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Formen virtueller Gewaltausübung

©2007 Magisterarbeit 127 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Verschiedenartige Formen der Gewaltausübung sind in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens zu beobachten. Das Phänomen der Gewalt wurde in zahlreichen soziologischen, politikwissenschaftlichen und psychologischen Arbeiten ausführlich untersucht. Der Gewalt wird ein großer Stellenwert im menschlichen Zusammenleben zugeschrieben. Sie sei in allen menschlichen Lebenswelten zu finden und die Triebfeder jeder menschlichen Gemeinschaft, ohne Gewalt sei Vergesellschaftung überhaupt nicht möglich. Die Übertragung des Gewaltmonopols an übergeordnete Instanzen ermöglicht es, das Naturrecht in seine Schranken zu weisen und auch den Schwächeren ein gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen. Die Umverteilung der Möglichkeiten zur Gewaltausübung schafft Sicherheit und Freiheit in einer sich ständig neu austarierenden Ausprägung.
Durch die große Ausbreitung des Internets, mit seinen vielen Subsystemen, sowie anderer Telekommunikationssysteme sind zahlreiche virtuelle Räume entstanden. Räume, in denen Menschen zusammen arbeiten, kommunizieren oder Unterhaltungsangebote gemeinsam konsumieren. In den meisten Fällen befinden sich die Besucher der virtuellen Räume nicht in geographischer Nähe zueinander. Räumliche Distanzen sind bei diesen Tätigkeiten durch die Telekommunikationsnetzwerke irrelevant geworden. Der Kommunikationspartner kann sich auf einem anderen Kontinent befinden, ohne dass dies die Kommunikation unmöglich machen würde. Bilder, Texte, Sprache, Filme, Spiele und andere denkbare Daten und Medien können in kürzester Zeit auf virtuellem Weg versandt und empfangen werden.
Bieten die beschleunigten Kommunikationskanäle der wachsenden virtuellen Welt auch einer ‘virtuellen Gewalt’ ein immer schnelleres Vehikel? Besteht auch in virtuellen Räumen die menschliche Verletzungsoffenheit fort? Kann Gewalt ohne physische Nähe auf elektronisch-virtuellem Weg ausgeübt werden? Die vorliegende Arbeit wird eine Annäherung an einen Begriff der ‘virtuellen Gewalt’ bieten und diesen danach anhand von aktuellen Ereignissen verdeutlichen und belegen. Die folgenden Fragestellungen sollen geklärt werden:
Ist Gewalt angewiesen auf geographische Nähe der Teilnehmer zueinander, oder existieren auch Formen virtueller Gewaltausübung, die weder auf örtliche Nähe, noch auf physische Verletzung des Gewaltopfers angewiesen sind?
Welche Formen virtueller Gewaltausübung existieren? Wer kann virtuelle Gewalt ausüben, wer kann Opfer virtueller Gewalt […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2.Gewalt

3.Virtualität und virtuelle Räume

4.Virtuelle Gewalt
4.1 Begriffsabgrenzung
4.2 Besondere Eigenschaften virtueller Gewaltausübung
4.2.1 Zeitliche und räumliche Ungebundenheit
4.2.2 Multiplizierbarkeit und Automatisierbarkeit
4.2.3 Große Rezipientenbasis
4.2.4 Hohe Anonymität
4.3 Urheber und Opfer virtueller Gewalt
4.3.1 Individuen
4.3.2 Gruppen
4.3.3 Privilegierte Individuen und Gruppen
4.3.3.1 Datensetzende Macht
4.3.3.2 Einfluss auf Subsysteme
4.3.3.4 Mediale und technische Kompetenz
4.3.4 Technisches System

5.Formen virtueller Gewaltausübung
5.1 virtuelle Gewaltausübung, die psychische und soziale Schäden verursacht
5.1.1 Überblick
5.1.2 Kanalgebundenheit
5.1.3 Einblick in die US amerikanische Situation
5.1.4 Einblick in die deutsche Situation
5.1.5 Weitere Ausprägungen und Gewaltbewältigung
5.2 virtuelle Gewaltausübung, die technische Schäden verursacht
5.2.1 Überblick
5.2.2 Virtuelle Kriegsführung
5.2.3 Einblick in die deutsche Situation
5.2.4 Technisch-virtuelle Verletzungsoffenheit
5.2.5 Konsequenzen für Benutzer virtueller Räumen
5.2.6 Privilegien durch technische Kompetenz am Beispiel von Botnetzen
5.3 virtuelle Gewaltausübung, die Freiheit oder Grundrechte beschränkt
5.3.1 Überblick
5.3.2 Aufweichung des Telekommunikationsgeheimnisses
5.3.3 Schwerwiegende Einschnitte in virtuelle Freiheit
5.3.4 Einschränkung virtueller Freiheit in Subsystemen
5.4 Virtueller Vandalismus
5.4.1 Überblick
5.4.2 Virtueller Vandalismus am Beispiel der Wikipedia
5.4.3 Virtueller Vandalismus in weiteren Subsystemen
5.4.4 "Trolling"
5.4.5 "Defacing"
5.5 virtuelle Gewaltausübung, die körperlich-physische Schäden verursacht
5.5.1 Überblick
5.5.2 Auditive virtuell-physische Gewalt
5.5.3 Virtuell-physisches Erschrecken
5.5.4 Weitere Formen virtuell-physischer Gewalt

6. Schluss

7. .Anhang
7.1 Begriffsverzeichnis
7.2 Literatur
7.3 Tagesaktuelle Onlinequellen
7.4 Weitere Onlinequellen
7.5 Bildnachweise

1. Einleitung

Verschiedenartige Formen der Gewaltausübung sind in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens zu beobachten. Das Phänomen der Gewalt wurde in zahlreichen soziologischen, politikwissenschaftlichen und psychologischen Arbeiten ausführlich untersucht. Der Gewalt wird ein großer Stellenwert im menschlichen Zusammenleben zugeschrieben. Sie sei in allen menschlichen Lebenswelten zu finden und die Triebfeder jeder menschlichen Gemeinschaft, ohne Gewalt sei Vergesellschaftung überhaupt nicht möglich. Die Übertragung des Gewaltmonopols an übergeordnete Instanzen ermöglicht es, das Naturrecht in seine Schranken zu weisen und auch den Schwächeren ein gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen. Die Umverteilung der Möglichkeiten zur Gewaltausübung schafft Sicherheit und Freiheit in einer sich ständig neu austarierenden Ausprägung.

