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Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung - Möglichkeiten durch Klettern

©2008 Studienarbeit 100 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‘Können Sie Ihr Kind nicht erziehen?’ Diese Frage müssen sich heutzutage immer mehr Eltern ständig vorhalten lassen. Ihre Kinder fallen oft auf, stören den Unterricht, können sich nicht ruhig halten, nicht ausdauernd konzentrieren und haben Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst und mit anderen Kindern. Dies sind nur einige Punkte, mit denen sich viele Eltern, mehr als andere, auseinander setzen müssen. Doch ist es ihre eigene Schuld? Haben sie in der Erziehung versagt? Oder konnten sie dagegen einfach nichts unternehmen.
Der Grund des Verhaltens ihrer Kinder ist meist eine Aufmerksamkeitsstörung. Unaufmerksamkeit, Unkonzentriertheit, Hyperaktivität und Impulsivität, was auch immer die Ursache sein mag, spätestens mit der Einschulung resultieren aus diesen Symptomen Probleme in der Schule sowie in der Familie. Eltern und Lehrer sind oft ratlos und wissen sich nicht zu helfen, obwohl es seit Jahren unzählige Studien über das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gibt. Doch nicht immer wird wertfrei und objektiv beurteilt. Denn hinter den Erklärungsansätzen für das beobachtete Verhalten stecken zahlreiche Interessen, etwa der traditionellen Medizin wie der Pharmaindustrie, der Lehrkräfte, so wie auch von betroffenen Eltern. Von daher ist es oft schwierig, die richtigen Tipps für Eltern und Lehrer zu finden, die dem Kind wirklich weiterhelfen.
Die erste Erfahrung mit dieser Krankheit machte ich im Jahr 2005, als die Evangelische Jugend Freising in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Jugend Trudering ein Kletterprojekt für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten startete. Diese Erfahrungen sollen am Ende dieser Arbeit ebenfalls mit einfließen.
Nach Aufklärung über das Symptom möchte ich in dieser Arbeit speziell auf die Wirkung eingehen, die das Klettern für Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung hat, denn Klettern ist eine ausgezeichnete Sportart, um Betroffenen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen. Die Sportart, die im letzten Jahrzehnt einen Boom wie keine andere gemacht hat, bringt zahlreiche Voraussetzungen wie Aufmerksamkeit, Konzentration, aber auch Spaß und Freude sowie Risiko mit sich. Beim Klettern soll man die eigenen Grenzen erfahren und erweitern. Dies trägt maßgeblich am Aufschwung des Kletterns in Schulen und Jugendeinrichtungen bei und auch von Seiten der Therapie wird Klettern schon seit einiger Zeit für die Haltungsschulung verwendet. Doch Klettern soll auch eine therapeutische Wirkung auf Kinder […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 ADHS – medizinische Aspekte
2.1 Erklärungsansätze
2.2 Formen und Symptome der ADHS
2.2.1 Primäre Symptome
2.2.2 Typen der ADHS nach DSM IV und ICD 10
2.2.3 Begleitende Symptome
2.3 Ursache und Entstehung der Krankheit
2.3.1 Celebrale Dysfunktion – neurologische Hirnschädigung
2.3.2 Vererbung
2.3.3 Ernährung und Umweltgifte
2.3.4 Soziales Umfeld und Erziehung
2.4 Diagnose
2.4.1 Multiaxiales Klassifikationsschema
2.4.2 Geschlechterhäufigkeit und Dauer
2.4.3 Aufmerksamkeitsdefizit – Grenze zum Normalsein
2.4.4 Stärken der Betroffenen
2.5 Therapie
2.5.1 Voraussetzungen
2.5.2 Therapiemaßnahme – das multimodale Therapiekonzept
2.5.3 Medikamentöse Behandlung
2.5.3.1 Methylphendiat – das Wundermittel?
2.5.3.2 Anstieg MPH in den vergangenen Jahren
2.6 Weitere Informationen zur ADHS
2.7 Kritiker der ADHS

3 Klettern – Vorstellung der Sportart
3.1 Sportklettern
3.2 Materialkunde
3.3 Partnercheck
3.4 Aufstiegsarten
3.5 Bouldern

4 Klettern als therapiegeeignete Sportart für ADHS
4.1 Wirkungsdimensionen für ADHS – Therapeutische Stoßrichtungen
4.2 Motivation
4.2.1 Verbesserung der Motivation
4.2.2 Praktische Umsetzung beim Klettern
4.3 Wahrnehmung, Kognition und Problemlösung
4.3.1 Theoretische Ansätze
4.3.2 Bezug zum Klettern
4.4 Sportmotorische Fähigkeiten
4.4.1 Konditionelle und koordinative Fähigkeiten
4.4.2 Umsetzung beim Klettern
4.5 Soziales Lernen – Verantwortung und Vertrauen
4.5.1 Was ist sozial?
4.5.2 Verantwortung, Vertrauen und Konzentration beim Klettern
4.6 Selbstkonzept verbessern
4.6.1 Faktoren, die das Selbstkonzept beeinflussen
4.6.2 Praktische Umsetzung beim Klettern
4.7 Förderung der sensorischen Integration
4.8 Zusammenfassung

5 Kletterfreizeit mit ADHS betroffenen Kindern
5.1 Leitende Aspekte in der Vorbereitung
5.1.1 Stärkung des Selbstbewusstseins
5.1.2 Sicherheit und Technik - Vermittlung der Grundtechniken
5.1.3 Klettern
5.1.4 Grundgedanken zum Tagesablauf
5.1.5 Erwartungen und Vorsätze der Mitarbeiter
5.2 Verlauf des Wochenendes
5.2.1 Atmosphäre
5.2.2 Materialkunde und Sicherungstechnik
5.2.3 Klettern
5.2.4 Spaßerlebnis Klettergarten
5.2.5 Symptome – Auffälligkeiten
5.2.6 Therapeutische Wirkung
5.3 Auswertung der Freizeit

6 Fazit und Ausblick

Anhang

Literaturverzeichnis

Erklärung

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abb. 1: Kletterseil (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/15952.jpg)

Abb. 2: Anseilgurt (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/14632.jpg)

Abb. 3: HMS-Karabiner (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/17921.jpg)

Abb. 4: Express-Schlinge (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/15773.jpg)

Abb. 5: Kletterschuhe (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/9014.jpg

Abb. 6: Bandschlinge (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/16219.jpg)

Abb. 7: Kletterhelm (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/2478.jpg)

Abb. 8: Abseilachter (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/15790.jpg)

Abb. 9: Klemmkeile und Friend (vgl. http://www.peak-berlin.com/artbild/15106.jpg & http://www.peak-berlin.com/artbild/14159.jpg)

Abb. 10: Netzwerk der Sinnrichtungen beim Sportklettern (Winter, 2000, S. 20)

Abb. 11: Mit allen Sinnen lernen (Born & Oehler, 2006, S. 24)

Abb. 12: Aufmerksamkeit und Konzentration bei Kindern und Jugendlichen während des Klettertrainings (Winter, 2000, S. 14)

