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Behinderte Menschen zwischen Anerkennung und Missachtung

©2010 Diplomarbeit 87 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die hier vorgelegte Arbeit nimmt ihren Ausgangspunkt in der persönlich wahrgenommen Lebenssituation von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung. Sie basiert auf Erfahrungen einer nunmehr zehnjährigen Tätigkeit innerhalb der institutionalisierten Behindertenhilfe, die zum Entschluss geführt haben, diese einer grundsätzlichen Reflexion zu unterziehen.
Trotz der immensen sozialpolitischen und berufständischen Entwicklungsdynamik der letzten Jahre entstand der Eindruck, dass damit kein elementarer Wandlungsprozess in der Wahrnehmung und Anerkennung von Menschen mit einer Behinderung verbunden war, sondern vielmehr ein gesellschaftlicher Transformationsprozess nachgeholt und praktiziert wurde, welcher unter dem Begriff der Individualisierung subsumiert werden könnte. Diese Einschätzung wurde zudem verstärkt, als in Folge des Kostendrucks der öffentlichen Haushalte bzw. kommunalen Leistungsträger, unter Berufung auf fachliche Leitprinzipien (z.B. Selbstbestimmung), immer neuere Finanzierungsmodelle erprobt wurden, die auch mit den Stichwörtern Entprofessionalisierung bzw. Hilfemix und Wirkungsorientierung bzw. Kostenreduktion beschreibbar wären.
Das Recht auf Freiheit wird zur Pflicht der Eigenverantwortung, woraus nicht selten das scheinbar ambivalente Verlangen nach Schutz und Halt – ein menschliches Grundbedürfnis – erwächst. Ein Mehr an persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung war und ist mit der Auflösung traditioneller Vorgaben und Sicherheiten verbunden, und führt zwangsläufig zu einer höheren Anforderung an die Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen, die nicht zuletzt auch erlernt und erfahrbar gemacht werden muss.
Darauf basierend, dass ‘gesellschaftliche Entwicklungen (…) ihre Entsprechung in der individuellen Biographie’ haben, wollen wir die folgende Hypothese I formulieren:
Die Identität von Menschen (mit einer Behinderung) konstruiert sich anhand des sozialen Anforderungsprofils an eine Normalbiographie bzw. der Identitätsbildungsprozess spiegelt die kulturell geprägten Systemmechanismen einer Gesellschaft wider.
Grundlage bietet der soziale Konstruktivismus und die damit einhergehende Vorstellung, dass Normalität und Behinderung (oder Abweichung) auf gesellschaftlichen Vorgaben und Zuschreibungen beruhen und keine allgemeine und objektive Realität darstellen, ein Ansatz, den vor allem auch die Disability Studies aufzugreifen versuchen.
Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten ‘konstruieren […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsübersicht

1. Einleitung

2. Lebenssituation von Menschen (mit einer Behinderung)
2.1 (Kultur-)Historischer Rückblick
2.2 Integration und Desintegration
2.3 Inklusion und Exklusion
2.4 Wohlfahrtsstaat
2.5 Zusammenfassung

3. Anerkennung als Substanz des Menschen
3.1 Anerkennungstheoretischer Zugang
3.2 Korrelationen zwischen Anerkennung und Identität
3.3 Anerkennungskonzeption von A. HONNETH
3.4 Kritische Würdigung
3.5 Zusammenfassung

4. Fachwissenschaftliche Adaption
4.1 Aktuelle fachliche Prinzipien und Ziele
4.2 Reflexion unter anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten
4.3 Entwicklung eines eigenen Reflexionsmodells
4.4 Ableitungen und Erkenntnisgewinn
4.5 Zusammenfassung

5. Handlungsleitende Perspektiven
5.1 Soziale Arbeit in der (modernen) Gesellschaft
5.2 Anerkennung – als Fundamentum
5.3 Orientierungspunkte des professionellen Handelns
5.4 Zusammenfassung

6. Gesamtbetrachtung

7. Literatur

1. Einleitung

Die hier vorgelegte Arbeit nimmt ihren Ausgangspunkt in der persönlich wahrgenommen Lebenssituation von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung. Sie basiert auf Erfahrungen einer nunmehr zehnjährigen Tätigkeit innerhalb der institutionalisierten Behindertenhilfe, die zum Entschluss geführt haben, diese einer grundsätzlichen Reflexion zu unterziehen.

Trotz der immensen sozialpolitischen und berufständischen Entwicklungsdynamik der letzten Jahre entstand der Eindruck, dass damit kein elementarer Wandlungsprozess in der Wahrnehmung und Anerkennung von Menschen mit einer Behinderung verbunden war, sondern vielmehr ein gesellschaftlicher Transformationsprozess nachgeholt und praktiziert wurde, welcher unter dem Begriff der Individualisierung (vgl. BECK 1986) subsumiert werden könnte. Diese Einschätzung wurde zudem verstärkt, als in Folge des Kostendrucks der öffentlichen Haushalte bzw. kommunalen Leistungsträger, unter Berufung auf fachliche Leitprinzipien (z.B. Selbstbestimmung), immer neuere Finanzierungsmodelle erprobt wurden, die auch mit den Stichwörtern Entprofessionalisierung bzw. Hilfemix und Wirkungsorientierung bzw. Kostenreduktion beschreibbar wären.

Das Recht auf Freiheit wird zur Pflicht der Eigenverantwortung, woraus nicht selten das scheinbar ambivalente Verlangen nach Schutz und Halt – ein menschliches Grundbedürfnis - erwächst. Ein Mehr an persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung war und ist mit der Auflösung traditioneller Vorgaben und Sicherheiten verbunden, und führt zwangsläufig zu einer höheren Anforderung an die Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen, die nicht zuletzt auch erlernt und erfahrbar gemacht werden muss.