Durch die große Ausbreitung des Internets, mit seinen vielen Subsystemen, sowie anderer Telekommunikationssysteme sind zahlreiche virtuelle Räume entstanden. Räume, in denen Menschen zusammen arbeiten, kommunizieren oder Unterhaltungsangebote gemeinsam konsumieren. In den meisten Fällen befinden sich die Besucher der virtuellen Räume nicht in geographischer Nähe zueinander. Räumliche Distanzen sind bei diesen Tätigkeiten durch die Telekommunikationsnetzwerke irrelevant geworden. Der Kommunikationspartner kann sich auf einem anderen Kontinent befinden, ohne dass dies die Kommunikation unmöglich machen würde. Bilder, Texte, Sprache, Filme, Spiele und andere denkbare Daten und Medien können in kürzester Zeit auf virtuellem Weg versandt und empfangen werden.

Bieten die beschleunigten Kommunikationskanäle der wachsenden virtuellen Welt auch einer „virtuellen Gewalt“ ein immer schnelleres Vehikel? Besteht auch in virtuellen Räumen die menschliche Verletzungsoffenheit fort? Kann Gewalt ohne physische Nähe auf elektronisch-virtuellem Weg ausgeübt werden? Die vorliegende Arbeit wird eine Annäherung an einen Begriff der „virtuellen Gewalt“ bieten und diesen danach anhand von aktuellen Ereignissen verdeutlichen und belegen. Die folgenden Fragestellungen sollen geklärt werden:

- Ist Gewalt angewiesen auf geographische Nähe der Teilnehmer zueinander, oder existieren auch Formen virtueller Gewaltausübung, die weder auf örtliche Nähe, noch auf physische Verletzung des Gewaltopfers angewiesen sind?
- Welche Formen virtueller Gewaltausübung existieren? Wer kann virtuelle Gewalt ausüben, wer kann Opfer virtueller Gewalt werden?
- Lässt sich virtuelle Gewalt in reale Gewalt transferieren? Entspringt virtuelle Gewalt aus realer Gewalt? Existiert eine Form von Gewalt, die ausschließlich virtuell stattfindet?

2. Gewalt

Das Wort „Gewalt“ ist die Substantivierung des Verbs „walten“. Somit waltet ein Urheber von Gewalt, er richtet Gewaltaktionen gegen ein Gewaltopfer oder weniger negativ behaftet gegen ein Gewaltziel. Gewalt wird häufig mit Macht gleichgesetzt, sie sei die Ausübung von ebendieser. Wer mächtig ist, „kann machen“, er waltet, er „übt Gewalt aus“. Ein Gewaltopfer befindet sich „in der Gewalt von jemandem“. Während im englischen der Begriff in zwei verschiedene Worte aufgespalten wurde, nämlich in „violence“ für körperliche Gewalt und „power“ für Macht oder Kraft, so ist Gewalt im deutschen Sprachgebrauch sowohl als körperliche, als auch als nicht-körperliche abstrahierte Gewaltausübung zu gebrauchen, zum Beispiel im Sinne von Staatsgewalt, Befehlsgewalt oder Gewaltkonzentration.

Macht begründet sich nach Heinrich Popitz auf der Verletzungsoffenheit von Menschen.

„Menschen haben Macht über andere Menschen, weil einer den anderen, seine Gegenkräfte durchbrechend, verletzen kann. Er kann ihm „etwas antun“, eingreifen in seine körperliche Integrität, ökonomische Subsistenz, gesellschaftliche Teilhabe. Jeder einzelne, jede Gruppe ist verletzungsoffen, verletzungsgefährdet.“ (Popitz, S.31)

Diese Verletzungsoffenheit und Verletzungsmächtigkeit hat jeder Mensch inne, selbst der Schwächste und Kränkste kann im geeigneten Moment die Verletzungsoffenheit eines stärkeren Gegenübers ausnutzen, um die von ihm als Aktionsmacht genannte Macht auszuüben. Selbst David konnte Goliath im entscheidenden Moment aktionsmächtig bezwingen, selbst der Schwächste kann dem Stärksten im rechten Moment Schaden zufügen. Diese initiale Aktionsmacht kann laut Popitz als einzelne Machtaktion für sich alleine stehen oder in andere Machtausprägungen umgesetzt werden: Die „instrumentelle Macht“, bei der konformes Verhalten durch „Drohen und Bedrohtsein“ erzeugt wird und die „innere Macht“, bei der konformes Verhalten aus der dem Herrschenden gegenüber positiven und bewundernden Einstellung heraus hervorgerufen wird.

Als Gewalt definiert Popitz nur die reine körperliche Gewaltaktion , die körperlichen Schaden zufügt.

„Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat [..] oder , in Drohungen umgesetzt, zu einer dauerhaften Unterwerfung [..] führen soll.“ (Popitz S.48)

So meint Popitz mit Gewalt nur die Initialaktion, die entweder eine kurze, auf den Moment des Gewaltaktes beschränkte Aktionsmächtigkeit ermöglicht oder die spätere höherqualitative Machtform begründet. Somit vollzieht er in seinem Begriffskonstrukt die angelsächsische Trennung des Begriffes in „Gewalt“ und „Macht“. Gewalt ist laut Popitz der Einstieg in die Macht und lediglich ein Drohmittel, um sie zu verfestigen und abzusichern.

