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Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour

Eine kulturanthropologische Betrachtung

©2010 Examensarbeit 85 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Als ich im Herbst 2004 nach Marburg kam und mein Studium begann, lag in dem Zimmer, in das ich zog, eine ausrangierte Zeitschrift, in welcher ein knapper Artikel über eine Bewegungsform namens ‘Le Parkour’ enthalten war. Einige Bilder zeigten eine große Skulptur und ein paar Leute, die sich an ihr bewegten. Sie kletterten, sprangen, oder machten sogar Handstand auf der Spitze. Diese imposante Skulptur war die Dame du Lac, ein Kunstobjekt (mittlerweile mit Kultstatus) in den Vororten von Paris.
Von diesem Artikel bestärkt und inspiriert, formte ich meine angeborene Experimentierfreudigkeit, über Dinge zu klettern und mich an ihnen zu bewegen, weiter aus. Es ergab plötzlich einen anderen, sportlicheren Sinn, diese spielerische Art der Fortbewegung weiterzuentwickeln und für mich nutzbar zu machen. Nach oben schien es kaum Grenzen zu geben, was mich ungemein reizte und ich bewegte mich von da an mit den Bildern der französischen Athleten im Hinterkopf; so fand ich zum Le Parkour.
Mittlerweile hat sich Le Parkour als Trendsport etabliert und die Meisten wissen, was mit dem Begriff ungefähr gemeint ist, oder man verweist auf die bekannten Szenen in Filmen. Hinzu kommen die vielfältigen Präsentationen der Bewegungskunst im Internet. Wofür früher die wenigsten Passanten Verständnis hatten, gerade im Falle eines Basistrainings, welches eben nicht nach etwas Besonderem aussieht, wird jetzt anerkennend gewürdigt, oder zumindest geduldet.
Worin liegt die Faszination dieser Bewegungsweise? Was bringt die Sportler dazu, sich so durch die Stadt zu bewegen? Zu welchem Zweck sollte man solch komplizierte Wege wählen, wenn man es auch einfacher haben kann? Auf emotionaler Ebene waren Fragen wie diese und andere für mich schon geklärt. Aber wenn man darauf tatsächlich angesprochen wurde, musste man nach einer Antwort erst suchen. Den Einstieg in eine geisteswissenschaftliche Betrachtung dieser Thematiken habe ich in der Auseinandersetzung mit der Symboltheorie von Cassirer gefunden.
In dieser Arbeit soll es darum gehen, die Beweggründe für diesen ‘Sport’ auf einer grundlegenden Ebene zu untersuchen. Ich will herausarbeiten, worin der Reiz dieser Fortbewegungsweise liegt und welche Spezifik dieses Bewegen aufweist. Überdies sind die Modalitäten des spezifischen Umgangs mit der (Um-)Welt bedeutsam und verdienen deshalb unter die Lupe genommen zu werden.
Um diesem Interesse nachzugehen, bedarf es mehr als einer bloßen Darstellung der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Jakob Langbehn
Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
Eine kulturanthropologische Betrachtung
ISBN: 978-3-8428-1452-3
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland, Staatsexamensarbeit, 2010
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2011

Inhaltsverzeichnis
I
A
BBILDUNGSVERZEICHNIS
... I
E
INLEITUNG
... 1
1
D
AS BEWEGUNGSKULTURELLE
P
HÄNOMEN
L
E
P
ARKOUR
... 4
1.1
Ursprung und weitere Entwicklung ... 4
1.2
Meinungsverschiedenheiten ... 6
1.3
Ethik und Philosophie des Le Parkour ... 8
1.4
Le Parkour im Internet ... 9
1.5
Techniken im Le Parkour ... 10
2
K
ULTURANTHROPOLOGISCHE
Ü
BERLEGUNGEN
... 11
2.1
Anthropologie ­ die Erforschung des Wesens des Menschen ... 11
2.1.1
Antike Vorstellungen des Mensch-Seins ... 12
2.1.2
Das antike Körperbild und seine Auswirkungen ... 15
2.1.3
Philosophische Anthropologie ... 16
2.1.4
Anthropologie als Kulturanthropologie ... 18
2.1.5
Anthropologische Grundannahmen ... 19
2.1.6
Das Spielthema ... 20
2.1.7
Menschenbilder ... 21
2.2
Kultur als Zweite Natur ­ textuell, performativ ... 22
2.2.1
Kultur als zweite Natur des Menschen ... 23
2.2.2
Performative und textuelle Kultur ... 24
2.2.3
Bewegungskultur ... 27
2.2.4
Trend und Sport ... 28
2.3
Leiblichkeit als Seinsverfassung des Menschen in der Welt ... 29
2.3.1
Erläuterung des Leibkonzeptes ... 29
2.3.2
Zukunft der Leiblichkeit ... 31
2.3.3
Immersion im Moment oder Flow ... 33
2.4
Bildungsprozesse ... 34
2.4.1
Sich-Bewegen als relationales Handeln (und Konstitution des Selbst) ... 34
2.4.2
Bedeutung der Mimesis ... 35
2.4.3
Ästhetische Erfahrung ... 37
3
K
ULTURELL BEDEUTSAME
K
ONZEPTE
... 39
3.1
Das Habitus-Konzept ... 39
3.1.1
Entstehung des Habitus-Konzeptes ... 39
3.1.2
Habitus ... 40
3.1.3
Funktionsweise des Habitus ... 41
3.2
Ernst Cassirer's Symboltheorie ... 42
3.2.1
Grundlagen der Symboltheorie ... 43
3.2.2
(Kulturelles) Handeln symboltheoretisch erklärt ... 44
3.2.3
Bedeutung der Symboltheorie für die kulturelle Praxis ... 45