Darauf basierend, dass „gesellschaftliche Entwicklungen (…) ihre Entsprechung in der individuellen Biographie“ (DEDERICH 2001, 125; Auslassungen durch d. Verf.) haben, wollen wir die folgende Hypothese I formulieren:

Die Identität von Menschen (mit einer Behinderung) konstruiert sich anhand des sozialen Anforderungsprofils an eine Normalbiographie bzw. der Identitätsbildungsprozess spiegelt die kulturell geprägten Systemmechanismen einer Gesellschaft wider.

Grundlage bietet der soziale Konstruktivismus und die damit einhergehende Vorstellung, dass Normalität und Behinderung (oder Abweichung) auf gesellschaftlichen Vorgaben und Zuschreibungen beruhen und keine allgemeine und objektive Realität darstellen, ein Ansatz, den vor allem auch die Disability Studies (vgl. WALDSCHMIDT & SCHNEIDER 2007) aufzugreifen versuchen.

Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten „konstruieren [wir] ein Erklärungsgefüge und bringen so Ordnung und Sinn in die Welt unseres Erlebens“ (OSBAHR 2003, 30). Damit könnte das Phänomen Mensch mit einer Behinderung möglicherweise als Ergebnis einer wahrgenommenen Differenz von Eigenschaften, Verhaltensweisen, Fähigkeiten oder Kompetenzen einer Person beschrieben werden, deren objektiver Referenzpunkt den gesellschaftlich und kulturell definierten Normalzustand darstellt. Dabei schafft „die Gesellschaft (…) die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet“ (GOFFMANN 1967, 9 f.; Auslassungen durch d. Verf.)

Ein so gezeichneter Vorgang ist jedoch kein spezifischer (hier ein auf Menschen mit einer Behinderung bezogener), sondern ein in vielfältiger Weise auf Situationen und Personenmerkmale (z.B. Arme, Migranten, Arbeitslose, etc.) anwendbarer.

Dies wiederum könnte ein Hinweis darauf sein, dass innerhalb der konkreten Interaktionen von Menschen generalisierbare Erklärungs- und Bewertungsmuster präsent sind, die einen starken Einfluss auf die Biographie von Personen besitzen.

Das Kapitel 2 soll sich den Prozessen der Definition und des Umgangs mit dem Konstrukt Behinderung widmen.

Ausgehend von der (historischen) Reflexion sich wandelnder Menschenbilder und gesellschaftlicher Reaktionsmuster soll die grundsätzliche Korrelation zwischen Individuum und Gesellschaft verdeutlicht werden, die es in der Folge durch die Auseinandersetzung mit den Ideen der Integration, Inklusion und des Wohlfahrtstaates weiter zu qualifizieren gilt. Ziel ist die Entdeckung wirksamer Faktoren, anhand derer sich der menschliche Identitätsbildungsprozess rekonstruieren und beschreiben lässt. Die daraus gewonnen Erkenntnisse werden anschließend in einen theoretischen Kontext gestellt und anhand des normativen Modells der Anerkennung von A. HONNETH reflektiert, woraus sich die Hypothese II ergibt:

Mit Hilfe der Anerkennungstheorie von A. HONNETH können interpersonale Mechanismen transparent gemacht werden, die Einfluss auf die menschliche Biographie besitzen. Im Fall von Menschen mit Handicaps können dadurch insbesondere Behinderungs- bzw. Missachtungsfaktoren abgeleitet werden.

Um dies zu belegen, nimmt das Kapitel 3 seinen Ausgangspunkt im grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der Identität des Menschen und der Notwendigkeit von anerkennenden, sozialen Reaktionen. In der anschließenden Diskussion um die Annerkennungstheorie von A. HONNETH und unter Zuhilfenahme der Formen der Liebe, des Rechts und der Solidarität werden Rahmenbedingungen aufgezeigt, die zu einer gelungenen und selbstbewussten Balance von sozialer Eingebundenheit und Individualität führen bzw. ein Scheitern bedingen können.

Einschränkend muss erwähnt werden, dass hier nur ansatzweise das theoretische Gedankengebäude reflektiert und kritisch hinterfragt werden kann. Eine vertiefte Diskussion müsste einer weiterführenden Arbeit vorbehalten bleiben.

Insgesamt wird deutlich, dass es sich bei der Anerkennungstheorie um einen (anthropologischen) Ansatz handelt, der sehr wohl auch die Bedürfnisse und den Lebenskontext von Menschen mit Behinderung zu erfassen vermag.

Damit stellt sich die Frage, welchen Beitrag und Erkenntnisgewinn behindertenpädagogische Leitideen und Prinzipien leisten, insbesondere wenn man sich deren mittlerweile inflationären Gebrauch vergegenwärtigt. Aus diesem Grund wollen wir die Hypothese III aufstellen:

Die Diskussionen um Leitprinzipien innerhalb der Behindertenpädagogik erfassen nur teilweise die Lebenssituation der Menschen, da sie die vorliegende Multidimen-sionalität (Vorhandensein von Dualismen), Multiperspektivität (Vorhandensein unterschiedlicher Betrachtungsebenen) und Subjektivität verkennen.

Nachdem bereits herausgearbeitet wurde, dass es eines differenzierten und qualifizierten Zugangs bedarf, welcher sowohl die Lebenswelt als auch die Lebenslage (in Anlehnung an SCHÜTZ und WEISSER) eines Menschen mit einer Behinderung zu erfassen vermag, sollen die bisher gewonnenen Ergebnisse in Kapitel 4 aufgegriffen und vertieft werden. In der Reflexion fachlicher Prinzipien und Ziele werden Ansatzpunkte des professionellen Handelns identifiziert und durch den Abgleich mit den Dimensionen der Anerkennungstheorie in einen übergreifenden Bezugsrahmen gestellt.