Abb. 13: Direktes Einbinden mit Achterknoten (vgl. Larcher & Zak, 2006, S. 21)

Abb. 14: HMS-Sicherung (vgl. Larcher & Zak, 2006, S. 11)

Abb. 15: Seilrutsche

Abb. 16: Hochseilbrücke

Abb. 18: Subtypen

Abb. 17: Geschlechterverteilung

Abb. 19: Häufigste Symptome

Abb. 20: Ausprägung der Symptome in den Problembereichen

Abb. 22: Erinnerung an die Freizeit

Abb. 21: Sportliche Aktivität vor der Freizeit

Abb. 23: Erinnerungen an das Wochenende

Tab. 1: Vergleich der Diagnosen - ICD 10 und DSM IV (vgl. Saß, u.a.,1996, S. 115ff; Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI, 2006, S. 193)

Tab. 2: Verordnungen von Methylphendiat (Ritalin® und Medikinet®) (vgl. Amft, 2004, S. 97)

Tab. 3: Schwierigkeitstabelle (vgl. Winter, 2001, S. 12 & 2000, S. 11)

Tab. 4: Zwei didaktische Positionen zum Sportklettern (Neumann & Schädle-Schardt, 2001, S. 8)

Tab. 5: Spektrum kletterspezifischer Wirkungsdimensionen (vgl. Neumann & Schädle-Schardt, 2001, S. 9)

Tab. 6: Beispiele für Attributationsmuster (vgl. Weiner, 1994, S. 270f)

Tab. 7: Sportmotorische Fähigkeiten (vgl. Grosser, u.a, 2001, S. 9)

Tab. 8: Tagesprogramm für das Wochenende

1 Einleitung

„Können Sie Ihr Kind nicht erziehen?“ Diese Frage müssen sich heutzutage immer mehr Eltern ständig vorhalten lassen. Ihre Kinder fallen oft auf, stören den Unterricht, können sich nicht ruhig halten, nicht ausdauernd konzentrieren und haben Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst und mit anderen Kindern. Dies sind nur einige Punkte, mit denen sich viele Eltern, mehr als andere, auseinander setzen müssen. Doch ist es ihre eigene Schuld? Haben sie in der Erziehung versagt? Oder konnten sie dagegen einfach nichts unternehmen.

Der Grund des Verhaltens ihrer Kinder ist meist eine Aufmerksamkeitsstörung. Unaufmerksamkeit, Unkonzentriertheit, Hyperaktivität und Impulsivität, was auch immer die Ursache sein mag, spätestens mit der Einschulung resultieren aus diesen Symptomen Probleme in der Schule sowie in der Familie. Eltern und Lehrer sind oft ratlos und wissen sich nicht zu helfen, obwohl es seit Jahren unzählige Studien über das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gibt. Doch nicht immer wird wertfrei und objektiv beurteilt. Denn hinter den Erklärungsansätzen für das beobachtete Verhalten stecken zahlreiche Interessen, etwa der traditionellen Medizin wie der Pharmaindustrie, der Lehrkräfte, so wie auch von betroffenen Eltern. Von daher ist es oft schwierig, die richtigen Tipps für Eltern und Lehrer zu finden, die dem Kind wirklich weiterhelfen.

Die erste Erfahrung mit dieser Krankheit machte ich im Jahr 2005, als die Evangelische Jugend Freising in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Jugend Trudering ein Kletterprojekt für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten startete. Diese Erfahrungen sollen am Ende dieser Arbeit ebenfalls mit einfließen.

Nach Aufklärung über das Symptom möchte ich in dieser Arbeit speziell auf die Wirkung eingehen, die das Klettern für Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung hat, denn Klettern ist eine ausgezeichnete Sportart, um Betroffenen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen. Die Sportart, die im letzten Jahrzehnt einen Boom wie keine andere gemacht hat, bringt zahlreiche Voraussetzungen wie Aufmerksamkeit, Konzentration, aber auch Spaß und Freude sowie Risiko mit sich. Beim Klettern soll man die eigenen Grenzen erfahren und erweitern. Dies trägt maßgeblich am Aufschwung des Kletterns in Schulen und Jugendeinrichtungen bei und auch von Seiten der Therapie wird Klettern schon seit einiger Zeit für die Haltungsschulung verwendet. Doch Klettern soll auch eine therapeutische Wirkung auf Kinder mit ADHS haben, welche in Kapitel 4 herausgearbeitet werden.

Diese Arbeit soll auch eine Hilfe für (Sport-)Lehrer sein. Denn immer mehr Kinder zeigen Ansätze einer Aufmerksamkeitsstörung. Deshalb finde ich es wichtig, sich mit dieser Krankheit zu beschäftigen, damit der Umgang mit betroffenen Kindern erleichtert werden kann. Denn nur wer über fundiertes Wissen verfügt, weiß, welche Maßnahmen und Hilfen für die betroffenen Kinder und Jugendliche von Nutzen sind.

Spezielle Kenntnisse im Klettern habe ich im Wahlfach Klettern während meiner Ausbildung an der sportwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität München erworben. Das bereits abgelegte Staatsexamen in Erziehungswissenschaften brachte mir dazu einen tiefen Einblick in die Psychologie von Kindern, welcher mir bei dieser Arbeit sehr geholfen hat.

Da in der Literatur oft wechselnde Begriffe verwendet werden, soll in dieser Arbeit stets der Begriff ADHS verwendet werden, weil dies meiner Meinung nach die beste Definition ist. ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder -syndrom (vgl. Kapitel 2).

2 ADHS – medizinische Aspekte

Im Folgenden soll die Entwicklung der Aufmerksamkeitsdefizitstörungen dargestellt werden. Laufende Begriffsänderungen und zahlreiche Formen der Krankheit verwirren die Betroffenen. Die Ursachendiskussion soll ausführlich erläutert werden. Desweiteren ist es wichtig, sich mit Diagnose und Therapiemöglichkeiten zu befassen.

2.1 Erklärungsansätze

Heinrich Hoffmann, deutscher Arzt und Direktor einer Nervenanstalt lieferte wohl die ersten Forschungen zur Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Schon 1845 berichtet er in seinem Buch Struwwelpeter vom „Hans-guck-in-die-Luft“ und dem „Zappelphillip“ (Hoffmann, 1994, S. 85ff). Trotzdem blieb ADS / ADHS bis Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend unbeachtet. Die erste Bezeichnung für auffälliges Verhalten gab es im Jahr 1932 mit der Diagnose für HKS[1] (vgl. Peters, 2006, S. 5). Anfang der 80er wurde dieses hyperkinetische Verhalten von Steinhausen (1982, S. 11f) zu den Hauptklagen von Eltern und Lehrer gezählt. In den 90er Jahre schätzte ein amerikanischer Kinderpsychologe die Anzahl der betroffenen Kinder in den USA bereits auf 5 Millionen (vgl. Wender & Wender, 1990, S. 11).