3.3
Das gegenwärtige Menschenbild ... 47
3.3.1
Der Mensch ... 48
3.3.2
Der Mensch in der Gesellschaft ... 49
3.3.3
Homo Sportivus ­ ein Entwurf ... 50
4
S
OZIAL
-
RÄUMLICHE
P
ROZESSE
... 54
4.1
Habitat und Artefakte ... 54
4.2
Zur Stadt ... 55
4.2.1
Ästhetisch-materiale Dimension ... 55
4.2.2
Bewegung in der Stadt ... 56
5
A
NWENDUNG DER KULTURANTHROPOLOGISCHEN
P
RÄMISSEN
AUF
L
E
P
ARKOUR
... 58
5.1
Szene und Gesellschaft ... 58
5.2
Anthropologische Aspekte ... 61
5.3
Raum... 64
5.4
Symboltheoretische Implikationen ... 66
6
F
AZIT
... 68
7
L
ITERATURVERZEICHNIS
... 73

I
I Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Schaubild zu aktuellen Bewegungskünsten und ihren Grundelementen.
Quelle:www.freerunning.net...7

Einleitung
1
Einleitung
Als ich im Herbst 2004 nach Marburg kam und mein Studium begann, lag in dem
Zimmer, in das ich zog, eine ausrangierte Zeitschrift, in welcher ein knapper Artikel
über eine Bewegungsform namens ,,Le Parkour" enthalten war. Einige Bilder zeigten
eine große Skulptur und ein paar Leute, die sich an ihr bewegten. Sie kletterten,
sprangen, oder machten sogar Handstand auf der Spitze. Diese imposante Skulptur
war die Dame du Lac, ein Kunstobjekt (mittlerweile mit Kultstatus) in den Vororten
von Paris (vgl. Di Potenza 2010a, S. 20).
Von diesem Artikel bestärkt und inspiriert, formte ich meine angeborene Experimen-
tierfreudigkeit, über Dinge zu klettern und mich an ihnen zu bewegen, weiter aus. Es
ergab plötzlich einen anderen, sportlicheren Sinn, diese spielerische Art der Fortbe-
wegung weiterzuentwickeln und für mich nutzbar zu machen. Nach oben schien es
kaum Grenzen zu geben, was mich ungemein reizte und ich bewegte mich von da an
mit den Bildern der französischen Athleten im Hinterkopf; so fand ich zum Le
Parkour.
Mittlerweile hat sich Le Parkour als Trendsport etabliert (vgl. Di Potenza 2010a, S.
21) und die Meisten wissen, was mit dem Begriff ungefähr gemeint ist, oder man
verweist auf die bekannten Szenen in Filmen. Hinzu kommen die vielfältigen Präsen-
tationen der Bewegungskunst im Internet. Wofür früher die wenigsten Passanten
Verständnis hatten, gerade im Falle eines Basistrainings, welches eben nicht nach
etwas Besonderem aussieht, wird jetzt anerkennend gewürdigt, oder zumindest ge-
duldet.
Worin liegt die Faszination dieser Bewegungsweise? Was bringt die Sportler dazu,
sich so durch die Stadt zu bewegen? Zu welchem Zweck sollte man solch kompli-
zierte Wege wählen, wenn man es auch einfacher haben kann? Auf emotionaler Ebe-
ne waren Fragen wie diese und andere für mich schon geklärt. Aber wenn man da-
rauf tatsächlich angesprochen wurde, musste man nach einer Antwort erst suchen.
Den Einstieg in eine geisteswissenschaftliche Betrachtung dieser Thematiken habe
ich in der Auseinandersetzung mit der Symboltheorie von Cassirer gefunden.
In dieser Arbeit soll es darum gehen, die Beweggründe für diesen ,,Sport" auf einer
grundlegenden Ebene zu untersuchen. Ich will herausarbeiten, worin der Reiz dieser
Fortbewegungsweise liegt und welche Spezifik dieses Bewegen aufweist. Überdies