Beeinflusst durch die Systemtheorie wird damit auch ein „Denken in Strukturen und Situationen statt in Personen, [ein] Denken in Dynamiken und Verläufen statt in Zuständen, [ein] Denken in Konflikten, in Gegenwehr und Eigenaktivität statt in passiven Ausgeliefertsein (…), [ein] Denken in (vorenthaltenen) Beteiligungen und Ressourcen statt in (kumulierten) Defiziten, [ein] Nachdenken und Forschen über die verschiedenen Ausschließer (…) statt über die Ausgeschlossenen [möglich]“ (STEINERT 2003, 283; Auslassungen durch d. Verf.).

In der Folge wird ein eigenes Modell entworfen, welches die Lebenssituation als abhängig von verschiedenen individuellen und sozialen Faktoren und Mechanismen begreift und somit „subjekttheoretisch nach dem Selbst des Individuums, seinen Bedürfnissen für die Integrität und Anerkennung, (…) sowie gesellschaftstheoretisch nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen jenes Bedürfnis befriedigen zu können“ (HECK 2002, 178; Auslassungen durch d. Verf.) fragt.

Durch die Anwendung dieses Reflexionsrasters wird die Komplexität innerhalb der jeweiligen Lebenskontexte sichtbar gemacht, ohne abschließend determinierend zu wirken.

Dies ergibt sich auch aus der Annahme, dass es keinen objektivierbaren Ideal- oder Zielzustand menschlichen Lebens gibt, auf den die Soziale Arbeit hinführt. Daraus leitet sich ein höchst subjektiver Unterstützungsprozess ab, der gleichermaßen für alle Menschen Gültigkeit besitzt (Hypothese IV) .

Transferiert auf den fachspezifischen Diskurs würde dies „das [sich] Einlassen auf die eigensinnigen Erfahrungen der AdressatInnen“ (KLEVE 2007, 41) bedeuten, da individuelle Unterstützung und deren Erwünschtheit bzw. Wirkung von der subjektiven Bewertung abhängt und somit niemals normiert und verallgemeinert werden darf.

Soziale Arbeit leistet damit einen Beitrag zur (Wieder-)Erlangung eines befriedigenden Subjektstatus und zur Minimierung gesellschaftlicher Risiken und Einschränkungen in der Ausgestaltung der eigenen Lebensbiographie. Dies erfordert zudem eine Haltung der kritischen Selbstreflexion, die das eigene Handeln im Kontext systemstabilisierender und hemmender Faktoren begreift. Das Kapitel 5 wird diese Impulse aufgreifen und in einen Handlungsvorschlag überführen.

Insgesamt wird mit der Adaption der Anerkennungstheorie in den behindertenpädagogischen Diskurs das Ziel verfolgt, eine ethische Orientierungshilfe für das professionelle Handeln zu schaffen, die es ermöglicht, Einzelfragen und -situationen von Menschen innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses begreifbar zu machen. Hierzu kann diese Arbeit nur einen ersten Impuls liefern, da, wie bereits angedeutet, an verschiedenen Stellen eine vertiefte Auseinandersetzung und empirische Überprüfung notwendig wäre.

2. Lebenssituation von Menschen (mit einer Behinderung)

„Es ist das Menschenbild in unseren Köpfen,

das die gesellschaftliche Praxis hervorbringt,

die ihrerseits wiederum das Menschenbild konstituiert

wie modifiziert. Diese Dialektik ist nicht zu negieren.

Sie umfaßt die beiden Gesichter unserer individuellen

wie gesellschaftlichen Realität. Verweisen wir auf die

Gesellschaft und ihre der Integration abträglichen

Praxen, zeigt der Finger auf uns selbst zurück, auf

unsere Auffassungen, was denn der Mensch und was

Behinderung bzw. ein behinderter Mensch sei.“

(FEUSER 1996, o.S.)

2.1 (Kultur-)Historischer Rückblick

Nach wie vor ist der „alltägliche Umgang mit Menschen mit Behinderung (…) in einem großen Maße von (meist nicht explizierten bzw. reflektierten) Menschenbildern bestimmt“ (KULIG 2006, 32; Auslassungen durch d. Verf.). Dabei korrelieren die geäußerten Gefühle und Verhaltensmuster (wie z.B. Angst, Unsicherheit, Ablehnung, Missachtungen, etc.) sehr stark mit dem Grad der Wahrnehmbarkeit und Evidenz (GOFFMANN) bestimmter Merkmale des Gegenübers, die entweder nicht mit den gestellten Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft an das Individuum oder den eigenen Vorstellungen eines gelungenen Lebens übereinstimmen.

Es geht also um die Verhältnisbestimmung des Individuums zum Selbst und zur Gesellschaft, deren Wechselwirkungen und dessen Bedeutung, Funktionalität und Stellung.

Ein solch umfassendes Thema sprengt den hier vorgegebenen Rahmen. Dennoch erscheint es notwendig, wenn auch nur stark verkürzt und skizzenhaft, ein Rückblick zu unternehmen, der nach den vorherrschenden, kulturell bedingten (historischen) Menschenbilden, den Auswirkungen auf die Identitätskonstruktionen und möglicher Versagenskonsequenzen fragt.

Ziel ist, Ableitungen auf die besondere Lebenssituation von Menschen mit einer Behinderung treffen zu können, die für den weiteren inhaltlichen Fortgang von Relevanz sein könnten.

Ausgehend vom Mittelalter sollen insbesondere das Zeitalter der Aufklärung/Moder-ne und der sogenannten 2. Moderne/Postmoderne betrachtet werden. Dabei soll das Hauptaugenmerk nicht auf die eindeutige epochale Abgrenzung gelegt werden, als vielmehr auf die den einzelnen Phasen zugrunde liegenden, differierenden Bilder und (Ordnungs-)Muster, die auf den individuellen Identitätsentwicklungsprozess einwirken. Gleichzeitig soll hier auch nicht eine Reflexion und Bewertung des Begriffs der Postmoderne vorgenommen werden, zumal der Begriff wie auch die Diskussion darüber den Inhalt der Differenz und Ambivalenz sehr gut widerspiegelt.

