und physischen Abhängigkeit führt (vgl. OBERDISSE, HACKENTHAL & KUSCHINSKY, 2002:67). Dennoch wurde es ebenso wie Haschisch rechtlich als Suchtmittel eingeordnet, obwohl in beiden Fällen die WHO Definitionsmerkmale einer Sucht nicht erfüllt wurden. Aber auch andere von der Definition ausgeschlossene Substanzen, wie die barbiturathaltigen Schlafmittel und die stimulierenden Amphetamine schienen in den fünfziger Jahren einer intensiveren Kontrolle zu bedürfen, so dass die WHO seit 1957 bemüht war, alle irgendwie problematischen Subtanzen entweder der Kategorie Sucht („addiction“) oder „Gewöhnung“ („habituation“) zuzuordnen. (vgl. SCHEERER, 1995:13f.) Von einer Gewöhnung wurde gesprochen, wenn anstelle des Zwangs lediglich der Wunsch nach der Droge vorhanden ist, die Tendenz zur Dosissteigerung nicht oder nur gering ausgeprägt ist und keine physische Abhängigkeit besteht (vgl. GASSMANN, 1988:13). Jedoch gab es immer wieder Fälle, in denen Substanzen, die scheinbar erwiesenermaßen in eine Sucht münden, dies nicht immer taten, während Substanzen der Kategorie „Gewöhnung“ unerwartet zur Sucht führten. (vgl. SCHEERER, 1995:14) Im Jahre 1964 entschloss die WHO diese Begriffe wegen ihrer Unschärfe, Mehrdeutigkeit und Stigmatisierung von Drogenabhängigen, die oft auf die mit Sucht assoziierten negativen Wirkungen von Rauschsubstanzen reduziert wurden (vgl. STING & BLUM, 2003:28), abzuschaffen und durch den neutraleren Begriff „Abhängigkeit“ („dependency“) zu ersetzen. Dieser wird definiert als „ein Zustand, der sich aus der wiederholten Einnahme einer Droge ergibt, wobei die Einnahme periodisch oder kontinuierlich erfolgen kann. Ihre Charakteristika variieren in Abhängigkeit von der benutzten Droge“ (WHO zitiert in FREYBERGER, SCHNEIDER und STIEGLITZ, 2002:65). Die zeitliche Abfolge und Charakteristika bei der Drogeneinnahme sind in dieser Definition nicht so eng gefasst und operationalisiert wie bei dem „alten“ Suchtbegriff, sondern weitestgehend offen gehalten, um gegebenenfalls noch weitere als suchtgefährdend eingestufte Substanzen erfassen und besser auf die im Einzelnen damit verbundenen Merkmale der Abhängigkeit eingehen zu können. Bei der Abhängigkeit wird nochmals zwischen “psychischer” und “physischer“ Abhängigkeit unterschieden. Eine psychische Abhängigkeit äußert sich in einem Drang nach fortgesetzter Substanzzufuhr, um angenehme Wirkungen herbeizuführen und dem Unbehagen bei ihrer Abwesenheit entgegenzuwirken. Physische Abhängigkeit meint eine biologische Anpassung an die Anwesenheit einer Substanz im Körper, die bei Reduktion ein physiologisches Ungleichgewicht mit Entzugserscheinungen zur Folge hat. (vgl. SCHÖPF & NEDOPIL, 2003:63f.) Sie bestehen meist aus Symptomen, die genau das Gegenteil der erhofften Drogenwirkung darstellen, da die körpereigene Gegensteuerung als „Antwort“ auf die fremde Substanz (Homöostase) auch bei deren Ausbleiben für eine gewisse Zeit weiterläuft, obwohl sie eigentlich nicht mehr notwendig wäre. (vgl. SCHEERER, 1995:26f.)