Einleitung
2
sind die Modalitäten des spezifischen Umgangs mit der (Um-)Welt bedeutsam und
verdienen deshalb unter die Lupe genommen zu werden.
Um diesem Interesse nachzugehen, bedarf es mehr als einer bloßen Darstellung der
bewegungskulturellen Szene und ihrer Überzeugungen. Diese wird zur Fundierung
der Analyse dennoch zu Beginn der Arbeit als Folie für die weiterführende Betrach-
tung erfolgen. Daher wird es hier nicht darum gehen, eine genaue Strukturanalyse
der verwendeten Techniken vorzunehmen und sie mit anderen Bewegungsformen zu
vergleichen, oder eine detaillierte Aufarbeitung der geschichtlichen Hintergründe zu
liefern. In dieser Arbeit soll mit einem grundlegenden Verständnis versucht werden,
das Phänomen als solches aus individueller, gesellschaftlicher und kultureller Per-
spektive zu betrachten.
Im Anschluss daran soll ein Theorieteil zur Anthropologie folgen, in welchem die
Entwicklung von einer (natur-)philosophischen zu einer kulturanthropologischen
Auffassung der Anthropologie aufgezeigt werden soll. Auf die gesamte historische
Spanne der Gedanken über den Menschen und ihre genaue Entwicklung wird nicht
eingegangen werden, sondern es soll ein basales Verständnis für die Anthropologie
im Allgemeinen und die Verwendungsweise von Menschenbildern im Speziellen
entwickelt werden.
Um den ,,zweiten Blickwinkel" in diese Betrachtung einzubetten, bedarf es einer
Beschreibung davon, was Kultur eigentlich ist, wie sie entsteht und welche Prozesse
in ihr, für das Individuum oder die Gesellschaft, eine Rolle spielen. In diesem Teil-
kapitel soll eine Darstellung der beiden unterschiedlichen Herangehensweisen der
Kulturinterpretation und Auffassungen von Kulturgenese geleistet werden, wobei
eine kurze Definition des Begriffes Bewegungskultur erfolgen wird. Abschließend
soll ein Teilbereich der Bewegungskultur, der Trendsport, kurz umrissen werden.
Als zwischen diesen Polen befindlich wird im Anschluss der Leib in den Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit gerückt und auf die Implikationen dieses Blickwinkels einge-
gangen. Daran anknüpfend werden einige für die Bildung des Selbst relevante Pro-
zesse beschrieben.
Im dritten Teil werden gesondert Konzepte beschrieben, die für den Menschen von
gesteigerter Bedeutung sind. Als soziologische Theorie soll zunächst das
Habituskonzept erörtert werden, mit welcher ein Betrachten des Menschen in seinen
lebensweltlichen Zusammenhang ermöglicht wird, bzw. mit welchem man bestimm-
te Handlungsmuster erklären kann, die auf die Sozialisierung im jeweiligen Kontext
zurückzuführen sind. Im Anschluss soll die Symboltheorie von Cassirer und ihre

Einleitung
3
Rezeption behandelt werden. Man kann diese als anthropologisch begründete Wahr-
nehmungs- und Handlungstheorie begreifen, die sich gleichzeitig aber auf die Genese
und Veränderbarkeit kultureller Erzeugnisse bezieht. Abschließend soll in diesem
Kapitel eine Darstellung des zeitgenössischen Menschenbildes als gesellschaftlich
verfasste Ausgangsposition geliefert werden.
Der vierte Teil beschäftigt sich mit sozial-räumlichen Prozessen. Einmal sollen die
zusammenhängenden Konzepte des Habitats und des Artefakts erklärt werden, zum
anderen wird auf die Stadt als spezifischen Bewegungsraum eingegangen, da sie für
die hier erfolgende Betrachtung einen großen Stellenwert einnimmt.
Anschließend soll es darum gehen, die aus der Darstellung gewonnenen Erkenntnisse
über das Sein und die Handlungen des Menschen auf das Parkour zu übertragen, wo-
rin der Zweck dieser Arbeit besteht. In einem Fazit werden die Ergebnisse zusam-
mengetragen, eine persönliche Stellungnahme wird erfolgen und ein Ausblick soll
skizziert werden, der die weitere Entwicklung versucht zu erahnen.

Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
4
1
Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
Seit etwas mehr als zehn Jahren gewinnt ein bewegungskulturelles Phänomen immer
mehr an Aufmerksamkeit, welches mit den zwei Bezeichnungen ,,Le Parkour" (auch
oft nur ,,Parkour") oder ,,Freerunning" belegt wird. Jemand, der diese Form der Fort-
bewegung betreibt, wird als Traceur bezeichnet (vgl. Rammenstein 2008, S. 113).
1
Nicht nur die Medien und die Industrie machen die teilweise spektakulär anmutende
Bewegungsweise zu einem Motor für Konsum, sondern auch Sport- und Bewe-
gungspädagogen machen sich Gedanken über die Nutzbarmachung dieses Trends für
Institutionen wie Schule und Verein (Vgl. Krick 2008; Laßleben 2007; Pape-Kramer
2007; Schmidt-Sinns 2008).
Im Folgenden soll zunächst eine Beschreibung der Entstehung von Le Parkour gelie-
fert werden: zuerst wird auf die Entstehung der Bewegungsweise eingegangen, dann
im selben Kapitel die weitere Entwicklung dargestellt, insbesondere die Popularität,
derer sich diese erfreut.
Die aus der Entwicklung entstehenden Meinungsverschiedenheiten werden anschlie-
ßend skizziert, um eine Unterscheidung zwischen den beiden Varianten zu ermögli-
chen, wozu ein Vergleich mit und eine Abgrenzung zu ähnlichen Bewegungsweisen
herangezogen wird, die an dieser Stelle nicht vertieft werden wird.
Nach der Entwicklung dieser Punkte soll auf die Frage nach philosophischen Hinter-
gründen eingegangen werden, die in diesem ersten Teil der Arbeit ausschließlich auf
das Selbstverständnis der Szene bezogen erfolgen wird. Eine ausführliche Betrach-
tung der philosophischen, beziehungsweise kulturanthropologischen Aspekte wird
im letzten Teil der Arbeit erfolgen.
Danach soll kurz auf die Präsenz des Themas im Internet eingegangen werden, wo-
rauf ein Abschnitt über die Techniken des Parkour erfolgen soll.
1.1 Ursprung und weitere Entwicklung
Als Ursprung des Le Parkour kann eine Trainingsmethode des französischen Militärs
betrachtet werden, die Georges Hébert zu Beginn des 20ten Jahrhunderts entwickel-
te. Er hatte die Zähigkeit afrikanischer Völker beobachtet und führte Tugenden wie
körperliche und geistige Stärke, Tapferkeit, Selbstlosigkeit und Mut auf das enge
1
Mit diesem Begriff soll auch die weibliche Aktive eingeschlossen werden. Aus Gründen der Über-
sichtlichkeit wird sich hier auf die männliche Formulierung beschränkt, was keine Diskriminierung
bedeuten soll.

Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
5
Verhältnis zur Natur zurück. Dementsprechend nannte er seine Methode ,,méthode
naturelle", welche körperliche und mentale Fähigkeiten schulen sollte (vgl.
Rammenstein 2008, S. 114; Pape-Kramer 2007, S. 169). Zu diesem Zweck wurde in
der Natur trainiert, oder in Parks, die Hébert gefertigt hatte. Diese Technik lehrte er
an der Universität und außerdem wurde sie unter dem Namen ,,parcours du
combattant" in die Ausbildung französischer Soldaten übernommen (vgl.
Rammenstein 2008, S. 115).
Der Soldat Raymond Belle wurde im Zuge seiner Ausbildung im parcour du
combattant geschult und unterrichtete seinen Sohn David darin. David Belle ist un-
umstritten der Begründer von Le Parkour, welches er kreierte, indem er die Trai-
ningsprinzipien der méthode naturelle auf die städtischen Begebenheiten übertrug,
die ihn nach einem Wohnortwechsel nach Lisse umgaben (vgl. Pape-Kramer 2007,
S. 169f). Diese Übertragung der Techniken von der Natur in eine architektonisch-
kulturell geprägte Umgebung war die Geburtsstunde von Le Parkour.
Schnell bildete sich eine Gruppe um den jungen David Belle und was recht spiele-
risch-kindhaft begann, wurde mit der Zeit zu einem Sport, der sich durch die Tätig-
keit von David und seinen Kameraden immer mehr ausformte und schon bald ge-
wann diese spielerische Fortbewegungsweise einen Kunstcharakter (vgl. Di Potenza
2010a, S. 21). In den späten 80er Jahren bezeichnete die Gruppe um Belle ihren
Sport als Parkour, in Anlehnung an den ,,Parcours du combattant" (Vgl. Foucan
2008a). Zehn Jahre später hatte die Entwicklung große Fortschritte gemacht:
,,Die Jungs formierten sich zu den ,Yamakasi` (aus der zentralafrikanischen
Sprache Lingala und heisst so viel wie ,starker Körper` oder ,starker Geist`) und
spielten zu siebt ein Musical in ,Notre Dame de Paris`" (ebd.).
und wenig später, im Jahre 2001, gab es einen Kinofilm von Luc Besson mit gleich-
namigem Titel, in welchem Belle und sein Freund Foucan allerdings nicht mehr
mitwirkten. Beide hatten sich nach der Mitwirkung in ,,Notre Dame de Paris" auf-
grund von Meinungsverschiedenheiten, über die weitere Entwicklung des Parkour,
von der Gruppe getrennt und gingen ihre eigenen Wege (vgl. Rammenstein 2008, S.
115).
David Belle blieb der ursprünglichen Ausrichtung treu, indem er seinen Grundge-
danken des Le Parkour weiter verfolgte. Sein Freund Foucan hingegen entwickelte
eigene Vorstellungen von dieser Fortbewegungskunst und nannte diese
,,Freerunning", welches auch als ,,Free Running" auftaucht (vgl. ebd.). Seither stieg
die öffentliche Aufmerksamkeit immer mehr an, was zu einem großen Teil an den

Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
6
Filmen und der Werbung lag, in welchen Le Parkour auftauchte und spätestens seit
dem Film ,,Casino Royale", aus der Reihe James Bond, ist Le Parkour noch stärker
ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt (vgl. Pape-Kramer 2007, S. 170; Di
Potenza 2010a, S. 21).
1.2 Meinungsverschiedenheiten
Als Foucan und Belle sich von den Yamakasi trennten, folgten beide unterschiedli-
chen, je eigenen Auffassungen der Disziplin und entwickelten ihre eigene Philoso-
phie. Belle wollte dem Grundgedanken, von dem er ausgegangen war, treu bleiben
und Le Parkour als Fortbewegungsweise begreifen, die es ermöglicht, auf effiziente
Art und Weise, also schnell und direkt und mit möglichst wenig Kraftaufwand, Hin-
dernisse zu überwinden. Dabei spielen nicht nur körperliche Fähigkeiten und eine
gute Selbsteinschätzung eine Rolle, sondern auch die eigene Psyche, sowie die Aus-
einandersetzung mit ihr und mit der Umgebung, sind von entscheidender Bedeutung
(Vgl. Di Potenza 2010a, S. 20; Pape-Kramer 2007, S. 169; Krick 2008, S. 44). Eine
mythologisch verklärte Beschreibung, die prinzipiell denselben Grundsätzen folgt,
bekommt man auf der (im Moment noch aktiven) Homepage von David Belle gelie-
fert (vgl. Belle 2005).
2
,,Foucan wollte noch weiter gehen und entwickelte unter dem Begriff
,,Freerunning" einen Weg, der mehr ästhetische und akrobatische Elemente ent-
hält, als der äusserlich ähnliche Parkour von David Belle" (Di Potenza 2010a, S.
21).
Ein Bestreben was der Homepage Foucans zufolge die Bemühung darstellt, die Frei-
heit des eigenen Ausdrucks in den Vordergrund zu stellen. Er entwirft zudem einen
Katalog von zwölf Werten zusammen, an welchen er sich orientiert. Dass
Freerunning eine Disziplin ist, die auch Wettbewerb und Konkurrenz zulässt, zeigt
sich in Formulierungen wie ,,Channel your energy in a good way, a way to be bet-
ter", wobei Foucan sich hier allerdings nicht explizit auf den Wettbewerb bezieht,
sondern eher die Verbesserung des Selbst anspricht (vgl. Foucan 2008b
). Dennoch
wird allgemein, sobald es um den Wettkampf geht, von Freerunning gesprochen,
anstatt von Le Parkour.
2
Diese ist auf Französisch, aber es ist auch eine Seite auf Englisch in Arbeit, vermutlich wegen der
gesteigerten Aktualität und der eingebüßten Wirksamkeit der etwas älteren französischen Ausgabe
von 2005 (vgl. Belle 2009).

Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
7
Lange gab es über die Trennung von Le Parkour und Freerunning in der Öffentlich-
keit keine eindeutige Meinung, wie ein sportpädagogischer Beitrag von Jürgen
Schmidt-Sinns verdeutlicht, der unter dem Begriff Le Parkour beide erwähnten Vari-
anten beschreibt und keine Unterscheidung vornimmt, die meiner Ansicht nach zu
machen ist (vgl. Schmidt-Sinns 2008, S. 1).
Mittlerweile ist jedoch, zumindest in der Fachliteratur, eine Trennung der beiden
Varianten der Fortbewegung, mit den dazugehörigen Bezeichnungen, vorhanden. Im
Internet und den unzähligen communities, Untergruppen und ,,Families", wie diese
sich auch gerne selbst bezeichnen, wird der Prozess der Nomenklatur wohl noch an-
dauern. Selbst die britische community ,,Urban Freeflow", die eigentlich von
Foucans Idee der Bewegungskunst ausgeht, trennt auf ihrer Webseite die beiden Be-
griffe nur mit einem Schrägstrich, was bei vielen Nutzern ein falsches Bild erzeugen
könnte (Vgl. Urban Freeflow 2003).
Auf einer anderen Seite im Internet ist eine Einordnung von Le Parkour und
Freerunning zu finden, welche versucht, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und auch
die Nähe zu anderen Bewegungskünsten darzustellen:
Abbildung 1: Schaubild zu aktuellen Bewegungskünsten und ihren Grundelementen
(Quelle:
www.freerunning.net
)

Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
8
1.3 Ethik und Philosophie des Le Parkour
Wenn man von dem Selbstverständnis der Traceure ausgeht, ist die Philosophie des
Parkour recht schnell erklärt. Grundsätzlich als Definition auf eine knappe Formel
gebracht kann man folgende Aussage beherzigen:
,,Eine direkte, an Kontrolle und Geschwindigkeit orientierte Form der Fortbe-
wegung, die eine gute Kenntnis und Schulung des Körpers ebenso voraussetzt
wie eine mentale Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten und der
Umgebung" (Di Potenza 2010a, S. 20; vgl. auch Luksch 2009, S. 5).
Es wird überdies von Aktiven (in diesem Fall von den Traceuren und Gründern der
Organisation ParkourOne) ein Wertekanon aufgestellt, der aus der Praxis entstanden
ist und für die Praxis durchaus Sinn macht. Dies wird klar, wenn man die einzelnen
Kriterien betrachtet:
· Es gibt kein objektives ,,gut" oder ,,schlecht", demzufolge auch keinen Wett-
bewerb im Parkour
· Sicherheit und Kontrolle sind die oberste Priorität
· Der Respekt gegenüber dem eigenen Körper, sowie den Mitmenschen und
der Umgebung, ist sehr wichtig
· Man muss sich der eigenen Grenzen bewusst sein (vgl. Di Potenza 2010b, S.
26).
Der Traceur Steven Käser betont im Hinblick auf die Sicherheit, dass man einen
Sprung nicht durchführt, wenn man ihn nicht fühlt (vgl. Käser 2010, S. 22). Einmal
wird durch die angeführten Grundsätze das Risiko, welches in dieser Sportart doch
sehr hoch sein kann, gemindert, indem ein Bewusstsein geschaffen wird, wie hoch
das Risiko eigentlich ist.
Neben diesen grundlegenden Überlegungen verdeutlicht Luksch, der das erste
deutschsprachige Buch über Parkour geschrieben hat und ein Mitglied von
ParkourOne ist, unter dem Motto der Nachhaltigkeit, dass es sich lohnt, die Grund-
techniken langsam zu erlernen und immer wieder zu wiederholen. Kleine Schritte zu
gehen, diese aber sicher zu beherrschen, ist der Grundsatz für einen gesunden Um-
gang mit dem Körper. Deshalb sieht man erfahrene Traceure auch beim Training von
einfachen Basistechniken (vgl. Luksch 2009, S. 11).
Aus ganzheitlicher, sowie trainingswissenschaftlicher Perspektive, betont Luksch
außerdem, dass ein beidseitiges Training unabdingbar ist, sowohl für die Koordinati-
on, als auch für die Entwicklung des Körpers und seiner Fähigkeiten (vgl. ebd., S.
12).

Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
9
Belle selbst betont, neben der Orientierung an Effizienz und Sicherheit, vor allem das
Erkennnen und Verschieben von Grenzen ­ der eigenen und denen der Umwelt ­ als
den wichtigsten Bestandteil der Bewegungskunst (vgl. Rammenstein 2008, S. 117).
Diese Philosophie soll in Kapitel 5 ausgebaut werden, wobei die hier dargestellten
ethischen Überlegungen in die Betrachtung mit einfließen werden.
1.4 Le Parkour im Internet
Die Entwicklung des Parkour ist von Frankreich ausgegangen, wanderte dann nach
England und mittlerweile gibt es international und auch in Deutschland Organisatio-
nen, welche im Internet Plattformen zur Vernetzung von Traceuren zur Verfügung
stellen und zusätzlich auch Informationen zu Workshops und verschiedenen Techni-
ken, sowie Bildergalerien bieten. Man kann im Internet, aufgrund der Popularität,
viele Seiten von Organisationen finden, die sich diesem Trendsport widmen, von
denen einige wichtig kurz betrachtet werden sollen.
Eine von diesen stellt unter dem Namen ,,ParkourOne" eine Kooperation von
schweizerischen und deutschen Traceuren dar, die von Coachings, über Events und
Workshops, so ziemlich alles anbieten, was das Traceurherz begehrt.
,,Unser Ziel ist es Parkour in einer nachhaltigen und ehrlichen Art zu vermark-
ten ohne dabei den Link zu den Ursprüngen und zu der Parkourcommunity zu
verlieren" (ParkourOne GmbH 2010a).
Auf andere Art und Weise versucht das deutsche Portal www.freerunning.net/de
,
als Plattform für Bewegungskünste aller Art, Informationen bereitzustellen (vgl.
Müller 2009) und die 2003 in England gegründete Organisation ,,Urban Freeflow"
nimmt zwar keine explizite Trennung zwischen den Disziplinen Le Parkour und
Freerunning vor, aber schafft es immerhin, seit Januar 2010 eine Zeitschrift namens
,,Jump Magazine" herauszugeben und bezeichnet sich selbst auch, nicht gerade be-
scheiden, als offizielles weltweites Netzwerk für Le Parkour und Freerunning (vgl.
Urban Freeflow 2003a/b). In Deutschland gibt es seit 2007 die Organisation
,,Parkour Association e. V. ­ Germany", welcher Sandra Hess, als eine der wenigen
Frauen in diesem Sport, vorsteht (Hess/Hess 2007a). Hier wird ebenfalls mit der
Phrase ,,Parkour ­The Original" (vgl. Hess/Hess 2007b) geworben.
Über die hier erwähnten Plattformen hinaus, gibt es weltweit eine ünüberschaubare
Anzahl von Seiten einzelner Traceure oder auch Gruppen von Traceuren, (vgl. Urban

Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
10
Freeflow 2003b; Rammenstein 2008, S. 127), welche hier aber keine weitere Beach-
tung erhalten sollen.
1.5 Techniken im Le Parkour
Obwohl oft davon gesprochen wird, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss, um
ein Hindernis zu überwinden und es so gesehen eigentlich keinen Kanon der zu ver-
wendenden Bewegungen geben kann, ist ein eben solcher doch vorhanden. Im Inter-
net findet man die Bewegungstechniken seit geraumer Zeit und mittlerweile ist auch
in der sportpädagogischen Literatur, mehr oder weniger intensiv, von diesen Grund-
techniken die Rede (Vgl. Krick 2008; Laßleben 2007; Pape-Kramer 2007; Schmidt-
Sinns 2008; Rammenstein 2008).
Markus Luksch (2009) gibt einen hervorragenden Überblick über die basalen Tech-
niken des Le Parkour und macht jeweils auf mögliche Variationen in der Bewe-
gungsausführung aufmerksam. Sein Fokus liegt in der biomechanischen Betrach-
tungsweise dieser Bewegungsformen, wodurch es sowohl Anfängern, als auch Fort-
geschrittenen ermöglicht werden soll, ihren Könnensstand selbsttätig zu erweitern.
Auch will er mit seinem Buch das Bewusstsein für die Gefahren und Risiken in die-
sem Sport schärfen und jene, so weit wie möglich, durch seine Ausführungen ver-
mindern.
In der vorliegenden Arbeit spielt jedoch die Technikdiskussion kaum eine Rolle,
ebenso wie die Techniken selbst. Daher wird hier darauf verzichtet, die einzelnen
Bewegungselemente zu beschreiben. Des Weiteren soll sich hauptsächlich unter der
Bezeichnung Le Parkour dem Phänomen dieser Bewegungskunst genähert werden.
Die Nähe der beiden Ideen zueinander wird jedoch dazu führen, dass auch vom
Freerunning die Rede sein wird. Wenn dies der Fall ist, soll die hier vorgenommene
begriffliche Trennung als Ausgangspunkt dienen. Doch zunächst muss ein theoreti-
scher Rahmen für eine gesellschaftliche, kulturelle und anthropologische Betrach-
tung dieser Trendsportart geschaffen werden.