Das mittelalterliche Leben muss im Kontext der damals vorherrschenden Weltanschauung betrachtet werden. Insbesondere die Wirksamkeit der christlichen Auffassungen und Auslegungen hatten hohen Einfluss. Das alltägliche Geleitetwerden innerhalb einer transzendenten, göttlichen Ordnung und

(Vor-)Bestimmtheit des eigenen Lebens war maßgeblich und gegeben.

"Der Einzelne strebte danach, eine stabile Position innerhalb der Ordnung der Dinge einzunehmen. Die Erhaltung des Hauses, des Besitzes und der familiären Position war der Zweck des individuellen Daseins. Ziel des Lebens war es, der Ordnung des Seins näher zu kommen, und die Identität galt dann als erfüllt, wenn man den zugedachten Platz in den bestehenden Strukturen angemessen ausfüllte und dafür öffentliche Anerkennung erlangte" (WALDSCHMIDT 1999, 29 ff.).

Härten im Leben (Armut, Behinderung, etc.) galt es als individuelle Last zu ertragen. Mitbedingt durch die Auffassung einer engen Verknüpfung zwischen individuellem Schicksal (Versagen) und Sünde resultierten gesellschaftliche Reaktionen, die von Maßnahmen der Internierung über Folter bis hin zur Tötung von Menschen reichten. Der Wert gewisser Menschen wurde demzufolge als minderwertig eingestuft und bedurfte somit keiner besonderen rechtlichen bzw. gesellschaftlichen Sorgfaltspflicht. Dabei soll jedoch nicht vernachlässigt werden, dass es sehr wohl auch Menschen und Gemeinschaften gab, die sich dieser Personen annahmen.

Ein grundsätzlicher Wandel wurde erst mit dem Zeitalter der Aufklärung eingeläutet. Der beginnende (geisteswissenschaftliche) Emanzipationsprozess kritisierte die bestehenden christlich-moralischen Vorstellungen und obrigkeitsbezogenen Denkweisen und ermöglichte einen „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, um sich somit „seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen“ (KANT 1784).

Die Individualisierung und Rationalisierung des Lebens, welche auch neue Sozialisationsformen und ökonomische Gegebenheiten, z.B. durch die fortschreitende Industrialisierung hervorbrachte, bedingte im Gegenzug eine bestimmte Erwartungshaltung (Pflicht) in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Person, sich an den gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Es ging darum, die individuellen Freiheiten vernunftbegabt zu handhaben und die vorhandenen Fähigkeiten zum Wohle der Gemeinschaft einzubringen. Um dies wiederum (dauerhaft) zu gewährleisten, erlangten die Institutionen der Erziehung und Wissensvermittlung eine stetig wachsende Bedeutung. Die damit einhergehende Normierung schien unabdingbar für den Erhalt und Fortbestand der Gesellschaft.

Damit standen der Idee einer uneingeschränkten individuellen Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit normative Vorgaben und gesellschaftliche Kontrollmechanismen gegenüber. „Der Blick, der wissen und erkennen will, verbündet sich mit dem Blick der kontrollieren und disziplinieren will“ (WALDSCHMIDT & SCHNEIDER 2007, 65).

Die Zunahme von Rechten und Freiheiten bedingte im Gegenzug die Übernahme von Verpflichtungen und Anpassungsfähigkeiten. Die Identität der einzelnen Personen formte sich somit im Spagat zwischen Individualität und Konformität, d.h. im Bewusstsein um die ganz persönlichen Fähigkeiten und Entwicklungspotentiale und dem Wahrnehmen von (gesellschaftlich) geforderten Eigenschaften.

An die Stelle der im Mittelalter vorgegebenen Standes- und Klassenordnungen traten nun neue Bewertungs- und Selektionskriterien: Wissen und Leistung.

Qualitativ neu war jedoch das Verständnis der eigenen Verantwortung und Möglichkeiten für ein gelungenes Leben, d.h. es oblag nicht mehr einer vorgegebenen, nicht zu beeinflussenden Struktur, sondern ganz im Gegenteil dem individuellen Willen und vorhandenen (Wissens-)Potential, das eigene Leben (die Welt) zu gestalten, zu kontrollieren und weiterzuentwickeln.

Doch was passierte mit Personen, die eben in einer solchen Logik nicht Schritt halten und trotz aller Erziehungs- und Bildungsbemühungen den geforderten Erwartungen nicht genüge leisten konnten?

„Als Unvernünftige sind geistesschwache und verrückte Menschen keine Rechtssubjekte; als Unverantwortliche können sie jedoch auch nicht bestraft werden" (WALDSCHMIDT 1999, 36). Explizit bedeutete dies den gesellschaftlichen Ausschluss bzw. die damit einhergehenden Stigmatisierung als nicht vollwertiges Mitglied, deren extreme Variante und Konsequenzen wir innerhalb der NS-Zeit erlebten.

Bisher ließ die vergangenheitsbezogene Erzählweise vermuten, dass die Gegenwart ein konträres Bild des bisher Gesagten darstellt. Wie bereits erläutert, kann im Rahmen dieser Arbeit die Frage nicht aufgelöst werden, ob sich nun ein wirklicher gesellschaftlicher Transformationsprozess vollzogen hat oder ob wir uns in einer anderen Form der Moderne befinden (vgl. BECK 1986).

Unabhängig davon wird hier die Ansicht vertreten, dass mit dem Begriff der Postmoderne neue Facetten in den Blick geraten, die mit der bisherigen modernen Denkweise nicht begründbar erscheinen.