Ähnlich argumentiert Arendt, sie entzweit Macht und Gewalt sogar noch stärker, indem sie vermutet, dass bestimmte Formen von Macht nicht mit Gewalt vereinbar seien, vielmehr sei Macht nur durch die Ermächtigung einzelner durch eine Gruppe möglich. Gewalt ist für sie „nackte Macht“:

„Es ist die nackte Macht, die aus den Gewehrläufen kommt, [..] Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln, oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz der Gruppe und bleibt nur solange existent, solange die Gruppe zusammenhält.“ (Arendt S.45)

Eine nicht ausschließlich auf körperliche Gewalt beschränkte Gewaltdefinition bietet Foucault. Nach seiner Definition wirkt Macht indirekt auf ihr Ziel. Es sind keine Gewaltakte notwendig um auf machtvollem Wege ein Ziel zu erreichen. Gewalt hingegen wirkt direkt auf ein Gewaltziel, allerdings nicht ausschließlich auf den Körper eines Individuums sondern auch auf Dinge:

„Ein Gewaltverhältnis wirkt auf einen Körper, wirkt auf Dinge ein: Es zwingt, beugt, bricht, es zerstört: es schließt alle Möglichkeiten aus; es bleibt ihm kein anderer Gegenpol als der, der Passivität.“ (Foucault, S.254)

Ist Gewalt also ein rein körperliches und körpergebundenes Phänomen oder kann der Gewaltbegriff auch weiter gefasst werden? Nach Popitzs Definition existiert psychische Gewalt nicht, auch Gewalt gegen Besitz, Gegenstände oder die Ehre sind lediglich ausgeübte Machtformen, nicht aber Gewalt.

Dass auch nicht-körperverletzende Formen von Aktionsmacht als Gewalt definiert werden können, belegt zum Beispiel das bundesrepublikanische Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen. Nach dem Gesetz ist es strafbar wenn „ [..] Eine Person widerrechtlich und vorsätzlich eine andere Person dadurch unzumutbar belästigt, dass sie ihr gegen den ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder sie unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln verfolgt.“ (GewSchG §1, 2.2)

Und auch Galtung, der den Begriff der strukturellen Gewalt prägte, beschränkt sie nicht nur auf körperliche Kraftakte. Vielmehr üben seiner Ansicht nach die kulturellen Rahmenbedingungen auf jedes Individuum einer Gesellschaft Gewalt aus, indem sie ihm Lebensbedingungen und Richtlinien vorgeben, die nicht ignoriert und nur mit Sanktionen behaftet überschritten werden können. Hier ist der Gewaltbegriff nahezu allumfassend. Jede Rahmenbedingung des Lebens die Chancen mindert, ist ein Gewaltakt.

Nach Bornewasser führen Gewalthandlungen „zu schweren Schädigungen mit erheblichen Konsequenzen“, „verstoßen gegen juristische fixierte Normen und sind verboten“, „haben instrumentellen Charakter“ und „erfolgen oftmals berechnend und kalt“. (Bornewasser in Bierhoff, S. 48)

Außerdem ist der Gewaltbegriff auch immer durch seinen kulturellen Rahmenbedingungen geprägt. So mag eine Gesellschaft eine Handlung als Gewaltakt ansehen, eine andere nicht:

„Tatsächlich stellt sich hier ein tiefgreifendes Problem, ganz einfach weil sich die Gewaltvorstellungen mit der Zeit ändern und Gewalt recht oft von der öffentlichen Meinung und der Zivilgesellschaft definiert wird, bevor sie vom Staat als solche anerkannt wird“ (Wieviorka, S.73)

In der Psychologie sind Begriffe wie psychische oder seelische Gewalt feststehende Begriffe.

Vandalismus schließlich kann als die Gewalt gegen Gegenstände betrachtet werden:

„Stellt man auf das Gewaltverständnis in der Bevölkerung ab, wird überwiegend auch noch der körperliche Angriff auf Sachen [in den Gewaltbegriff] einbezogen.“ (Schwind, S. 36)

Da die vielen verschiedenen Erklärungsversuche des Gewaltbegriffs noch keine Annäherung an den Begriff einer „virtuellen Gewalt“ leisten können, muss zunächst der eindeutigere Begriff der Virtualität betrachtet werden.

3. Virtualität und virtuelle Räume

Eine virtuelle Handlung ist eine Tätigkeit, die nicht physisch vorhanden ist, trotzdem aber eine vergleichbare Wirkung hat, wie eine entsprechende physische Handlung. Das Wort stammt vom französischen „virtuel“ ab, welches so viel bedeutet wie „fähig sein zu wirken“, „möglich sein“, „tun können“. Der französische Begriff geht zurück auf das lateinische „virtus“ mit den Bedeutungen „Kraft“, „Möglichkeit“ oder auch „Tugend“. Im modernen-technischen Sinn beschreibt das Adjektiv Handlungen, die in virtuellen Räumen stattfinden. Also Handlungen, die auf ein technisches Vehikel angewiesen sind, um wirken zu können. Virtuelle Räume sind örtlich nicht greifbar, sie entstehen auf einer Metaebene, abstrahiert von ihrem technischen Vehikel. Ihre Realität bezieht sich nicht auf ihre greifbare Existenz sondern auf die erlebbaren Effekte, die durch sie transportiert werden können. „Virtual Reality is an event or entity, that is real in effect, but not in fact“ (Tjoa in Komarek, S.180)

Als Beispiel für einen virtuellen Raum könnte ein Telefongespräch dienen. Die telefonierenden Personen sind räumlich verortbar, nicht aber das Gespräch selbst. Dieses findet weder im Endgerät des einen Teilnehmers, noch im Endgerät des zweiten Teilnehmers statt, sondern im virtuellen Raum. Aufbauend auf dem technischen Vehikel des Telefonnetzes bildet sich ein virtueller Raum zur akustischen Gesprächsführung, der es ermöglicht ein fernmündliches Gespräch abzuwickeln.

