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Studien zur Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen BWV 988 durch Josef Gabriel Rheinberger und Max Reger

©2011 Magisterarbeit 196 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‘Im Grunde ist Bach der Erfinder der musikalischen Zeit. In seinen Werken ist nichts zufällig. Es ist davon auszugehen, dass dieses Variationswerk, das nicht umsonst in G-Dur steht und bis heute seinesgleichen sucht, eine besondere und bedeutsame Stellung in der Klavierübung innehat: ihr Höhepunkt ist’.
Es ist eine Herausforderung, den großen Variationszyklus Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach von zwei Manualen eines Cembalos auf zwei Klaviere zu übertragen, schließlich von einem Klavier auf zwei.
Haben sich die Aria und der Zyklus für Liebhaber auf einem Flügel oder gar auf zwei Flügeln verändert? Von zwei Manualen auf zwei Klaviere wurde das große Variationswerk Bachs von Rheinberger umgeschrieben. Wie veränderten sich der Schwierigkeitsgrad und der Klang der Goldberg-Variationen auf zweimal 88 Tasten? Der grundsätzliche Unterschied im Bereich des Ausdrucks am Cembalo mit zwei Manualen, am Clavichord, am Flügel oder gar auf zwei Klavieren spielt bei Bachs Goldberg-Variationen eine erhebliche Rolle. Wie lässt sich ein Werk von 1740 heute, wie ließ es sich 1883 oder 1915 auf einem Klavier oder gar zwei interpretieren? Wie schrieb Rheinberger den großen Zyklus um? Wurden Rheinberger und Reger der Symbolik des Werkes als Archiv der Vergangenheit und der Zukunft gerecht? Wie sieht eine heutige Interpretation aus? Spielt dabei die Stellung des Variationszyklus innerhalb der Klavierübung eine Rolle? Die Komposition, auch die Bearbeitung eines Werkes hängen eng mit der sich vorgestellten Interpretation zusammen, mit dem inneren Hören und Verstehen. Nun waren sowohl Bach als auch Rheinberger und Reger nicht nur Komponisten, sondern auch hervorragende Tastenkünstler, Organisten und Pianisten.
Auf einem heutigen Klavier unverschleiert das Cantabile der Sarabande, gleichzeitig den rhythmischen Charakter und die Auszierungen zu spielen, ist für jede Pianistin und jeden Pianisten eine Herausforderung. Einen neuen Klang zu entwickeln, wie ihn sich Bach zu seinen Lebzeiten selbst nicht hatte vorstellen, aber ersehnen können, oder wie er selbst seine Werke auf einem Flügel spielen würde, sind wichtige Überlegungen und ausschlaggebend für die Bearbeitung der Goldberg-Variationen. Die Bearbeitung Rheinbergers für zwei Klaviere ist daher ein neues Klangerlebnis.
Keller schreibt, der Flügel mit seinem vollen Ton eigne sich nicht in gleicher Weise zur Wiedergabe der Verzierungen der alten Musik wie die alten Instrumente, es […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ann-Helena Schlüter
Studien zur Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen BWV 988
durch Josef Gabriel Rheinberger und Max Reger
ISBN: 978-3-8428-1304-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland, Magisterarbeit,
2011
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2011

I
NHALTSVERZEICHNIS
1. Vorwort ... 7
2. Einleitung ... 14
3.
Die ,,Goldberg-Variationen" BWV 988 von Johann Sebastian Bach
(1740) ... 20
4.
Josef Gabriel Rheinbergers Bearbeitung der ,,Goldberg-Variationen"
für zwei Klaviere, (1883) ... 30
4.1. Erste Hälfte ... 37
4.1.1. Aria ... 37
4.1.2. Variation 1 ... 46
4.1.3. Variation 2 ... 51
4.1.4. Variation 3 ... 55
4.1.5. Variation 4 ... 58
4.1.6. Variation 5 ... 59
4.1.7. Variation 6 ... 62
4.1.8. Variation 7 ... 64
4.1.9. Variation 8 ... 68
4.1.10. Variation 9 ... 71
4.1.11. Variation 10 ... 72
4.1.12. Variation 11 ... 74
4.1.13. Variation 12 ... 76
4.1.14. Variation 13 ... 78
4.1.15. Variation 14 ... 81
4.1.16. Variation 15 ... 85
4.2. Zweite Hälfte ... 87
4.2.1. Variation 16 ... 87
4.2.2. Variation 17 ... 90
4.2.3. Variation 18 ... 91
4.2.4. Variation 19 ... 94

4.2.5. Variation 20 ... 95
4.2.6. Variation 21 ... 99
4.2.7. Variation 22 ... 101
4.2.8. Variation 23 ... 105
4.2.9. Variation 24 ... 109
4.2.10. Variation 25 ... 113
4.2.11. Variation 26 ... 119
4.2.12. Variation 27 ... 123
4.2.13. Variation 28 ... 125
4.2.14. Variation 29 ... 132
4.2.15. Variation 30 ... 137
4.3.
Dynamische Entwicklung in Rheinbergers Bearbeitung ... 144
4.4.
Erweiterte Polyphonie, Klavier-, Hand- und Stimmverteilung
Rheinbergers in den neun Kanons, den zwei fugenähnlichen Variationen
und im gesamten Zyklus ... 150
5.
Die revidierte Fassung der Rheinberger'schen Bearbeitung der ,,Goldberg-
Variationen" von Max Reger (1915)... 172
6.
Abschließende Betrachtung... 185
7.
Literaturverzeichnis ... 189

,,GOLDBERG-VARIATIONEN" BWV 988, S. 16 DER ORIGINALAUSGABE
(enthaltend Variatio 15, T. 17 - 32, und Variatio 16, T. 1 - 13 a)
1
1
Vgl.: Bach, Johann Sebastian: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996, S. 2.

,,Zu dem Bedeutendsten, was J. S. Bach je für Klavier geschrieben, zählen die
,,Goldbergschen Variationen" - Aria mit 30 Veränderungen. Wenn dieses groß-
artige Werk bis auf den heutigen Tag mehr nur theoretisch gewürdigt als gespielt
wurde, so hat dies seinen triftigen Grund in dem Umstande, dass es für ein Kla-
vier mit zwei Manualen geschrieben ist ­ ein Instrument, das man längst nicht
mehr kennt. Möge nun vorliegende pietätvolle Bearbeitung für zwei Klaviere dazu
dienen, Musiker und Musikfreunde mit diesem Schatze echter Hausmusik bekannt
und vertraut zu machen."
München im Mai 1883
Josef Rheinberger
2
2
Vgl.: Rheinberger, Josef/Reger, Max: Aria mit 30 Veränderungen (die ,,Goldberg'schen Variationen") von
Joh. Seb. Bach für zwei Pianoforte bearbeitet von Josef Rheinberger. Revision von Max Reger. Lippstadt
1915, S. 3.

GOLDBERG
(zu den Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach)
Schwägerschaft mit Lyrik:
Bachs Musikdrama ist.
Töne wandeln sich in Orte,
Klänge in Schauplätze.
Sätze sind Gesichte, Visionen.
Golgatha ein hiesiger Ort nun.
Wo ist es? -- Inneres Sehen,
Sicht im Symbol.
Vorhang: Darf man dahinter nicht gehen?
Wirklichkeit webt Kunst in Einheit.
Wer will Dinge messen, Gramm, Zentimeter,
Tinte, doch das Wahre nicht sehen?
Größte noch denkbare Spannung goldwert.
Imaginäre Musik; schwingende Luft
Teilt sich mit in Ton, der uns berührt,
In Klang, der variiert in Bewegung setzt.
Antenne in uns für geistliche Räume,
Sagbare für das Unsichtbare.
Regen auf in Flamme, die nie ausgeht.
Anmutender Tanzkampf?
Golgatha ein Goldberg geworden:
Fundamentalnoten rufen: Komm zurück,
Mensch.
Die Stimme lässt die Herzen sehen.
Ann-Helena Schlüter
3
3
Im Folgenden werden nur die Zitate und Gedichte, die nicht von der Autorin dieser Arbeit stammen, mit
dem Namen des Autors benannt.

ORIGINALTITEL DER KLAVIERÜBUNG VON JOHANN SEBASTIAN BACH:
Clavierübung I: (einmanualiges Cembalo)
,,Clavier-Übung / bestehend in / Praeludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Giguen, /
Menuetten, und anderen Galanterien K / Denen Liebhabern zur Gemüths Ergoetzung verfertiget /
von / Johann Sebastian Bach / Hochfürstl: Sächsisch Weisenfelsischen würcklichen Capellmeis-
tern / und / Directore Chori Musici Lipsiensis. / OPUS 1 / In Verlegung des Autoris / 1731."
Clavierübung II 1735 (zweimanualiges Cembalo)
,,Zweyter Theil der / Clavier Übung / bestehend in / einem Concerto nach Italiaenischen Gust /
und / einer Ouverture nach Französischer Art, / vor ein / Clavicymbel mit zweyen / Manualen. /
Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergötzung verferdiget, / von / Johann Sebastian Bach / Hoch-
fürstl: Saechss: Weissenfelss:Capellmeistern / und / Directore Chori Musici Lipsiensis. / in Verle-
gung / christoph Weigel Junioris.".
Clavierübung III 1739 (zweimanualige Orgel mit Pedal)
Dritter Theil / der / Clavier Übung / bestehend / in / verschiedenenVorspielen / über die / Cate-
chismus- und andere Gesaenge, / vor die Orgel: / Denen Liebhabern, und besonders denen Ken-
nern / von dergleichen Arbeit, zur Gemüths Ergezung / verfertiget von / Johann Sebastian Bach, /
Koenigl. Pohlnischen, und Churfürstl. Saechs. / Hoff-Compositeur Capellmeister, und / Directore
Chori Musici in Leipzig. / In Verlegung des Authoris".
Clavierübung (IV) - 1741
,,Clavier Übung / bestehend / in einer / ARIA / mit verschiedenen Veraenderungen / vors Clavi-
cimbal / mit 2 Manualen. / Denen Liebhabern zur Gemüths-/ Ergetzung verfertiget / von / Johann
Sebastian Bach / Königl. Pohl. u. Churf. Saechs. Hoff/compositeur, Capellmeister, u. Directore /
Chori Musici in Leipzig. / Nürnberg in Verlegung / Balthasar Schmids."

7
1.
V
ORWORT
,,Bachs außergewöhnliche Gaben, sein schweres Erbe, sein Wunsch,
seine Familie treu und sorgsam zu ernähren, und seinem Ziel,
seinem Glauben Ausdruck zu verleihen - diese Motivationen waren
für seine Werke von enormer Wichtigkeit. Sie sind es auch für die
Interpretation und für jede Bearbeitung seiner Werke."
Was für ein Werk sind die Goldberg-Variationen, dass sie bis heute bearbeitet werden? Was
bedeuten sie, dass Komponisten und Musiker bis heute dieses Variationswerk für viele In-
strumente und Stile bearbeiteten? Wer war der erste? Josef Gabriel Rheinberger (1839 - 1901)
am 22. Mai 1883 (Autograph: Mbs 4668. Leipzig 1883). Warum hat er dieses Werk bearbeitet
und für wen? Waren Bachs Goldberg-Variationen den Musikern und Komponisten seiner Zeit
bekannt? Der zweite, der sich an dieses heute legendäre Werk arrangierend heranwagte, näm-
lich an Rheinbergers Bearbeitung der Goldberg-Variationen, war Max Reger, der die Rhein-
berger'sche Fassung kritisch revidierte. Was veranlasste ihn? War aber Bach nicht selbst ein
Bearbeiter seiner eigenen Kompositionen? Blieb Bachs Geist, seine Tonsprache, sein Aus-
druckswille und der Wunsch, das Gemüt zu ergötzen,
4
in diesen ersten Bearbeitungen erhal-
ten?
Die Goldberg-Variationen, BWV 988, gehören zu den Hauptwerken von Johann
Sebastian Bach (1685 - 1750) und werden trotz vieler wissenschaftlicher Veröffentlichungen
und schriftlicher Abhandlungen ein Mysterium, ein Geheimnis bleiben.
Wohl jedes Jahrzehnt und stets neue Generationen werden zu einer Neubewertung die-
ses geschichtshaltigen Werkes geführt und eingeladen. Der Variationszyklus erregt bis zur
heutigen Zeit Aufmerksamkeit. Die Aria und ihre 30 Veränderungen besitzen tiefen Symbol-
gehalt und transportieren feine, unsichtbare und zärtliche Botschaften: Soli Deo Gloria. Dabei
ist das Thema, Bachs Aria, in diesem Zyklus bereits eine Welt für sich: Sie ist Ursprung und
Ausgangspunkt, Höhepunkt, Kadenz und Abschluss des Werkes zugleich; sie ist Erinnerung -
die Aria da Capo, die nach 30 Veränderungen wiederkehrt. Die theologische Bachforschung
ist hier mit Fragen und Antworten nicht gesättigt.
Was Pianisten bis heute aus diesem ,Archiv der Sinne` für die Hände lernen, ist durch
das regelmäßige Einspielen der Goldberg-Variationen auf einem Klavier zu hören. Durch das
Überkreuzen der Hände am Klavier, durch die Nähe zu sich selbst an den Tasten, durch den
kompakten Tonumfang, der allerdings durch die Virtuosität wieder aufgehoben wird, durch
4
Vgl.: Dammann, Rolf: Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen. Mainz 1986, S. 23.

