Lade Inhalt...

Jagen oder gejagt werden? Darstellung und Funktion der Frauenfiguren in Martin Walsers Roman "Jagd"

©2010 Bachelorarbeit 46 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Der Roman ‘Jagd’ ist der mittlere Roman aus der Trilogie um die Familie Zürn. Ihm voraus ging 1980 ‘Das Schwanenhaus’ und bedeutend später folgte ‘Der Augenblick der Liebe’ im Jahre 2004.
Wie in allen mir bekannten Romanen Martin Walsers ist der Protagonist männlich. Hier ist es der Familienvater und Immobilienmakler Gottlieb Zürn, der sich in den mittleren Jahren befindet. Durch die ihn begleitende Perspektive erhalten wir eine subjektiv gefärbte Darstellung der Ereignisse, insbesondere innerhalb seiner Familie. Durch den Einblick in sein Seelenleben können wir seinen Gedankengängen und Gefühlsbewegungen folgen. Diesem psychischen Teil Gottliebs werde ich mich widmen, um seine Darstellung im Roman und seine persönliche Entwicklung zu untersuchen. Das Hauptaugenmerk möchte ich dabei auf seine Auseinandersetzung mit den bedeutendsten Frauenfiguren lenken. Es handelt sich dabei um seine Ehefrau Anna Zürn und seine Tochter Julia, die vorwiegend im Zusammenhang zum Familienleben auftreten. Desweiteren sind Gisela Ortlieb, ein Feriengast, und Liliane Schönherr, eine Kundin, wichtige Figuren, die auf Gottlieb durch ihren weiblichen Reiz Einfluss nehmen. Gottlieb wird von diesen Frauen in verschiedene Richtungen bewegt, wodurch auch die Handlung von ihm als Protagonisten vorwärts getragen wird. Er selbst ist zwar der Handelnde, wird aber von den weiblichen Figuren in seinen Entscheidungen und seiner Entwicklung beeinflusst. Gleichzeitig sind die Aktionen der Frauen auf Gottlieb, bzw. ihre jeweiligen Partner, gerichtet. Es geht also um die Interaktion der Partner in Beziehungen und ihren Umgang miteinander. Die dargestellten Frauen sind starke Persönlichkeiten, die aber unter ihren Beziehungen zu Männern leiden. Das Agieren und Funktionieren der Familie selbst stehen vordergründig.
Ich habe mich für die psychologische Herangehensweise entschieden, da ich diese für die geeignete Basis halte, um die Handlungsmotivationen der Charaktere zu untersuchen. Zudem erfährt der Leser in dem Roman selbst einiges über die seelischen Zustände der einzelnen Personen, wodurch sich eine psychologische Untersuchung anbietet. Dabei gehe ich auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen und psychischen Strategien von Männern und Frauen ein. Ich arbeite in meiner Untersuchung nah am Text, da ich die psychischen Entwicklungen der Figuren analysieren möchte.
Zunächst stelle ich einen kurzen Abriss der Handlung voran, um dem Leser einen Überblick über […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Regina Rohland
Jagen oder gejagt werden? Darstellung und Funktion der Frauenfiguren in Martin
Walsers Roman "Jagd"
ISBN: 978-3-8428-1130-0
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland, Bachelorarbeit,
2010
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und der Verlag, die Autoren oder
Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl.
verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2011

2
Inhalt
1.
Einleitung
... 3
1.1.
Inhaltlicher Überblick
... 5
2.
Anna Zürn
... 6
2.1.
Charakterdarstellung
... 6
2.2.
Das Eheleben Anna und Gottliebs
­
Rollentausch als misslungene
Konfliktlösung
... 9
3.
Gisela Ortlieb
... 11
3.1.
Charakterdarstellung
... 11
3.2.
Das Prinzip der heimlichen Liebschaft
... 13
4.
Gottlieb Zürn
... 17
4.1.
Verlauf einer Krise
... 17
5.
Liebesspiel zu Dritt
... 25
6.
Liliane Schönherr - eine weibliche Komposition
... 27
7.
Familienleben der Zürns
­
Reibungspunkte und Familienbande
... 30
8.
Die Rolle der Julia
... 35
8.1.
Das Motiv der Jagd
... 37
9.
Resümee
... 40
10.
Literaturverzeichnis
... 43
10.1.
Literarische Quellen
... 43
10.2.
Online Quellen
... 43