Das hyperkinetische Syndrom (HKS) wurde lange Zeit durch MCD, einer minimalen cerebralen Dysfunktion des Gehirns, erklärt. Wissenschaftlich konnten bis heute neurophysiologische Untersuchungsmethoden die vermuteten cerebralen Störungen weder bestätigen noch ausschließen. Aufgrund der Vorbelastung des Begriffes MCD und zunehmender Skepsis von Kinderpsychiatern spricht man mittlerweile in Anlehnung an den englischen Begriff ADD[2] /ADHD[3] von der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS[4] ) bzw. vom Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS[5] ), wobei das internationale Klassifikationssystem (ICD 10[6] ) der WHO weiterhin den Begriff hyperkinetische Störung benutzt (vgl. Neuhaus, 2003, S. 25). Da der Begriff ADHS die Krankheit aber deutlich präziser beschreibt, indem hier immer eine Störung der Aufmerksamkeit als zentrales Symptom und Problem dargestellt wird, wurde er auch als Grundlage für diese Arbeit gewählt.

2.2 Formen und Symptome der ADHS

Wie bereits erwähnt, wird heute die Krankheit MCD mit dem Symptom Hyperkinetisches Verhalten kaum mehr diagnostiziert. Grund dafür war eine kaum für valide zu leistende Definition von normalem Verhalten und endet nicht zuletzt mit dem erwähnten, nicht erbrachten pathologischen Nachweis einer Kausalität zwischen organisch verursachter Dysfunktion und Verhalten. Hinzu kommt, dass soziale Einflüsse einen überlagernden, abmildernden oder verstärkenden Einfluss auf das kindliche Verhalten haben, so dass es im Grunde MCD-Kinder ohne hyperkinetisches Verhalten und andererseits Nicht-MCD-Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten geben könnte. Da eine pathologisch eindeutige Diagnose bei MCD jedoch nicht möglich ist, obliegt eine Grenzziehung jedoch der Subjektivität des behandelnden Arztes (vgl. Mattner, u.a., 2004, S. 12ff).

2.2.1 Primäre Symptome

- Aufmerksamkeitsdefizit – Unaufmerksamkeit

Drüe beschreibt dieses Symptom sehr treffend: „Unfähigkeit des Betroffenen, sich anderen Personen und deren Äußerungen, Objekten, Aufgaben oder Inhalten mit einer ausreichend dauerhaften Aufmerksamkeit zuzuwenden, wenn sie dem Betroffenen nicht besonders interessant scheinen“ (Drüe, 2007, S. 49).

Nach Barkley (2002, S. 87ff) liegt dies an einem Mangel an Selbstbeherrschung. Er ist der Ansicht, dass Hemmung und Selbstkontrolle bei Kindern mit ADHS später entwickelt werden als bei Kindern ohne ADHS und diese Entwicklung auch nie soweit voranschreiten wird.

- Hyperaktivität

Laut ICD 10 ist die Hyperaktivität gekennzeichnet durch eine nicht organisierte, mangelhaft regulierte sowie exzessive Ruhelosigkeit, die v.a. in strukturierten und organisierten Situationen zum Ausdruck kommt und darüber hinaus ein hohes Maß eigener Verhaltenskontrolle erfordern, also beispielsweise im schulischen (Frontal-) Unterricht. Die Kriterien der DSM IV[7] geben hier konkrete Beispiele (vgl. 2.2.2).

Aber es wird auch darauf hingewiesen, wie sich diese Kinder von anderen unterscheiden. Kennzeichnend soll sein, dass ADHS betroffene Kinder überall dabei sind, wild umherlaufen. Meist sind sie schon zur Tür hinaus, bevor sie Jacke oder Rucksack anhaben. Sie springen auf Möbel, laufen ständig durch das ganze Haus und können Partner- und Gruppenaktivitäten nur schwer folgen (vgl. Saß, u.a., 1996, S. 117).

- Hypoaktivität

Der Begriff Hypoaktivität trifft auf Kinder zu, die an dem Subtypus vorwiegend unaufmerksam (vgl. 2.2.2) leiden. Diese Kinder sind sehr verträumt und oft abwesend. Paradebespiel dürfte hier Hoffmanns „Hans-Guck-in-die-Luft“ (Hoffmann, 1994, S. 97ff) sein. Eine Diagnose wird oft sehr spät gestellt, da dieses Symptom nicht sehr auffallend ist. Die Kinder stören nicht, bleiben unbemerkt, haben aber dennoch ein Defizit in der Konzentrationsfähigkeit und wirken unbegabt und gelangweilt. Besonders betroffen sind hier Mädchen.

- Impulsivität

Die Impulsivität wird teilweise als Hauptproblem der ADHS diskutiert. Laut Neuhaus (2007, S. 28) handelt es sich hier um eine mangelnde Fähigkeit, ein bestehendes Antwortmuster hemmen zu können, zu stoppen und nach einer Ablenkung wieder zum Ausgangspunkt zurückzufinden. Daraus ergibt sich die fehlende Fähigkeit abzuwarten und daraus folgt ein oft unüberlegtes Handeln oder Sprechen. Diese Impulsivität liegt nicht nur im Handeln, sondern betrifft auch Emotionen. Die Stimmungslage wechselt oft grundlos und ungebremst von „ ‚total begeistert‘ über ‚freudig ohne Ende‘, ‚stinksauer‘ oder ‚furchtbar beleidigt‘ bis ‚verliebt bis zum Verschmelzungswunsch‘ oder ‚extrem hassend‘“ (Neuhaus, 2007, S. 28). Das Problem liegt an einer mangelnden automatischen Verhaltenskontrolle und den daraus fehlenden Selbstüberwachung und Selbsteinschätzung. Dies zeigt sich in Aufgaben, die schwierig, uninteressant oder langweilig erscheinen. Der Betroffene wird schnell müde, gelangweilt oder schlecht gelaunt.

2.2.2 Typen der ADHS nach DSM IV und ICD 10

Die folgende Kriterien für eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nach DSM IV (vgl. Saß, u.a., 1996, S. 122f) wurden nahezu wortwörtlich übernommen. Sie sind ausschlaggebend für eine Diagnose.

Zu beachten gilt es:

1. Die Symptome sind in den letzten sechs Monaten beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden.
2. Einige Symptome treten bereits vor dem siebten Lebensjahr auf.
3. Die Symptome beeinträchtigen zwei oder mehr Lebensbereiche (Schule, Familie, etc.).
4. Die Symptome müssen klar die soziale Integration, die Leistungsfähigkeit in der Schule oder Berufslaufbahn beeinträchtigen.
5. Die Symptome treten nicht im Verlauf einer tiefgründigen Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf.
6. Es ist im Folgenden besonders auf die Wörter „oft“ und „häufig“ zu achten!