Auch die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft (APA) ersetzte mit Einführung des DSM-III-R im Jahre 1987 den Suchtbegriff durch den Abhängigkeitsbegriff, um einer sozialen Stigmatisierung entgegenzuwirken und der Heterogenität des Konsums psychoaktiver Substanzen gerecht zu werden. (vgl. O’BRIEN, VOLKOW & LI, 2006:764ff.) Diese Orientierung an einer Substanzabhängigkeit, bei der die Droge mit ihren Wirkungen im Zentrum steht, wird auch in den aktuell von der WHO und APA empfohlenen Klassifikationssystemen, der „ I nternational Statistical C lassification of D iseases and Related Health Problems“ in der zehnten Version (ICD-10) und dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ Version IV Text Revision (DSM-IV-TR) deutlich. (vgl. STING & BLUM, 2003:28) Mit der Definition von Sucht als Abhängigkeitserkrankung wird ein medizinisch behandlungsbedürftiger Charakter hervorgehoben, aus dem sich ein Anspruch auf Krankenbehandlung und Therapie ableitet. Mit Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 18. Juni 1968 wurde auch in der Bundesrepublik Deutschland diesem Umstand Rechnung getragen, indem Sucht dem Sozialgesetzbuch nach als ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand definiert wird, der durch Kontrollverlust über den Konsum einer für den Betroffenen offenkundlich schädlichen Substanz geprägt ist (vgl. GRUNST & SURE, 2006:451). SCHEERER (1995:13) spricht dabei von einer „pharmakozentrischen“ Sichtweise der Sucht, bei der Süchtigwerden vor allem in den pharmakologischen Eigenschaften von Drogen vermutet wurde. Angefangen beim problematischen Alkoholkonsum über die Opiate in den fünfziger und sechziger Jahren bis hin zum Haschisch und Heroin, die während der sechziger und siebziger Jahre Schlagzeilen machten, kam den körperlichen Abhängigkeiten und somit den stoffgebundenen Süchten stets eine besondere Bedeutung zu.

2.3. Stoffungebundene Suchtformen

Sucht ist jedoch nicht nur unter dem Aspekt der Stoffgebundenheit gebräuchlich, sondern wird häufig auch im Alltag zur Beschreibung allzu menschlicher „kleiner Schwächen“ bzw. Leidenschaften benutzt. Eifersucht, Streitsucht, Habsucht, Kaufsucht, Rachsucht, Raffsucht, aber auch mit der Technologisierung verknüpfte Wortschöpfungen wie Fernsehsucht, Internetsucht und Computerspielsucht sind nur einige Beispiele von Wortverknüpfungen, in denen der Begriff „Sucht“ mit alltäglichen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht wird. Auch wenn dieser Umstand auf ein allgemeines Verständnis einer Sucht auch ohne Drogen schließen lässt, wird „Sucht“ im alltäglichen Sprachgebrauch oft weniger im Kontext von „Krankheit“, sondern eher im Sinne von „da könnte man ja süchtig werden“ oder „du bist aber streitsüchtig“ verwendet.

Die Formulierung „süchtig sein“ kann aber auch gleichgesetzt werden mit „nicht anders können“ und „nicht mehr aufhören können“. Die Betroffenen bringen damit zum Ausdruck, dass sie sich hilflos fühlen und Unterstützung brauchen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Da bei einer zunehmenden Zahl von Menschen Auffälligkeiten und Störungen in alltäglich angesehenen Verhaltensweisen wie z.B. Arbeiten, Spielen, Sport, Essen und Kaufen, verbunden mit teilweise heftigem Leidensdruck, beobachtet werden (vgl. POPPELREUTER & GROSS, 2000:XIV), die zu „suchtartigen Ausprägungen“ führen können (vgl. BATTHYÁNY & PRITZ, 2009:V), wird von immer mehr Fachleuten auch eine „Sucht ohne Drogen“ (vgl. SCHEERER, 1995:34) öffentlichkeitswirksam als „neue subtanzunspezifische Süchte“ (vgl. STING & BLUM, 2003:17) oder „Neue Süchte“ (vgl. FREY & HOYOS, 2005:178) diskutiert - obwohl die meisten dieser „neuen“ Süchte gar nicht so neu sind, wenn man die etymologisch-historische Entwicklung des Suchtbegriffes betrachtet. Bereits im Jahr 1561 wurden die Auswirkungen der Spielsucht von dem flandrischen Arzt und Philosophen Pascasius Justus unter dem Titel „Über das Würfelspiel oder die Heilung der Leidenschaft, um Geld zu spielen“ beschrieben. Dort heißt es, dass „das Würfelspiel genau dieselbe Wirkung hat wie der Wein.“ (BAUER, 1995:351) „Die sichtbarsten und schlimmsten Auswirkungen sind folgende: ständige geistige Ruhelosigkeit, Pflichtvergessenheit, Armut, Verfluchung, Diebstahl und Verzweiflung.“ (ebd., S. 362)