8
die Tonart G-Dur, die sich über 50 Minuten treu bleibt, durch das Griffige der Handkreuzun-
gen ist wieder ein ganz anderes motorisches und künstlerisches Erleben möglich als auf einem
Cembalo, auf zwei Manualen oder auf zwei Klavieren. Eine Zusammenfassung als Archiv
entsteht hierbei nicht nur durch die Kanons und Tänze aus der Zeit Bachs, sondern auch im
motorischen und akustischen Erleben und Wahrnehmen durch die aktiven Hände im Über-
kreuzen, dadurch, dass sie Stimmen herausheben. Diese Wissenschaft sitzt in den Händen und
damit auch im Kopf, da nicht mit den Fingern allein Klavier gespielt wird, wie schon Glenn
Gould schrieb.
5
Es ist ein Unterschied, ob eine Virtuosität nur von der Hand kommt oder von
innen, als wären die Hände im Bauch, im Atem. Es gibt eine direkte Beziehung, eine Einheit
zwischen Hand, Mund und Bauch (Atmung), die beispielsweise in der Interpretation Glenn
Goulds spürbar ist. Wenn die Goldberg-Variationen Forkels Anekdote nach für einen sehr
jungen Cembalisten geschrieben und später sogar nach ihm benannt wurden,
6
für einen Musi-
ker, der zu jener Zeit um die zehn Jahre alt war, wirft es die Frage auf, was dieses Werk für
Schüler und junge Musiker von heute bedeuten kann. Ein Handstück im Sinn ,für angehende
Klavierspieler` ist keines der Variationen, auch nicht das Thema, die Aria - im Gegenteil. Die
Sätze sind schwierig und komplex im Vortrag. Die virtuosen Variationen liegen keineswegs
gut in der Hand und sind selbst für Pianisten am Klavier eine Herausforderung, da das
gesamte Werk für zwei Manuale geschrieben worden ist, nicht für (horizontale) 88 Tasten.
Die Sätze waren sicher nie leicht und angenehm für die Hand gewesen, auch nicht auf dem
Cembalo, doch schon gar nicht an einem heutigen Flügel mit einer Tastatur. Nun liegt seit
über 100 Jahren eine Bearbeitung mit zweimal horizontalen 88 Tasten vor: die von Max
Reger revidierte Rheinberger'sche Fassung der Goldberg-Variationen für zwei Klaviere.
7
Bachs Gesamtwerk ist trotz seiner zufallslosen Genauigkeit nicht Doktrin, sondern in vieler
Hinsicht improvisierte und souveräne Musik, die er aus seinem Können heraus notierte. Eben-
falls zu improvisieren und zum Beispiel die Goldberg-Variationen fortzuführen, ist keine
Willkür oder Verrücktheit, sondern ein Akt der Freiheit und der Kreativität, die zum Gesamt-
werk Bachs dazugehören kann.
Johann Sebastian Bach, vor 325 Jahren geboren, komponierte die Goldberg-
Variationen einem anekdotischen Bericht zufolge für den mit der Familie Bach befreundeten
russischen Botschafter am Dresdner Hof, Graf Hermann Carl von Keyserling. Dieser hatte
5
Vgl.: Bazzana, Kevin: Glenn Gould. Kassel/Stuttgart 2001, S. 5.
6
Vgl.: Niemöller, Heinz Herrmann: Polonaise und Quodlibet. In: Heinz-Klaus Metzger (Hrsg.): Musik-
Konzepte 42 (1985), S. 22 f.
7
Vgl.: Rheinberger, Josef/Reger, Max: Aria mit 30 Veränderungen (die ,,Goldberg'schen Variationen") von
Joh. Seb. Bach für zwei Pianoforte bearbeitet von Josef Rheinberger. Revision von Max Reger. Lippstadt
1915.

9
sich für Johann Gottlieb Goldberg, einen in seinen Diensten stehenden jungen Cembalisten
und begabten Schüler Bachs, einige Klavierstücke bestellt, die dieser für ihn spielen sollte,
die, wie Forkel berichtet, so ,,sanften und etwas munteren Charakters wären, dass er dadurch
in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte."
8
Soweit zur Anekdote
um 1802. Dennoch wird man die Goldberg-Variationen nicht oder zumindest nicht nur als
Auftragswerk bezeichnen können. Die wirklichen Hintergründe des Werkes sind nicht genü-
gend bekannt, als dass das, was man heutzutage zu wissen glaubt, über diese oder andere
Anekdoten hinausreichen könnte.
Die vierteilige Klavierübung Bachs mit den Goldberg-Variationen im vierten Teil
könnte man bereits als eines der Lebenswerke Bachs bezeichnen. Oft wird Die Kunst der
Fuge als fünfter Teil der Klavierübung bezeichnet. Bachs Sarabanden stehen repräsentativ für
die deutsche Musikkultur, unwiderruflich als ein kulturelles ,Markenzeichen` Deutschlands,
speziell und besonders die Aria der Goldberg-Variationen.
Diese beginnen mit dem als Aria bezeichneten, klagenden, reich verzierten Instrumen-
talstück, dem anschließend 30 Variationen folgen und die schließlich in einem da Capo der
Aria wieder enden. Klagend wirken unter anderem die Doppelschläge (in einer Schleife von
oben nach unten), die einem Seufzer gleichen. Die Aria atmet vieler solcher Seufzer. Die Aria
(da Capo) kehrt wieder, sie kehrt nicht als dieselbe zurück, da sich die Atmosphäre und die
Dichte derselben Sarabande nach ihrem langen Weg durch 30 Variationen hindurch sehr ver-
ändert haben.
Die Variationen orientieren sich jedoch kaum an der Melodie der Aria, sondern an
dem gemeinsamen Bassthema. Das Werk ist ein Höhepunkt jeglicher Variationskunst. Jeder
Einzelsatz besitzt einen eigenen, individuellen Charakter. Die Komposition der Variationen
folgt einem planvollen und bis ins Detail strukturierten, architektonischen Gesamtaufbau auf
dem Bassthema mit regelmäßig eingefügten kanonischen Sätzen: Jede dritte Variation ist ein
Kanon mit einem stets gleichmäßig anwachsenden, anschwellenden Intervall in den kanoni-
schen Stimmen. Die 30 Variationen sind in Dreiergruppen aufgebaut, in drei Zehnergruppen
und in zweimal 15 Variationen, der Mitte: Die 16. Variation, eine französische Ouvertüre mit
Fugato und Doppelpunktierungen in einem virtuosen Allegretto, leitet den zweiten Teil der 30
Variationen ein.
8
Vgl.: Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Berlin 2000,
S. 101 und S. 103.

10
Dies alles wird von der Aria und ihrer Wiederkehr in diesem kreisförmigen
9
Zyklus
umrundet; auf sie ist alles bezogen.
Sehr bemerkenswert an den Goldberg-Variationen ist jedoch nicht nur dieser genau
und konsequent eingehaltene und künstlerische Aufbau des Werkes, sondern dass Bach min-
destens eine Gegenströmung innerhalb seines eigenen Werkes schuf: Strömungen, die ent-
gegensetzt zum Gesamtaufbau der Variationen drängen, beeinflussen und wirken. Diese
oppunierenden Kräfte geben den Goldberg-Variationen ein dramatisches Profil. Es ist auf der
einen Seite alles im Werk auf die Aria bezogen, jedoch sind viele einzelne Variationen trotz
des Fundamentes, des Bassthemas, im Charakter so weit entfernt von der Aria - und diese
wiederum motivisch miteinander verflochten -, als würde es im Werk um alles andere als um
die Aria gehen, gar um den Boykott der Aria selbst, sogar die Variationen, die besonders auf
die Aria hindeuten (Var.
10
13, 15, 25 und 30: Höhepunkte der Goldberg-Variationen, die,
ohne Wiederholung vorgetragen, die Hauptgruppierungen markieren), sind so deutlich abwei-
chend von der musikalischen Botschaft, dem musikalischen Drängen der Aria, dass es beim
Spielen und auch beim Zuhören irritierend wirken kann. Aber genau diese Irritationen und
Ambivalenzen hat Bach beabsichtigt und gewollt. Es ist, als würde man inmitten einer Kirche
auf die Feuer spuckenden Drachenköpfe und Fratzen an den Außenwänden blicken, in das
Böse, in das Gegenteil inmitten der heiligen Schutzräume. Doch diese Fratzen sollten gerade
das Feindliche und die Dämonen fernhalten. Die von der Aria abweichenden oder wegdriften-
den Variationen sind wie schwarze Steine in einem Mosaik, die unabdingbar zum bunten
Muster dazugehören, um es überhaupt erkennbar zu machen. Diese rebellische Ambivalenz
zeigt in diesem Zyklus, das ermutigen und besänftigen soll,
11
ein Ringen um die Aria. Die
Goldberg-Variationen, ihr Weg und Kreisen um die Aria, sind daher ein Abbild für das
Leben. Da jede dritte Variation ein Kanon ist, das im Intervall anschwillt, scheint das ganze
Werk nach außen und nach innen anzuschwellen auf dem Weg zur Wiederkehr der Aria, die
voll Reife und Reichtum und doch ganz schlicht und nackt am Ende wieder erklingt.
Die Variation 25 beispielsweise ist ein Kosmos für sich, der den Rahmen der Aria
sprengt. Die Variation 15 aber sprengt nicht nur die Aria, sondern auch den ersten Teil des
Zyklus, so dass es kaum vorstellbar ist, wie man nach einer solch enormen Verfremdung und
Wegentwicklung von der Aria - in ein Nichts hinein, in eine Zerrissenheit hin -, noch weiter-
9
Vgl.: Zenck, Martin: Bach, der Progressive. In: Heinz-Klaus Metzger (Hrsg.): Musik-Konzepte 42 (1985),
S. 69.
10
Im Folgenden werden ,,Variation" und ,,Variationen" in Klammern mit ,,Var." abgekürzt.
11
Vgl.: Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Berlin 2000,
S. 101 und S. 103.

11
marschieren kann in eine Fortentwicklung, in einen zweiten Teil, in ein besseres Ende, gar zur
Aria zurück. Der Rhythmus der Variation 13 hingegen wird und soll zunehmend unkenntlich
werden und sich verlieren.
12
.
Das Thema wirkt lange isoliert von seinen Veränderungen. Wie kann in einer solchen
Entfremdung und Zerrissenheit eine Bezogenheit auf die Aria Ziel und Höhepunkt sein? Die
Aria ist mehr als ein Thema, mehr als ein Motiv oder Impuls. Sie steht mit ihrem durchtra-
genden Bassgerüst symbolisch für die Quelle und den Halt Bachs in einem auch für ihn
schweren Leben voll Verlust und Tod: der lange Variationsweg. Sie ist in diesem Werk sein
musikalisches, instrumentales Soli Deo Gloria. In seinem Gesamtwerk taucht diese Quelle
immer wieder anders musikalisch ausgedrückt auf, was weiterer Forschung bedarf. Bach, der
mit 10 Jahren beide Eltern in einem Jahr verlor, seine Frau und Kinder als junger Mann,
wusste, was Tod und Schmerz bedeuten. Und zu dieser Aria, die wiederkehrt, kehrt auch er
zurück. Bach stellt sanft und geduldig die Kontinuität und das Gleichgewicht trotz bewusst
entgegenarbeitender Kräfte im Zyklus wieder her.
Der Zyklus der Goldberg-Variationen ist eine integrale Einheit. Dass Bach oppunie-
rende Kräfte und Gegensätze in eine Einheit zurückführt, ist ein Hauptmerkmal in seiner
gesamten Musik - und in den Goldberg-Variationen auf engem, kompaktem Raume. Daher ist
dieses große Werk in einem strahlenden G-Dur im Ringen um Lösung und Rettung in dem
streng musikalischen Rahmen eines Variationszyklus ein Höhepunkt seines Schaffens. Man-
che Pianisten betonen in ihren Interpretationen das Wegstreben von der Aria, beispielsweise
Martin Stadtfeld. Seine Interpretation ist zudem durch die Wiederholungen im äußersten Dis-
kantbereich eine bewusst kontroverse, spezielle. Andere Pianisten wie Glenn Gould betonen
dagegen die Bezogenheit zur Aria hin. In Bachs Musik ist nichts ein Zufall, keine Wahl der
Tonart, keine Wahl des Intervalls, keine Wahl der Reihenfolge seiner Sätze und Werke.
Warum unterminiert er seine eigene Architektur, die Bezogenheit zur Aria? Was bezweckt er
damit? Dies bedeutet ein Zusammenfallen der Gegensätze in eins, die Coincidentia Opposito-
rum
13
. Auf die Goldberg-Variationen übertragen heißt es, dass sich das Paradoxe dann auf-
löst, sobald das Endliche in das Unendliche fällt oder das Unendliche in das Endliche oder
beides in eines zusammen. Dies genau beschreibt und umschreibt Bachs Glaube und Lebens-
einstellung musikalisch in seinen Werken. Bach arbeitet mit Gegensatz und Einheit, Wissen-
schaft und Kunst, Irdisches und Überirdisches. Bei ihm trifft sich diese Einheit: eine große
12
Vgl.: Dammann, S. 145.
13
Vgl.: Webb, Hillary S.: Coincidentia Oppositorum. In: David Adams Leeming/Kathryn Wood Madden/
Stanton Marlan (Hrsg.): Encyclopedia of psychology and religion. Bd. 1. New York 2010, S. 157 - 159.

12
Wissenschaft mit großer Kunst, und dies alles aufgebaut auf einem großen Glauben. Die
Goldberg-Variationen sind, so wie die Variationen auf dem Bassthema der Aria ruhen und
gegründet sind, auf dem Fundament eines musikalischen Soli Deo Gloria aufgebaut. Bach
komponiert nicht nur in Zahlensymbolik, sondern auch in einer geistlichen Kunst- und
Sprach-Symbolik. Im Koinzidenzbegriff der ,Gegensätze in eins` wird auch der ,Ort der Ton-
art` festgelegt. Symbolisch für Bachs Soli Deo Gloria steht die Aria mit ihrem Bassgerüst. In
der Synthese der Goldberg-Variationen von deutschen, italienischen und französischen Gat-
tungstypen und Traditionen polyphoner Klaviertechnik, die anmutig und doch revolutionär
miteinander verflochten sind, wirkt die Aria als Bezugspunkt - trotz enormer Verfremdung
und opponierender Kräfte.
14
Das Quodlibet rüttelt ebenfalls an der Architektur des Werkes. Statt dem zehnten
Kanon in der None am Schluss des Werkes, an einer heraustretenden, verletzlichen, exponier-
ten Stelle, bietet diese 30. Variation das ex falso quodlibet zum musikalischen Soli Deo Glo-
ria (hier die Aria), die direkt anschließend wiederkehrt. Die eigenständigen Melodien, die im
Quodlibet bruchstückhaft miteinander erklingen und kunstvoll ineinander gewoben wurden,
sind nicht unbedingt die bekannten Gassenhauer oder Volkslieder zum Bassthema (Ich bin so
lang nicht bei dir gwest und Kraut und Rüben). Von dieser ersten Melodie, deren Anfang
Bach zitieren soll, ist sonst nichts schriftlich oder mündlich überliefert.
15
Vermutlich ist das
Quodlibet eine verwobene Kette von Choralmelodien. Auch die Kraut- und Rüben-Melodie
stammt ursprünglich aus der italienischen Orgelmesse Frescobaldis über die traditionelle
Bergamasca-Melodie.
Genauso wenig wie die Goldberg-Variationen nur Kunst oder ein Zur-Schau-Stellen
von Kunstfertigkeit im Komponieren oder Interpretieren sind, sondern ein Glaubensbekennt-
nis, so ist das Quodlibet eine Beweisführung zur Aria da Capo und nicht nur das kunstvolle,
souveräne Ineinanderweben von Volksliedern oder auch Chorälen. Beide zusammen, Aria
und Quodlibet, sind Schlüssel zum Verständnis des Werkes, für Sinn und Ziel der Goldberg-
Variationen. Das Bekenntnis Bachs darf hier nicht verschmäht werden, da es in die Architek-
tur des Werkes eingewoben ist. Die Stellung und Symbolgehalte der Goldberg-Variationen in
der Klavierübung und in Verbindung zu anderen Schaffenskontexten seines Gesamtwerkes
sind außergewöhnlich. Bachs Musik zeigt eine kreative Ordnung, die Schöpfungsordnung
widerspiegelt. Bach beschritt neue Wege tönender Schöpfungsordnung. Seine Sprache ist eine
14
Bach stellt in seinem Gesamtwerk Dur und Moll auf den Kopf. In den Duetten aus der 4. Klavierübung zum
Beispiel, diese möglicherweise eine musikalische Wiedergebung der vier Evangelien, ist keineswegs das
Duett für den guten Hirten in Dur, sondern in a-Moll.
15
Vgl.: Wolf, Christoph (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996, S. 5.