3
1. Einleitung
Der Roman ,,Jagd
1
" ist
der mittlere Roman aus der Trilogie um die Familie Zürn. Ihm
voraus ging 1980 ,,Das Schwanenhaus" und bedeutend später folgte ,,Der Augenblick
der Liebe" im Jahre 2004.
Wie in allen mir bekannten Romanen Martin Walsers ist der Protagonist männlich.
Hier ist es der Familienvater und Immobilienmakler Gottlieb Zürn, der sich in den
mittleren Jahren befindet. Durch die ihn begleitende Perspektive erhalten wir eine
subjektiv gefärbte Darstellung der Ereignisse, insbesondere innerhalb seiner Familie.
Durch den Einblick in sein Seelenleben können wir seinen Gedankengängen und
Gefühlsbewegungen folgen. Diesem psychischen Teil Gottliebs werde ich mich wid-
men, um seine Darstellung im Roman und seine persönliche Entwicklung zu untersu-
chen. Das Hauptaugenmerk möchte ich dabei auf seine Auseinandersetzung mit den
bedeutendsten Frauenfiguren lenken. Es handelt sich dabei um seine Ehefrau Anna
Zürn und seine Tochter Julia, die vorwiegend im Zusammenhang zum Familienleben
auftreten. Desweiteren sind Gisela Ortlieb, ein Feriengast, und Liliane Schönherr,
eine Kundin, wichtige Figuren, die auf Gottlieb durch ihren weiblichen Reiz Einfluss
nehmen. Gottlieb wird von diesen Frauen in verschiedene Richtungen bewegt, wo-
durch auch die Handlung von ihm als Protagonisten vorwärts getragen wird. Er selbst
ist zwar der Handelnde, wird aber von den weiblichen Figuren in seinen Entschei-
dungen und seiner Entwicklung beeinflusst. Gleichzeitig sind die Aktionen der Frauen
auf Gottlieb, bzw. ihre jeweiligen Partner, gerichtet. Es geht also um die Interaktion
der Partner in Beziehungen und ihren Umgang miteinander. Die dargestellten Frauen
sind starke Persönlichkeiten, die aber unter ihren Beziehungen zu Männern leiden.
Das Agieren und Funktionieren der Familie selbst stehen vordergründig.
Ich habe mich für die psychologische Herangehensweise entschieden, da ich diese
für die geeignete Basis halte, um die Handlungsmotivationen der Charaktere zu un-
tersuchen. Zudem erfährt der Leser in dem Roman selbst einiges über die seelischen
Zustände der einzelnen Personen, wodurch sich eine psychologische Untersuchung
anbietet. Dabei gehe ich auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen und psychi-
schen Strategien von Männern und Frauen ein. Ich arbeite in meiner Untersuchung
nah am Text, da ich die psychischen Entwicklungen der Figuren analysieren möchte.
1
Walser, Martin, Jagd, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a. Main, 1988.

4
Zunächst stelle ich einen kurzen Abriss der Handlung voran, um dem Leser einen
Überblick über das Geschehen zu geben. Im weiteren Verlauf werde ich mich den
einzelnen Frauenfiguren annähern und ihre Wirkung auf Gottlieb projizieren. Die Dy-
namik im Familienleben werde ich separat darstellen, da diese zu den Haupthand-
lungspunkten gehört.
Abschließend möchte ich auf das Motiv der Jagd und seine metaphorische Anwen-
dung eingehen.