Symptome der Unaufmerksamkeit

- Beachtet oft Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten
- Hat oft Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum bei Aufgaben oder bei Spielen aufrecht zu erhalten
- Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn er angesprochen wird
- Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen
- Hat Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren
- Vermeidet bzw. zeigt Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern
- Verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher, etc.)
- Lässt sich oft durch äußere Reize ablenken
- Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich

Symptome der Hyperaktivität

- Zappelt häufig mit Händen und Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum, steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf
- Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist
- Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich anderweitig ruhig zu beschäftigen
- Ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals wie „getrieben“
- Redet häufig übermäßig viel
Symptome der Impulsivität
- Platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt wurde
- Kann nur schwer warten, bis er an der Reihe ist
- Unterbricht und stört andere häufig

Heutzutage unterscheidet man nach DSM IV drei Subtypen, nach ICD 10 nur zwei. Im Anschluss an die Tabelle sollen die Typen nach DSM IV nochmals explizit erläutert werden, da sich so Eltern und Lehrer einen guten Eindruck machen können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Vergleich der Diagnosen - ICD 10 und DSM IV (vgl. Saß, u.a.,1996, S. 115ff; Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI, 2006, S. 193)

ADHS, vorwiegend hyperaktiver Typ nach DSM IV

Am Beispiel des Zappelphillips wird zum ersten Mal das Phänomen von Hyperaktivität beschrieben: „Er gaukelt und schaukelt, er trappelt und zappelt auf dem Stuhle hin und her.“ (Hoffmann, 1994, S. 86) Kinder mit diesem Typ zeichnen sich durch ein ausgeprägt hyperaktives und impulsives Verhalten aus. Dieses Verhalten dominiert und die Aufmerksamkeitsstörung ist nicht so stark ausgeprägt. Hinzu kommt eine sehr lang anhaltende Trotzphase mit häufigen und starken Wutanfällen. Ihr Spielverhalten ist meist rat- und planlos, die Ausdauer darin sehr gering und ein Umgang mit Spielzeug meist sinnwidrig und destruktiv. Hyperaktive Kinder sind meist noch von motorischen Teilleistungsstörungen betroffen. Im Schulbereich zeigt sich das Kind oft sehr schnell abgelenkt, hat Probleme den Unterricht zu verfolgen und still zu sitzen. Hier kommt es zu Störungen des Unterrichts bis hin zu Verletzungen des Banknachbars (vgl. Hamburger Arbeitskreis, 2004, S. 10 ff).

Zur Diagnose müssen mindestens sechs Symptome der Hyperaktivität oder der Impulsivität vorliegen.

ADS, vorwiegend unaufmerksamer Typ nach DSM IV

Der vorwiegend unaufmerksame Typ zeichnet sich vor allem durch Unaufmerksamkeit, Impulsivität und einer Aktivitätsminderung (Hypoaktivität) aus. Dieser Typ wird vor allem bei Mädchen diagnostiziert. Die Kinder haben eine mangelnde und nicht altersgemäße Konzentrationsspanne. Sie sind zerfahren, lassen oft Spielsachen liegen, wirken verträumt. Auch werden einfachste Anweisungen vergessen. Auch ohne Hyperaktivität sind solche Kinder oft isoliert. Zu Wutausbrüchen und Stimmungsschwankungen neigen sie genauso wie der hyperaktive Typ. Durch die geminderte Konzentrationsfähigkeit und Passivität gelten solche Kinder schnell als faul bzw. dumm (vgl. Hamburger Arbeitskreis, 2004, S. 11) und werden zu Problemkindern erklärt. Durch einsames Spielen und kaum Kontakt zu Gleichaltrigen stellt sich rasch ein Zustand negativer Erfahrungen ein, das durch mangelndes Selbstbewusstsein, Ängsten und Frustration zu einem Teufelskreis werden kann (vgl. Aust-Claus & Hammer, 2001, S. 17). Zur Diagnose müssen mindestens sechs Symptome der Unaufmerksamkeit vorliegen.

ADHS, Mischtypus

Kennzeichnend für diesen Subtypen nach DSM IV ist die Vereinigung der primären Symptome Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität. Der Mischtypus ist die häufigste Form von ADHS. Dieser Subtypus wird dann verwendet, wenn mindestens sechs Symptome von Unaufmerksamkeit und mindestens 6 Symptome von Hyperaktivität über einen Zeitraum von sechs Monaten festzustellen waren.

2.2.3 Begleitende Symptome

ADHS ist eine Krankheit, die sehr facettenreich ist. Es gibt, wie bereits schon dargestellt wurde, kein einheitliches Bild. Hinzu kommen eine Reihe von begleitenden (komorbiden) Störungen, die in ihrer Ausprägung oft schlimmer als die eigentliche ADHS sein können, beispielsweise das Tourettesyndrom[8], Autismus[9] oder schwere Störungen des Sozialverhaltens.

Weitere begleitende Symptome sind nach Neuhaus (2003, S. 20) und der Bundesärztekammer (2005, S. 9) folgende:

- Niedrige Frustrationstoleranz
- Schwierigkeiten, mit plötzlichen Veränderungen umzugehen
- Probleme bei mangelnder oder fehlender Struktur
- Schlechte interpersonelle Beziehungen
- Unreife
- Wutanfälle
- Angststörungen
- Oppositionelles Trotzverhalten
- Depressivität
- Lese- & Rechtschreibschwierigkeiten, Rechenschwierigkeiten

Im Bezug auf Klettertraining/ -therapie soll nun auf bestimmte Symptome etwas genauer eingegangen werden:

Schnelle Erregbarkeit: „ADS- Kinder zeigen eine geringere Selbststeuerung ihrer Gefühle. Ihre Frustrationstoleranz ist deutlich erniedrigt und sie neigen zu überschießenden Gefühlsreaktionen.“ (Born & Oehler, 2006, S.13)

Schwierigkeiten mit Regeln: Die Kinder haben beim Einhalten von Regeln häufig Probleme. Je komplizierter diese sind, umso schwieriger ist es für sie. Das Kind reagiert eigensinnig und will nur seinen eigenen Willen durchsetzen (vgl. Aust-Claus & Hammer, 2001, S. 65). Einfache Vereinbarungen, die zusätzlich schriftlich festgehalten sind, kann es dagegen leichter einhalten und auch akzeptieren.

Dissoziales und aufmerksamkeitserregendes Verhalten: Der Klassenclown ist meist die Rolle der hyperaktiven Kinder, denn so haben sie immer Aufmerksamkeit. Darüber hinaus haben sie es schwer, sich in eine Gruppe zu integrieren und werden deshalb schnell zum Außenseiter – auch weil sie andere ständig necken, häufig streiten und fast immer in aufkommende Schlägereien verwickelt sind (vgl. Aust-Claus & Hammer, 2001, S. 66).

Schulische Leistungsprobleme: Skrodzki (2000, S. 26) berichtet bei Betroffenen von 80% bis 90% mit Lernschwierigkeiten, bei 62% eine Leseschwäche. Hinzu kommt, dass hyperaktive Kinder durch ihre unruhige Art nicht die beliebtesten Schüler beim Lehrer sind und von vornherein nachteilig behandelt werden. Verstärkend wirken die mangelnde Aufmerksamkeit im Unterricht und die problematische Phase der Hausaufgabengestaltung.

Wahrnehmungsprobleme: Durch die gestörte Transporterfunktion im Gehirn (vgl. 2.3.1) leiden viele Kinder an einer Reizüberflutung. Zusätzlich erschweren ein bis ins jugendliche Alter verstärkter Animismus[10] und Egozentrismus[11] das Hineinversetzen in andere (vgl. Neuhaus, 2003, S. 93ff).