Kulturanthropologische Überlegungen
11
2
Kulturanthropologische Überlegungen
Im Folgenden wird Kulturanthropologie nicht als ethnologische Anthropologie, als
Vergleich der Menschenbilder und Werteschemata verschiedener Kulturen, verstan-
den, wie das einige Theoretiker im Bezug auf die amerikanische Forschungsrichtung
der ,,cultural anthropology" tun (vgl. Assmann et al., 2003, S. 11), sondern allge-
mein, als Verschränkung der Begriffe und Themen der Kultur und der Anthropolo-
gie. In diesem Kapitel soll einer Struktur gefolgt werden, die eine solche Definition
als sinnvoll erweist.
Wenn man diese zwei Seiten des Mensch-Seins und insbesondere ihre wechselseitige
Beziehung unter die Lupe nehmen will, kommt man nicht umhin, ein Verständnis der
beiden Begriffe Kultur und Anthropologie zu entwickeln, was daher nun geschehen
soll. Dabei wird, aufgrund der engen Verknüpfung mit der Anthropologie, die Ent-
wicklung des Kulturbegriffes ein wenig kürzer gefasst. Kulturelle Dispositionen
spielen in allen gesellschaftlichen Bereichen eine Rolle und wirken sich deshalb auch
auf die verschiedenen Konzeptionen, zur Position, oder zum Sein des Menschen in
der Welt aus, von denen jene im Anschluss an dieses Kapitel behandelt werden, die
für meine Absicht bedeutsam sind. Weil in diese Theorien meist auch ein Verständ-
nis von Kultur mit einfließt, wird an den entsprechenden Stellen darauf eingegangen
werden.
Anschließend soll das Konzept der Leiblichkeit erläutert werden, welches für das
Sein des Menschen eine fundamentale Bedeutung hat. Die Einordnung in dieses Ka-
pitel erfolgt aus der Überlegung heraus, dass der Mensch sich zwischen individuellen
und kulturellen (oder gesellschaftlichen) Dispositionen befindet und auch bewegt.
Die Schnittstelle zwischen diesen beiden Polen bildet, wie wir noch sehen werden,
der Leib, weshalb mir die Erörterung dieses Konzeptes an dieser Stelle logisch er-
scheint.
Darauf folgend soll ein kurzer Einblick in Bildungsprozesse geliefert werden, welche
für die Menschwerdung existenziell sind und sich ebenfalls zwischen Individuum
und Gesellschaft in der Sphäre des Leibes abspielen.
2.1 Anthropologie ­ die Erforschung des Wesens des Menschen
Als Disziplin gewann die Anthropologie ab dem 16. Jahrhundert eine gesonderte
Bedeutung. Der Mensch selbst rückte als Erklärungsinstanz in den Mittelpunkt, an-

Kulturanthropologische Überlegungen
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statt wie im Mittelalter Gott oder in der Antike den Kosmos dort zu sehen (vgl.
Hügli/Lübcke 1997, S.44f). Dennoch liegt jeder menschlichen Tätigkeit ein Selbst-
verständnis zugrunde. Vor allem die Griechen, aber auch die Römer waren immer
schon an der Philosophie, der ,,Liebe zur Weisheit" (ebd., S. 491) interessiert. Daher
verwundert es auch nicht, dass sich schon diese Denker über das Wesen des Men-
schen Gedanken gemacht haben, was der Grundgedanke der Anthropologie ist (vgl.
Meinberg 2003, S. 95). Im Verlauf der Geschichte gab es immer wieder Menschen,
die der Frage nach der Existenz oder dem Sinn der Existenz und des (menschlichen)
Lebens nachgegangen sind. Je nachdem, aus welchem Bereich diese stammten, wa-
ren die Ansätze auch durchaus unterschiedlicher Natur und mehrten sich im Laufe
der Zeit. So gibt es mittlerweile eine Vielzahl von anthropologischen Ansätzen, die
sich aus der jeweiligen geistes- oder naturwissenschaftlichen Richtung an den Men-
schen annähern, wobei ebenso Mischformen entstanden sind.
3
Vom Ansatz einmal abgesehen, versucht die Anthropologie zwei grundlegende Fra-
gen, den Menschen betreffend, zu erörtern:
,,Eine das Sein feststellende, empirische und eine das Sollen aufschließende
normative Anthropologie [...], die sich allerdings oft genug durchdringen und
nicht säuberlich scheiden lassen" (ebd.).
Sowohl von der Ideengeschichte, als auch von der Relevanz für das heutige Men-
schenbild her begründet, wird am Anfang der folgenden Auseinandersetzung auf die
Anthropologie, das Menschen- und Körperbild in der Antike, eingegangen. Danach
erfolgt ein Sprung ins zwanzigste Jahrhundert, zu den Philosophen der Philosophi-
schen Anthropologie, deren Überlegungen in der Begründung der Kulturanthropolo-
gie mündeten. Es kann hier keine vollständige Darstellung des Wandels der histo-
risch bedeutsamen Menschenbilder erfolgen, aber dennoch muss die Verwendungs-
weise und Bedeutung von Menschenbildern grundsätzlich erklärt werden.
2.1.1 Antike Vorstellungen des Mensch-Seins
In der Antike ging der berühmte Philosoph Sokrates von einer Unsterblichkeit der
Seele aus und begründete diese Ansicht auch erkenntnistheoretisch: ,,Das Wissen
3
In dem von Thurnherr (2005) herausgegebenen Buch ist eine interessante Zusammenstellung ver-
schiedener Beiträge zu finden, die sich zwar stark auf die ethische Dimension von Menschenbildern
bezieht, welche aber aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen zusammengetragen ist.