5
Menschen sehnen sich nach dem besten
Freund, dem Seelenzwilling, der Person,
mit der sie Erlebnisse teilen können. [...]
Dieses Glück der Abhängigkeit ist teuer er-
kauft.
Wolfgang Schmidbauer
1.1. Inhaltlicher Überblick
Der Roman erzählt eine Passage aus dem Familienleben der Zürns und der persön-
lichen Erlebnisse des Protagonisten Gottlieb. Anna und Gottlieb Zürn sind bereits seit
Jahrzehnten verheiratet und haben insgesamt vier Töchter. Die beiden jugendlichen
Töchter Regina und Julia wohnen noch zu Hause, Magda und Rosa sind erwachsen
und leben in Köln und Hamburg.
Anna und Gottlieb führen zusammen ein Immobiliengeschäft, wobei Gottlieb die Ob-
jekte einkauft und Anna diese weitervermittelt. Gottlieb hat das Unternehmen vor
Jahren aufgebaut, ist allerdings heute nicht mehr in der Lage, den Verkauf zu besor-
gen.
In den Sommerferien nehmen die Zürns Urlauber in ihrem Eigenheim am Bodensee
auf. Anna besteht darauf, dass am ersten Abend ein Umtrunk stattfindet, um die Gäs-
te zu begrüßen, sie kennenzulernen und für ihr Wohlbefinden zu sorgen. Gottlieb
nimmt widerwillig an diesen Gesellschaften teil, während Anna alles Nötige vorberei-
tet.
Dieses Jahr sind die ersten Feriengäste das Ehepaar Gisela und Stefan Ortlieb. Gi-
sela ist eine attraktive Frau mit einer ausgeprägten Persönlichkeit. Vom ersten Au-
genblick an zeigt sie reges Interesse an Gottlieb und beginnt, mit ihm zu flirten. Gott-
lieb ist zunächst scheu, fühlt sich aber auch geschmeichelt.
Die Zusammenkunft zieht sich unerwartet bis in die späte Nacht hinein und alle Be-
teiligten kommen sich näher. Diese Begegnung endet weniger friedlich nach einem
gemeinsamen Bad im an das Grundstück angrenzenden See, da das sexuelle Inter-
esse von Gisela und Gottlieb aneinander sich hier deutlich darbietet. Dadurch wird
die Eifersucht des jeweiligen Ehepartners geweckt.
Am nächsten Morgen sind die Ortliebs vorzeitig abgereist und auch Anna hat die
Nacht nicht daheim bei ihrem Gatten verbracht. Von da an vermeidet sie jede Be-

6
gegnung mit Gottlieb und das Eheleben ist offenkundig zerrüttet. Umso mehr bemüht
sich Gisela um den Kontakt mit Gottlieb und ruft ihn fast täglich an. Bei jedem Tele-
fonat drängt sie auf ein Treffen für ein Stelldichein. Gottlieb weicht aus, scheut zurück
und findet immer wieder Gründen aus denen er nicht zu ihr kommen kann.
In diese Situation platzt Julia, zurzeit das Problemkind der Familie, mit einem aufge-
schobenen Konflikt zwischen ihr und ihrer Mutter. Die häufigen Auseinandersetzun-
gen zwischen den beiden Frauen bewegen sich auf der Ebene der typischen Reibe-
punkte zwischen Eltern und pubertierenden Jugendlichen. Es wird keine Lösung ge-
funden und so kehrt Julia eines Nachmittags nicht mehr aus der Schule nach Hause
zurück.
Die Eltern vermuten Julia im nahegelegenen München und Gottlieb macht sich auf
den Weg, um seine Tochter zu suchen. Er nutzt diese Gelegenheit, um sich mit der
in München wohnhaften Gisela zu treffen. Diese hat eine sexuelle Begegnung zu
Dritt geplant, die aber erfolglos endet, da es zu keiner befriedigenden Lösung kommt.
Zwischenzeitig verlässt Gottlieb München, um ein Geschäft in Frankfurt am Main mit
der Kundin, Liliane Schönherr, abzuschließen, die ihm die sexuelle Erfüllung bietet.
Als er nach München zurückkehrt, hat Gottlieb einen sicheren Hinweis auf den Ver-
bleib seiner Tochter. Diese ist aber bereits selbstständig, in Begleitung ihrer neuen
Bekannten Lissi, abgereist und so folgt Gottlieb ihr zurück in die Heimat.
Die Freundin Julias stört allerdings eine harmonische Wiedervereinigung der Familie
und Anna fordert ihr Verschwinden. Bei einem Unfall, an dem Lissi beteiligt ist, wird
das Kaninchen der neuen Gastfamilie getötet und der Störenfried verlässt von selbst
das zu Hause der Zürns.
2. Anna Zürn
2.1. Charakterdarstellung
Anna Zürn, und sie wird im gesamten Roman immer nur Anna genannt, begegnet
uns zuerst mit ihrer Liebe und Hingabe zu den Blumen. Sie widmet sich ihrem Garten
jeden Tag für ein paar Stunden und lässt ihn von April bis November erblühen. Die-
ser prachtvolle Garten ist es, der das Haus umschließt. Es scheint, als wäre dies ein