In der modernen Popkultur wird der virtuelle Raum auch häufig als Cyberspace bezeichnet. Dieser von William Gibson in seinem Roman Neuromancer geprägte Begriff bezeichnet die komplette Loslösung aus der realen Welt durch Nutzung einer neuralen Schnittstelle, die es ermöglicht, der Körperlichkeit zu entfliehen und komplett in den virtuellen Raum einzutauchen. Filme wie Tron (1982) und Fernsehserien wie Max Headroom (1987) versuchten bereits vor mehr als 20 Jahren das Phänomen bildlich zu fassen, indem sie ihre Protagonisten ganz oder teilweise in virtuellen Räumen agieren ließen. Waren lange Zeit die nationalen und internationalen Telefonnetze die einzigen virtuellen Räume, die von einem großen Teil der Weltbevölkerung benutzt wurden, ist durch die Ausbreitung des Internets mit seinen vielen Subsystemen eine steigende Anzahl virtueller Räume und Subräume entstanden. Bereits heute sind im allgemeinen Sprachgebrauch Ausdrücke wie „die virtuelle Welt“, „die virtuelle Bibliothek“, „die virtuelle Universität“ oder auch „virtueller Sex“ und „virtueller Terrorismus“ verankert.

Parallel zu der realen und physisch greifbaren Welt expandieren virtuelle Welten in immer größerer Geschwindigkeit. Mit dem Angebot von virtuellen Welten steigt auch deren Nutzung.

„Amerikaner sind pro Woche etwa 12 Stunden online, Japaner 9 Stunden – und wir Europäer ziehen nach. Das Internet und Computerspiele stehen dabei in Konkurrenz zum Fernsehen.“ (Steinmüller, S.188)

Tatsächlich hat das Internet inzwischen bei jungen Europäern das Fernsehen als beliebtestes Medium abgelöst, wie aus einer aktuellen Studie des Verbandes der europäischen interaktiven Werbung (EIAA) hervorgeht. Der Studie zufolge sind in den 10 untersuchten europäischen Märkten 169 Millionen Konsumenten online. Besonders bei jungen Europäern zieht die Internetnutzung langsam mit dem Fernsehkonsum gleich. Europäische Internetnutzer verbringen durchschnittlich 12 Stunden pro Woche online, ein Viertel der Benutzer sogar 16 Stunden. Auch bietet die Studie Aufschluss über die Verbreitung schneller Breitbandleitungen, mit welchen multimediale Inhalte schneller transportiert werden können. 8 von 10 Nutzern verfügen bereits über solch einen höherqualitativen Zugang. [woq 2]

War die virtuelle Welt bisher meistens an statische Endgeräte gebunden, dringt sie durch den Ausbau der Mobilfunknetze und die Weiterentwicklung und Verkleinerung tragbarer und nicht ortsgebundener Endgeräte immer weiter in das tägliche Leben ein. Steinmüller prognostiziert die Entwicklung eines „Evernets“:

„Die nächste Technologiewelle rollt bereits an. Das Internet soll sich zum Evernet (aus ever und internet) fortentwickeln, einer permanenten Online-Welt, in der man zu jeder Zeit (anytime) und an jedem Ort (anyplace) fortwährend vernetzt ist (always on).“ (Steinmüller, S.190)

Doch nicht ausschließlich die zwischenmenschliche Kommunikation, sondern auch reale Tätigkeiten, wie Amtsgeschäfte oder das Einkaufen von Gütern werden in den virtuellen Raum verlagert. Teilweise ersetzen die virtuellen Tätigkeiten sogar ihre realen Pendants, so dass man in manchen Fällen bereits heute gezwungen ist, den virtuellen Raum zu besuchen und zu nutzen um im Alltag anstehende Aufgaben zu bewältigen. Als Beispiel könnten Seminare an der Universität dienen, deren Materialen ausschließlich online zur Verfügung gestellt werden, eine in den letzten Jahren in allen Fachrichtungen beobachtbare Vorgehensweise.

Diese Entwicklung prognostizierte Rammert bereits Anfang der 1990er Jahre und mahnte an, sich auf den gesellschaftlichen Wandel, der mit größerer Vernetzung einhergehen würde vorzubereiten:

„Mit ihrer Ausbreitung [der Computertechnologie] wird sich das soziale Leben in den modernen Gesellschaften zwar langsam, aber umfassend verändern; denn die mikroelektronische Erneuerung betrifft nicht allein die materielle Produktion und ihre Steuerung, sondern auch die gesamte Welt symbolischen Handelns. Die Veränderungen bleiben damit offensichtlich nicht nur auf die industriellen Kernsysteme der Wirtschaft und der staatlichen Verwaltung, auf die großen Arbeits- und Dienstleistungsorganisationen, beschränkt; sie erfassen zur gleichen Zeit immer mehr die sozialen Beziehungen und Kommunkationssituationen des Alltagslebens in Familie und Freizeit, in privatem Haushalt, sozialer Gemeinschaft und politischer Öffentlichkeit.“ (Rammert 1993, S. 268)

Doch nicht nur administrative und unterhaltsame Tätigkeiten bekommen einen immer größeren virtuellen Anteil. Die Erinnerung selbst, das kollektive Wissen wandert ab in den virtuellen Raum. Informationen, seien sie banal oder essenziell, werden virtuell konserviert und sind ort- und zeitlos verfügbar. Ein Abwandern der Informationen, fort von den klassischen gedruckten Informationsspeichern hinein in einen digital-virtuellen Raum ist weltweit zu beobachten.

„Wer heute im Internet surft, findet Tausende privat herausgegebener Urlaubsberichte, Seiten mit Bildern des Lieblingshundes, Listen gelesener Bücher, Krankenberichte, Tagebuchaufzeichnungen, schriftstellerische Ergüsse, erprobte Kochrezepte, Hobbymalereien.“ (Steinmüller S.202)

Einher mit der Ausbreitung der virtuellen Welt geht also auch eine Verkleinerung der Privatheit. Ständige Erreichbarkeit und Informationsmassen über jeden Teilnehmer virtueller Räume drängen private Informationen und Erlebnisse immer mehr in den Hintergrund. Der Informationshunger der virtuellen Welt scheint grenzenlos, jeder noch so unwichtig scheinende Fleck banalen Wissens wird in Sekundenbruchteilen im virtuellen Raum für die Ewigkeit archiviert, durchsuchbar gemacht und dupliziert.