13
Schnittstelle zwischen Tod und Leben. Dieser Zusammenhang schimmert in Bachs Gesamt-
werk erkennbar hervor. Das Quodlibet ist eine Antwort, eine Lösung für die ,Problembehand-
lung` des Wegfallens des Dezimkanons, der Erfüllung des Gesetzes in einem Quodlibet (zu
Deutsch ,Was beliebt`), Gegenstrom zur These (das Zusammenfallen Sterblichkeit mit Ewig-
keit) - eine Untermauerung von These und Bekenntnis Bachs. Die Aria da Capo ist Bachs
Lösung des Variationenproblems. Dass die Aria wieder auferstehen würde, trotz aller Ver-
wicklungen und Zerstörungen, daran glaubte Bach, dies setzte er musikalisch um. Die Aria
mit dem Bassgerüst, das musikalische Soli Deo Gloria, bleibt bis zum Schluss bestehen. Das
Gesamtwerk Bachs ist ein musikalischer Katechismus und beschäftigt sich durchgehend mit
den Grundfragen des Lebens und des Glaubens, die in Noten gesetzt sind. Auch seine freien
Werke sind durchwoben mit Choralbefunden und Bezügen zu seinen geistlichen Liedern und
Kantaten. So gesehen ist Goldberg ein passender prophetischer Name für die Variationen
geworden. Dissonanzen, Klagen und Chromatik in den Variationen seufzen in einem Symbol,
in dem es um Auferstehung und Erlösung geht. In diesem Sinne sind die Goldberg-
Variationen eine Diskussion oder eine Abhandlung mit einer These (die Aria mit Bassgerüst),
einer genau geführten Beweisführung (die 30 Veränderungen über dem Bassgerüst mit dem
Quodlibet) mit einer Lösung und einem Bekenntnis am Schluss (die Wiederkehr der Aria).
Kunst und Wissenschaft verschmelzen bei Bach in einem Wechselspiel mit seinem Glauben.
Haben Bachs Hauptmotivationen - seine Absicht, das Gemüt des Menschen zu ergötzen, zu
erbauen und zu ermutigen, vor allem das der Liebhaber (der Musik und Gottes)
16
, Heiterkeit
der Seele und des Geistes zu bewirken und sein musikalisches Erbe bis auf das Äußerste ein-
zusetzen und zu entfalten, - einen Einfluss auf die Interpretation, den Klang und auf Bearbei-
tungen des Werkes? Ganz sicher: ad gloriam dei, aedificatio hominis, hilaritas animi.
17
Dies
zu verstehen, ist ein wichtiger Schlüssel für die Bearbeitungen des Werkes, eine Spur zur
Interpretation der Goldberg-Variationen.
16
Vgl.: Dammann, S. 23.
17
Ebd.

14
2.
E
INLEITUNG
,,Im Grunde ist Bach der Erfinder der musikalischen Zeit. In seinen Werken
ist nichts zufällig. Es ist davon auszugehen, dass dieses Variationswerk, das
nicht umsonst in G-Dur steht und bis heute seinesgleichen sucht, eine
besondere und bedeutsame Stellung in der Klavierübung innehat: ihr
Höhepunkt ist."
Es ist eine Herausforderung, den großen Variationszyklus Goldberg-Variationen von Johann
Sebastian Bach von zwei Manualen eines Cembalos auf zwei Klaviere zu übertragen, schließ-
lich von einem Klavier auf zwei.
Haben sich die Aria und der Zyklus für Liebhaber
18
auf einem Flügel oder gar auf
zwei Flügeln verändert? Von zwei Manualen auf zwei Klaviere wurde das große Variations-
werk Bachs von Rheinberger umgeschrieben. Wie veränderten sich der Schwierigkeitsgrad
und der Klang der Goldberg-Variationen auf zweimal 88 Tasten? Der grundsätzliche Unter-
schied im Bereich des Ausdrucks am Cembalo mit zwei Manualen, am Clavichord, am Flügel
oder gar auf zwei Klavieren spielt bei Bachs Goldberg-Variationen eine erhebliche Rolle.
Wie lässt sich ein Werk von 1740 heute, wie ließ es sich 1883 oder 1915 auf einem Klavier
oder gar zwei interpretieren? Wie schrieb Rheinberger den großen Zyklus um? Wurden
Rheinberger und Reger der Symbolik des Werkes als Archiv der Vergangenheit und der
Zukunft gerecht? Wie sieht eine heutige Interpretation aus? Spielt dabei die Stellung des
Variationszyklus innerhalb der Klavierübung eine Rolle? Die Komposition, auch die Bearbei-
tung eines Werkes hängen eng mit der sich vorgestellten Interpretation zusammen, mit dem
inneren Hören und Verstehen. Nun waren sowohl Bach als auch Rheinberger und Reger nicht
nur Komponisten, sondern auch hervorragende Tastenkünstler, Organisten und Pianisten.
Auf einem heutigen Klavier unverschleiert das Cantabile der Sarabande, gleichzeitig
den rhythmischen Charakter und die Auszierungen zu spielen, ist für jede Pianistin und jeden
Pianisten eine Herausforderung. Einen neuen Klang zu entwickeln, wie ihn sich Bach zu sei-
nen Lebzeiten selbst nicht hatte vorstellen, aber ersehnen können, oder wie er selbst seine
Werke auf einem Flügel spielen würde, sind wichtige Überlegungen und ausschlaggebend für
die Bearbeitung der Goldberg-Variationen. Die Bearbeitung Rheinbergers für zwei Klaviere
ist daher ein neues Klangerlebnis.
Keller schreibt, der Flügel mit seinem vollen Ton eigne sich nicht in gleicher Weise
zur Wiedergabe der Verzierungen der alten Musik wie die alten Instrumente, es fehle ihm
18
Vgl.: Dammann, S. 23.

15
sowohl die Klarheit und Schärfe des Cembalos wie die Zartheit des Clavichords.
19
. Jedoch die
neuen Möglichkeiten, die der Flügel besitzt, den testamentarischen, zeugnishaften Symbolge-
halten der Goldberg-Variationen gerecht zu werden und klanglich in eine neue Dimension zu
rücken, dürfen nicht unterschätzt werden. Klang an sich ist ein Symbol. In ihm sind morali-
sche und ästhetische Sinnfragen hörbar, auch in der absoluten Instrumentalmusik Bachs.
Die Goldberg-Variationen werden bis heute frei bearbeitet, verjazzt, für andere Ins-
trumente umgeschrieben, für Trio, Orchester, Duette. Es geht darum, zu versuchen, das Werk
kreativ auf andere Instrumente oder Stile zu übertragen - nicht darum, das Werk erneut für das
Klavier zu verbessern, zu verändern oder kritisch zu revidieren. Busoni war dabei eine Aus-
nahme, da er in seinen Bearbeitungen bereits einen neuen Stil kreierte. Jedoch die Goldberg-
Variationen auf ein neu gestaltetes Finale hin zu verändern, zeigt, dass sowohl Busoni als
auch Rheinberger und Reger das wirkliche Finale der Goldberg-Variationen nicht verstanden
haben: die Wiederkehr der Aria, auf die das ganze Werk bezogen ist, anstatt das Quodlibet als
eine Apotheose und Schlussstein ausarbeiten.
Bachs Goldberg-Variationen sind ein Kompendium (oder Compendium),
20
eine
Sammlung kurzer, technisch anspruchsvoller Handstücke und Tänze, eine historische, akusti-
sche Bibliothek für das Ohr und das Auge zusammengefasst; der revolutionäre Johann Sebas-
tian Bach sprengt hierbei jedes gewöhnliche Maß und revolutioniert. Das Übergreifen und
Überkreuzen der Hände (in den Var. 5, 11, 14, 17, 20, 23, 26, 28 und 29), Verzierungen, Tril-
ler, Ostinati, Bild und Gegenbild, freie, virtuose Variationstypen, Rezitative, Gegenbewegun-
gen, Achtelkontinuum, symmetrische Anlagen, Figuration, feinste Kontrapunktik, Polyphonie
und Scheinpolyphonie finden sich hier ein und geben mehr als ein musikalisches, europäi-
sches
21
Bild aus dem 18. Jahrhundert. Die Goldberg-Variationen sind ein Kosmos, eine
Landkarte, ein Leitfaden nach vorne, nach hinten, zur Seite, für Bachs Gesamtwerk, für seine
Zeit, für die heutige Zeit und für die Zukunft. Wie haben Rheinberger und Reger diesen Kos-
mos aufgefasst und bearbeitet? Die Goldberg-Variationen sind allerdings auch eine erstaunli-
che Sammlung von ,Anti-Handstücken` für einen Pianisten alleine, da das Interpretieren am
Klavier statt zwei Manualen heute eine Odyssee von Arbeit herauf beschwört hat. Genau aus
diesem Grunde schrieb Rheinberger das Werk auf zwei Klaviere um.
22
Das Zusammenführen
des italienischen Giguentypus, der französischen Ouvertüre, der deutschen Sarabande, Cha-
19
Vgl.: Keller, Hermann: Die Klavierwerke Bachs. Beiträge zu ihrer Geschichte, Form, Deutung und
Wiedergabe. Leipzig 1950, S. 213 f.
20
Vgl.: Descartes, René: Compendium musicae. Dallas 1961, S. 13 und S. 15.
21
Couperin, Francois: Konzert der Nationen. Mainz 1987.
22
Vgl.: Rheinberger, Josef/Reger, Max, S. 3.

16
conne, Pastorale, Passacaglia, Passepied, Polonaise, Corrente, Fantasia -, all dies stellt ein
historisches, akustisches Archiv der Erinnerungen und der Sinne dar. Es präsentiert die dama-
lige architektonische, musikalische Kunst und ist ein Tresor sowohl für technische, als auch
für Stilfragen. Diesen Herausforderungen stellte sich Rheinberger bei der Bearbeitung des
Werkes. Der volle Klang des Flügels aber verbindet und schlägt Brücken. Dies wussten
Rheinberger und auch Reger zu schätzen und zu nutzen.
Bach besaß eine ironische Haltung gegenüber den Konventionen seiner Zeit; er war
nicht deswegen gläubig, weil es damals zum ,guten Ton` gehört. Dazu war er viel zu unkon-
ventionell. Seine Musik besitzt humoristische Züge und scheint abzuwechseln zwischen
Schönheit, Ernsthaftigkeit, Übermut, Spott und Zweideutigkeit. Bach ist ein moderner Künst-
ler bis heute.
Bachs Werke und die Goldberg-Variationen etablierten sich erst allmählich im Laufe des
19. Jahrhunderts und erregten nun auch die Aufmerksamkeit für Bearbeitungen. Josef Rhein-
berger griff 1880 als Erster in den Notentext des Variationszyklus ein, ergänzte Füllstimmen,
Kontrapunktik und homophone Sätze, um das Werk für zwei Flügel klanglich weit zu
machen. Der am 17. März 1839 in Vaduz, Liechtenstein, geborene Komponist und Organist
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Josef Gabriel Rheinberger, gestorben 1901 in Mün-
chen, wird heute oft als deutscher Musiker bezeichnet, da er bereits mit 12 Jahren nach Mün-
chen für sein Studium am Konservatorium übergesiedelt war und dort bis zu seinem Lebens-
ende blieb. Rheinberger unterrichtete dort bis kurz vor seinem Tod Komposition. Er genoss
zu seiner Zeit einen bedeutenden, internationalen Ruf als Kompositionslehrer und Repräsen-
tant für die Kultur einer zu Ende gehenden Epoche. Er lebte im Klima des ausgehenden
19. Jahrhunderts. Josef Rheinberger war Leiter des Münchner Oratorienvereins und Solorepe-
titor am Münchner Nationaltheater bis 1867.
23
Allerdings musste er sich gut eingebunden
haben, nachdem er über 40 Jahre lang am selben Ort unterrichtet hatte. Er hielt sich zurück im
Streit zwischen Pro- und Anti-Wagnerianern und gewann die Sympathie von Johannes
Brahms, dessen musikalischen Einfluss man in Rheinbergers Musik hören kann, zum Beispiel
in Träumen op. 9 Nr. 4, aber auch in der Bearbeitung Bachs Goldberg-Variationen (s.
Var. 18, 22, 23 und 29). Auch Wagner hatte musikalisch deutliche Spuren bei ihm hinterlas-
sen, wie seine am 23. Mai 1869 erfolgreich in München aufgeführte Oper Die sieben Raben
23
Vgl.: Wagner, Guy: Ein Lehrmeister aus Liechtenstein. Josef Gabriel Rheinberger. Luxemburg 2009, S. 9.