Motorische Auffälligkeiten sowohl in der Grob- als auch Feinmechanik: „Bis zu 52% der ADS-Kinder zeigen eine Verzögerung in der motorischen Koordination. […] Die Auge-Hand-Koordination sowie die Schrift sind nachweislich schlechter“ (Born & Oehler, 2006, S. 13) Auch Aust-Claus und Hammer (2001, S. 66) sehen Auffälligkeiten der Körperwahrnehmung (Balancieren, Feinabstimmung), der Sehwahrnehmung (Lese- und Schreibprobleme) und Hörwahrnehmung (Sprachentwicklung).

Mangelndes Handlungsplanung: Ein fehlender Überblick und mangelnde Strategie erschweren es den Kindern, sorgfältig und präzise zu arbeiten. Auch schieben sie vieles „auf die lange Bank“ (Aust-Claus & Hammer, 2001, S. 66). Hinzu kommen Probleme mit Selbstorganisation, der Selbststeuerung und der Zeitplanung (vgl. Born & Oehler, 2006, S. 52).

2.3 Ursache und Entstehung der Krankheit

Aktuell diskutiert man über unterschiedliche Ursachen für die Entstehung bzw. den Ausbruch von ADHS bei Kindern. Die Bandbreite der Thesen ist groß und die Hartnäckigkeit und Heftigkeit, mit der diese aufgestellt und verkündet werden, lässt sich nur mit den individuellen Interessen der Protagonisten erklären.

Im Rahmen dieser Arbeit erscheint es nicht möglich – und auch nicht Ziel derselben – die tatsächlichen Ursachen für ADHS wissenschaftlich zu ermitteln. Im Folgenden soll daher nur kurz darauf eingegangen werden, inwieweit ADHS als Krankheit anzusehen ist, sowie auf die mehr oder weniger thesenhaft von verschiedenen Seiten verbreiteten Ursachen für ADHS. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass selbst, wenn die im Kind liegenden Variablen – etwa genetische Prädisposition – als Ursache für ADHS die vordringlichen Faktoren dafür sein mögen, dieser Umstand die Rolle der Umwelt nicht vermindert, die dann dafür sorgt, ob bei einem Individuum Symptome im verhaltensauffälligen Bereich zu beobachten sind oder nicht auftreten. So sind Interventionen, welche die Umweltbedingungen manipulieren, bei ADHS-Kindern häufig sehr wirksam.

2.3.1 Celebrale Dysfunktion – neurologische Hirnschädigung

Wie bereits erwähnt (vgl. 2.1), zählt der Nachweis einer hirnorganischen Ursache zu den ersten Ansätzen, das Verhalten von sozial, emotional und motorisch auffälligen Kindern zu erklären. Auch wenn bei den vielen Untersuchungen der Kinder keine Hirnschädigung gefunden werden konnte, wurde eben genau die bereits erwähnte MCD (minimale cerebrale Dysfunktion) angenommen, die jedoch unterhalb der klinischen Nachweisgrenze liegt und somit nicht nachgewiesen werden kann. Das MCD-Syndrom soll damals bei bis zu einem Fünftel aller Kinder vorgelegen haben, beweisen konnte es jedoch niemand. Aufschluss über den Zusammenhang von neurologischer Hirnschädigungen und ADHS brachte erst eine Studie der Arbeitsgruppe um Esser, Laucht und Schmidt im Institut für seelische Gesundheit in Mannheim. Man fand heraus, dass 12,6% der untersuchten Kinder objektiv nachweisbare Hirnfunktionsstörungen besitzen. Bei 15,9% wurden psychiatrische Auffälligkeiten diagnostiziert. Nachweisbare Störungen in Verbindung mit psychiatrischen Auffälligkeiten gab es jedoch nur 3,3%. Das bedeutet, dass knapp 75% der Kinder, bei denen eine cerebrale Dysfunktion gefunden wurde, psychiatrisch unauffällig sind und bei 80% der auffälligen Kinder konnte keine Hirnfunktionsstörung nachgewiesen werden. Da hier nur nachweisbare Hirnfunktionsstörungen in die Studie eingeflossen sind, ist es schlüssig, dass bei einer minimalen, und damit nicht nachweisbaren Dysfunktion (MCD) der Anteil von 3,3% noch weitaus geringer sein dürfte. Damit ist das MCD-Modell zwar nicht widerlegt worden, doch liegt ihm ein klassischer Zirkelschluss zugrunde (vgl. Amft, u.a., 2004, S. 59ff).

Seit dieser Untersuchung ist die Technik jedoch weit fortgeschritten und man kann mit Hilfe von elektrischen und magnetischen Messungen Veränderungen der Hirnrinde verfolgen. Durch das Positronen-Emissionstomogramm (PET) und dem funktionalen Magnetresonanztomogramm lässen sich der Sauerstoffverbrauch und der Stoffwechselumsatz im Gehirn sichtbar machen. Bereits 1989 wurde eine signifikante Minderdurchblutung bei ADHS Patienten in Stammhirnregionen und dem Stirnhirn festgestellt, die durch den Wirkstoff Methylphenidat aber behoben werden konnte (vgl. Neuhaus, 2003, S. 41).

Man geht weiterhin davon aus, dass es auch Auffälligkeiten in bestimmten Botenstoffsystemen gibt, die für die Informationsübertragung von Zelle zu Zelle zuständig sind. Die Nervenbahnen nutzen als Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin zur Weiterleitung von diesen Informationen. Dies ist notwendig, da Nervenzellen nicht direkt miteinander verbunden sind und der synaptische Spalt von diesen Botenstoffen überbrückt werden muss. Bei Menschen mit ADHS ist eine Unteraktivität festzustellen, die vermutlich auf dem Ungleichgewicht dieser Botenstoffe beruht. Im synaptischen Spalt liegen bei ADHS sehr viele Transportereiweiße vor, welche die Funktion eines Staubsaugers besitzen und Noradrenalin und Dopamin wieder in die Zelle zurückholen. Dadurch können die Botenstoffe nicht ausreichend Information zur nächsten Zelle leiten und es kommt zu einer Reizüberflutung. Das ist auch der Ansatz für eine medikamentöse Behandlung – wie beispielsweise Ritalin®. Weiterhin bleibt es jedoch ungeklärt, was diese Abweichungen der Hirnentwicklung hervorruft (vgl. Hamburger Arbeitskreis, 2004, S. 21f). Jedoch sind solche Informationen mit Vorsicht zu genießen, da der Hamburger Arbeitskreis in Verbindung mit „Lilly“ steht. „Lilly“ ist eines der weltweit führenden pharmazeutischen Unternehmen, die Behandlungsansätze und Technologien in den Kernbereichen Endokrinologie, Onkologie, Psychiatrie/Neurologie, Urologie, Kardiologie und Infektiologie entwickeln. Auch werden in ihren Forschungszentren Medikamente für ADHS entwickelt.