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Spielsucht, ursprünglich allgemein als moralisch verwerflich und ein Zeichen menschlicher Schwäche angesehen, seit 1980 in der Version III des „Diagnostisch und Statistischen Manuals psychischer Störungen“ (DSM-III) der Amerikanisch Psychiatrischen Gesellschaft (APA) als eigenständiges Krankheitsbild geführt wird. (vgl. BATTHYÁNY & PRITZ, 2009:67) Die Revision des DSM-III (DSM-III-R) durch die APA ließ sogar direkte Parallelen zur stoffgebundenen Abhängigkeit erkennen - der einzige Unterschied zwischen den Krankheitsbildern war die weitere diagnostische Komponente des „Hinterherjagens“ („chasing“) von Spielverlusten beim pathologischen Glücksspiel. Das aktuelle DSM-IV-TR ist in Bezug auf die Diagnosekriterien für pathologisches Glücksspiel zwar differenzierter als seine Vorgänger, Parallelen zur Substanzabhängigkeit werden dennoch deutlich (vgl. APA, 2000:671ff.).

Die WHO übernahm dieses Störungsbild erstmalig mit der zehnten Revision der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“, die Anfang 1993 in Kraft getreten ist. Im Jahr 2001 wurde in Deutschland pathologsiches Glücksspielen als bisher einziger Vertreter der stoffungebundenen Süchte von den Spitzenverbänden der Krankenkassen und Trägern der Rentenversicherung als eine eigenständige, rehabilitationsbedürftige Krankheit anerkannt. Mittlerweile wird bereits überlegt auch andere Formen der stoffungebundenen Verhaltenssucht (z.B. Computerspielsucht) als eigene Störungsbilder in Diagnosesysteme aufzunehmen (vgl. BATTHYÁNY & PRITZ, 2009:3). HILDEBRANDT (2007:12) gibt allerdings zu bedenken, dass ein inflatorischer Gebrauch des Suchtbegriffs zur Etikettierung jeglichen menschlichen Verhaltens eine definitorische Unterscheidung einzelner Suchtformen unmöglich macht und weißt in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Verständnis von Sucht immer auch materielle und ideelle Interessen widerspiegelt - beispielsweise die eines gut ausgebauten Beratungsnetzwerkes und Therapiesystems mit all seinen ökonomischen Erfolgszwängen einer optimalen Kostendeckung - ebenso sind das gesellschaftspolitische Tendenzen, die zeigen, dass unerwünschte Verhaltensweisen durch Pathologisierung zu Kontrolle und Stigmatisierung führen (siehe Kapitel 3.2. „Glücksspiel aus rechtlicher Sicht“ zur staatlichen Monopolisierung des Glücksspiels). FENGLER (2002:240) spricht dabei von der Büchse der Pandora, die mit den neuen Süchten geöffnet wurde - Pandora, eine verführerisch schöne Frau, die zur Strafe der Götter zu den Menschen mit einem Gefäß gesandt wurde, dass alle Übel und Krankheiten enthielt - und uns damit die Ess-Sucht, die Magersucht, die Arbeitssucht, die Liebessucht, die Autorensucht, die Jogging-Sucht, den Gesundheitswahn, die Kreuzworträtsel-Sucht, die Spielsucht und die Sucht nach Neuem beschert hat, um nur einige Beispiele zu nennen.