17
op. 20 deutlich zeigt.
24
Rheinbergers Frau Fanny von Hoffnaaß aber sprach ihre Abneigung
gegen Wagner laut aus. Der Katholik wurde mit vielen Ehrungen ausgezeichnet. Zu seinem
umfangreichen Repertoire an Kompositionen für Chor, Orgel, Kammermusik, Klavier und
Orchester gehören auch Bearbeitungen. Neben Orgelwerken und Chorgesängen schrieb
Rheinberger Bearbeitungen von Variationen und Sonaten von Mozart und die Bearbeitung
Bachs Goldberg-Variationen, 1883 für zwei Klaviere. Rheinberger griff stark und doch
dezent und ,,pietätvoll"
25
in den Notentext ein in einer Selbstverständlichkeit als studierter
Musiker, die heute teilweise unvorstellbar ist. Die Goldberg-Variationen wurden damals noch
nicht erkannt als Wurzel und Grundlage der Variationskunst. Es gelang Rheinberger ein Meis-
terwerk in dieser seiner Bearbeitung für zwei Klaviere. Sein Respekt für Bachs Musik
bewahrte ihn vor eitlen Zusätzen. Seine Bearbeitung der Goldberg-Variationen wurde erst
2009 durch die CD-Einspielung des Interpretenduos Yaara Tal und Andreas Groethuysen
einem größeren Publikum bekannt. Damit wurde auch das Werk Bachs wieder gehört, was
genau Rheinbergers Anliegen war.
26
Das einzige Werk, das Rheinberger selbst für Klavierduo
schrieb, ist sein Klavierduo-Werk opus 15 in a-Moll für zwei Klaviere vom Januar 1868.
27
Max Reger (1873 - 1916) bearbeitete 1913 wiederum die Fassung von Rheinberger; griff
hauptsächlich in Dynamik, Phrasierung und Artikulation ein.
Reger, geboren in der Oberpfalz, von Hugo Riemann am Konservatorium Wiesbaden
in Musiktheorie unterrichtet, war ein äußerst geistesgegenwärtiger, produktiver, sensibler und
fleißiger Komponist, konzertierender Pianist und Dirigent. Reger trat 1905 die Nachfolge
Rheinbergers am Konservatorium in München an, jedoch gab die Stelle nach einem Jahr wie-
der auf. Als suchender, aktiver Künstler und im Charakter das ganze Gegenteil von Rheinber-
ger, wollte Reger die festgefahrenen Dinge im Haus ändern, was dem konservativen Lehrkör-
per nicht gefiel. Reger fühlte sich offenbar nicht berufen, ein Leben lang in München zu
bleiben. Bereits zwei Jahre später erhielt er eine Professur in Leipzig, die er beibehielt, den
Posten des Musikdirektors aber nach einem Jahr ebenfalls wieder aufgab. Während und neben
seiner musikpädagogischen Arbeit in den Lehrveranstaltungen gab er sein intensives Konzer-
tieren und Komponieren niemals auf, was ihn kräftemäßig langsam überforderte. Die Reisen
waren damals sehr beschwerlich. Reger, der schon einige psychische Zusammenbrüche in
24
Vgl.: Irmen, Hans-Josef: Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Gabriel Josef Rheinbergers.
Regensburg 1974 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. 37), S. 23 und S. 475.
25
Vgl.: Rheinberger, Josef/Reger, Max, S. 3.
26
Ebd.
27
Vgl.: Irmen, Hans-Josef: Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Gabriel Josef Rheinbergers.
Regensburg 1974 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. 37), S. 20 und S. 58.

18
jungen Jahren erlebt hatte, erlag 1916 letztendlich einem Herzversagen. Große sichtbare
Durchbrüche in seinem Leben sind ihm erst im letzten Lebensjahrzehnt gegönnt gewesen.
Obwohl er wegen seiner Heirat der geschiedenen Elsa von Bercken aus der Kirche ausge-
schlossen worden war, schrieb er viel geistliche Musik. Regers Revision Rheinbergers der
Goldberg-Variationen gehört durchaus nicht zu seinen bekannten Werken und wird oft nicht
einmal erwähnt. Er hatte Rheinbergers Fassung lange nach seiner niedergelegten Nachfolge
Rheinbergers revidiert, drei Jahre vor seinem Tod. Inwiefern die erste Bearbeitung von Josef
Rheinberger und dessen Revision durch Max Reger nötig, sinnvoll und hilfreich war, wird
sich im Folgenden herausstellen. Die Rheinberger'sche Fassung mit der Revision Regers zeigt
in Dynamik, Kontrapunktik, Klang und Artikulation ein großes Wissen und Verständnis von
Bachs Klangwillen, Tonsprache und Satzstruktur. Max Reger hatte im Komponieren von
Bearbeitungen, speziell für Klavierduo, mehr Erfahrung als Rheinberger; seine Revision war
demnach kritischer Natur. Dennoch war Reger aufrichtig begeistert über die Rheinberger'sche
Fassung, die er erst Jahre nach dessen Tod kennenlernte durch seinen Duopartner und Freund,
den Pianisten und Professor August Schmid-Lindner.
28
In Regers einschneidenden Verände-
rungen der Bearbeitung Rheinbergers in Phrasierung und Artikulation ist vor allem die Phra-
sierungslehre seines Lehrers, des Musikwissenschaftlers Hugo Riemann (1849 - 1919)
29
deut-
lich herauszuhören.
30
Letztendlich ist bei jeder Bearbeitung entscheidend, ob die musikalische ,Bezie-
hung` zur Aria, die auf dem Bassthema liegt, gegeben ist und durch das Werk trägt bis zur
Wiederkehr der Aria. Erst dann sind die Goldberg-Variationen im Sinne Bachs verstanden
worden. Da weder Rheinberger noch Reger eine Wiederkehr der Aria vor Augen und im Ohr
hatten, als sie das Werk bearbeiteten, ist schon zu Beginn und vor allem im Variationsweg, im
von Bach gewollten ,Ringen um` und im bewussten ,Entfremden von` der Aria, die entschei-
dende Prämisse verloren gegangen. Dazu kommt, dass Rheinberger den Zyklus als ein für
sich stehendes Einzelwerk ansah anstatt eingeplant und eingebunden in einen großen Zusam-
menhang. Der aus der Klavierübung gerissene vierte Teil, nicht nur für ein Konzert, sondern
für eine feststehende Bearbeitung, schwankt für sich genommen orientierungsloser, sonst kurz
vor dem fünften Teil stehend, dem Höhepunkt polyphoner Kompositionskunst, der Kunst der
Fuge. Die über hundert Einheiten im Zyklus Bachs verlieren ihren Rahmen, wenn es um pia-
nistische und satztechnische Floskeln und Virtuositäten geht, die aus dem Kontext der Bedeu-
28
Vgl.: Schmid-Lindner, August: Das Klavier in Max Regers Kunst. Danzig 1942, S. 3.
29
Vgl.: Riemann, Hugo: Musikalische Dynamik und Agogik. Lehrbuch der musikalischen Phrasierung auf
Grund einer Revision der Lehre von der musikalischen Metrik und Rhythmik. Berlin 2010, S. 26.
30
Vgl.: Lorenzen, Johannes: Max Reger als Bearbeiter Bachs. Wiesbaden 1982, S. 173.

19
tung des Formwillen Bachs herausgenommen sind. Dabei ist nicht wichtig, um was für Flos-
keln es sich handelt, aus welcher Zeit und Epoche. Rheinberger und Reger nahmen das Werk
in ihrer Bearbeitung aus seiner Bedeutung, Identität und Stellung, als vierten Teil und Höhe-
punkt der Klavierübung.
31
31
Vgl.: Bach, Johann Sebastian: Klavierübung. 2. - 4. Teil. München/Duisburg 1962, S. 6.

20
3. D
IE
,,G
OLDBERG
-V
ARIATIONEN
"
BWV
988
VON
J
OHANN
S
EBASTIAN
B
ACH
(1740)
,,Die wahre Motivation, ein Werk zu schreiben, liegt sicher nicht im Auftrag
eines Geldgebers. Die Motivation liegt innen, wie es eben ist in der
Kreativität. Sie liegt weder in Geld noch im Ruhm, sondern in der tiefsten
Lebenseinstellung. Es ist eine wichtige Frage, warum Bach dieses große
Variationswerk geschrieben hat ­ letztendlich ,Das Gemüt zu ergötzen` - ein
Werk für ,Liebhaber` zu schreiben
32
, Liebhaber der Musik und Liebhaber
Gottes."
Clavier Ubung / bestehend / in einer / ARIA / mit verschiedenen Veraenderungen / vors Cla-
vicimbal / mit 2 Manualen. / Den Liebhabern zur Gemüths - / Ergetzung verfertiget von /
Johann Sebastian Bach / Königl. Pohl. u. Curfl. Saechs Hoff- / Compositeur, Capellmeister,
u. Directore / Chori Musici in Leipzig. / Nürnberg in Verlegung / Balthasar Schmids.
33
Bachs Goldberg-Variationen, BWV 988, wurden 1741 in Nürnberg verlegt, mit den obigen
Worten auf dem Titelblatt, als vierter Teil seiner Klavierübung. Der Musikalienverleger Bal-
thasar Schmid stach das Werk persönlich und veröffentlichte es auf eigene Kosten, nachdem
der Vertrag wahrscheinlich auf der Leipziger Ostermesse 1741 geschlossen wurde.
34
Die ers-
ten drei Teile veröffentlichte Bach im Selbstverlag.
35
Schmid war beteiligt, obwohl der dritte
Teil der Klavierübung im Hause seines Konkurrenten Johann Christoph Weigel junior
erschienen war. Bach bekam für die Veröffentlichung zum Startschuss der Klavierübung Teil
I finanzielle Unterstützung von mehreren Musikern in Deutschland, dennoch trug Bach das
wirtschaftliche Risiko, bevor es ihm gelang, für die Goldberg-Variationen einen kommerziel-
len Verleger zu finden.
36
Der Name Goldberg-Variationen entwickelte sich erst im 19. Jahr-
hunderts nach einer Anekdote von Johann Nikolaus Forkel:
37
Der in Dresden im Dienst des
russischen Grafen Hermann Carl Reichsgraf von Keyserling stehende junge Hauscembalist
Johann Gottlieb Goldberg sollte für dessen schlaflose Nächte ein Variationswerk von sanftem,
munterem Charakter vorspielen, dass er des Nachts aufgeheitert werden könnte; dafür habe
Bach einen goldenen Becher erhalten. Eine Anekdote - genauso, dass Bach insgesamt Varia-
32
Vgl.: Dammann, S. 23.
33
Vgl.: Wolf, Christoph (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996, S. 5.
34
Vgl.: Rampe, Siegbert: Suiten und Klavierübung. In: Konrad Küster (Hrsg.): Bach Handbuch. Kassel 1999,
S. 781 f.
35
Vgl.: Wolf, Christoph (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996, S. 5.
36
Vgl.: Rampe, Siegbert: Suiten und Klavierübung. In: Konrad Küster (Hrsg.): Bach Handbuch. Kassel 1999,
S. 764 f.
37
Vgl.: Forkel, S. 101 und S. 103.

21
tionswerke für eine nur undankbare Arbeit gehalten habe der stets gleichen Grundharmonie
wegen.
38
. Der junge begabte Cembalist Goldberg soll zum Zeitpunkt des gedruckten Werkes
um die 10 Jahre alt gewesen sein.
39
Das sehr junge Alter des Hauscembalisten Goldberg lässt
zu Niemöllers These tendieren, dass Forkels Bericht über die Goldberg-Variationen als
,Schlafmittel` eine freie Erfindung gewesen sei.
40
Der junge Johann Gottlieb Goldberg, ein
Kind zu dieser Zeit, soll in jenem Jahr vermutlich noch nicht einmal in den Diensten des Gra-
fen gestanden haben. Außerdem erwähnt Forkel den Grafen bei der Erlangung des Hoftitels
durch Bach mit keinem Wort.
41
Dennoch lassen sich Forkels Berichte, Spekulationen und
Anekdoten heutzutage weder widerlegen noch beweisen. Erklären lassen sich die Goldberg-
Variationen über Forkels Bericht nicht. Die Musik Bachs ist übriggeblieben. Auch die genaue
Entstehungszeit ist nicht bekannt. Hat der junge Goldberg viel in dem Werk gespielt? Ver-
mutlich gab Bach bei seinem Besuch in Dresden seinem Gönner, dem Grafen, zunächst ein
Exemplar des Druckes. Dass es ein Auftragswerk war,
42
in dem Sinn, dass er dafür Geld
bekam, stimmt vermutlich, da Komponisten auch vom Komponieren leben, aber das ist nur
die äußere, sichtbare Seite der Entstehung des Werkes. Bach nutzte Auftragswerke, um eine
Kompositionen zu finanzieren. Zu überlegen wäre, warum nicht Keyserling selbst, nachdem
er der Auftraggeber (hier allerdings im Sinne von Grund für die Entstehung des Werkes)
gewesen sein soll, das Stechen und Veröffentlichen der Goldberg-Variationen übernommen
und bezahlt hatte. Dies war ein teures Unternehmen für Bach. Keyserling hätte sich dafür ver-
antwortlich, verpflichtet und auch in seiner eigenen Ehre geschmeichelt gefühlt haben müs-
sen, wäre er wirklich der Grund und Auftraggeber des Werkes gewesen. Bach schrieb keine
Stilkopien. Seine Klavierübung, insbesondere der vierte Teil, war kein pädagogisches Stück
für Schüler.
43
Bach komponierte einige musikpädagogische Werke, beispielsweise die Inven-
38
Vgl.: Wolf, Christoph (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996, S. 5.
39
Vgl.: Niemöller, S. 22 f.
40
Ebd.
41
Ebd.
42
Vgl.: Dammann, S. 11.
43
Die Goldberg-Variationen sind in der Anlage Handstücke (vgl.: Türk, Daniel Gottlob: Klavierschule oder
Anweisung zum Klavierspielen für Lehrer und Lernende. Leipzig/Halle 1997), das heißt, es erfordert eine
gewisse Handhabung dieser 30 zum Teil sehr virtuosen Veränderungen der Aria. Sie sind kurz, prägnant,
eingängig und vom Blatt zu spielen, von der Anlegung her, einzeln für sich genommen, Schülerstücke. Den
Zyklus vollständig vorzutragen, erwartete Bach nicht, außer von professionellen Musikern (vgl.: Rampe,
S. 786) denn bereits im Erstdruck gliederte Bach den Zyklus für eine zusammenhängende Wiedergabe mit
Fermaten am Ende verschiedener Sätze. Doch im Grunde sind diese Handstücke woanders auszutragen als
durch trainierte Technik der Hände. Sie zu spielen erfordert die Handhabung einer innerlichen Sprache,
nicht nur Zunge oder Mund, sondern auch Verständnis der Werke und Gedanken. Handstücke im eigentli-
chen Sinne sind die Stücke aus Anna Magdalenas Klavierbüchlein (vgl.: Bach, Johann Sebastian: Klavier-
Büchlein für Anna Magdalena Bach. München 1999), da die Hände früh ausgebildet, mit ihrem Berüh-
rungs-, Tast- und Ergreifungssinn gefördert werden, um im ,Archiv der Sinne`, das die Künste darstellen,
wirksam werden zu können. Bereits die Aria ist jedoch kein Schülerstück mehr.