2.3.2 Vererbung

Auch Vererbung gilt als ein Auslöser von ADHS. Zahlreiche Studien von Familien mit leiblichen oder adoptierten Kindern mit und ohne ADHS bzw. Untersuchungen von ein- und zweieiigen Zwillingen sprechen eindeutig für einen Zusammenhang von ADHS und Vererbung. Untersuchungen aus Amerika aus dem Jahre 1990 belegen, dass bei mehr als 25% der Verwandten ersten Grades von ADHS betroffenen Kindern ebenso eine ADHS diagnostiziert wurde. Der Anteil in Bezug zu anderen Gruppen betrug nur 5%, was das Risiko von ADHS bei Angehörigen um ein Fünffaches erhöht. Überzeugender sind jedoch diverse Zwillingsstudien, welche zeigen, dass Zwillingsgeschwister zu 80 bis 90% von den Symptomen der Störung betroffen sind. Eine genaue Studie wurde 1992 veröffentlicht, die eine Wahrscheinlichkeit von 79% bei eineiigen Zwillingen und von 32% bei zweieiigen Zwillingen prognostizierte (vgl. Barkley, 2002, S. 123f). Ebenfalls wurde bereits ein Gen entdeckt, dass für den Dopaminstoffwechsel verantwortlich ist. Allerdings ist noch kein Zusammenhang zur ADHS festgestellt worden.

2.3.3 Ernährung und Umweltgifte

Zeitweise, während man noch versuchte, die MCD Hypthese zu beweisen, wurde über eine Allergiehypothese diskutiert. Es wurden verschiedene, aus dem Bereich Ernährung und Umwelt aufgenommene Stoffe hypothesenhaft genannt, die ADHS Symptome auslösen oder verstärken könnten. Zwar wurde gelegentlich von Nahrungsmittelunverträglichkeiten berichtet, allerdings spielt der Einfluss von Ernährung und Nahrungsmittelzusatzstoffen wie Farbstoffen, Zucker und Salicylate gemäß diverser Studien nur eine minimale Rolle für das Auftreten von AHDS (vgl. Schmied, 2006, S. 61).

Insgesamt sind die einzeln berichteten angeblichen Erfolge, die auf Ernährungsumstellungen beruhen, so vage und selten vorkommend, dass derartige Maßnahmen nicht zu empfehlen sind (vgl. Imhof, u.a., 2000, S. 85f).

Konkrete Zusammenhänge bestehen zwischen ADHS und vorgeburtlichem Kontakt mit Drogen, Nikotin und Alkohol durch entsprechenden Konsum der werdenden Mutter in der Schwangerschaft (vgl. Imhof, u.a., 2000, S. 85f). So haben Untersuchungen eine signifikante Korrelation zwischen Nikotin-Genuss (auch in kleinen Mengen) und übermäßigem Stress während der Schwangerschaft und späteren ADHS-Symptomen beim Kind gezeigt. Auch geringes Geburtsgewicht korreliert mit ADHS (vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 8).

Doch obwohl in verschiedenen Studien Korrelationen zwischen aus der Umwelt aufgenommenen toxischen bzw. unverträglichen Stoffen nachgewiesen wurden, so ist deren Einfluss als Auslöser für ADHS sehr gering, zumindest für einen Großteil der Kinder mit dieser Diagnose.

2.3.4 Soziales Umfeld und Erziehung

Kann ADHS auch ein entstandenes Phänomen aus sozialem Umfeld und Erziehung sein? Drüe (2007, S. 50) ist der Ansicht, dass Kritiker, die über unzureichend Erfahrungen mit ADHS betroffenen Kindern verfügen, oft die Ursache in gewissen Umweltreizen, in der Sozialisation, im Bildungsgeschehen und auch in vermuteten pränatalen Geschehnissen suchen. Dadurch richtet sich ihre Kritik meist an die Eltern, insbesondere an die Mütter, auch wenn sie es oft diplomatisch auszudrücken versuchen. Es wurden bereits wiederholt genetische Zusammenhänge gefunden, die klar zeigen, dass die verursachenden Faktoren nicht vorrangig im sozialen Umfeld zu suchen sind. Das Umfeld eines Kindes hat allerdings durch seine Ressourcen und Belastungen erhebliche Auswirkungen auf die Ausprägung und Bewältigung der Beeinträchtigungen, die aus der Störung resultieren.

Abschließend sollte erwähnt werden, dass keine der genannten Ursachen 100% bis heute bewiesen werden konnte und so bei einer Diagnose heute meistens in allen Bereichen gesucht werden muss.

2.4 Diagnose

Wie erkennt man nun, ob ein Kind ADHS hat oder nicht. Grundsätzlich gilt, dass die Diagnose möglichst so früh wie möglich gestellt werden sollte, am besten schon um das vierte Lebensjahr. Doch blauäugig zu urteilen macht keinen Sinn. Deshalb sollte diese nur ein erfahrener Kliniker, ein Arzt oder ein Diplompsychologe vornehmen. Einer der wichtigsten Faktoren ist eine ausgiebige Untersuchung und eine Sammlung von Informationen von Eltern, Lehrern und anderen Beteiligten. Nur sorgfältiges Befragen, Testen und Beobachten führt zum Erfolg. Denn gerade die pubertäre Phase macht eine exakte Diagnose nicht ganz einfach.

2.4.1 Multiaxiales Klassifikationsschema

Neuhaus (2003, S. 73f) befürwortet das multiaxiale Klassifikationsschema. Hier wird nach den Kriterien des ICD 10 und DSM IV eine Diagnose gestellt. Das Diagnoseschema erlaubt eine komplexe Erfassung der Gesamtbeeinträchtigung und bietet die Möglichkeit zur differenzial-diagnostischen Abgrenzung. Es wird in sechs Achsen aufgeteilt.

- Achse 1: Diagnose – klinisch psychiatrisches Syndrom
- Achse 2: begleitende Entwicklungsstörungen
- Achse 3: Entwicklungsstand / IQ ermitteln
- Achse 4: körperliche Symptomatik abklären
- Achse 5: psychosoziale Umstände einschätzen
- Achse 6: Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung

Beachten sollte man hierbei, dass Betroffene oft eine gestörte Selbstwahrnehmung haben. Sie urteilen nicht objektiv über sich, das führt zu Verzerrungen. Deshalb darf sich der Diagnostiker nicht von Mimik, Gestik und Tonfall täuschen lassen.

Bei der Diagnose ist es wichtig, ADHS von anderen Krankheiten abzugrenzen. Viele Symptome überlagern sich mit anderen Krankheiten und Kritiker warnen besonders vor diesen Verwechslungen. Beispielsweise erkennt man ADHS bei Angststörungen dadurch, dass die klassischen Angstbehandlungen fehlschlagen. Auch Persönlichkeitsstörungen müssen klar abgegrenzt werden. Antisoziale Störungen werden allerdings klar ADHS zugeordnet, wobei die manisch-depressive Erkrankung und schizophrene Störungen gut abgrenzbar sind und ein eigenes Krankheitsbild darstellen (vgl. Neuhaus, 2003, S. 73f).