Wäre es nach GEBSATTEL (1954:221) gegangen, würde Pandoras Box sinngemäß schon längst offen sein. Für ihn reicht nämlich der „ Begriff menschlicher Süchtigkeit viel weiter (…) als der Begriff der Toxikomanie es abgesteckt hat“, da seiner Meinung nach „jede Richtung des menschlichen Interesses süchtig zu entarten vermag.“ Ähnlich argumentiert auch TRETTER (2008:3ff.), der süchtiges Verhalten nicht nur auf den Substanzkonsum beschränkt, sondern ebenfalls Verhaltensweisen ohne den Konsum von Substanzen in seine Betrachtung einbezieht. Nach seiner Definition ist Sucht ein Extrempol eines Verhaltens, das sich entweder in einem unkontrollierten Gebrauch von psychoaktiven Substanzen oder in nicht mehr kontrollierbaren Verhaltensweisen ohne Substanzkonsum (stoffungebundene Süchte) äußert. Er spricht von Sucht, wenn eine extrem intensive Bindung einer Person gegenüber einem Objekt oder einem Verhalten andere Bereiche des Verhaltens bzw. des Lebens dieser Person negativ beeinträchtigt und das betreffende Verhalten selbst dann nicht aufgegeben wird. Zusammenfassend heißt es: „Jedes menschliche Verhalten kann süchtig entgleisen.“

Auf sozialpolitischer Ebene könnte die Ausweitung des Suchtbegriffs auf stoffungebundene Verhaltenssüchte und eine damit implizierte Anerkennung auch dieser Süchte als Krankheit eine erhebliche finanzielle Merhbelastung für die Kassen bedeuten. Einige Experten sehen jedoch in der Ausweitung des Begriffes „Sucht“ auf stoffungebundene Süchte eher die Gefahr, dass Definitionen, bei denen süchtig essen, arbeiten, spielen, kaufen usw. in einen Topf mit Drogensucht geworfen wird, die psychischen und körperlichen Schäden, die bei diesen Formen der Sucht relativ schnell und in einem stärkeren Ausmaß auftreten als bei stoffungebundenen Süchten, verniedlicht würden. (vgl. GROSS, 2003:34) Außerdem berge der inflationäre Gebrauch dieses Begriffs die Gefahr einer generellen Stigmatisierung von abweichendem Verhalten (vgl. FREY & HOYOS, 2005:178).

2.4. Sucht oder Abhängigkeit?

Die ursprünglich nur im medizinischen Bereich diskutierte Frage, welcher der Begriffe („Sucht“ oder „Abhängigkeit“) zur Einordnung stoffgebundenen süchtigen Verhaltens besser geeignet ist, gewinnt somit auch für die seit den 80er Jahren verstärkt ins Visier genommenen als neu propagierten stoffungebundenen Suchtformen (vgl. POPPELREUTER, 2009:23) immer mehr an Bedeutung, besonders mit Blick auf die seither von der Fachwelt geführte Diskussion, inwieweit stoffgebundenes und stoffungebundenes exzessives Verhalten in ihrer individuellen und gesellschaftlichen Brisanz vergleichbar sind. Dass der Suchtbegriff im medizinischen Bereich (aktuell ICD-10 und DSM-IV-TR) in seiner offiziellen Terminologie durch den Begriff der (stoffgebundenen) Abhängigkeit ersetzt wurde, scheint aus heutiger Sicht nicht unbedingt eine glückliche Wahl gewesen zu sein, vor allem deshalb, weil letzterer einerseits missverständlich aufgefasst werden kann und andererseits die verstärkt diskutierten stoffungebundenen Suchtformen ausschließt und damit dem Augenmerk der Forschung über viele Jahre entzogen hat.

Dies könnte sich jedoch bald ändern, da die American Psychiatric Association (APA) mit Blick auf das neue DSM-V die Aufnahme auch stoffungebundener Süchte (engl. „behavioural addictions“ oder „appetite disorders“) in Erwägung zieht. Darüber hinaus werden weitere Überlegungen zum zukünftigen Gebrauch der kontroversen Begriffe Missbrauch, Abhängigkeit und Sucht angestellt, die bereits im Zusammenhang mit stoffgebundener Sucht - von stoffungebundener Sucht einmal abgesehen - oft zu missverständlich Interpretationen geführt haben. (vgl. Internet 5)

Möglicherweise gewinnt dann der als stigmatisierend angesehene Terminus „Sucht“, der seit Einführung des Begriffs „Abhängigkeit“ aus dem Sprachgebrauch beider medizinischer Diagnosesysteme (aktuell ICD-10 und DSM-IV) verbannt wurde und somit gewissermaßen als Wort selbst einer Stigmatisierung zum Opfer fiel, wieder mehr an Bedeutung.