22
tionen, zu denen er notiert: ,,Wormit denen Liebhabern des Clavires, besonders aber denen
Lehrbegierigen, eine deütliche Art gezeiget wird, nicht alleine mit zwei Stimmen reine spielen
zu lernen (...)".
44
Die Goldberg-Variationen aber gehören nicht zu den musikpädagogischen
Werken. Das äußerst anspruchsvolle Werk war ein unabdingbares Vorhaben. Glenn Gould
schreibt, dass er als interpretierender Künstler seine Lebensweisen, Lebenseinstellungen,
seine politischen und ideellen Einstellungen, religiöse Implikationen und seine Persönlichkeit
in seine Interpretationen Bachs hinein fließen lässt,
45
wie viel mehr ein Komponist in sein
eigenes Schaffen. Bach nähert sich mit den Goldberg-Variationen, mit der Verzweigung und
Verknüpfung einzelner Variationen mit anderen Werken seiner selbst und ihm bekannten
Zeitgenossen oder Komponisten vor seiner Zeit wie beispielsweise Fischer, Frescobaldi,
Monteverdi, Rameau, und Scarlatti der Idee einer gesamteuropäischen Musik an. Die Gold-
berg-Variationen sind als ganz beabsichtigte und wohl überlegte Folge der ersten drei Teile
der Klavierübung anzusehen, für die kein Auftraggeber bekannt ist.
46
Er arbeitete gewissen-
haft an einer chronologischen Reihenfolge mit Ziel, Schlussstein und Höhepunkt seiner Kla-
vierübung. Es ist keineswegs ein Zufall, dass diese mit den Goldberg-Variationen endet. Es
gibt Thesen, die davon ausgehen, dass die Kunst der Fuge als fünfte Teil der Klavierübung
von Bach konzipiert war. Es ist eine deutliche und beabsichtige Steigerung in den Teilen der
Klavierübung zu erkennen. Christoph Wolff schreibt, dass dieses gewichtige Schlussstück aus
Bachs ,,autonomer Disposition" heraus entstanden ist
47
- so die gesamte Klavierübung. Um
noch weiter zu gehen: Wenn man Bachs Musik und Gesamtwerk kennt, spielt und bis in die
Tiefe betrachtet, ist einleuchtend und klar, dass die Goldberg-Variationen ein von Beginn der
Klavierübung an geplantes Unterfangen waren, ein gewolltes Ziel und einen Höhepunkt dar-
stellen weit über die Klavierübung hinaus. Bachs Gesamtwerk ist hervorragend durchdacht. In
die musikalischen Zinnen seines architektonischen Gesamtklangwerkes zimmerte Bach in das
,Gestein der Musik` sein musikalisches Soli Deo Gloria. Dazu zählte jeder ,Stein`,jede Note
wie ein Puzzlestück. Die Goldberg-Variationen sind ein Eckstein oder Meilenstein im
Gesamtwerk Bachs, ein Schlüssel zum Verständnis seines Gesamtwerks.
44
Vgl.: Bach, Johann Sebastian: Auffrichtige Anleitung. Invention Nr. 1 in C-Dur BWV 772. Köthen 1723.
45
Vgl.: Bazzana, Kevin: Glenn Gould. Kassel/Stuttgart 2001. S. 128.
46
Bach, Johann Sebastian: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996.
47
Ebd.

23
Urthema
48
Unter anderem der Musikwissenschaftler Konrad Küster veröffentlicht eine nahezu unüber-
schaubare Vielzahl an Deutungen über die Entstehung, Funktion und Faktur des vierten Teils
der Klavierübung,
49
wobei der kunstvolle Aufbau der Goldberg-Variationen auch ohne (sym-
bolische) Deutung klar analysiert werden kann und wurde.
Eine Ausdehnung eines Bass-Schemas auf 32 Takte ist von keinem anderen Kompo-
nisten der Zeit zu belegen. Es geht Bach dabei nicht um die Kunst des Kanons. Er sprengt
zwar die Erfahrungen, die er bisher in seinen Suitenserien gesammelt hatte, in Gattungstypen,
Essercizi, polyphone Tastenmusik, Tänze, Kanons, Suiten. Es ist möglich, aus den Variatio-
nen einen zusätzlichen Kosmos zu bauen. Zu jeder einzelnen Variation ist ein Bezugsstück
aus der Zeit vor Bach, zu seiner Zeit oder aus seinem eigenen Gesamtwerk, vor allem aus
Kantaten, zu finden. Die Verzweigungen in Bachs Musik sind sehr tief und weitreichend, ver-
bunden vor allem mit seinem eigenen Gesamtwerk, speziell mit seinen Kantaten, geistlichen
Liedern, zu Chorälen und Choralvorspielen. So sind beispielsweise die Variationen 21 und 25
mit seiner f-Moll-Sinfonia BWV 780 verknüpft, die wiederum mit seinen Kantaten.
Es ist zu überlegen, ob Bach mit den Goldberg-Variationen auch ein exemplarisches
Werk vorlegen wollte - so wie er auf Matthesons Aufruf hin,
50
ein exemplarisches Fugenwerk
zu veröffentlichen, sofort die Kunst der Fuge vorlegte.
51
Vermutlich reichte Bach ebenso
zuvor ein exemplarisches Werk für eine Variationsreihe oder eine Variationspartita ein, um
der mangelnden Popularität für Variationswerke im frühen 18. Jahrhundert zu begegnen und
48
Vgl.: Keller, Hermann: Die Klavierwerke Bachs. Beiträge zu ihrer Geschichte, Form, Deutung und
Wiedergabe. Leipzig 1950, S. 214 f.
49
Vgl.: Rampe, Siegbert: Suiten und Klavierübung. In: Konrad Küster (Hrsg.): Bach Handbuch. Kassel 1999,
S. 779 f.
50
Vgl.: Mattheson, Johann: Der vollkommene Capellmeister. Kassel 1999, S. 441.
51
Vgl.: Schleuning, Peter: Johann Sebastian Bachs ,,Kunst der Fuge". München 1993, S. 8 f.

24
einem solchen Variationszyklus ein neues Gesicht zu geben. Bis heute ist keine Variationspar-
tita bekannt, die nur ansatzweise mit den Goldberg-Variationen zu vergleichen wäre. Über
das veröffentlichte exemplarische Variationswerk schrieb Mattheson in recht verächtlichem
Ton (möglicherweise deswegen, da für ihn in seiner Fantasierlehre
52
jene Arien bereits ver-
pönt waren und er die Bedeutung der Aria Bachs und die Bezogenheit zur ihr in dessen Varia-
tionszyklus nicht erkannt hatte), dass die Goldberg-Variationen ,,eine für Bach bislang unge-
wohnte Häufung von Brüchen, krummen Sprüngen und vielgeschwäntzten Noten" sei, ,,wo
die Mittelstimmen nicht stillsitzen".
53
Die Aria basiert auf einem ,klassischen` Ostinato-
Modell, das als Chaconne- Bass in G-Dur bei Monteverdi, Purcell, Couperin, Händel und
anderen Komponisten wiederholt auftritt.
54
Die zweigliedrige Gestalt der Goldberg-
Variationen, ihrer sie präsentierenden Aria und die klaren, in sich abgeschlossenen, ebenfalls
zweigliedrigen Variationssätze sprechen für die typische Variationspartita.
55
Die 30 Variatio-
nen waren für Mattheson ein ,,unbequemes Gefolge".
56
Diesen Satz allerdings kann jeder Pia-
nist durchaus nachvollziehen: Der Variationszyklus, geschaffen für ein zweimanualiges Cem-
balo, fordert eine hohe Virtuosität und Konzentration am Klavier durch Überschlagen und
Kreuzen der Hände beim Spiel und gilt als eine der schwierigsten Klavierkompositionen
Bachs, wenn nicht gar der gesamten Klavierliteratur überhaupt.
Über den Aufbau der Goldberg-Variationen ist viel geschrieben worden. Hiermit soll
der Schwerpunkt auf etwas anderes gelegt werden. Die Goldberg-Variationen gehören zum
kontrapunktischen Spätwerk Bachs.
57
Er wertete diese traditionelle Reihungsform durch den
Fundamentbass der Aria mit 32 Gerüsttönen, Fundamentalnoten, wie Bach sie selbst nannte,
32 Takten und mit einem Satzumfang des Gesamtwerkes von 32 Sätzen zahlensymbolisch
und souverän auf ein Vierfaches auf. Es war Bach stets ein Anliegen, das Traditionelle auf-
zuwerten, zu revolutionieren und zu vertiefen, was ihm in seinem Leben Ärger und Unver-
ständnis brachte. Variiert wird der gesamte Klaviersatz der Aria mit den 32 zahlensymboli-
schen Fundamentalnoten.
58
Symbolik war für Bach allerdings nicht nur in Zahlen wichtig (in
Takten, Noten, Perioden und Abschnitten), sondern auch in ,sprachlicher` Anordnung, im
Intervall, in der Tonart und deren Relationen als Ausdruck. G-Dur ist eine Achsentonart und
besitzt eine strukturelle, prinzipielle musikalische Sonderstellung, gefolgert aus dem invarian-
52
Vgl.: Mattheson, S. 54.
53
Vgl.: Mattheson, S. 232.
54
Vgl.: Rampe, Siegbert: Suiten und Klavierübung. In: Konrad Küster (Hrsg.): Bach Handbuch. Kassel 1999,
S. 781 f.
55
Ebd.
56
Vgl.: Mattheson, S. 232.
57
Vgl.: Wolf, Christoph (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996, S. 6.
58
Vgl.: Dammann, S. 23 - 38.

25
ten Spiegelungseffekt c-h oder f-fis. Dem Veränderlichen und dem Unveränderlichen ent-
gegen tretend, also den 30 Veränderungen im Vergleich zur invarianten Tonart G-Dur, bezo-
gen auf das Spiegelungssystem mit Spiegelachse f-fis, erkennt man eine neue Tiefe; die dia-
tonische Tonleiter abfolgernd aus der Chromatik, so stößt man auf G-Dur. Bei Bach ist nichts
ein Zufall, und dies sei nur ein kleiner Hinweis auf die vielschichtige Tiefe der Symbolik in
Bachs Musik. Die Goldberg-Variationen stehen in Relation zu den anderen drei Teilen der
Klavierübung, die vorangehen. Bach verbindet Symbolik mit den Gesetzmäßigkeiten der
Musik. Da spielt der Quintenzirkel eine elementare Rolle für den Tonartenraum der Klavier-
übung. Hier bilden die Goldberg-Variationen den Ausgleich mit einer einzigen Tonart, da in
ihnen sonst so viel anderes passiert. Die Ausnahme hierzu ist die chromatische, enharmoni-
sche Variation 25.
Es ging Bach sicher nicht darum, Kuhnau oder andere Vorgänger von ihrem Platz zu
drängen. Die wirklichen Entstehungsmotive liegen, wie im Vorwort und in der Einleitung
erwähnt, stets in der kreativen, nach Ausdruck suchenden Innenwelt eines Künstlers: Er
spricht, meist unbewusst, prophetisch in und für die Zukunft. Rampe erwähnt die ,,umfas-
sende Verfremdung", die sich Bach in diesem Variierungsprozess gestattet.
59
Gerade auf-
grund dieser Verfremdung erhalten alle Variationen (in konsequenter motivischer Verarbei-
tung in der Handschrift Bachs) einen eigenen, unverwechselbaren, für diese Zeit höchst
modernen Charakter, auch wenn und gerade weil sie nicht immer einer Vorlage oder einem
Typus genau zuzuordnen sind. Dies alles zeigt das große Vorhaben Bachs. Es ging nicht um
ein Dilettantenpublikum und auch nicht darum, was gerade zu Bachs Zeiten in Mode war wie
Ansammlungen von Polonaisen. Es ging um etwas, was selbst bis heute nicht in Mode ist und
nie in Mode war, da Bachs Werk zu keiner musikalischen Nachbarschaft gehört. Die Gold-
berg-Variationen gehören zu Bachs Spätwerk.
Die Aria, die auf dem Bassthema sitzt, ist ein Gesangsstück über einem instrumentalen
Bass und enthält bereits die Implikationen seiner Bearbeitung.
60
Sie ist in sich durch die vie-
len Auszierungen, die Abwandlung des melodischen Kerns und der Fortspinnung in der Coda
des zweiten Teils (ab T.
61
27) sehr variativ gearbeitet.
62
,,In der rechten und linken Hand ste-
hen sich ein vokaler und instrumentaler Charakter gegenüber".
63
Zum Bass-Subjekt kommt
59
Vgl.: Rampe, S. 784.
60
Vgl.: Zenck, Martin: Bach, der Progressive. In: Heinz-Klaus Metzger (Hrsg.): Musik-Konzepte 42 (1985),
S. 37.
61
Im Folgenden werden ,,Takt" und ,,Takte" in Klammern mit ,,T." abgekürzt.
62
Vgl.: Zenck, S. 37 f.
63
Vgl.: Dammann, S. 35.