2.4.2 Geschlechterhäufigkeit und Dauer

Die zahlreichen Forschungen der letzten Jahre widerlegen teilweise auch alt geglaubte Anzeichen der Krankheit. So ging man früher davon aus, das hauptsächlich Jungen von ADHS betroffen sind und Mädchen sehr viel seltener. Heutzutage wird ADHS bei Jungen zwar zwei- bis viermal häufiger diagnostiziert, was allerdings daran liegen kann, dass man die Hyperaktivität, an denen meist Jungen leiden, schneller erkennt. Mädchen, die häufig vom unaufmerksamen Typ betroffen sind, werden schnell als schüchtern, ängstlich und dumm abgestempelt (vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 4).

Ein weiterer interessanter Punkt ist die Dauer der Krankheit. Hört Sie mit einem bestimmten Alter auf? Wächst man sozusagen raus oder bleiben die Symptome das ganze Leben. Nach den aktuellen Erkenntnissen der Wissenschaft geht man davon aus, dass mindestens zwei Drittel aller betroffenen Kinder die Symptome in das Erwachsenenalter mitnehmen. Lediglich die Hyperaktivität schwächt sich bei allen etwas ab und wird durch eine „innere Getriebenheit“ oder „innere Unruhe“ (Neuhaus, 2003, S. 20) ersetzt, die dann das ganze Leben andauern kann.

2.4.3 Aufmerksamkeitsdefizit – Grenze zum Normalsein

Diagnosekriterien wie ICD 10 und DSM IV tragen in den letzten Jahren natürlich dazu bei, dass mehr ADHS diagnostiziert wird, da es klare Erkennungsmerkmale der Krankheit gibt. Genau genommen wären eigentlich alle Menschen von dieser Störung betroffen, da wir ständig an einem Aufmerksamkeitsdefizit leiden. Pro Sekunde ist ein Informationsquantum von 107 bis 109 bit zu verarbeiten. Allerdings gelangt nur ein winziger Bruchteil davon ins Bewusstsein. Aber unsere Gesellschaft reagiert sofort auf Störungen und versucht diese möglichst schnell auszuschalten. Doch woran orientiert man sich? Wo fängt der Begriff „Störung“ an und wo hört es auf, „normal“ zu sein? Wäre es hier wünschenswert, mit Training, Medikamenten und Genmanipulation einen perfekten, reibungslos funktionierenden Menschen zu kreieren? Doch würde das dann „normal“ sein? Wissenschaftler können nur grobe Angaben über das durchschnittliche Verhalten gleichaltriger machen, mehr nicht. Wirklich „normal“ ist doch nur die einmalige Persönlichkeit, die sehr unterschiedliche persönliche Eigenschaften mit sich bringt, aber auch Schwächen und Handicaps besitzt. Das „Normale“ ist ja damit gerade das „Verschiedene“ (vgl. Rühling, 2003, S. 28).

Darüber hinaus wird in unserer Gesellschaft sehr schnell von „Behinderung“ geredet, was dazu noch oft mit „Makel“ übersetzt wird. Generell ist es entscheidend, die Schwere und Art einer Krankheit festzustellen, um von einer Behinderung reden zu können – oder zu müssen. Es ist durchaus vorstellbar, dass Eltern schwer betroffener Kinder mit ADHS den Grad der Behinderung feststellen lassen könnten. Das Schwerbehindertengesetz enthält zahlreiche Parameter. Doch aus Angst das Kind noch mehr zu etikettieren, schrecken die meisten Eltern verständlicherweise davor zurück (vgl. Drüe, 2007, S. 195).

2.4.4 Stärken der Betroffenen

ADHS ist ein sehr negativ belasteter Begriff. Die Diagnose rückt ausschließlich negative Symptome in den Mittelpunkt. Aber die Betroffenen haben auch eine Reihe von Merkmalen positiver Art. Bei hoher Motivation verfügen sie über eine auffallende Wachheit und sehr guter Umsetzungsfähigkeit, die sich in sehr guter Leistungsfähigkeit ausdrückt. Sie sind geprägt von einem starken Gerechtigkeitssinn, der nicht nur für sie selbst, sondern auch für andere gilt. Auffallend ist außerdem eine extreme, oft auch spontane Hilfsbereitschaft, bei der sie viel Ausdauer und Einfühlsamkeit zeigen. Dazu verfügen sie über eine ausgeprägte Hypersensibilität und Empathie, welche ihnen erlaubt zu erkennen, ob jemand gemocht wird und ob es jemanden gut oder schlecht geht. Sie zeichnen sich durch eine hohe Kreativität, Fantasie und Spaß am kreativen Tun aus. Erhalten sie eine echte Entschuldigung, verzeihen sie meist spontan und vollständig. Deshalb sollten diese Kriterien bei einer Diagnose mit aufgenommen werden. Denn damit können die Kinder im alltäglichen Leben und der Therapie gestärkt werden.

2.5 Therapie

Zuerst sollte man festhalten, dass ADHS eine Störung ist, die nicht unbedingt eine Therapie nach sich zieht. Wenn Umgebung, Begabung und Wille der Betroffenen stimmen, kann durchwegs auf eine Therapie verzichtet werden. Doch in den meisten Fällen ist eine Therapie dringend notwendig. Viele Eltern wissen anfangs nicht so recht, an wen sie sich wenden sollen. Ein zusätzliches Problem ist die geringe Bereitschaft des Betroffenen, zu einer Beratung zu gehen. Bereits fehlgeschlagene Versuche verstärken dies ebenfalls. Daher ist es Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, dass der Jugendliche die Hilfe annimmt. Schafft es der Arzt, das Eis zum Patienten zu brechen, so ist der erste Schritt getan, sonst geht gar nichts. Es ist vor allem darauf zu achten, welchen ADHS Subtyp man vor sich hat. Jeder reagiert anders und an jeden Subtypen muss man sich speziell heranarbeiten.

Die Fülle an Therapiemöglichkeiten der ADHS würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen. Traditionelle Wege versuchen die Selbstregulierung, die Selbstbeobachtung sowie die Selbstinstruktion der Betroffenen zu verbessern. Ziel dieser Arbeit ist es aber, die Möglichkeiten durch Klettern herauszuarbeiten (vgl. Kapitel 4).

2.5.1 Voraussetzungen

Für den behandelnden Arzt ist es am Anfang wichtig, möglichst viele Details zu erhalten. Hierzu zählen Rahmenbedingungen der Familie, Bewältigungsstrategien der Eltern in betroffenen Situationen sowie eine genaue Diagnose. Auch die vorhandene Mitarbeit bei einer Therapie sollte bei Eltern, Lehrern und der Betroffenen hinterfragt werden (vgl. Neuhaus, 2003, S. 247).

Erfolgsversprechend ist das interdisziplinäre (medizinische, psychologische und pädagogisches) Konzept mit multimodaler Vorgehensweise. Wie bei der Diagnostik, soll auch bei der Therapie schrittweise im Rahmen eines Entscheidungsbaumes (im Sinne eines Wegweisers zu nutzen) abgeklärt und entschieden werden. Dabei müssen Unterschiede zwischen den einzelnen Patienten berücksichtigt werden, damit gewährleistet ist, dass jeder Patient die Behandlung bekommt, die für ihn am besten ist (vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 11).