Laut O’BRIEN, VOLKOW und LI (2006:764ff.) fällt es Medizinern nämlich seither schwer, zwischen „compulsive drug-taking conditions” („Sucht“ im herkömmlichen Sinn als unkontrollierbares psychisches Verlangen (engl. „craving“) und physischer Abhängigkeit als Nebenwirkung bei Medikamenten (traditionell mit dem Begriff Abhängigkeit verknüpft) zu unterscheiden, da aktuell beides unter dem Begriff der „Abhängigkeit“ geführt wird. So würden beide Phänomene, Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen, im Sinne der aktuellen medizinischen Diognosesysteme als „Sucht“ im üblichen Sinn gedeutet, obwohl es sich vielleicht „nur“ um eine körperliche Abhängigkeit im Rahmen einer medikamentösen Behandlung handelt. Kritische Stimmen argumentieren, dass ein Vorteil, den die Verwendung des Begriffs “Abhängigkeit” im Hinblick auf soziale Stigmation haben mag in keinem Verhältnis zu dem Leiden stehe, das Patienten aufgrund fehlerhafter Interpretationen von “Sucht” und “Abhängigkeit” erdulden müssen. Des Weiteren würden Patienten nun eher auf die Vorteile einer medikamentösen Schmerztherapie verzichten, aus Angst abhängig („süchtig“) zu werden. PLANUM (in MÜLLER & MÖDE, 2001:12) merkt an, dass es in Bezug auf die „sehr negativen Konnotationen“ des Suchtbegriffes sowieso nicht so entscheidend ist, welche Bezeichnung für dieses Phänomen gewählt wird, wenn „Klarheit darüber herrscht, was man darunter zu verstehen hat“, da begriffliche Umbenennungen dieser Art längerfristig auch bei dem neuen Begriff negative Assoziationen wecken.

Die WHO hält sich diesbezüglich noch bedeckt, was sicherlich auch daran liegen mag, dass einem internationalen Klassifikationssystem, wie es die ICD der WHO für den medizinischen Bereich ist, ein hohes Maß an Abstraktion abverlangt wird, um letztendlich kulturelle, historische und soziologische Differenzen verschiedener Länder untereinander abstimmen zu können. Im Alltagssprachgebrauch sind „Sucht“ und „Abhängigkeit“ Ausdrücke, die eigentlich jeder kennt und die sicherlich von jedem schon einmal benutzt worden sind, ohne dabei jedoch bewusst zwischen diesen Begriffen zu unterscheiden.

Für viele mag der einzige Unterschied zwischen den beiden Begriffen darin liegen, dass „süchtig eher moralisch und altmodisch klingt, abhängig eher nüchtern und wissenschaftlich.“ (SCHEERER, 1995:25)

BOCHNIK (1988:636) sieht eine Gleichsetzung beider Begriffe jedoch kritisch, da zwar jeder Süchtige abhängig sei, aber nicht zwangsläufig jeder Abhängige süchtig. Er begründet dies damit, dass „Abhängigkeiten (…) in die normale Lebensführung integrierbar [sind], während süchtiges Verlangen selbstzerstörerisch ist.“ SCHEERER (1995:31f.) verweist darauf, dass Sucht definitionsgemäß im Extrem angesiedelt ist, wird sie schwächer, verliert sie ihren Suchtcharakter und „verschwindet im Meer der Abhängigkeiten.“ Abhängigkeit hingegen könne auf einem breiten Kontinuum gedacht werden, das von liebgewordenen Gewohnheiten, wie regelmäßig bestimmte Fernsehsendungen ansehen oder immer den gleichen Platz am Esstisch wählen über die emotionale Abhängigkeit unter Mitgliedern einer Familie, Freunden oder Liebenden bis hin zu biologischen Abhängigkeiten (z.B. Atmen, Essen, Trinken und Schlafen) reicht, wobei selbst substanzbezogene Abhängigkeiten, wie regelmäßiger Konsum von Alkohol und Tabak nicht zwangsläufig zu einer krankhaften Form der Abhängigkeit führen müssten.