„Allgemein bezeichnet Postmoderne in der Soziologie die Gesamtheit gegenwärtiger soziokultureller Prozesse, die auf eine zunehmende Differenzierung und Pluralisierung von weltanschaulichen Orientierungen, Wertsystemen, Einstellungen, Lebensstilen, Verhaltensweisen und Formen sozialer Beziehungen hinauslaufen, verbunden mit einer Zunahme von Orientierungsschwierigkeiten, Gegensätzen, Widersprüchen und Konflikten, aber auch von Möglichkeiten autonom-individueller Lebensgestaltung“ (HILLMANN 1994, 683).

War noch die Moderne von einem ungebrochenen Fortschrittswillen und dem Glauben an die Wissenschaft und Wahrheit geprägt, zeichnet sich die Postmoderne durch Vieldeutigkeit, Vielfältigkeit und Ambivalenzen aus. Diese Erschütterung bezeichnet LYOTARD nicht als grundsätzliche Absage an die Rationalität, sondern seine Kritik wendet sich eher gegen eine historische Rationalität, welche das Heterogene verneint (vgl. LYOTARD 1999).

Transferiert auf die gesellschaftliche Situation ist sowohl ein Schwinden universeller Werte und Normen, als auch ein Wachsen von Selbstbestimmungs- und Autonomiepotentialen zu verzeichnen. Der Pluralisierung der Lebensstile und Individualisierung der Lebenslage steht das menschliche Bedürfnis nach Halt und Sicherung der eigenen Existenz gegenüber. Durch die voranschreitende Mobilität und Flexibilität (im Rahmen der Informations- und Mediengesellschaft) stehen jedoch auch für die einzelne Person ganz neue Möglichkeiten offen, den Ort und Kontext zur Befriedigung dieses Bedürfnisses selbst zu bestimmen, ohne dabei zeitlich oder örtlich gebunden zu sein. Die Steigerung der individuellen Freiheit korreliert dabei mit der erhöhten Anforderung und dem Erfordernis (an) gewisse Persönlichkeitsmerkmale, wie Extrovertiertheit, Selbstsicherheit und Selbstwertge­fühl.

Damit einher gehen die Gefahr des individuellen Versagens und die damit verbundenen (gravierenden) Konsequenzen für den menschlichen Identitätsbildungsprozess. Bezogen auf so genannte marginalisierte Personengruppen (z.B. Menschen mit Behinderungen) sind Emanzipationsprozesse zu erkennen, die durch diverse rechtliche Grundlagen (z.B. UN-Konvention) untermauert werden: „Es ist eine nachholende Befreiung, eine Befreiung, die andere Gruppen schon längst für sich vollzogen haben, etwa die Arbeiter mit der Gewerkschaftsbewegung und die Frauen mit der feministischen Bewegung. Als einer der letzten Nachzügler unter den bisher von der Idee der Selbstbestimmung Ausgegrenzten reklamiert nun auch die Gruppe der gesundheitlich beeinträchtigten Menschen elementare Bürgerrechte für sich“ (WALDSCHMIDT 1999, 43).

Gleichzeitig ist aber auch ein Rückbau der sozialen Sicherungssysteme bzw. der schleichende Rückzug des Wohlfahrtsstaates zu verzeichnen, womit wiederum das individuelle Existenzrisiko steigt und die (gesellschaftliche) Solidarität und Sorgfaltspflicht in die Selbstverantwortung jedes Einzelnen und die Fähigkeit zur Gestaltung und Bildung tragfähiger sozialer Netzwerke gelegt wird. Was mit Menschen passiert, für die eine solche Basis nicht besteht bzw. die sozialen Sicherungssysteme sich nicht zuständig fühlen, ist alltäglich zu beobachten.

Für den Personenkreis von Menschen mit einer Behinderung scheint (noch) ein gewisser Schutzraum vorhanden zu sein, indem zwar die formale Anerkennung grundlegender Selbstbestimmungsrechte und die Aufforderung zur Selbstverantwortung weiter unterstützt und gestützt wird, gleichzeitig aber (zumindest noch aktuell) besonder(nd)e soziale Dienstleistungen gefördert werden.

Scheinbar ist nach wie in der gesellschaftlichen Exklusion ein besonderes Risiko zu sehen, nachdem zumindest die elementaren (physiologischen) Grundbedürfnisse (vgl. MASLOW 1981) nicht zur Disposition stehen.

Deutlich wird aber auch, dass die soziale Anerkennung der (behinderten) Gesellschafsmitglieder im Sinne einer Gleichheit und Gleichwertigkeit nach wie vor eine große Herausforderung darstellt und trotz zunehmender Pluralität und Heterogenität noch lange nicht erreicht ist.

Die wesentlichen (verkürzten) Kernaussagen wollen wir nochmals in der anschließenden Übersicht wiedergegeben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

An dieser Stelle können wir festhalten, dass sich in den vergangenen Jahrhunderten ein gesellschaftlicher Wandlungsprozess vollzogen hat, der massive Auswirkungen auf alle (auch behinderten) Mitglieder hatte bzw. nach wie vor hat. Es zeigte sich ferner, dass der menschliche Identitätsbildungsprozess auf dem Kontinuum zwischen individueller Freiheit (Autonomie/Selbstbestimmung) und gesellschaftlicher (systemischer) Rationalität (Heteronomie/Fremdbestimmung) verläuft, wobei hier im Laufe der Jahre eine Verschiebung zugunsten der Selbstbestimmungspotentiale des Individuums erfolgte. Diese Tendenz ist auch im Fall der Menschen mit einer Behinderung zu rekonstruieren, wobei sie scheinbar in einer zeitlichen Verzögerung zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen auftritt.