Teile der realen Welt werden in der virtuellen Welt abgebildet, um gefahrloser als in der Realität mit ihnen experimentieren zu können oder um sie örtlich entfernten Personen erfahrbar zu machen.

„Multimediatechnologien schaffen die Möglichkeit des Agierens in künstlichen, „virtuellen“ Welten. Den Vorteilen einer umfassenden Abbildung von Sachzusammenhängen oder Gegenständlichkeiten in der Virtualität steht jedoch unmittelbar das Risiko gegenüber, dass die Grenzen zwischen virtuellen und realen Abbildungen für die Nutzer verschwimmen.“ (Nolden, S.23)

Zusätzlich zu dieser Abbildung der realen Welt ist auch ein Abwandern von realen materiellen Werten in virtuelle repräsentierte materielle Werte zu beobachten:

„Zudem entmaterialisiert sich die Produktion in einem spezifischen Sinne, sie entwickelt sich zur reflexiven Produktion von symbolischen Gütern und Dienstleistungen. Diese sind nicht mehr in erster Linie durch ihre materielle Beschaffenheit, sondern durch ihren symbolischen Wert, ihr Design, das in ihnen verkörperte Wissen, die durch sie erzielbaren Distinktionsgewinne, etc. gekennzeichnet. Eigentum verliert damit ein Stück weit seine Bindung an materielle Objekte“ (Kreissl in Kroll, S.54)

Die Welt der Virtualität bildet die reale Welt ab, steuert Teile von ihr und existiert parallel zu ihr. Ihre Basis liegt in stofflicher Realität, doch die reale und die virtuelle Welt durchdringen und bedingen sich immer mehr. Dabei verschwimmen die Grenzen zusehends. denn:

Handlungen in virtuellen Räumen können wirken, obwohl sie physisch nicht existent sind, virtuelle Räume sind also nicht greifbar aber trotzdem erfahrbar.

Ist der virtuelle Raum also auch dazu in der Lage Gewalt zu transportieren und erfahrbar zu machen?

4. Virtuelle Gewalt

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Schema virtueller Gewaltausübung

4.1 Begriffsabgrenzung

Während die soeben vorgestellten Definitionen zur Virtualität recht eindeutig sind, macht die enorme Vielfalt der Gewaltdefinitionen den Gewaltbegriff schwer fassbar. Selbst Galtung empörte sich über das fehlende Vorhandensein einer allgemeingültigen Definition zur Gewalt während seiner Bemühungen Typologien für Gewalt und Frieden zu erstellen. (Galtung in Röttgers, S. 9)

Müsste man sich auf eine, auf körperliche Gewalt reduzierte Definition beschränken, wären die meisten der folgenden Formen virtueller Gewaltausübung eben keine Gewalt, da sie nur indirekt oder überhaupt nicht körperlich wirken. Würde man den Gewaltbegriff zu weit fassen, wäre jede menschliche Aktion, sogar jeder menschliche Gedanke, ein Gewaltakt, da menschliches Handeln beabsichtigt oder unbeabsichtigt ständig die Umwelt verändert, anpasst, zerstört, unterwirft oder neu erschafft.

Um eine sinnvolle Definition für virtuelle Gewalt zu finden, muss also ein praktikabler Zwischenweg gefunden werden, der sie in ihrer Essenz greift, auf die Umstände virtueller Räume adaptiert, aber gleichzeitig vermeidet, sie aufzuweichen und unnötig auszudehnen.

Virtuelle Gewalt ist nicht zufällig sondern gewollt. So sind Missgeschicke, Unglücke und Unaufmerksamkeiten, die zu einem Schaden führen nicht als virtuelle Gewaltausübung anzusehen.

Virtuelle Gewaltausübung findet nur statt, wenn ein Urheber die Intention hat, sie auszuüben und Schaden mit ihr anzurichten. Sie ist nie technischen sondern immer menschlichen Ursprungs. Nicht beabsichtigte Fehler in technischen Systemen, die reale Auswirkungen haben, müssen auch als Unglück gewertet werden.

Virtuelle Gewalt wird über technische Kommunikationssysteme transportiert, die zeitlich und räumlich unabhängig sind. So wäre zum Beispiel der weltweite Briefverkehr nicht als virtueller Raum anzusehen, da er physisch existent und zeitlich abhängig ist.

Auch sollen virtuelle Gewalt darstellungen und die virtuell simulierte Ausübung realer Gewalt nicht als virtuelle Gewalt gelten. So sind beispielsweise audiovisuelle Darstellungen von realen Gewaltakten, Spiele in virtuellen Räumen, in denen gewalttätige Handlungen dargestellt werden oder gewaltverherrlichende, virtuell abgelegte Texte keine virtuelle Gewalt, wenn sie nicht mit der Intention angefertigt wurden, zu verletzen.

Dem widerspricht der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Schirrmacher. Für ihn stellt das bloße Bereitstellen von gewaltverherrlichenden Medien bereits einen Gewaltakt dar.

„Das Netz ist außerdem ein Werkzeug, mit dem Gewalt gegen Minderjährige ausgeübt wird: "Fest steht, dass der ikonografische Extremismus, dem die Jungen und Jüngsten im Internet ausgesetzt sind, wie eine Körperverletzung wirkt." [toq 20]

Um die unpraktikable Ausweitung des Begriffes der virtuellen Gewalt jedoch zu vermeiden, widerspreche ich dieser These. In der Begrifflichkeit, in der virtuelle Gewalt in dieser Arbeit verwendet werden wird, geschieht sie immer mit

Intention.