WEBER (1984:173) sieht in beiden Arten dieser süchtigen Ausprägungen primär ein psychologisches Problem, das „ganz unabhängig von Suchtmitteln“ existiert. „Die Verfügbarkeit von Suchtmitteln gibt ihm eine neue Dimension, und es kann so weit kommen, dass man über die Beschäftigung mit den pharmakologischen Effekten der Suchtmittel das vorbestehende Suchtproblem ganz vergisst.“ Bei der Abhängigkeit steht demnach also nicht der Konsum eines Suchtmittels um seiner selbst Willen im Vordergrund, sondern lediglich seine Wirkung auf die Psyche. Auch SCHEERER (1995:28) sieht in der seelischen Abhängigkeit, die laut VOGT (in POPPELREUTER, 1997:24f.) zum Alltagsrepertoire des Menschen dazugehören und einen erheblichen Teil menschlicher Existenz überhaupt ermöglichen, die Hauptursache für das suchttypische „Nicht-Mehr-Aufhören“ können. Unter dieser Annahme bietet das Glücksspiel nach MEYER & BACHMANN (2005:44) die Gelegenheit, dem „Wesen süchtigen Verhaltens in seiner Reinform“ auf den Grund zu gehen, da im Gegensatz zu den stoffgebundenen Abhängigkeiten der Blick auf die „eigentliche Sucht“ nicht durch Veränderungen im Stoffwechsel oder dem Abbau von z.B. Gehrinsubstanz getrübt werde.

Da diese Form der Abhängigkeit, anders als bei körperlichen Abhängigkeiten, nicht apparatemäßig messbar ist, fällt eine diagnostiche Einordnung, ob denn nun konkret eine Abhängigkeit im Sinne einer Sucht vorliegt, aufgrund der unscharfen Trennung von Freiwilligkeit und Zwang bei psychischen Abhängigkeiten oft schwer. (vgl. STING & BLUM, 2003:29)

Es wird deutlich, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema von vielfältigen Definitionen und verwandten Begriffen geprägt ist, die verbunden mit der Problematik ihrer jeweiligen Abgrenzung sowie der inter- und intradisziplinär fehlenden Übereinstimmung zur Suchtthematik ihresgleichen sucht. Mit seiner Ausführung zur Sucht bringt WITT (in FREY & HOYOS, 2005:172) die scheinbar nicht enden wollende Definitionsproblematik süchtigen Verhaltens auf den Punkt. Er spricht von Sucht als „im Allgemeinen (...) unabweisbares, starkes Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- oder Bewusstseinszustand (...), der sowohl stoffgebunden sein kann (Alkohol, Medikamente, illegale Drogen) als auch stoffungebunden (Glücksspiel, Arbeit, Sex).“ Dabei gibt er aber zu bedenken, dass „»Sucht« und »Abhängigkeit« (...) oft gleichsinnig verwendet [werden] (...)“, der alte Suchtbegriff jedoch den Vorteil besitzt, „allgemein verbreitet und verständlich zu sein und sowohl die stoffgebundenen als auch die stoffungebundenen Süchte zu umfassen.“

Im deutschen Raum ist weiterhin eine Verwendung der Begriffe „Abhängigkeit“ und „Sucht“ möglich. „Abhängigkeit“ beschreibt überwiegend die pharmakologisch-physische Seite des Phänomens, wohingegen sich „Sucht“ auf seelische und soziale Begleit- und Folgeerscheinungen bezieht. (vgl. BASTIGKEIT, 2003:15) In diesem Sinn wird - wenn zukünftig von pathologischem Glücksspiel die Rede ist - der Begriff Glücksspielsucht verwendet und der Begriff stoffgebundene Sucht zur Beschreibung einer Abhängigkeit von psychotropen Substanzen („Abhängigkeit“) in Abgrenzung zu den ansonsten stoffungebundenen Süchten. Im Gegensatz zum medizinsichen Abhängigkeitsbegriff, der sich, wie schon erwähnt, an der „Substanzabhängigkeit“ orientiert, gibt es für die mittlerweile von vielen Fachvertretern kontrovers diskutierten stoffungebundenen Süchte keine verbindlichen diagnostischen Kriterien der Klassifikation. Als die wohl am besten erforschte exzessive Verhaltensweise bildet die Glücksspielsucht dabei die einzige Ausnahme.