Eine Ableitung, die wir an dieser Stelle vornehmen können, ist, dass der Mensch um eine sogenannte Wir-Ich-Balance (vgl. ELIAS 1987) bemüht ist, indem er die in der jeweiligen Situation, im jeweiligen Milieu bzw. Gesellschaftsstruktur überproportional vorherrschenden Anteile zu kompensieren versucht. Dies könnte bedeuten, dass gesellschaftlichen und strukturellen (normierende) Elementen durch ein individuelles Freiheitsstreben begegnet wird. Umgekehrt bewirken übermäßige Selbstbestimmungspotentiale das Bedürfnis nach Sicherheit und (Zusammen-)Halt. Dieses dialektische Verhältnis ist dabei höchst individuell ausgeprägt und situativ ambivalent.

BAUMANN formuliert das Postulat der Postmoderne als ein Leben mit Ambivalenzen (vgl. BAUMANN 1995). Wenn Ambivalenz beobachtet und erfahren wird, kann von mindestens zwei gegensätzlichen Positionen ausgegangen werden. Dies ist nichts Neues. Anders ist jedoch dessen qualitative Bewertung, d.h. dass mehrere Sichtweisen zur Betrachtung und Bewertung zugelassen werden, die nicht zwanghaft in ein entweder - oder überführt werden müssen, sondern gleichberechtigt nebeneinander Bestand haben. Ausgehend von diesem postmodernen Impuls vollen wir uns nun in der Folge den Begriffspaaren Integration-Desintegration und Inklusion-Exklusion zuwenden, um dabei die Korrelation zwischen Individuum (Mensch mit einer Behinderung) und Gesellschaft differenzierter zu beleuchten.

2.2 Integration und Desintegration

Versucht man sich dem Begriff der Integration zu nähern, so muss man feststellen, dass die Suche nach einer allgemeingültigen Definition nicht zum erhofften Erfolg führt. Es zeigt sich eine Vielfalt von Zugängen, die auf unterschiedliche Kontexte ihre ganz spezifische Anwendbarkeit finden. „Dabei wird nicht nur der Begriffsinhalt unterschiedlich interpretiert, sondern es werden auch verschiedene Bezugsrahmen, (…), in den Vordergrund gerückt“ (EXNER 2007, 39; Auslassungen durch d. Verf.).

Nun können wir rekapitulieren, dass der Versuch einer Betrachtungsweise unternommen werden soll, die eben nicht a priori eine Kategorisierung und Spezifizierung vornimmt. Deshalb sind Definitionen, die Integration als „eine subjektive und tatsächliche Eingliederung des Behinderten in den Sozialverband der Nichtbehinderten auf einem Kontinuum von Möglichkeiten, die zwischen den Polen von vollständigem Angenommensein und vollständiger Isolierung auszumachen sind“ (BLEIDICK 1988, 54) oder als „soziale Eingliederung behinderter Menschen in natürliche und kulturell gewachsene Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen im Lernen, Spielen, Arbeiten und Geselligsein gemäß den eigenen Bedürfnissen“ (SPECK 2008, 386) beschreiben, nicht zielführend.

Zwar werden Themen der Akzeptanz und Solidarität angedeutet, jedoch bleiben Vorgänge und strukturelle Bedingungen unhinterfragt, die zum Ausschluss von Gesellschaftsmitgliedern führen. Vielmehr kommen Ansätze, die gesellschaftliche Stigmatisierungsprozesse problematisieren, dem verfolgten Ansinnen näher. So verbindet FEUSER mit „Integration’ (…) eine umfassende Absage an die Mechanismen der ,Selektion’, der ,Aussonderung’, des ,Ausschlusses’“ (FEUSER 2003, o.S.).

Ebenso definieren CLOERKES & MARKOWETZ Integration als „ein auf Solidarität und Emanzipation ausgerichteter sozialer Interaktionsprozess, der vor dem Hintergrund des 'Symbolischen Interaktionismus' und der Stigma-Theorie (...) auf soziale Zuschreibung und Etikettierungen verzichtet und damit das Behindertsein als etwas normales belässt und nicht 'besondert'" (CLOERKES & MARKOWETZ 2003, 452 f.; Auslassungen durch d. Verf.).

Der Begriff der Integration spiegelt somit die Dialektik zwischen der Notwendigkeit eines umfassenden solidarischen Verständnisses der Gesellschaft gegenüber der Vielfalt seiner Mitglieder bzw. der Anerkennung von individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen und der Feststellung des Fehlens einer solchen Grundlage, die wiederum zum Ausschluss von Menschen beiträgt, wider.

„In der Konsequenz geht es in einer Gesellschaftsformation, die historisch auf gesellschaftliche Selektion und Segregation ausgerichtet ist, darum, soziale Verhältnisse in ihrer gesamten Komplexität, derer der Mensch zu seiner Entwicklung bedarf, (wieder-)herzustellen“ (STEIN 2008, o.S.).

Damit werden (wieder) zwei wesentliche Elemente aufgegriffen: zum einen die Komplexität (oder zumindest die nicht vorhandene Eindimensionalität) und zum anderen die identitätsbildende Wirkung des gesamten Vorgangs. Außerdem wird deutlich, dass es einer qualitativen Ausdifferenzierung des Begriffes bedarf, um sowohl die systemischen als auch sozialen Komponenten von (Des-)Integration herauszuarbeiten.

HEITMEYER/ANHUT haben in Anlehnung an PETERS einen Ansatz entwickelt, der verschiedene Integrationsdimensionen unterscheidet:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: ANHUT und HEITMEYER 2000, 48

„Die Stärke des Ansatzes liegt in der systematischen Berücksichtigung einzelner Ebenen und deren Differenzierung. Um nämlich in einer befriedigenden Art und Weise zu gesellschaftlicher Integration zu gelangen, muss auf der sozialstrukturellen Ebene das Problem der adäquaten Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft geregelt sein; auf der institutionellen Ebene muss ein fairer und gerechter Ausgleich konfligierender Interessen auf der Basis von Gleichwertigkeit sicher gestellt sein, ohne dass die Integrität der Beteiligten Personen Schaden nimmt; und auf der personellen Ebene geht es um die Herstellung emotionaler und expressiver Beziehungen zwischen den Menschen, weil nur so Sinnstiftung und Selbstverwirklichung möglich wird“ (HEITMEYER/IMBUSCH 2005, 61).