Die Veröffentlichung von gewalttätigen Medien wäre nur virtuelle Gewalt, wenn die Intention bestände durch die Veröffentlichung Schaden anzurichten. Vielmehr verbreiten sich Gewaltmedien häufig aus den Gründen einer Faszination für Gewaltdarstellungen, der man sich schwer entziehen kann: „Es liegt darin [im Betrachten von Gewaltdarstellungen] auch ein Stück Empathie und ein Wissen darum, daß die Gewalt allgegenwärtig ist und daß sich niemand ihren Folgen entziehen kann, niemand sicher ist, daß ihm nie Gewalt widerfährt.“ (Hugger,S.232)

Virtuelle Gewalt hat immer das Ziel, ein Opfer zu verletzen. Dabei bedient sie sich der Verletzungsoffenheit des Opfers und der Verletzungsmächtigkeit des Urhebers. Diese Verletzungen können psychisch, sozial, wirtschaftlich, technisch und in Ausnahmefällen auch unmittelbar physisch sein. Ein Urheber virtueller Gewalt möchte Schaden zufügen, verletzen, zerstören, Freiheit einschränken oder durch die erreichte Schadenswirkung Gewinn auf Kosten des Opfers erzielen.

Das Ziel virtueller Gewaltakte können bekannte oder unbekannte, zufällige Opfer sein.

Sie entspringt immer außerhalb des virtuellen Raumes, da sie ein menschliches und kein technisches Phänomen ist. Ihre Urheber sind immer Individuen oder Gruppen. Ihre Opfer sind ebenfalls Individuen oder Gruppen außerhalb des virtuellen Raumes. Falls sich die virtuelle Gewalt gegen das technische System des virtuellen Raumes selbst richtet, so werden die Konsequenzen solch eines Gewaltaktes trotzdem im realen Raum erlitten. Der virtuelle Raum stellt lediglich ein Vehikel dar. Reale Gewaltintentionen können in virtuelle Gewalt transferiert werden. Diese erreicht auf virtuellem Weg das Opfer und wirkt danach wieder real erlebbar.

Virtuelle Gewaltausübung ist kanalgebunden. Sie bedient sich der vorhandenen Kommunikationskanäle des jeweiligen benutzten technischen Systems. Um wirken zu können, benötigt sie mindestens einen Kommunikationskanal, sie kann sich aber auch beliebiger weiterer Kanäle bedienen. Kommunikationskanäle können textbasiert, auditiv oder visuell sein. Dabei ist es möglich dass Informationen, die der Urheber des Gewaltaktes über die Kanäle transportiert, im virtuellen Raum erhalten bleiben, sie können diesen aber auch lediglich durchlaufen. Jeder denkbare Kommunikationskanal ist als Vehikel für virtuelle Gewalt geeignet.

Virtuelle Gewalt kann von Individuen, Gruppen und privilegierten Gruppen ausgeübt werden.

Ihre Opfer können Individuen, Gruppen, dem technischen System gegenüber privilegierte Gruppen und in einem Sonderfall das technische System selbst sein. Jedoch wirken Gewaltakte gegen das technische System indirekt auch immer auf einen oder mehrere der drei genannten Opfergruppen.

4.2 Besondere Eigenschaften virtueller Gewaltausübung

Eine besondere Qualität erhält virtuelle Gewaltausübung durch spezielle technische Eigenschaften des virtuellen Raumes. Durch diese ist virtuelle Gewalt zeitlich und räumlich ungebunden, multiplizierbar und automatisierbar. Außerdem besitzt sie häufig eine große Rezipientenbasis und kann meistens anonym ausgeführt werden.

4.2.1 Zeitliche und räumliche Ungebundenheit

In virtuellen Räumen sind räumliche Distanzen bedeutungslos. Jeder Bereich eines virtuellen Raumes ist ohne zeitliche Verzögerung erreichbar. Dies bietet vortreffliche Möglichkeiten für das Wirken von Gewaltaktionen im virtuellen Raum. Es ist unerheblich wo auf der realen Welt sich ein Opfer virtueller Gewalt befindet. Während in der realen Welt ein Opfer physisch erreichbar sein muss und sich räumlich unerreichbar machen kann, so ist es im virtuellen Raum zu jedem Moment erreichbar. Eine virtuelle Gewaltaktion kann an einem vom Opfer weit entfernten Ort gestartet werden und sie erreicht das Opfer dennoch umgehend. Weiterhin ist es dem Urheber der Gewalt durch Automatisierung möglich, im Moment der eigentlichen Ausführung nicht im virtuellen Raum anwesend zu sein. Diese Eigenschaften des virtuellen Raumes lösen virtuelle Gewalt zeitlich und räumlich von ihrem Urheber los. In virtuellen Räumen kann eine einmal initiierte Gewaltaktion unabhängig von ihrem Urheber fortbestehen und wirken.

4.2.2 Multiplizierbarkeit und Automatisierbarkeit

Viele Formen virtueller Gewalt sind darauf angewiesen Medien wie Geräusche, Texte oder Bilder digital zu verbreiten. Andere formen virtueller Gewalt senden spezielle Steuerbefehle an technische Systeme. Liegen diese Anweisungen und Medien erst einmal in virtueller Form vor, können sie mit sehr wenig Arbeits- und Zeitaufwand beliebig oft vervielfältigt werden. Tatsächlich sind Vervielfältigung und Verteilung von Medien im virtuellem Raum ein und dieselbe Sache. Medien im virtuellen Raum vervielfältigen sich selbst, sobald sie einen gezielten oder zufälligen neuen Rezipienten erreichen. Durch die Multiplizierbarkeit virtueller Gewaltträger kann ihre Schadenswirkung erheblich höher sein als im realen Raum. So kann ein Angriff auf die Schwachstelle eines bestimmten technischen Systems auch multipliziert werden und auf weitere technische Systeme derselben Art wirken. Durch Datensicherungsmaßnahmen werden Gewaltträger häufig bereits automatisiert multipliziert und konserviert. Bestimmte Formen virtueller Gewaltträger multiplizieren sich sogar selbstständig und unkontrollierbar, ganz ohne menschliche Interaktion - wie zum Beispiel Computerviren. Selbst multiplizierende Gewaltträger können sehr lange im technischen Systemen existieren, auch wenn sie aktiv bekämpft werden. Es ist sogar denkbar, dass der Urheber der Gewaltaktion das technische System nicht mehr benutzt oder sogar verstorben ist, seine virtuell transportierte Gewaltaktion dennoch fort wirkt. Außerdem ist nach der Multiplizierung eines Gewaltträgers keine Kontrolle über die weitere Verbreitung mehr möglich, da Kopien der Kopien auch einfach angefertigt und verteilt werden können. So ist es möglich mit kleinstem Aufwand sehr große, teils nicht mehr kontrollierbare, Wirkungen zu erzielen. Diese Effizienz kann in der realen Welt nur durch die Aufwendung großer zeitlicher und materieller Ressourcen erreicht werden.