26
zusätzlich ein Binnengefüge großer, virtuoser Variationskunst zustande.
64
Die Variationen
kreisen, auch in sich variierend in Motiven und Figuren, um das Bassgerüst in Erwartung der
Wiederkehr der Aria. Jede dritte Variation ist ein Intervallkanon; die Ausnahme bildet die
Variation 30: Statt dem zehnten Kanon, anstelle des Dezimenkanons am Ende der Variations-
partita, erscheint das Quodlibet. Die beiden oberen kontrapunktischen, sich imitierenden
Stimmen eines Kanons stehen auf einem Bassthema, der nicht kanonisch ist, dem ,Goldberg
Bass`. Bis auf Variation 27 sind diese Intervallkanons dreistimmig. In einem Kanon dominiert
die Melodie über der Harmonie, jedoch zeigt Bach mit seinem Kanon über dem Bassmotiv
eine neue Art Kanon auf: freistimmige Sätze. Bach revolutioniert die Gattung Kanon, Fuge
und Variationswerk zugleich. Die Vierstimmigkeit der Gegenfugen und der Tripelfuge bildet
nicht nur eine Tradition der Fuge weiter oder bestätigt eine Gattung im Variationswerk: Bach
revolutioniert diese Gattung, die Geschichte der Fuge und damit verbunden die Variations-
kunst und deren Epoche. Die Aria mit ihren 30 Veränderungen besteht jeweils aus zwei Tei-
len, die wiederholt werden. Bachs Ordnungsprinzip ist deutlich in der Gesamtarchitektur zu
erkennen, sowohl im Gesamtbild des vierten Teils der Klavierübung als auch in den Details
der Goldberg-Variationen.
Der Rahmen der Goldberg-Variationen besteht (liegend auf dem Bassgerüst) aus
Aria - Variationsweg - Quodlibet - Aria. Die Mensurvariation
65
mit den unterschiedlichen
Taktmensuren im thematischen und harmonischen Konzept besitzt eine chromatische und
enharmonische Variation (Var. 25) und drei Moll-Variationen im größtmöglichen Kontrast
zum Umfeld um sie herum, hier besonders Variation 15, die die Mitte markiert. Die Bezie-
hung zwischen Aria und Quodlibet ist eine erstaunliche und intensive und Schlüssel zum Ver-
ständnis des Werkes. Die Aria, die überliefert wurde aus dem Klavierbüchlein für Anna Mag-
dalena Bach, erscheint wie eine freie Kadenz als Höhepunkt, bevor das Werk begonnen wird.
Sie richtet die Hörer durch den langen Weg über dem Bassgerüst stets auf die Aria aus, dass
man innerlich und akustisch auf dieses Ziel der Wiederkehr bis zur Aria da Capo festgelegt
ist.
Das Quodlibet und seine Vorboten (vgl. S. 137 f.) sind ein wichtiger Verweis auf die
Wiederkehr der Aria, vorwärts strebend und doch klar abgegrenzt. Keine Note im Quodlibet
ist unkommentiert. Es thematisiert Abschied, Sehnsucht und Heimweh in seinem ,Was
beliebt` (zu Deutsch für Quodlibet) und lässt anschließend die Aria wiederkehren. Aus dieser
Einheit von Abschied und Wiederkehr, Frage und Lösung, These und Beweisführung, Fest-
64
Vgl.: Dammann, S. 23 f. und 38 f.
65
Vgl.: Ebd., S. 74.

27
halten und Loslösung, wobei Lösung und Antwort bereits in der Aria vereint sind, erscheint
nach dem Quodlibet die Aria da Capo e Fine, um die Goldberg-Variationen zu beenden. Der
Zyklus klingt aus; sanft, nicht exorbitant.
Eine der Melodien über dem Bassgerüst aus dem Quodlibet ist (aus der Neumeister
Sammlung von Orgelchorälen) der Choral: Was Gott tut, das ist wohlgetan, BWV 1116.
Rampe schreibt, wie es oft geschrieben wird, dass in der Variation 30 über dem Bass die bei-
den Volksmelodien Ich bin so lang nicht bei dir gewest und Kraut und Rüben liegen.
66
Man
könnte auch folgendes überlegen und erkennen: Die ersten vier Takte zitieren Was Gott tut,
das ist wohlgetan, ab Takt 2 bis 3 kommt die Bergamasca dazu, ein italienisches Volkslied,
zitiert in der dritten Orgel- und Marienmesse (Messa de la Madonna, 1635) von Frescobaldi
aus Fiori Musicali: eine Musik, die über das Leiden und Sterben Christi meditiert und über
das Gehen zurück und hinaus in die Welt. Die Bergamasca war hier Teil eines Messeablaufs,
kein Gassenhauer auf der Straße. Ab Takt 3 wird das alte Kirchenlied Heut schließt er wieder
auf die Tür, EG 27, ein Sterbe- und Weihnachtslied, motivisch hinzugesetzt. Es geht um eine
Aneinanderreihung, eine omnipräsente Kette von Chorälen mit dem Thema der Erlösung.
Motive und Kontrapunkt aus dem Neumeister Choral Nun lasst uns den Leib begraben, BWV
111, ebenfalls ein Sterbelied (vgl. S. 144), und dem ersten Neumeister Choral mit dem Text
eines Glaubensbekenntnisses, der mit Dux, Comes und Krebs am häufigsten im Quodlibet
zitiert wird (T. 2f., T. 9f., T. 13 - 15), kommen hinzu. Die Neumeister Choräle sind erst seit
1985 durch Christoph Wolff bekannt. Vermutlich wurden aus alten geistlichen Kirchenliedern
und Chorälen später weltliche Volkslieder. Die Aria, die wiederkehrt, steht symbolisch für
Tod und Leben (Taufe, Geburt). Man könnte von der Aria als Sterbelied sprechen, aber auch
in dem Sinne, dass sie für neues Leben wie auch für die Auferstehung und für den Himmel
steht. Bach trägt Melodien zusammen, die sich um die Bedeutung des Kreuzes drehen. Er
schreibt 1747 eigenhändig in ein Stammbuch: ,,Symbolum Christus Coronabit Crucigeros"
67
(zu Deutsch: Christus wird die krönen, die das Kreuz tragen). Bach kehrt in diesem einen sei-
ner Spätwerke zurück zu einem frühen Werk, zu den Orgelchorälen der Neumeister Samm-
lung wie zu einem Ausgangspunkt. Man geht davon aus, dass sich hier auch ein Schlüssel für
die Enträtselung der 14 Kanons BWV 1087 und der Bedeutung der acht Fundamentalnoten
Bachs befindet. Die Kulmination im Gebäude der Goldberg-Variationen wäre gewesen, das
Gesetz der Kanon-Architektur auf die Spitze zu treiben, das Ende, das Finale zu erreichen im
66
Vgl.: Rampe, Siegbert: Suiten und Klavierübung. In: Konrad Küster (Hrsg.): Bach Handbuch. Kassel 1999,
S. 785.
67
Vgl.: Neumann, Werner: Bilddokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs. Kassel 1979,
S. 330.

28
10. Kanon, aber anstelle des Dezimkanons erfolgt das Quodlibet, das strenge Gesetz wird im
,Was beliebt` erfüllt und vollendet, oder anders ausgedrückt, im: ,Dann bin ich frei (zu ent-
scheiden)!` Das Gesetz wird nicht ausgeschöpft. Ausgerechnet die Erfüllung des letzten
Gesetzes als Finale fehlt: der letzte Kanon. Dies ist kein Zufall. Statt des 10. Kanons ein
Quodlibet, der bizarrste Satz als Finale, ein ,Freiheitsstück` weg vom Gesetz. Die Sprengung
der Dezime und der Intervallanschwellung steht in der Intervallsymbolik in diesem Werk für
die Auflösung der oppunierenden Kräfte und ist der Schluss-Wendepunkt des Werkes: das
Quodlibet anstelle des 10. Gebotes und die Vervollkommnung in Loslösung vom Gesetz.
Erstaunlicherweise ist hier eine Parallele zwischen den 10 Geboten und der Zahl 10 in den
Gesetzmäßigkeiten der Goldberg-Variationen zu finden, wobei es nicht um die Übertragung
des direkten wörtlichen Inhalts geht, sondern um die Zahlensymbolik. Daraufhin kehrt die
Aria wieder, nun ganz anders, obwohl es die gleiche ist - als könne man erst jetzt richtig hin-
hören, um was es im Werk geht, als hätte man das vorher nicht gekonnt. Nun geht es unbe-
schwert und erlöst zurück. Das Nachspiel ist der Anfang.
Bach komponiert die Spannung zwischen den Dingen. In seiner Musik geht es um
einen ,kalkulierten`, vertonten Gegensatz zwischen Licht und Finsternis, die er kategorisch in
Spielfiguren im Wechselspiel gegeneinander stellt. In großer geistiger Arbeit formuliert er
diese Spannungen, die Allgemeingültigkeit erstreben, um die Geheimnisse des Glaubens aus-
zudrücken, in Musik. Das ,Mehr` in den Goldberg-Variationen träumt verborgen unter der
Oberfläche der Musik. Diese musikalischen Wahrheiten und Gesetzmäßigkeiten sind glei-
chermaßen auch allgemeine Wahrheiten.
Wenn der geistige Moment ein geistlicher wird, so zum Beispiel in der Musik von Johann
Sebastian Bach, hat man wahre Kunst erreicht. Dahin sollte jede wissenschaftliche Analyse
führen. Die Analyse wiederum beeinflusst die mentale Einstellung des Künstlers. Es ist wich-
tig zu wissen, dass die mentale Einstellung eines Musikers erheblichen Einfluss hat auf das
Publikum. Bachs Wahrheitsgehalt in seiner Musik ist nicht nur ein ästhetischer, sondern eine
Stimmigkeit, in der sich Räume des Wissens, Räume der Erinnerung, Räume des Erkennens
öffnen. Wie geschrieben steht, sollen die Goldberg-Variationen beschwingen und ergötzen,
68
doch immer weisen sie eine zärtliche Tiefe auf, eine aufmerksame Ermutigung, an ,,Linde-
rung durch die erlösende Macht aus ziellosen Leidstimmungen".
69
68
Vgl.: Bach, Johann Sebastian, S. 6.
69
Vgl.: Dammann, S. 77.

29
Viertel Teil ,,bestehend aus einer ARIA mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimal
mit 2 Manualen"
(Balthasar Schmid: Nürnberg [1741]), 32 Notenseiten: BWV 988.
70
Aria
Variatio 1, 2, 3 (Kanon im Einklang)
16 (Ouverture), 17, 18 (Kanon der Sexte)
4, 5, 6 (Kanon der Sekunde)
19, 20, 21 (Kanon der Septime)
7, 8, 9, (Kanon der Terz)
22, 23, 24 (Kanon der Oktave)
10, 11, 12 (Kanon der Quarte)
25, 26, 27 (Kanon der None)
13, 14, 15 (Kanon der Quinte)
28, 29, 30 (Quodlibet)
Aria
70
Vgl.: Wolf, Christoph (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996, S. 5.

30
4. J
OSEF
G
ABRIEL
R
HEINBERGERS
B
EARBEITUNG DER
,,G
OLDBERG
-V
ARIA
-
TIONEN
"
FÜR ZWEI
K
LAVIERE
(1883)
,,Die Goldberg-Variationen sind ein symbolisches Archiv, ein Kosmos, eine
Navigation für Bachs Gesamtwerk. Dieses Archiv weist nach vorne, nach
hinten und zur Seite. Sie weist weit in die Zukunft. Sie ist eine Landkarte und
eine Verzweigung nationaler und europäischer Bezugsstücke, Tänze und
Kanons, ein Geschichts- und Tagebuch für die Sinne und das Gemüt."
Der Bach'sche Kontrapunkt war für Josef Gabriel (1839 - 1901) Rheinberger eine wichtige
Bezugsgröße.
71
1899 schrieb einer seiner Schüler: ,,Bach und Mozart sind seine Lieblinge,
und bei der Besprechung ihrer Werke geräth der sonst in den Unterrichtsstunden kühle Mann
in förmlichen Enthusiasmus und preist in den wärmsten Worten ihre Vorzüge."
72
Der
bekannte liechtensteinischer Komponist und Musikpädagoge Rheinberger, der in Liechten-
stein heute als Jahrhunderttalent gilt und einen hervorragenden Ruf genießt, war der erste
Komponist, der die Goldberg-Variationen von Bach bearbeitete. Diese Bearbeitung trägt
keine Opuszahl.
73
Rheinberger ist bis heute der einzige, der Bachs Variationswerk für zwei
Flügel bearbeitet hat: von ursprünglich zwei Manualen auf zwei Flügel. Er griff dabei mit
Respekt und Können in das große musikalische Erbe ein, in das in seiner Zeit eben aus der
Vergessenheit hervorgeholte Bachwerk. Rheinberger schrieb unter anderem große Orgel-
werke, besonders Orgelsonaten, Chormusik, Kammermusik, Klaviermusik, Messen, Motetten,
Oratorien, Opern, Symphonien und Choräle, die teilweise bis heute aufgeführt werden. Seine
Musik wurde von Brahms, Bruckner und Wagner geprägt, aber er stand vor allem auch fest in
der Tradition der Klassik und der Frühromantik. An seinen Kompositionen ist deutlich zu
erkennen, dass er ein hervorragend ausgebildeter Organist war. 197 Werke mit Opuszahl sind
von ihm bekannt, noch einmal so viele ohne Opuszahl.
74
Die deutschen Musikwissenschaftler
und Komponisten Hans Joachim Moser und Adolf Sandberger schrieben unter anderem über
Rheinberger, dass er einen wichtigen Beitrag zur Münchner Nachromantik und zur vielfälti-
gen Musikkultur zwischen Lachner und Strauß geleistet und zur Verlängerung des klassisch-
romantischen Zeitraumes erfolgreich beigetragen hat.
75
71
Vgl.: Wolf, Uwe (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Bearbeitet für zwei
Klaviere von Josef Gabriel Rheinberger. Stuttgart 2004, S. II.
72
Ebd.
73
Vgl.: Irmen, Hans-Josef: Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Gabriel Josef Rheinbergers.
Regensburg 1974 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 37), S. 473.
74
Ebd.
75
Vgl.: Wagner, Guy: Ein Lehrmeister aus Liechtenstein. Luxemburg 2009, S. 9.