Wesentlich erscheinen in einer solchen Betrachtungsweise, dass ganz unterschiedliche Perspektiven von der Makro- bis zur Mikroebene eingenommen werden können. Es wird dadurch vor allem auch die Vernetztheit und Vielschichtigkeit deutlich, so dass z.B. kulturelle Einflussfaktoren Auswirkungen auf individuelle Handlungsoptionen besitzen. Damit wird der Begriff der Integration mit Qualitätskriterien operationalisiert, anhand derer man einen Ausgangspunkt für einen möglichen Grad der (sozialen) Integration eines Menschen bzw. des Integrationspotentials eines Systems (was LUHMANN mit Inklusion bezeichnen würde) bestimmen kann. „Insofern sind in Bezug auf die Bestimmung der Position von Subjekten im Verhältnis zur Gesellschaft die realen gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem juxastrukturellen Bedingungsgefüge bezüglich der Persönlichkeitsentwicklung / Subjektwerdung jeweils zu untersuchen – dies konkret als Entwicklung unter kapitalistischen Entfremdungsbedingungen mit der Folge, dass sich die objektiven gesellschaftlichen Widersprüche in den Grundlagen der Persönlichkeit festsetzen und als Identitätsbeschädigung, als Entfremdung des Menschen vom Menschen und sich selbst auftreten können“ (STEIN 2008, o.S.).

Neben aller Determiniertheit wollen wir nicht die unterschiedlichen subjektiven Kompetenzen der Personen vergessen, ihre ganz individuellen Lösungsansätze für vorgefundene Situationen oder in der Verarbeitung von Erfahrenem zu finden. Jedoch ist die vorhandene Dialektik (vgl. Zitat FEUSER S. 7 der vorliegenden Diplomarbeit), auch durch die Einführung und Zuordnung einer Anerkennungsform, mit dem Rückbezug auf die Identität und die Notwendigkeit für den menschlichen Entwicklungsprozess, nicht zu verneinen. Diese Verknüpfung werden wir noch ausführlich im 3. Kapitel aufgreifen und versuchen anhand der Anerkennungstheorie von A. HONNETH weiterzuentwickeln.

An dieser Stelle gilt es festzuhalten, dass die natürliche Spannung zwischen Subjekt und Gesellschaft/Gemeinschaft einer qualitativen Differenzierung bedarf, die sowohl individuelle-bedürfnisorientierte, strukturelle-systemische als auch kulturelle-soziale Elemente in sich trägt. Hierzu konnten die vorgestellten Integrationsdimensionen einen Beitrag leisten. Zudem wird deutlich, dass es keines behinderungsspezifischen Integrationsbegriffs bedarf, sondern es um die individuelle Operationalisierung grundsätzlicher (alle Menschen betreffender) Fragestellungen und Realitäten geht. Diesen Grundansatz wollen wir weiter verfolgen und immer wieder versuchen mit der konkreten Lebenssituation von Menschen mit einer Behinderung rückzukoppeln.

2.3 Inklusion und Exklusion

„Die Unterscheidung Inklusion/Exklusion beschreibt zunächst ganz allgemein, wie in der funktional differenzierten Gesellschaft Menschen als Personen an den Leistungskreisläufen der Funktionssysteme mittels symbolisch generalisierter Kommunikationsmittel (z.B. Geld, Macht, Liebe, Recht, Glaube etc.) teilnehmen können“ (KLEVE 2007, 157), so die systemtheoretische Sichtweise.

Da wir ja zwischenzeitlich gelernt haben, dass sich die Gegenwart durch ihre Vielfältigkeit und Pluralität auszeichnet, müssen wir auch an dieser Stelle die Hoffnung aufgeben, die eine Erläuterung gefunden zu haben. Wieder einmal stößt man auf eine weitreichende Diskussion über einen mittlerweile fast schon inflationär gebrauchten Begriff. Fokussieren wir uns auf den pädagogischen Diskurs, so reicht das Spektrum, insbesondere in der Abgrenzung zum Integrationsbegriff, von einem rein terminologischen Ersatz (Inklusion = Integration) bis hin zu einem qualitativ neuen Paradigma (Inklusion = erweiterte und optimierte Integration) (vgl. SANDER 2001, o.S.).

Einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung des Begriffs über den anglo-amerikanischen Sprachraum hinaus leistete die Salamanca-Konferenz. Unter dem Stichwort Bildung für Alle berieten sich 92 Regierungen und internationale Organisationen über den rechtlichen und strukturellen Veränderungsbedarf, um diesem Ziel näher zu kommen. Wie 1994 hat Deutschland auch 2009 (UN-Konvention) das Abkommen ratifiziert. Was sich dadurch verändert hat und weiterhin verändern wird, bleibt zumindest stellenweise ebenso unbestimmt, wie die Übersetzung.

Dennoch ist zu fragen, ob es ein Zufall ist, dass genau in diesem (historischen) Zeitraum eine gesellschaftliche Diskussion über den Ausschluss und die Diskriminierung von bestimmten Personen mit besonderen Bedürfnissen angestrengt wird. Dabei kommen die der Postmoderne entliehenen Begriffe einer Definition gelegen, die Inklusion „als gesellschaftliche und pädagogische Vision [versteht], die Heterogenität in all ihren Facetten wahrnimmt, wertschätzt und produktiv nutzt“ (HINZ/BOBAN 2008, 204).