Virtuelle Gewaltaktionen können technisch automatisiert werden. Dies bedeutet, dass der Urheber der Gewalt eine Gewaltaktion nur vorbereiten muss, um diese danach automatisch, beliebig oft und zeitlich unbegrenzt ausführen zu können, sogar ohne selbst physisch an einem Zugangsgerät anwesend zu sein. Eine automatisierte virtuelle Gewaltaktion kann maximal so lange wirken, wie das System besteht, über welches sie ausgeführt wird, ohne dass der Urheber erneut Ressourcen für sie aufwenden muss. Durch die Automatisierbarkeit können virtuelle Gewaltaktionen für jeden beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft geplant werden. Eine automatisierte virtuelle Gewaltaktion kann im Extremfall Jahre vor ihrer Ausführung in die Wege geleitet werden. Somit bietet die Automatisierbarkeit dem Urheber einer Gewaltaktion auch ein großes Drohpotential. Hinzu kommt, dass vorbereitete Gewaltaktionen sehr schwer zu unterbinden sind, selbst wenn sie vor ihrer Ausführung bekannt werden sollten. Einmal im virtuellen Raum anonym initiiert, kann das technische System, das als Träger der Aktion genutzt wird, dazu verwenden werden, zu verschleiern, dass es überhaupt eine Gewaltaktion in der Zukunft ausführen wird. Da die Gewaltaktion von jedem Punkt des Systems aus starten kann, sind Vermeidungsstrategien unter Umständen weniger erfolgversprechend als im realen Raum.

4.2.3 Große Rezipientenbasis

Je nach technischem System, das zur virtuellen Gewaltausübung benutzt wird, ist die mögliche Rezipientenbasis sehr groß. Im extremen Fall können alle Teilnehmer des entsprechenden Systems vom virtuellen Gewaltakt betroffen sein. Zum Beispiel bei der Nichterreichbarmachung von Systemen oder bei Zugangsbeschränkungen des Systems durch privilegierte Personen oder Gruppen. Da zu beobachten ist, dass ein Großteil der technischen Kommunikationssysteme miteinander vernetzt wird, steigt die Rezipientenbasis ständig. In der realen Welt ist es unmöglich so viele Opfer mit so wenigen Ressourcen zu erreichen, wie im virtuellen Raum. Dies schafft ein sehr vorteilhaftes Kosten-Nutzen-Verhältnis für Urheber von Gewalt, die sich gegen mehrere Opfer gleichzeitig richten soll.

Durch die Ausbreitung des virtuellen Raumes und die Vernetzung verschiedener technischer Systeme zu einem großen allumfassenden System, steigt die Rezipientenbasis stetig und somit auch die Möglichkeit eine noch größere Zahl von Opfern auf virtuellem Weg zu erreichen. Hinzu kommt, dass über virtuelle Räume ausgeführte Gewaltakte auch indirekt Opfer treffen können, die sich nicht in virtuellen Räumen aufhalten, zum Beispiel bei virtuellen Angriffen auf Infrastrukturen der realen Welt.

4.2.4 Hohe Anonymität

Viele virtuelle Räume bieten eine hohe Anonymität, die es dem Urheber virtueller Gewalt ermöglicht, mit wenig Aufwand unerkannt zu bleiben. Dies setzt die Hemmschwelle zur Gewaltausübung herab, da die Gefahr, Sanktionen für die ausgeführten Gewaltakte erleiden zu müssen, sinkt. Alle Zugangsgeräte zu Systemen, die anonym benutzt werden können, eignen sich besonders zur Ausübung virtueller Gewalt, bei der der Urheber verschleiert werden soll.

Dies können zum Beispiel Telefonzellen, unregistrierte Mobiltelefone oder anonyme Internetterminals sein. Auch die mögliche sehr große geographische Entfernung zwischen Urheber und Opfer begünstigt die Anonymität und setzt auch die Hemmschwelle zur Gewaltausübung herab. Das Opfer kann dem Urheber gegenüber komplett fremd sein. Der virtuelle Raum abstrahiert das Opfer. Das Opfer kann anonym und beliebig sein. Abschließend kann durch die Anonymität auch die Ohnmacht des Opfers gegenüber dem Urheber erhöht werden. Der Urheber kann sich dem Opfer gegenüber unantastbar machen. Virtuelle Gewaltakte können aus einer nicht zu lokalisierenden Quelle kommen aber trotzdem zielsicher ihr Opfer erreichen. Dies erschwert auch maßgeblichen den Aufbau von Vertrauen in virtuellen Räumen.

4.3 Urheber und Opfer virtueller Gewalt

Urheber virtueller Gewalt können Individuen und Gruppen sein. Die Qualität der ausgeübten virtuellen Gewalt ändert sich, falls die Urheber dem System gegenüber privilegiert sind.

Opfer virtueller Gewalt können Individuen, Gruppen, privilegierte Individuen, privilegierte Gruppen, und das technische System mit den darin abgelegten Informationen sein.

4.3.1 Individuen

Individuen können Urheber und Opfer virtueller Gewalt sein. Dabei spielt es keine Rolle, welche Art von virtuellem Raum betrachtet wird. Jedes Individuum, das sich in einem virtuellen Raum befindet, ist verletzungsoffen und verletzungsmächtig. Alle Formen virtueller Gewalt können von Individuen ausgeübt werden und sich gegen Individuen richten. Die Verletzungsoffenheit gegen virtuelle Gewaltakte weitet sich auch auf solche Individuen aus, die keine virtuellen Räume nutzen, aber indirekt durch virtuelle Gewaltakte betroffen sein können.