7
Sinnbild für die Liebe und Fürsorge, mit der sie sich auch um die Familie und die Ge-
schäfte kümmert.
In dem gemeinsamen Immobilienunternehmen hat sie den Verkauf der Objekte über-
nommen und ist dabei sogar erfolgreicher, als ihr Ehemann zuvor. Ihr Vorgehen ist
dabei immer kundengerecht. Sie würde nie ein Haus an eine Familie verkaufen, das
nicht zu ihnen ,,[...] finanziell, psychologisch, biologisch, sozilogisch
2
" passt.
Sie hat
die Baubiologie
3
für sich entdec
kt und ,,[...] als ihre Überlegenheit offenbar geworden
war, in Einsiedeln einen Kurs im Pendeln gemacht.
4
"
. Auch hiermit zeigt sich ihre
Verbundenheit zu der Natur. In dieser Hinsicht hat sie ihr Gespür für die Bedürfnisse
anderer in ihren Beruf hineingetragen.
Eine äußerliche Beschreibung von Anna ist nicht gegeben. Sie wirkt zwar auf Gottlieb
durchaus anziehend, doch es werden keine Details genannt. Dies wird wohl darauf
zurückzuführen sein, dass es sich um Gottliebs Ehefrau handelt, die er jeden Tag
sieht und die er in- und auswendig kennt. Wir erfahren jedoch, dass sie 48 Jahre alt
ist.
Sie ist eine selbstständige, starke Frau, die nicht nur ihr berufliches Vorankommen,
sondern auch das Familienleben und die alltäglichen Pflichten im Haushalt bewerk-
stelligt. Anna organisiert dabei alles bewusst, um die Herausforderungen meistern zu
können. Es wird allerdings deutlich, dass sie mit den vielen verschiedenen Aufgaben
überfordert ist.
Hiermit stellt sich die Frage, ob Anna ein Opfer der Emanzipation ist. Sie hat das
Immobiliengeschäft zur Hälfte übernommen, wobei nach Gottliebs Darstellung der
Verkauf noch die aufwändigere Tätigkeit ist. Zudem kümmert sie sich um das Haus,
die Feriengäste und hält die Familie zusammen. Sie ist demnach eine emanzipierte
Frau und hat sich von der traditionellen Rollenvorstellung gelöst. Doch wie viele
Frauenaufgaben hat Gottlieb übernommen? Ihr Mann ist mit all diesen Angelegen-
heiten überfordert und zieht sich still zurück.
Er bietet Anna keinen Halt mehr
, ,,sie wisse ja, daß sie keine Hilfe habe, daß
hier niemand begreife, was sie mache ... Es ging oft um Hauswirtschaftliches,
2
Jagd, S. 16, Z. 11-12.
3
Baubiologie, befasst sich mit der Beziehung zwischen dem Menschen und der gebauten Umwelt. Dabei er-
folgt eine Betrachtung physiologischer, psychologischer, architektonischer und physikalisch-technischer Zu-
sammenhänge um ein gesundes Bauen und Wohnen zu entwickelt, das umweltfreundlich und schadstofffrei
ist.
4
Jagd, S. 16, Z. 12-14.