Hatten wir uns bereits im vorigen Kapitel von einem zu stark kategorisierenden Integrationsbegriff verabschiedet und durch die zur Hilfenahme der Dimensionen von ANHUT/HEITMEYER eine qualitative Differenzierung vorgenommen, so ist an dieser Stelle zu bemerken, dass durch den hier gewählten Inklusionsbegriff die Diskussion nochmals eine verstärkte gesellschaftspolitische Akzentuierung erhält.

Es wird nicht mehr der Fokus auf eine besondere Gruppe oder bestimmte Merkmale von Menschen gelenkt, sondern es geht faktisch um die Anerkennung der Verschiedenheit bzw. darum den Bedürfnissen aller Menschen Rechnung zu tragen. „Inklusion bezieht sich immer auf alle Aspekte von Verschiedenheit; Behinderung ist also immer nur ein Subaspekt“ (HINZ in HINZ, KÖRNER & NIEHOFF 2008, 49).

Mit diesem Ansatz geht eine kulturelle Wertediskussion einher, die sich mit den grundsätzlichen Fragen der Wertigkeit des Menschen, dem Schutz der Individualität und seiner gesellschaftlichen Einbezogenheit auseinandersetzt. So kann Inklusion auch nicht einfach als ein methodisches oder konzeptionelles Handwerkszeug angewandt werden, sondern lediglich als Zieldefinition dienen.

„Ich würde hingegen Inklusion als Ziel bezeichnen, als Utopie, aber nicht im Sinne eines Unerreichbaren, sondern als U-topos: als Noch-Nicht-Ort, auf dem wir uns aber über den Weg integrativer Maßnahmen als Wiederherstellung der von SÉGUIN geforderten Einheit befinden (STEIN 2008, o.S.).

Doch klingt dies nicht alles zu romantisch und unerreichbar? Sind Gegenwart und Zukunft nicht durch eine fortschreitende Differenzierung gekennzeichnet und ist nicht in (post)modernen Gesellschaft Inklusion stets nur in Bezug auf sich immer weiter ausdifferenzierende Teilsysteme vorstellbar bzw. immer nur graduell und partiell zu denken? Entsteht Heterogenität nicht erst durch Differenzierung, Kategorisierung und damit Exklusion? Man müsste antworten: Ja und Nein.

BECK hat bereits im Kontext der Moderne auf die (unauflösliche) Ambivalenz zwischen Individualisierung und Standardisierung hingewiesen. In diesem Sinne sind auch die gesellschaftlichen Begriffe der Inklusion und Exklusion, als zwei Seiten einer Münze zu betrachten, die unweigerlich zusammengehören. Im Falle des Phänomens Behinderung kann dies damit rekonstruiert werden, dass der Ausgangspunkt der Bestrebungen sich in den Personen findet, deren Inklusionsbedarf als solcher identifiziert (differenziert) worden ist. Dies erscheint auch deshalb notwendig, da auch das soziale System eine solche Kategorisierung benötigt, um soziale Unterstützungsleistungen gewähren zu können. Menschen erhalten somit inklusive Leistungen durch ein per se exkludierendes System, die im Sinne einer gesellschaftlichen Kompensationsleistung erbracht werden, so z.B. im Bereich der Bildung durch die Sonderschule oder im Bereich der Arbeit durch die Werkstätten für behinderte Menschen.

Was hiermit angedeutet werden soll, ist, dass eine möglicherweise zu oberflächlich geführte Diskussion zur Verschleierung realer Ausschlussmechanismen führen kann. Deshalb muss es m.E. nach darum gehen, die Vision der Inklusion als Handlungsaufforderung zu verstehen, die realen Verhältnisse auf ihre Mechanismen und Zugänge hin zu überprüfen, um damit individuelle Wege zu eröffnen, die Partizipationsmöglichkeiten für den einzelnen Menschen erweitern. Hierfür wäre ein kulturelles Verständnis im Sinne der Vielfalt notwendig, welches durch strukturelle Elemente abgesichert wird, um in alltäglichen Interaktionen spürbar zu werden.

Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise haben BOBAN/HINZ in dem von BOOTH/AINSCOW adaptierten Index für Inklusion geliefert (vgl. BOBAN/HINZ 2003).

Sehr hilfreich erscheint dabei die Unterteilung in Felder der Kultur – Struktur – Praxis (vielleicht leicht modifiziert in Richtung konkrete Interaktion/Kommunikation). Insbesondere werden dadurch nochmals die Interdependenzen zwischen den individuellen Interaktionsverhältnissen (das konkrete Leben), den kulturellen-normativen Elementen und strukturellen-systematischen Vorgaben sichtbar.

Mittlerweile wird deutlich, dass uns (theoretisch, wie praktisch) eine gewisse Ambiguitätstoleranz abverlangt wird, um mit den entstandenen und vorhandenen Widersprüchlichkeiten umzugehen. Dennoch scheint sich ein Weg anzudeuten, der in einer differenzierteren Berücksichtigung der Individuallagen zu sehen ist. Dabei vermag der hier gewählte Begriff der Inklusion keine wesentlich neuen Aspekte (im Gegensatz zu dem bereits Benannten) ans Tageslicht zu bringen. Lediglich angedeutet werden soll, dass in der Systemtheorie eine eindeutige Differenzierung zwischen der Integration (Lebenswelt) und Inklusion (Funktionssystem) vorgenommen wird, die gewissermaßen nicht proportional zueinander stehen, d.h. dass ein hohes Maß an Integration mit einem niedrigen Niveau an Inklusion korreliert.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2010
ISBN (eBook)
9783842814622
DOI
10.3239/9783842814622
Dateigröße
648 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg – Theologische Fakultät, Diakoniewissenschaften
Erscheinungsdatum
2011 (Mai)
Note
2
Schlagworte
behinderung anerkennung geistigbehindertenpädagogik honneth soziale arbeit
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Titel: Behinderte Menschen zwischen Anerkennung und Missachtung
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