3. Glücksspielsucht aus Sicht medizinisch-diagonistischer Klassifikationssysteme

Als eine Möglichkeit der Freizeitgestaltung bieten Glücksspiele für viele Menschen eine anregende Form der Unterhaltung, die oft problemlos und selbstverständlich in das Alltagsleben integriert werden kann. Für manch einen nimmt das Glücksspiel jedoch eine zu große Rolle im Leben ein. Riskantes Konsumverhalten und Verlust der Kontrolle über das Spiel sind oft die Folge. Das Ausmaß eines problematischen Glücksspielverhaltens kann von außenstehenden Dritten und vom Spieler selbst sehr unterschiedlich erlebt werden, was in Bezeichnungen wie intensives oder exzessives Spielen, Spielsucht, Vielspielen, problematisches oder pathologisches Spielen, süchtiges Spielen, zwanghaftes oder krankhaftes Spielen zum Ausdruck kommen mag, wobei diese Beschreibungen je nach persönlichem Verständnis individuell stark variieren können. Damit Fachleute genau wissen wovon die Rede ist, findet der wissenschaftliche Austausch auf der Grundlage international anerkannter klinisch-psychologischer Klassifikations- und Diagnosesysteme statt, aktuell dem ICD-10 der WHO und dem DSM-IV-TR der APA.

Beim „Pathologischen Glücksspiel“ (engl. „pathological gambling“ bzw. „compulsive gambling“) oder umgangssprachlich „Glücksspielsucht“, in der deutschen Version des ICD-10 etwas „unglücklich“ mit „Pathologisches Spielen“ übersetzt, handelt es sich nach beiden Klassifikationssystemen um ein Syndrom psychopathologischer Störungen der Impulskontrolle - gekennzeichnet durch destruktive Verhaltensweisen infolge unkontrollierbarer Impulse - auf der Verhaltens-, kognitiven und emotionalen Ebene. Ausschlaggebend dabei ist die Unfähigkeit dem Impuls beziehungsweise dem Trieb oder der Versuchung zu widerstehen, eine für andere Personen oder sich selbst schädliche Handlung auszuführen. (vgl. MEYER und BACHMANN, 2005:44) Zunächst verspürt der Betroffene zunehmende Spannung bzw. Erregung - „Wenn ich in die Nähe [eines Spielautomaten] komme, war es immer so ein kribbliges Gefühl“ (Interview/Anhang, Seite 51). Wird dem Impuls nachgegangen, kommt es zu einem Gefühl der Entspannung, Befriedigung, oder/und es bereitet Vergnügen. Nach der Handlung können Reue, Schuldgefühle oder Selbstvorwürfe auftreten. (vgl. MEYER & BACHMANN, 2005:44)

Glücksspielsucht ist also eigentlich keine Sucht, sondern eine Impulskontrollstörung, so dass Glücksspielmanie dem näher kommen würde. Da aber Impulserkrankungen Ähnlichkeiten mit anderen psychischen Störungen (z.B. Suchtkrankheiten) haben, bei denen ebenfalls der Ablauf von steigender innerer Spannung, Durchführung der Handlung, vorübergehende Entspannung und negative Gefühle charakteristisch ist (vgl. SCHÖPF & NEDOPIL, 2003:286), wird auch pathologisches Glücksspielen von vielen Fachleuten als Suchtverhalten im Sinne einer stoffgebundenen Abhängigkeit angesehen (vgl. Rosenthal & Lesieur in POPPELREUTER & GROSS, 2000:2). Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) in der Version IV und das ICD (International Classification of Diseases) in der Version 10 haben hinsichtlich der Klassifikation ähnliche, was die Kriterien zur Diagnose einer Glückspielsucht angeht allerdings unterschiedlich ausführliche Leitlinien.