4.3.2 Gruppen

Gruppen sind Zusammenschlüsse von Individuen, die im virtuellen Raum gemeinsam Gewalt ausüben oder Opfer dieser werden. Dies können Interessengruppen, politische Gruppierungen, Freizeitpartner, Arbeitskollegen und jede andere Gemeinschaft sein. Da Gruppen immer aus Individuen bestehen und diese verletzungsoffen und verletzungsmächtig sind, sind auch Gruppen im virtuellen Raum immer mögliche Urheber und Opfer virtueller Gewaltakte.

4.3.3 Privilegierte Individuen und Gruppen

Privilegien gegenüber weniger privilegierten Benutzern des virtuellen Raumes begründen sich auf politisch- oder technisch-datensetzender Macht auf den virtuellen Raum als Ganzes, auf dem Einfluss auf Subsysteme und auf medialer und technischer Kompetenz.

4.3.3.1 Datensetzende Macht

Datensetzende Macht in virtuellen Räumen kann von solchen Individuen und Gruppen ausgeübt werden, die direkten Einfluss auf den technischen Unterbau des jeweiligen virtuellen Raumes ausüben können.

Virtuelle Räume sind häufig durch Gesetze reglementiert und werden von nationalstaatlichen Organen kontrolliert. Durch diese Regelungen kann auf legalem Weg Gewalt gegen Benutzer virtueller Räume ausgeübt werden. Es ist möglich, dass virtuelle Freiheit eingeschränkt wird. So sind Zugangsbeschränkungen, Zensur, technische Unerreichbarmachung und Abhörmaßnahmen potentielle virtuelle Gewaltaktionen. Da auf dieser Ebene direkt reglementierend auf den technischen Unterbau virtueller Räume eingewirkt werden kann, können durch diese Gruppen schwer oder überhaupt nicht vermeidbare Gewaltaktionen gegen die Benutzer initiiert werden. Politisch legitimierte Gewaltausübung auf virtuelle Räume gewinnt in den letzten Jahren immer mehr an Relevanz.

4.3.3.2 Einfluss auf Subsysteme

Nicht so allumfassende Privilegien gegenüber den anderen Benutzern haben Individuen und Gruppen inne, die auf bestimmte Subsysteme des virtuellen Raumes Einfluss ausüben können. Dies können zum Beispiel Betreiber von Teilen des technischen Unterbaus sein oder Ersteller von Angeboten im virtuellen Raum. So ist im virtuellen Raum als privilegiert anzusehen, wer in einem Teil des Subsystems des virtuellen Raumes mehr Rechte inne hat als ein normaler Benutzer, jedoch nicht auf den technischen Unterbau des virtuellen Raumes als Ganzes Einfluss ausüben kann.

4.3.3.4 Mediale und technische Kompetenz

Da ein tiefer gehendes Verständnis des technischen Unterbaus eines virtuellen Raumes oder Subraumes es einem Benutzer ermöglicht, wirkungsvollere Gewaltakte auszuführen, muss auch die mediale und technische Kompetenz als Privileg im virtuellen Raum gelten. Besonders in der Gewaltausübung gegen technische Systeme und im Bezug auf die bereits erwähnte Multiplizierbarkeit und Automatisierbarkeit virtueller Gewaltausübung besitzen medienkompetentere und technisch begabtere Urheber ein größeres Gewaltpotential, da sie das System in verletzungsmächtigerer Weise für sich arbeiten lassen können, außerdem können sie durch technischen Sachverstand ihre Verletzungsoffenheit verringern.

4.2.4 Technisches System

Das technische System selbst kann ausschließlich Opfer von virtueller Gewalt sein. Eine Ausübung derselben ist ihm nicht möglich. Das System ist lediglich das Vehikel für die Ausübung virtueller Gewalt, ein Werkzeug, das ohne Nutzer einfach nur wertfrei bestehen würde. Alle oben genannten Urheber virtueller Gewalt jedoch können Gewalt gegen das System selbst ausüben. Gewalt die gegen das technische System ausgeübt wird ist ein Sonderfall virtueller Gewaltausübung. Gewalt gegen das System kann ziellos geschehen, ohne dass ein menschliches Opfer das direkte Ziel des Urhebers ist, zum Beispiel bei der Generierung einer technischen Störung in einem Subsystem des virtuellen Raumes. Trotzdem wirkt sich der resultierende Schaden bei Gewaltakten gegen das technische System immer auch auf menschliche Opfer aus, die durch die Veränderung des technischen Systems direkt oder indirekt betroffen sind. So sind Gewaltakte gegen das System lediglich ein weiterer Zwischenschritt in der virtuellen Gewaltausübung, die immer in der Realität endet.

5. Formen virtueller Gewaltausübung

Eine Klassifikation der Formen virtueller Gewaltausübung fällt nicht leicht, da ihre Ausprägungen vielfältig sind und ständig neue Formen entstehen. Weder nach der Gruppierung der Opfer, noch nach der Gruppierung der Urheber lässt sich eine sinnvolle Einteilung tätigen, da fast alle Formen von mehreren Urheber-Gruppen ausgeführt werden können und fast jeder virtuelle Gewaltakt alle Opfergruppen als Ziel haben kann. Da alle Formen virtueller Gewaltausübung jedoch eine Schadenswirkung auf das Opfer gemein haben, ist es sinnvoll, eine Klassifikation nach der Art des entstandenen Schadens vorzunehmen. Auch hier ergeben sich in Einzelfällen Überschneidungen zwischen den einzelnen Gewaltformen, trotzdem ist eine Abgrenzung leichter und deutlicher möglich, als nach einem anderen Kriterium.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783842812581
Dateigröße
2.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf – Philosophische Fakultät, Studiengang Soziologie
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
2,5
Schlagworte
gewalt gewalttransfer vandalismus kompetenz
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Titel: Formen virtueller Gewaltausübung
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