31
Josef Gabriel Rheinberger wuchs mit acht Geschwisterkindern in großer, wirtschaftli-
cher Not in Vaduz auf, sein Vater, Johann Peter Rheinberger (1789 - 1874), war Finanzver-
walter. Seine Mutter, Maria Elisabeth Carigiet (1801 - 1873), stammte aus Graubünden.
Wahrscheinlich galt Josef Gabriel, ,Peppe` genannt, in seiner Kindheit als musikalisches
Wunderkind,
76
wie auch später der Komponist Erich Wolfgang Korngold.
77
Rheinberger und zwei seiner Schwestern erhielten den ersten Musikunterricht bei dem
Organisten Sebastian Pöhly (1808 - 1889). In der Vaduzer Florins-Kapelle spielte Josef
Rheinberger als Siebenjähriger Orgel
78
. Zehnjährig wurde er im Harmonielehre-Unterricht bei
dem Organisten Philipp Schmutzer (1821 - 1898) und später am Hauserschen Konservatorium
in München weitergebildet. Der Kontrapunktunterricht des Bach-Anhängers Joseph Maier
(1821 - 1889), der später in der königlichen Staatsbibliothek Herausgeber des ersten Hand-
schriftenkatalogs wurde, prägte Rheinberger besonders, bevor er Klavierunterricht bei Chris-
tian Wanner und Orgelunterricht bei Georg Herzog erhielt. In München führte er zwölfjährig
seine erste Messe auf, die vierstimmige Messe in Es-Dur.
79
Die enge Freundschaft mit dem
Musikwissenschaftler Emil von Schafhäutl (1803 - 1890) bis zu dessen Lebensende ermög-
lichte Rheinberger jährliche finanzielle Unterstützungen für sein Studium bei Franz Lachner,
während er seine Abschlussprüfungen am Konservatorium erfolgreich abschloss und fest an
drei verschiedenen großen Kirchen in München als Organist spielte. Sechzehnjährig wurde er
Hoforganist in St Cajetan und in St Michael und unterrichtete am Konservatorium in Mün-
chen erst Klavier, dann Komposition bis zu seinem Lebensende.
80
Er war ein erfolgreicher
und geschätzter Pädagoge. Zu seinen Schülern zählten Engelbert Humperdinck, Adolf Sand-
berger, Max Planck und Wilhelm Furtwängler. Nach der Hochzeit Rheinbergers mit der Dich-
terin Franziska von Hoffnaaß, geborene Jägerhuber (1831 - 1892), acht Jahre älter als er, ver-
brachte das kinderlose Paar seine freie Zeit in Liechtenstein. Fanny, sprachbegabt, lyrisch und
sehr klug, half ihrem Mann bei dessen Korrespondenz, übersetzte Briefe und versorgte ihn mit
poetischen Texten für seine Werke.
81
Am Höhepunkt seiner Karriere angelangt war Rhein-
berger im Oktober 1874: Auf Vorschlag von Hans von Bülow hin wurde er zum artistischen
76
Vgl.: Wagner, Guy: Ein Lehrmeister aus Liechtenstein. Luxemburg 2009, S. 3.
77
Vgl.: Irmen, Hans-Josef: Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Gabriel Josef Rheinbergers.
Regensburg 1974 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 37), S. 475.
78
Vgl.: Irmen, Hans-Josef/Wanger, Harald: Joseph Gabriel Rheinberger. Briefe und Dokumente. Band 1.
Vaduz 1982 - 1988. Vaduz 1986, S. 107.
79
Vgl.: Wagner, S. 9.
80
Ebd.
81
Vgl.: Carus Verlag Stuttgart:
http
://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:IKBOKsJD4mMJ:www.carus-
verlag.com/index.php3%3FBLink%3Dkkperson%26PersonID%3D1366+carus+verlag+fanny&cd=2&hl=de
&ct=clnk&gl=de&client=safari (eingesehen am 19.12.2010).

32
Direktor, Professor und Inspektor der Königlichen Musikschule ernannt und zusätzlich von
König Ludwig II. zum Hofkapellmeister. Josef Rheinberger wurde damit zu einer zentralen
öffentlichen Figur für katholische Kirchenmusik in Deutschland. Am Ende seiner Laufbahn
erhielt er viele Ehrungen: Ritterkreuze einiger großer Orden, persönlichen Adel, Förderung
seiner Werke durch Richard Strauß und den Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät Mün-
chen. Doch Rheinberger litt auch unter einer anschwellenden Knochenfontanelle an der rech-
ten Hand.
82
Die Operation führte dazu, dass er nicht mehr Klavier spielen konnte, was ihn
sehr bedrückte. Seine Frau wurde bald darauf schwerkrank und verstarb. Rheinberger legte
kurze Zeit später sein Amt als Leiter der Hofkirche nieder. Er starb am 28. November 1901
und wurde drei Tage nach seinem Tod auf dem Münchner Südfriedhof begraben. Während
des zweiten Weltkrieges wurde das Grab zerstört, worauf 1949 das Fürstentum Liechtenstein
seine Gebeine in einem Ehrengrab in der Nähe seines Geburtshauses feierlich begrub.
83
Jahre-
langes Vergessen setzte nach Rheinbergers Tod ein, obwohl er zu seinen Lebzeiten ein erfolg-
reicher Komponist gewesen war. Allmählich tritt er wieder in das Bewusstsein der Musikpra-
xis und der Musikforschung.
Rheinbergers Bearbeitung der Goldberg-Variationen wurde durch die Einspielung des
Münchner Interpretenduos
84
Yaara Tal und Andreas Groethuysen 2009
85
bekannt, wobei es
Rheinberger selbst hauptsächlich darum ging, das Variations-Werk bekannt zu machen.
86
Die
Goldberg-Variationen erscheinen durch Rheinbergers Umgestaltung in einem anderen Licht,
in einem Klang, der orchestraler, farbiger, fülliger und räumlicher ist, deutlich in die Zeit
Brahms hineingehörend, voluminöser, in Verzierungen konkret und neutraler gehalten. Die
82
Vgl.: Irmen/Wanger, S. 41.
83
Vgl.: Wagner, Guy: Ein Lehrmeister aus Liechtenstein. Josef Gabriel Rheinberger. Luxemburg 2009, S. 8.
84
Das Interpreten- und Lebensduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen aus München übersetzt die
Bearbeitung der Goldberg-Variationen durch Rheinberger und Reger auf ihre Weise und mit eigenen
Akzenten. Sie interpretieren Füllstimmen und Begleitungsakkorde Rheinbergers besonders in der ersten
Hälfte der Goldberg-Variationen sehr zurückhaltend in der Dynamik, eher in einer Echo-Dynamik,
besonders in den Wiederholungen. Das Duo verwendet Bachs Original Aria auf zwei Klaviere verteilt. Sie
spielen Bachs barocke Artikulation und Dynamik, in den Wiederholungen jedoch im Wechsel mit Regers
Dynamik und Phrasierung, lassen die originale Aria wiederkehren. Zunächst klingen die Variationen so
synchron wie die eines Pianisten, mit außergewöhnlich genauer, deutlicher Stimmführung und flirrendem
Klangbild von allen Seiten, doch transparent, durchsichtig und plastisch. Nur wenn man das Stück sehr
genau kennt, fallen die Ergänzungsstimmen Rheinbergers sofort auf. Einem ungeübten Publikum wäre, vor
allem beim ersten Hören, ergänzte Polyphonie durch Rheinberger nicht klar von Bachs Originalstimmen zu
unterscheiden. Pedal und Dynamik öffnen sich vor allem in der zweiten Hälfte des Variationszyklus'. Ab
Variation 16 kommt die neue, ,fremde` und eigenständige Virtuosität Rheinbergers in Kontrapunktik,
Gestik, Klang, Pedal und Dynamik in Kontakt mit Bachs Tonsprache und besonders deutlich zum Tragen.
Das Duo verbindet seine eigene Erkenntnis historischer Aufführungspraxis und seinen Geschmack mit einer
Mischung aus beiden Versionen, Rheinbergers und Regers. Vor allem in den Wiederholungen wechseln sie
die Fassung.
85
Bach, Johann Sebastian: Goldberg-Variations for 2 Pianos by Rheinberger/Reger. Tal & Groethuysen.
München 2009.
86
Rheinberger, Josef/Reger, Max: S. 3.

33
kontrapunktische Faktur wird plastischer durch die Aufteilung auf zwei Klaviere.
87
Dennoch
hat sich Rheinberger in Respekt vor Bach in seiner Bearbeitung 1883 trotz seiner tief greifen-
den Eingriffe im Gesamtbild vorsichtig und zurückhaltend gezeigt. Nichts ist geschmacklos,
übertrieben, dick oder maßlos notiert. Es ging Rheinberger offensichtlich nicht um sich selbst,
sondern darum, das Variationswerk Bachs in Erinnerung zurückzurufen.
88
Ziel Rheinbergers
war es nicht, eine zusätzliche Polyphonie zu schaffen und Bachs Kontrapunktik auf einen
weiteren Flügel auszuweiten, um gar mit Bach zu konkurrieren. Er unterstützte im Gegenteil
die Satzstruktur, die Tonsprache und die Absichten Bachs und setzte diese in ein neues Klang-
bild auf zwei Klavieren um. So ist seine Bearbeitung nicht eine kritische Revision Bachs, so
wie Max Reger die Rheinberger'sche Fassung kritisch revidierte.
Rheinbergers langjähriger Lehrer, der Münchner Komponist und Dirigent Franz Lach-
ner, galt als ,Fortsetzer` Bachs: Lachner komponierte Psalmen, Messen und geistliche Musik
und war in München bekannt für seine Wiederentdeckung der Musik Bachs.
89
Dies wird auch
Rheinberger sehr beeinflusst haben.
In der akustischen Wahrnehmung der Rheinberg'schen Bearbeitung sind die Auftei-
lung auf zwei Klaviere, ihr Zusammenspiel im Klang, Veränderungen in Dynamik, Artikula-
tion, zusätzliche Kontrapunktik, Füllstimmen und homophone Sätze, Tempo, Verzierungsan-
gaben bis hin zu Metronom- und Pedalangaben, deutlich einschneidende Veränderungen des
Werkes, die Rheinberger teilweise in recht großem, aber behutsamen Maße vorgenommen
hat. Rheinbergers Klangvorstellungen, seine Bachdeutung in ihrer Konkretisierung und
Umsetzung werden deutlich. Allerdings unterstützt Rheinberger durch Ergänzungen mit
bewegten Mittelstimmen, Begleitungssätzen (arpeggierten Akkorden und Dreiklängen, diese
meist in der linken Hand des Pianofortes II oder Pianoforte I) und erweiterter Kontrapunktik
hauptsächlich die nun auf zwei Flügel umgestellte und aufgeteilte Polyphonie und Kontra-
punktik Bachs.
In der zweiten Hälfte der Goldberg-Variationen scheint Rheinberger mutiger zu wer-
den: Er greift wesentlich stärker und selbständiger noch mit eigenen kreativen Ideen in Bachs
Notentext ein, da sich die markanten Endvariationen dazu eignen (s. Var. 22, 23, 27, 28 und
29), jedoch nie mit überfrachtetem Bombast. Eingriffe in die festgesetzte Harmonik Bachs
sind bei Rheinberger in den Goldberg-Variationen kaum zu finden, selbst Durchgangs-
87
Vgl.: Wolf, Uwe (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Bearbeitet für zwei
Klaviere von Josef Gabriel Rheinberger. Stuttgart 2004, S. II. Die Bachausgaben werden immer in ganzen
Fußnoten gesetzt, außer bei Lippstadt 1915.
88
Rheinberger, Josef/Reger, Max, S. 3.
89
Lachner, Franz: Geistliche Chorwerke. Orpheus Chor. München 2008, S. 6.

34
Harmonik ist nicht verändert. Bachs Klangvorstellung ist stets geschützt, erhalten und
vorausgesetzt. So ist Bachs Handschrift in Rheinbergers Version transparent und hervorra-
gend zu erkennen und zu hören, in der Forma Bipartita und im würdevollen Stolzieren des
Bassgerüsts in der Sarabande, der Aria und während der 30 Variationen - auch dort, wo auch
die Handschrift Rheinbergers in seiner Zeitepoche durchdringt, beispielsweise in der Canone
alla Sexta und den Endvariationen ab Variation 22. Doch genau diese Mischung fasziniert:
Barocke Stimmführung, Kontrapunktik und thematische, neue Klangvorstellungen treffen auf
das Nebeneinander von noch ,klassischen`, ,romantischen` und ,neubarocken` Zügen und
Finessen in Dynamik, Artikulation, Tempo-Bezeichnungen, Pedalangaben und Phrasierung
des späten 19. Jahrhunderts. Der Klang erinnert hin und wieder an die Bearbeitung der vierten
Symphonie von Brahms für zwei Klaviere und besonders an Brahms Händel-Variationen für
zwei Klaviere, speziell in der 23. Variation. Pianistische Gestik und Virtuosität, Effekte, vor
allem Intervall-Effekte, großer Ambitus und Kontrapunkt-Ergänzungen, auch die Gewalt
eines Orgelklangs um 1883 entführen Bachs Tonsprache in eine orchestrale Dimension. Das
pianistische und organistische Wissen, satztechnisches Können und Vermögen Rheinbergers
kommen deutlich in seiner Bearbeitung dieses großen Variationszyklus zum Tragen und ,erin-
nern` heute in der Geschmeidigkeit seiner erfahrenen Notierung an spätere Liszt-Bearbei-
tungen. Die Sprache des Melodieverlaufs bei Bach erzählt ursprünglich anders. Rheinberger
aber übernimmt die Sprache und die Melodie Bachs und setzt eine Fremdsprache hinein. Die
Pianisten übersetzen. Der Gesamtaufbau und die kanonischen Satzstruktur, das Bassthema,
die Fugen, das harmonisches Gerüst und der Plan und Charakter der Einzelsätze werden von
Rheinberger in ihrem Grundkern jedoch nicht angetastet, kaum umgedeutet.
Dass alle Dynamik-Angaben von Rheinberger stammen, ist zu bezweifeln, da auch der
Herausgeber, wie hier Uwe Wolf, Eingriffe vorgenommen haben könnte. Der Ausdruck und
die Tonsprache Bachs sind allerdings teilweise verloren gegangen, selbst im gemeinsamen
Atem eines Duos in dieser Bearbeitung und im sinfonischen Satz - nicht weil Rheinberger
Perioden überinstumentiert hätte, sondern die Tiefe und das Meditative des Ringens eines
einzelnen Pianisten, auch auf zwei Manualen, durch das Problemlose, räumlich Weite bei
Rheinberger ersetzt wird und verloren geht, das ,sich selbst in die Quere Kommen` an einem
Flügel. Die Goldberg-Variationen sind kein Werk, das mehr Intellekt, mehr Tiefe, mehr vir-
tuose Effekte bräuchte, sondern das Kreisen um die Aria hat mit Meditation und quälender
Suche zu tun, was in Rheinbergers Bearbeitung abhanden kommt.
In vier Variationen lässt Rheinberger die von ihm neu variierte Aria zusätzlich zu
Bach durch das zweite Klavier erklingen (Var. 1, 8, 19 und 29, in Var. 1 ein Flügeltausch).