3.1. Pathologisches (Glücks-)Spielen nach ICD-10

Innerhalb des ICD-10 wird Pathologisches Glücksspielverhalten im Rahmen der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6) unter abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63) in einer heterogenen „Restkategorie“ zusammen mit Kleptomanie, Pyromanie und Trichotillomanie (zwanghaftes Haare-Ausreißen) eingeordnet, wobei diese Einteilung nicht auf Gemeinsamkeiten spezifischer Merkmale beruht, sondern lediglich aufgrund deskriptiver Ähnlichkeiten innerhalb dieser Störungen vorgenommen wurde. Die Ursachen der einzelnen Störungsbilder sind unklar. (vgl. Internet 4)

Zur Klassifikation pathologischen Glücksspiels heißt es: „Die Störung besteht in häufigem und wiederholtem episodenhaften Glücksspiel, das die Lebensführung des betroffenen Patienten beherrscht und zum Verfall der sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen führt.“ (Internet 4) Von dieser Definition ausgenommen wird exzessives Spielen während manischer Episoden sowie bei einer dissozialen Identitätsstörung (früher multiple Persönlichkeitsstörung). In diesen Fällen wird das Verhalten als Symptom des Grundproblems angesehen. Ebenso kann eine geistige Behinderung zu widersinnig anmutenden Geldausgaben beim Spielen verleiten.

3.2. Pathologisches Glücksspiel nach DSM-IV-TR

Pathologisches Glücksspielen wird im aktuellen DSM-IV-TR (vgl. APA, 2000:671ff.) unter den Störungen der Impulskontrolle aufgeführt, die nicht anderweitig klassifiziert worden sind (312.31). Die Glücksspielsucht wird dort als chronisch-rezidivierendes (andauerndes und wiederkehrendes) maladaptives (fehlangepasstes) Spielverhalten charakterisiert, das sich in mindestens fünf der folgenden zehn diagnostischen Kriterien äußert (eigens übersetzt aus dem Englischen):

- Die Person ist gedanklich eingenommen vom Glücksspiel (z.B. geistiges Nacherleben vergangener Spielerfahrungen; Planen des nächsten Spiels; Nachdenken über Wege, Geld zum Spielen zu beschaffen).
- Immer höhere Einsätze oder Risiken sind nötig, um die gewünschte Erregung zu erreichen.
- Es wurden wiederholt erfolglose Versuche unternommen, das Glücksspielen zu kontrollieren, einzuschränken oder aufzugeben.
- Unruhe und Gereiztheit beim Versuch, das Spiel unter Kontrolle zu bekommen.
- Durch das Spiel soll Problemen oder einer bedrückenden Stimmung (z.B. Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld, Angst, Depression) Abhilfe geschaffen werden.
- Es wird über einen längeren Zeiraum krampfhaft versucht, Spielverluste wieder auszugleichen. Dem Verlust wird "hinterhergejagt" (engl. „chasing“).
- Der Betroffene belügt Familienmitglieder, den Therapeuten oder andere, um das Ausmaß seiner Verstrickung in das Spielen zu verschleiern.
- Die Person hat illegale Handlungen wie z.B. Fälschung, Betrug, Diebstahl oder Unterschlagung begangen, um das Spielen zu finanzieren.
- Der Betroffene hat eine wichtige Beziehung, seine Arbeit, Ausbildungs- oder Aufstiegschancen wegen des Spielens gefährdet oder verloren.
- Der Spieler verlässt sich darauf, dass ihm andere Geld bereitstellen, um die durch das Glücksspiel verursachte hoffnungslose finanzielle Lage zu überwinden.

Gleichzeitig muss jedoch differentialdiagnostisch (andere Diagnosen betreffend) das Vorliegen einer manischen Episode (Form affektiver Störungen) ausgeschlossen worden sein. Häufiges Glücksspielen ist vom pathologischen Glücksspielverhalten abzugrenzen, wenn die Person bei schweren Verlusten oder anderen negativen Auswirkungen ihre Gewohnheit einschränkt („Gewohnheitsspieler“). (vgl. ebd.)

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2011
ISBN (eBook)
9783842818767
DOI
10.3239/9783842818767
Dateigröße
852 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Lausitz – Sozialwesen, Studiengang Sozialarbeit/Sozialpädagogik
Erscheinungsdatum
2011 (Juli)
Note
1,0
Schlagworte
sucht glücksspielsucht glücksspiel suchtpersönlichkeit erklärungsansätze
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Titel: Glücksspielsucht als soziales/psychosoziales Problem in der Gesellschaft
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