8
das ihr, weil sie soviel außer Haus zu tun hatte, durch Gottlieb und die Kinder
hätte erleichtert werden müssen.
5
"
.
Besonders deutlich wird dies in den Auseinandersetzungen mit ihrer Tochter Julia,
die sie ebenfalls alleine lösen muss.
,,Und Anna ha
tte ebenso oft und laut geschrien,
daß sie keine Hilfe habe, daß sie es nicht mehr aushalte, daß sie so nicht mehr wei-
terleben wolle.
6
". Hier tritt Anna als eine sensible Frau hervor, die sich von ihrer F
a-
milie, insbesondere Gottlieb, allein gelassen fühlt. Ihre Verzweiflung wird sichtbar,
obwohl sie jeden Tag aufs Neue kämpft. Es mag diese Verzweiflung sein, die uns
keinen Eindruck ihrer Lebensfreude erlaubt.
Eine mögliche Gefahr einer solch misslungenen Emanzipation mag sein, dass sie
sich selbst nicht mehr bewusst als Frau wahrnimmt. Gottlieb findet seine Frau sexuell
anziehend, doch
,,Anna begriff offenbar überhaupt ni
cht, wie sie wirkte. In der vollen
Morgensonne, nackt in ihrem schwarzdurchsichtigen Nachthemd.
7
".
Die Ursache ist,
dass sich die übernommenen männlichen Rollenelemente nicht mit der weiblichen
Identität vereinbaren lassen. Ich orientiere mich hier an der Auffassung von Wolfgang
Schmidbauer
8
, wonach Identität eine Emanzipation nach innen ist, die ein Gefühl der
inneren Kontinuität und des Eins-sein mit sich bedeutet. Es ist ein Bewusstsein für
die eigene Persönlichkeit und die sozialen Rollen, in denen sich die Persönlichkeit
selbst verwirklicht. Anna ist Mutter, Ehefrau, Hausfrau und zugleich eine erfolgreiche
Immobilienmaklerin. Ihr Ehegatte sollte sie entlasten, ihr Hilfestellung geben und sich
die Aufgaben mit ihr teilen
, doch ,,[...]
Gottliebs Lieblingstätigkeit, so zu sitzen.
Nichtstun war seine Lieblingstätigkeit.
9
". Und Anna ist demgegenüber machtlos.
Ihr wird die Gartenarbeit auch so am Herzen liegen, da sie hier ungestört ihrer Lei-
denschaft nachgehen kann und somit mehr als nur einen Ausgleich zum Alltags-
stress bietet. Ihre Blumenliebe grenzt sich auch deutlich von Gottliebs Wesenszügen
ab und zeigt auf, worin sich die beiden im Alltag unterscheiden. Der Garten bietet ihr
eine Möglichkeit, ihre weibliche Seite ausleben zu können. Eine Parallelität ist hier
verborgen, denn Blumen gelten als feminine Lebewesen in deren Empfindsamkeit
sich Anna einfühlt und ihren Bedürfnissen nachkommt. Aber auch hier zeigt sich be-
reits Annas Bestreben alles zu Organisieren und zu Lenken, ,,Dann gibt Anna dem
5
Jagd, S. 33, Z. 15-20.
6
Jagd, S. 34, Z. 6-8.
7
Jagd, S. 9, Z. 17-19.
8
Schmidbauer, Wolfgang, Partner ohne Rollen ­ Die Risiken der Emanzipation, Pfeiffer Verlag, München, 1991,
S. 28 ff.
9
Jagd, S. 23, Z. 22-23.

9
Mohn den Ei
nsatz für ein kurzes, aber schmachtendes Gastspiel. [...] Die blaue Sie
d-
lung Rittersporn wird aufgerufen, die Lupinen entzündet, die Königskerze errichtet,
und endlich wird den Lilien der Einsatz gegeben, [...].
10
". Hier weiß Anna ihre Or
d-
nungsbestimmtheit mit den Bedürfnissen ihrer Außenwelt zu vereinen und zaubert so
jedes Jahr ein Blumenparadies.
In der Familie und der Ehe ist ihr Einfühlungsvermögen jedoch nicht mehr wiederzu-
finden. Auch schadet hier ihr Bestreben nach Kontrolle dem Zusammenleben. Sie
eignet sich mit Selbstverständlichkeit das Leben der Anderen an, wie sie es auch tut
nachdem Tochter Julia verschwunden ist und sie in Sorge ihre privaten Sachen
durchsucht. Zu groß scheinen die Belastung und die damit verbundene Frustration
über die mangelnde Entlastung zu sein um sich noch die Bedürfnisse der anderen
Familienmitglieder vor Augen zu führen.
2.2. Das Eheleben Anna und Gottliebs
­
Rollentausch als misslungene
Konfliktlösung
Anna und Gottlieb sind gegensätzliche Charaktere, was aus psychologischer Be-
trachtung eine logische Schlussfolgerung in sich trägt. Man trifft die Partnerwahl nach
einem Ideal, nach dem was man selbst nicht ist, nicht sein kann. Die Bildung von
Idealen ist ein psychologisches Grundmuster, das bereits in unserer Kindheit aufge-
baut wird und notwendig ist, um eine stabile Persönlichkeit entwickelt zu können. Wir
tragen Ideale unserer Partner- und Beziehungsvorstellungen in uns und übertragen
diese auf die Wirklichkeit. Eine Beziehungskriese bedeutet immer auch, dass die
Idealisierung nicht mehr mit der Realität vereinbar ist. Gottliebs negative Entwicklung,
die der Erzählung im Roman selbst vorausgeht, aber immer wieder angedeutet wird,
könnte Annas Idealbild getrübt haben. Es geht aber auch darum die Rollenerwar-
tungen des anderen zu erfüllen, wobei die damit unvereinbaren Teile auffallen und
abgelehnt werden.
Gottlieb ist kein bestimmender Ehemann und Vater, er überlässt diese Angelegenhei-
ten gerne seiner Frau.
Er baut auf Anna und ihre Stärke, es
ist ,,[...] eine Hingezogenheit, eine Abhä
n-
gigkeit, eine Hörigkeit. Die Entfernung die durch Annas Verhalten zwischen ih-
10
Jagd, S. 10, Z. 25-30.