Kulturanthropologische Überlegungen
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von allem, was wir wahrnehmen können, setzt eine Erinnerung an dessen vollkom-
mene Gestalt voraus [...]" (Vossenkuhl 2009, S. 258f).
4
Unter dem Titel ,,Hermeneutik des Selbst" hat der Soziologe und Philosoph Foucault
(2004) eine Darstellung der antiken Denkweisen geliefert. Hermeneutik soll hier
schlicht als ,,Auslegungskunst" oder ,,Verstehenslehre" verstanden werden (vgl.
Hügli/Lübcke 1997, S. 279). Was man heute wahrscheinlich Bildung oder Selbstbil-
dung nennen würde, war in der Antike die sogenannte cura sui, die Sorge um sich
selbst. Um diesem Prinzip nachzukommen, war eine Reihe von Praktiken bedeutsam.
Die Wichtigkeit der Selbsterkenntnis hat diesen bildenden Aspekt der Sorge um das
Selbst in den Schatten gestellt, obgleich in der Antike eine Verbindung der Beiden
offenkundig war.
Diese Sorge um sich selbst wurde hierbei nicht materiell oder monetär gesehen, son-
dern als Sorge um die Seele und die persönlichen Tugenden (vgl. Foucault 2004, S.
599). Die Heilung der Seele ist eine Aufgabe, die ein Leben lang erfüllt werden
muss. Foucault stellt fest, dass diese Maxime nicht nur von Denkern aufgestellt wur-
de, sondern dass vielmehr das gesamte Volk diesem Grundsatz gefolgt ist und die
Philosophen eher ein gesellschaftliches Phänomen in ihren Bezugsrahmen übertragen
haben; sogar galten diejenigen in der Bevölkerung als privilegiert, die diesem ,,Auf-
trag" frönen konnten, ihm ungehindert in Phasen des otium, also der Muße, nachge-
hen konnten (vgl. ebd., S. 601), was das Bürgertum, beziehungsweise die Aristokra-
tie war.
Interessant hierbei ist, dass dies nicht nur eine Haltung, ein Ideal war, sondern dass
die Sorge um sich selbst gleichzeitig mit vielen Handlungen in Verbindung gebracht
wurde, sich also nicht in der reinen geistigen Ausrichtung erschöpfte, sondern auch
Tätigkeiten erforderte, die allgemein als förderlich galten (vgl. ebd. S. 601f). Die
Wichtigkeit dieses Tätigkeitsaspektes, für das Sein und Werden des Menschen, wird
im Verlauf dieser Arbeit immer wieder offenkundig werden.
Während Sokrates die Jugend als entscheidende Phase dieses Prozesses ansieht, ist
bei Epikur eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Selbst angestrebt, ,,Man
muß für sich selbst und sein ganzes Leben lang sich selbst Gegenstand sein" (Fou-
cault 2004, S. 603). Diese Prämisse sollte auch später in der Wissenschaft, vor allem
4
Unter einer Gestalt soll in dieser Arbeit das emotional gefärbte Ganze einer Bewegungshandlung
verstanden werden, welches sich in der intentionalen Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt
formt. Genauere Erläuterungen zur Gestalttheorie finden sich bei Leist (2005).

Kulturanthropologische Überlegungen
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in der Anthropologie und ihren Teilbereichen, sowie in der Soziologie, von gestei-
gerter Bedeutung sein. So stellt zum Beispiel Brenner heraus:
,,Die Hermeneutik basiert ganz im Gegenteil auf der anthropologischen Ein-
sicht, daß der Mensch eben kein kantisch-transzendentales oder cartesianisch
gereinigtes Subjekt sei, sondern daß jede Erkenntnis empirisch kontaminiert ist"
(Brenner 1999, S. 6).
Damit wird deutlich, dass es keine intersubjektive, absolute Erkenntnis gibt (vgl.
auch Kapitel 3.2).
Im Prinzip wird in der antiken Vorstellung, sich auf sich selbst hinzuwenden, der
Mensch als a-soziales Wesen entworfen, welches zum Ziel hat, Herrscher über sich
selbst und vollkommen unabhängig zu sein, sowie alle Freude in sich selbst zu fin-
den (Foucault 2004, S. 603f). Diese Auffassung beißt sich mit heutigen Vorstellun-
gen, in welchen die Hinwendung auf sich selbst meist mit dem Begriff Reflexion
bezeichnet wird, der allerdings keinen solipsistisch anmutenden Egoismus wie in der
antiken Wendung auf sich selbst. Im Verlauf dieser Arbeit wird der Begriff der Re-
flexion noch von Bedeutung sein.
Im Folgenden wird auf drei Funktionen der Selbstbildung eingegangen, welche nach
der Erziehung durch andere ihren Lauf nimmt, die alle bedeutend für die Entwick-
lung des Selbst sind. Zum einen ist das die kritische Funktion, welche dazu führt,
dass man sich falscher Ansichten und schlechter Gewohnheiten entledigt, wobei das
aktive Verlernen eine wichtige Rolle spielt. Außerdem muss man mit den erforderli-
chen Fähigkeiten ausgestattet sein, um sich mit den Dingen auseinander zu setzen,
was oft mit der Metapher des Kampfes beschrieben wurde. Hierbei sind die Aspekte
des Trainings und der Aufmerksamkeit bedeutend. Als dritte Funktion wird bei Fou-
cault die Heilung erwähnt, welche die größte Bedeutung für die Selbstbildung hat
(vgl. ebd., S. 604).
Neben diesen offenkundigen Bedeutung der Selbstbildung wird aber auch die Wich-
tigkeit eines Dritten betont, also eines Menschen, der von außen auf einen schaut, da
konstatiert wird, ,,Der Mensch liebe sich selbst zu sehr, um in der Lage zu sein, sich
selbst von den Leidenschaften zu heilen" (ebd., S. 605). Für diese beratende, beiste-
hende Tätigkeit werden sowohl verschiedene Institutionen, als auch die persönliche
Beziehung erwähnt, welche die Rolle des Dritten übernehmen können.
Um in kritischen Situationen Herr seiner selbst zu bleiben, braucht man nach der
antiken Vorstellung ,,vernünftige und wahre Reden", um deren Konstitution folglich
viel diskutiert wurde. Die Epikureer waren der Meinung, man müsse die Prinzipien

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2010
ISBN (eBook)
9783842814523
Dateigröße
532 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Philipps-Universität Marburg – Fachbereich 21, Studiengang Sportwissenschaft (Lehramt)
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1
Schlagworte
kulturanthropologie parkour symboltheorie habitus soziale räumlichkeit
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Titel: Das bewegungskulturelle Phänomen Le Parkour
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