35
Diese spielt sich jedoch nicht in den Vordergrund, sondern Rheinberger versteht es, die von
ihm zusätzlich variierte Aria dezent, konzis und wirkungsvoll ins Duett der beiden Klaviere
einzusetzen, fast pädagogisch ,trickreich` und bereichernd. Rheinberger lernte dabei von Bach
selbst. Dieser hatte zwei dreistimmige Kontrapunkte aus seiner Kunst der Fuge selbst für zwei
Klaviere bearbeitet und dabei eine vierte Stimme dazugesetzt.
Rheinberger versteht es, mit seinen polyphon organisierten Füllstimmen, homophonen
Begleitungssätzen, einfacher und mehrfacher zusätzlicher Kontrapunktik farbige, üppige
Wärme und ein dichteres Gewebe durch einen weiteren Flügel hinzuzufügen. Das Werk erlebt
dadurch nachträglich einen zusätzlichen barocken Glanz und eine klangliche Weite (s.
Var. 18, 19 und 28). Rheinbergers Zusätze sind nicht wie ein Fremdkörper im Werk Bachs. Er
gliedert sich bewusst und behutsam in die Variationen ein. Die Kanons werden für das Publi-
kum prägnanter, besser spürbar und erkennbar durch die Aufteilung auf vier Hände, die ein-
zelnen Stimmen sind dadurch einfacher zu folgen, die Wucht der Lebendigkeit und Dramatik
bekommt viel Populäres, ohne aufdringlich virtuos zu werden. In der Tabelle 7
90
auf S. 153
bis 155 werden die zusätzliche Polyphonie, Homophonie, Kontrapunktik, Füllstimmen,
Pedalangaben, Artikulation, Phrasierung und Dynamik Rheinbergers genau aufgelistet und
mit Bachs originalem Werk verglichen. Die Artikulation Rheinbergers ist (im Gegensatz zu
Bachs) mit wenigen Worten zu beschreiben: Er spannt einen weiten Legatobogen jeweils neu
von Takt zu Takt. So ist nur in vier Variationen (Var. 1, 8, 19 und 29) die Situation gegeben,
dass ein Flügel eine ganz eigene Variation zur originalen Variation Bachs hinzu spielt, eine
eigenständige Variation von Rheinberger zur Melodie der Aria, nicht wie Bachs Variationen
zum Bassgerüst.
Dennoch muss man nicht puristisch sein, um zu erkennen, dass die universelle, wun-
dersame, ja legendäre Großartigkeit des Werkes durch das Schmälern der originalen Aria am
Anfang auf der einen Seite, das Verringern der Verfremdung der Aria auf der anderen Seite,
und durch das Weglassen der Wiederkehr der Aria am Ende, ebenfalls geschmälert und ver-
ringert ist. Das Verringern der Verfremdung der Aria beeinflusst den Prozess des Variations-
wegs in der Rheinberger'schen Fassung.
90
Im Folgenden werden ,,Tabelle" und ,,Tabellen" in Klammern mit ,,Tab." abgekürzt.

36
Aria
Variatio 1. a 1 Clav.
Variatio 2. a 1 Clav.
Variatio 3. Canone all'Unisono. a 1 Clav.
Variatio 4 a 1 Clav.
Variatio 5. a lôvero 2 Clav.
Variatio 6. Canone alle Seconda. a 1 Clav.
Variatio 7. a l ôvero 2 Clav. al tempo di Giga
Variatio 8. a 2 Clav.
Variatio 9. Canone alla Terza. a 1 Clav.
Variatio 10. Fugetta. a 1 Clav.
Variatio 11. a 2 Clav.
Variatio 12. Canone alla Quarta
Variatio 13. a 2 Clav.
Variatio 14. a 2 Clav.
Variatio 15. Canone alla Quinta. a 1 Clav. Andante
Variatio 16. Ouverture a 1 Clav.
Variatio 17. a 2 Clav.
Variatio 18. Canone alla Sexta. a 1 Clav.
Variatio 19. a 1 Clav.
Variatio 20. a 2 Clav.
Variatio 21. Canone alla Settima
Variatio 22. a 1 Clav. allabreve
Variatio 23. a 2 Clav.
Variatio 24. Canone all'Ottava. a 1 Clav.
Variatio 25. a 2 Clav. adagio
Variatio 26. a 2 Clav.
Variatio 27. Canone alla Nona. a 2 Clav.
Variatio 28. a 2 Clav.
Variatio 29. a l ôvero 2 Clav.
Variatio 30. Quodlibet. a 1 Clav.
Aria da Capo è Fine
Durch die Finalisierungstendenz Rheinbergers die auf das Quodlibet zielt anstatt auf die Aria
da Capo, entsteht ein dynamisches Stretta zum falschen Ziel. Das Thema wird dadurch ent-
fernt. Gerade die von der Aria sich distanzierenden Variationen Bachs, die, die die Einheit zu
gefährden scheinen, sind ein Fingerzeig auf das ,Wiederkehrenmüssen` der Aria. Der Zyklus
verweist energisch daraufhin, auch wenn oder gerade weil diese Wiederkehr ungewöhnlich
und widersprüchlich ist. Der Weg der Wiederkehr spitzt sich während des Variationsweges
zu. Die Beziehung Thema-Variation ist im ganzen Werk das Wichtigste. So ist in der Rhein-
berger'schen Fassung, auch in der von Max Reger revidierten, der Zyklus nicht abgeschlossen
worden, obwohl beide Kenntnis von der Originalversion des Zyklus' von Bach besaßen.
Durch den Roman E.T.A. Hoffmanns Kreisleriana ist datiert, dass die Goldberg Variationen
seit spätestens 1810 bekannt waren. Bachs Goldberg Variationen sind nicht wie Beethovens
Diabelli Variationen, die ihr Thema bewusst beseitigen und überwinden
91
. In dieser wichtigen
Frage haben Reger und Rheinberger das Thema verfehlt.
91
Vgl.: Zenck, S. 69.

37
4.1.
D
IE ERSTE
H
ÄLFTE
4.1.1.
A
RIA
,,Sie ist mehr als ein schlichtes Lied, ein hoch dekoriertes Thema oder Kunst,
sie ist etwas Einfaches und Verwickeltes zugleich. Ohne Beziehung zur Aria
kann man die Variationen nicht verstehen. Die Aria an sich ist schon variiert,
facettenreich und tief in ihrer Symbolik. Die Rückkehr der Aria, oder besser,
die Nicht-Rückkehr, sondern Wiederkehr, spricht davon, dass nach einem
langen Marsch die Schönheit dieses Themas nicht zu übertreffen, dazu nichts
beizusteuern ist. Schlicht erscheint sie wieder. Diese Wiederkehr ist eine
Kernaussage in Bachs Werks. Nach langem Wirren und Suchen gibt es keine
größere Schönheit, nichts Reicheres zu finden als diese Rückkehr. Die
Beziehung zur Aria trägt durch 30 Variationen durch. Immer wieder blitzt sie
auf. Der Weg geht unbeirrbar dem Höhepunkt entgegen, wenn auch
zwischendurch große Verfremdungen geschehen. Suchend strebt der Hörer
mit dem Pianisten durch das Dickicht hindurch, um zu einer Offenbarung
geführt zu werden: wieder zur Aria, die sich nun in einem neuen Glanz
präsentiert, in einer neu entdeckten Reife zeigt, die durch keine Virtuosität
und noch so geschickter Stimmführung, weder durch Dur noch Moll schöner
oder besser hätte verändert werden können."
Bachs Aria ist mehr als ein höfischer Schreittanz, sondern eine Klage. Die Aria vorneweg
wird von Bach als rhythmischer Impuls genommen, die eine starke Leidenschaft durch den
Sarabandenrhythmus pumpt, strömend, ,bel-canto-haft` - auf der einen Seite schlicht, harmo-
nisch überschaubar, aber doch nicht nur ,liedhaft`. So gibt sie Freiheit für Ornamente, Auszie-
rungen, Tiefe und Improvisation. In den Variationen 13, 15, 25, im Quodlibet und dessen
Vorläufer-Variationen (vgl. S. 137 f.) schimmert sie während des ganzen Variationsweges
durch, trotz der sich wegbewegenden Strömungen (vgl. S. 10).
In der Aria lässt Josef Gabriel Rheinberger das erste Klavier Bachs berühmtes
Thema - von dem, das sei hier angemerkt, Wolff zufolge immer noch zu Unrecht angezweifelt
wird, ob dieses tatsächlich von Bach stammt -
92
solo beginnen. Das Pianoforte I spielt die
ersten acht Takte allein, bis das Pianoforte II ab Takt 9 übernimmt und den ersten Teil der
Aria solo zu Ende spielt (s. Notenbeispiel 1 S. 38).
92
Vgl.: Wolf, Christoph (Hrsg.): Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996, S. 5.

38
Aria, Takte 1 bis 11.
Notenbeispiel 1
93
Sofort auffallend, sowohl visuell als auch akustisch, sind Rheinbergers prägnante Tempoan-
gaben und die sehr konkreten, häufigen Dynamik-, Artikulations-, Verzierungs-, Metronom-
und sogar Pedalangaben. Diese Eingriffe verändern das Werk gravierend, vor allem, weil es
sich um die Bearbeitung der Aria und der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach
handelt. Rheinberger hat hier nicht nur marginale Zeichen ergänzt. Ist der Klang dieser von
Rheinberger bearbeiteten Aria also hinsichtlich Dynamik, zusätzlicher Kontrapunktik, Auftei-
lung auf zwei Klaviere, Pedal, Eingriffen in die Stimmführung und konkreter Notenverände-
rungen ein anderer geworden? Der Ausgangstext ist ausgerichtet auf eine Modernisierung und
auf ein anderes Klangideal: bearbeitet für den Klang zweier sich ergänzender Klaviere, die
miteinander harmonieren in den nächsten 30 Variationen. So kann man in eine neue Welt der
Goldberg-Variationen eintreten: für zwei Klaviere 200 Jahre später bearbeitet. In einer neuen
93
Vgl.: Bach, Johann Sebastian, S. 1.

39
Zeit für eine neue Zeit. Spieltechnische Artikulation versucht das Unbezeichnete, aber musi-
kalisch Gemeinte herauszuarbeiten.
94
Beim Aufschlagen der Noten
95
fallen sofort die Notation für zwei Klaviere und die
abweichende Notierung der Handverteilung des Stimmverlaufs, der Polyphonie und der Mit-
telstimmen und die zusätzliche Kontrapunktik ins Auge.
96
Bereits im ersten Takt verzichtet Rheinberger auf den berühmten, von Bach notierten Praller
auf Zählzeit 3. Im zweiten Takt verändert Rheinberger die verzierte Melodie, indem er sie zu
einem nackten Terzsprung, mündend in den D-Dur-Dreiklang in der Achtelbewegung in der
rechten Hand vereinfacht und die Sechzehntel-Seufzer (g
2
und e
2
) auf den Zählzeiten 1+ und
2 entfernt. Dies ist der erste gravierende Eingriff Rheinbergers in Bachs Goldberg-
Variationen, was bereits im zweiten Takt stattfindet. Er reduziert die Melodie oft beinahe auf
ihr Skelett. Prinzipiell kann man von einer allgemeinen Tendenz zur Reduktion und Vereinfa-
chung sprechen. Der Terzsprung (auch in der Sequenz in T. 6) anstatt ursprünglich zweier
Durchgangs-Sechzehntel auf Zählzeit 1+ und der oft als etwas längeren Vorhalt interpretier-
ten Durchgangs-Sechzehntel e
2
zur Zählzeit 2, dem Vorhalt e
2
zur halben Note auf Zählzeit 2
(um den Dreiklang zu bilden), erscheint an gegebenen Stellen der Version Rheinbergers
immer wieder, bereits in Variation 1. Den Vorschlag zur Zählzeit 2 lässt Rheinberger eben-
falls weg. Im dritten Takt verzichtet Rheinberger auf den Pralltriller auf Zählzeit 2. Triller
entfernt er in der Aria ganz. Die Verzierungen und Praller Bachs werden, wenn sie überhaupt
erscheinen, weniger lieblich, schlichter durch genaues, reduziertes Ausnotieren - auf mög-
lichst exakte Wiederholungen durch das zweite Klavier und auf klares, sicheres Zusammen-
spiel mit dem Duopartner ausgerichtet. Praller, Vorhalte, Anfangs-Schleifen und Überbindun-
gen zur Zählzeit 1 fallen in der Aria ganz weg, Vorhalte sind zur Zählzeit 3 sehr selten. Man
könnte fast sagen, der Umgang mit Bachs Trillern und Verzierungen mehr als 200 Jahre spä-
ter wirkt heute neutraler, aussortiert, moderner. Trotz oder gerade wegen Rheinbergers
,Modernisierung` fasziniert die harmonische Sprache Bachs, die von Rheinberger bewusst er-
und beibehalten wurde, getaucht in die Klangvorstellung des ganz frühen Anfangs des
20. Jahrhunderts, in dem es bereits Klaviere gab, wie sie sich Bach nicht hatte erträumen las-
sen können. Rheinberger verwendet Praller, Schleifen, Triller und Überbindungen selten in
seiner gesamten Bearbeitung der Goldberg-Variationen, und wenn, höchstens zur Zählzeit 2
94
Vgl.: Dammann, S. 110.
95
Vgl.: Bach, Johann Sebastian: Goldberg-Variationen. Bearbeitet für zwei Klaviere von J. G. Rheinberger.
Stuttgart 2004.
96
Bach, Johann Sebastian: Goldberg-Variationen BWV 988. Wien 1996.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2011
ISBN (eBook)
9783842813045
DOI
10.3239/9783842813045
Dateigröße
26 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg – Philosophische Fakultät I, Institut für Musikforschung
Erscheinungsdatum
2011 (April)
Schlagworte
goldberg variationen bach reger rheinberger polyphonie
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Titel: Studien zur Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen BWV 988 durch Josef Gabriel Rheinberger und Max Reger
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