10
nen entstanden war, fühlte er als eine Sehnsucht, die in Feindseligkeit um-
schlagen wollte.
11
".
An der immer wieder gewählten Vergangenheitsform lässt sich erkennen, dass die-
ser Entwicklungsprozess zwischen den beiden bereits abgeschlossen ist. Auch das
Erwachsenwerden der Kinder führt zu einer Veränderung der Gesamtsituation im
Familienleben. Gottlieb und Anna müssen ihre Beziehung neu organisieren, jetzt wo
die Kinder nicht mehr als Bedürfnisträger fungieren. Der Rollentausch kann eine Fol-
ge dieser Neuordnung sein, scheitert aber in sich, da die Probleme nicht gelöst wer-
den.
Gottlieb ist also Anna in jeder Hinsicht untergeordnet und dies wird auch hier auf der
emotionalen Ebene ausgedrückt. Daraus lässt sich erneut die misslungene Emanzi-
pation ableiten. Oft wird die Beziehungsform einfach beibehalten und nur die Rollen-
verhältnisse gewechselt. Die Position des Unterdrückers und des Unterdrückten wer-
den nur vertauscht. Es kommt letztlich zu einer Rivalität zwischen dem Mann und der
Frau um die aktive Rolle
12
.
Gottlieb versucht in der Sexualität den aktiven Part zu übernehmen, indem er immer
wieder die Nähe sucht und Anspielungen macht. So auch, als er seine Frau in einer
erotischen Pose fotografieren möchte, doch ,, [d]a sie ihm den Apparat verbot, sollte
sie sich sein Interesse eben unverhüllt gefallen lassen. Sie bemerkte, worauf dies
zutrieb. Er bemerkte, daß sie es bemerkte. Stand eine Machtprobe bevor?
13
". Zwar
ist Gottlieb von Anna abhängig, doch wünscht er sich auch die Möglichkeit, Nähe und
Liebe nach seinen Bedürfnissen ausleben zu können. Sie lässt dies aus Mangel an
Einfühlungsvermögen nicht zu, und verhindert es, ihr näher zu kommen. Sie beschäf-
tigt sich weiterhin mit ihren Blumen und nutzt diese, um sich von Gottlieb abzuschir-
men. Die Ansprüche des Partners sind oft schwer zu erkennen, wenn sie nicht se-
xueller Natur sind. Zu den Urbedürfnissen zählen auch ,,kindliche Wünsche nach
Halt, nach Verschmelzung mit etwas Höherem
14
", die sich oft hinter sexuellen B
e-
dürfnisausdrücken verbergen. Diese erkennt Anna nicht hinter Gottliebs Annähe-
rungsversuchen.
11
Jagd, S. 14, Z. 21-24.
12
Partner ohne Rollen, S. 49 ff.
13
Jagd, S. 12, Z. 4-7.
14
Schmidbauer, Wolfgang, Mobbing in der Liebe ­ Wie es dazu kommt und was wir dagegen tun können, Gü-
tersloher Verlagshaus, 2007, S. 9.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2010
ISBN (eBook)
9783842811300
DOI
10.3239/9783842811300
Dateigröße
820 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf – Germanistik/Philosophie, Germanistik
Erscheinungsdatum
2011 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
martin walser frauenfiguren jagd wolfgang schmidbauer zürn
Zurück

Titel: Jagen oder gejagt werden? Darstellung und Funktion der Frauenfiguren in Martin Walsers Roman "Jagd"
Cookie-Einstellungen