2.5.2 Therapiemaßnahme – das multimodale Therapiekonzept

Dieses Modell ist gekennzeichnet durch individuelle Kombination aus verschiedenen Therapieformen (Eltern-Kind-Betreuung, psychotherapeutisches Maßnahmen und gegebenenfalls medikamentöse Therapie). Es wird zwischen obligaten, also in jedem Fall notwendige und fakultativen, d.h. nur in bestimmten Fällen notwendige Maßnahmen unterschieden. Der wichtigste Punkt der multimodalen Therapie ist die enge Zusammenarbeit der verschiedenen in das Behandlungskonzept involvierten Fachbereiche und -gruppen, also Fachärzte, Psychologen, Eltern, Lehrer und Erzieher. Da es für jedes Kind einer speziellen Zusammensetzung bedarf, soll diese Therapiemethode deshalb hier nur angeschnitten werden. Ausführlicher möchte ich mich jedoch mit der Medikamenteneinnahme bei ADHS auseinandersetzen, da hier noch deutlich Informationsarbeit sowohl für Betroffene, Eltern als auch Lehrer gemacht werden muss.

2.5.3 Medikamentöse Behandlung

Es soll hier ein kleiner Einblick in die medikamentöse Behandlung vollzogen werden. Behandelt wird in Deutschland meist mit Ritalin® und Medikinet®, beides enthält den Stoff Methylphendiat, der zu den Stoffen der Amphetamine zählt. Er ist im Betäubungsmittelgesetz aufgelistet und unterliegt einer speziellen Verschreibung.

2.5.3.1 Methylphendiat – das Wundermittel?

Mittlerweile ist „Ritalin® […] für Methylpendiat (MPH) zu dem geworden, was Maggi® für Suppengewürze oder Fleischextrakt, Ata® für Scheuerpulver, Pampers® für Wegwerfwindeln ist: der Name für ein erfolgreiches neues Produkt“ (Drüe, 2007, S. 177). Mit Sicherheit wäre MPH in den letzten Jahren in den TOP10-Listen der meist genannten Medikamente enthalten und an den vorderen Plätzen zu finden. Kritiker reden mittlerweile in ihren Buchtiteln nur noch von Pillen und machen ADHS – Diagnose und Therapie – zur umstrittensten Krankheit unserer Zeit.

In diversen Internetforen, in denen Mütter über ihre Erfahrungen mit MPH schreiben, ist oft sehr viel Positives zu lesen. Die Eltern berichten, dass ihre Kinder nun wieder Sachen machen können, die sie vor der medikamentösen Behandlung nicht annähernd zu Stande gebracht haben. Hinzu kommt eine deutliche Entspannung des Familienklimas und eine Verbesserung der schulischen Leistungen. Dabei beruhen die positiven Auswirkungen nicht nur auf persönlichen Erfahrungen, sondern sind wissenschaftlich erwiesen. Allerdings muss man unterscheiden, was man als Auslöser der ADHS annimmt. Wenn man von ADHS genetisch bzw. neurophysiologisch betroffen ist, macht eine medikamentöse Therapie durchaus Sinn. Man sollte ihr zwar trotzdem kritisch gegenüberstehen, aber nicht ablehnend. Nimmt man Umweltbedingungen als Auslöser der ADHS an, sollte man zuerst mit ähnlich gelagerten Therapiemethoden angreifen, etwa eine Verbesserung der Umweltbedingungen, also gute Erziehung und Vermeidung schädlicher Einflüsse. Das MPH dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt und nicht Betroffene süchtig macht, ist sicherlich ein besorgniserregender Grund für Ärzte und Eltern (Drüe, 2007, S. 180ff).

Doch die genaue Wirkungsweise von MPH kann hier nicht erläutert werden, weil immer noch nicht alles wissenschaftlich belegt ist und ein deutlicher Nachholbedarf in der Forschung besteht. Als gesichert gilt, dass es mit den in 2.3.1 erwähnten Botenstoffen Dopamin und Noradrenalin in Verbindung gebracht wird.

Amft (2004, S. 103ff) betont dagegen, das die Verabreichung von Medikamenten in der Psychopharmakotherapie eine eigene Wissenschaft ist. Kein Pyschopharmakum wirkt im Sinne einer Input-Output Beziehung. Dasselbe Medikament wirkt bei verschieden Personen unterschiedlich, beispielsweise auf psychisch Gesunde und Kranke. So auch bei MPH. Es wirkt auf Gesunde als Aufputschmittel, doch bei ADHS Betroffenen entsteht ein paradoxer Effekt, welcher durchaus erwünscht ist. Dabei stärkt seiner Meinung nach Ritalin® das subjektive Leistungsempfinden und positive Selbsterleben bei den Betroffenen, aber objektive Verbesserung der schulischen Leistung lässt sich allerdings nicht feststellen.

Auf den Punkt gebracht könnte man den Umgang mit MPH wie folgt charakterisieren:

„Wem soll er [der Patient] glauben schenken? 60 Seiten Internet beim Suchwort ‚Ritalin‘. Es gibt Ärzte, die sind ‚pro‘ Ritalin® und andere ‚contra‘. Es gibt Gruppen betroffener Eltern, die sich eindeutig ‚pro‘ aussprechen, aber da gibt es auch die Warner, die darauf hinweisen, dass solche Gruppen von der Pharmaindustrie gesponsert, vielleicht sogar überhaupt von ihr gegründet werden, um so erfolgreiches Marketing zu machen“ (Amft, 2004, S. 51).

2.5.3.2 Anstieg MPH in den vergangenen Jahren

Der Anstieg von MPH wurde von Amft (2004) anhand der Quellen der Arzneiverordnungsreporte der Jahre 1989, 1995, 1996, 1997, 2000 und 2002 untersucht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2: Verordnungen von Methylphendiat (Ritalin® und Medikinet®) (vgl. Amft, 2004, S. 97)

Bis 1999 war nur Ritalin® im Handel. Da die Medikamentendosis auf das Körpergewicht und andere Parameter angepasst werden muss, ist die definierte Tagesdosis (DDD[12] ) eine Durchschnittsdosis, die etwas von der Zahl der tatsächlichen Behandlungstage abweichen kann. In der Tabelle ist ein Anstieg in der Zeit von 1990 bis 1995 für die Tagesdosis um den Faktor vier zu erkennen (vgl. Amft, 2004, S. 98).

2003 liegen 95% der Verordnungen in die Altersgruppen zwischen 5 und 19 Jahren, 50% zwischen 10 und 14 Jahren (vgl. Lohse, u.a.,2002, S. 666). Dabei war der Anteil von Jungen gegenüber Mädchen sieben bis acht mal höher.

Abschließend bleibt zur medikamentösen Behandlung zu sagen, dass sie sicherlich eine alternative Möglichkeit für schwer betroffene Kinder darstellt, aber aufgrund des Suchtfaktors, der Kinder vielleicht später den Einstig in den Drogenmissbrauch erleichtert und den zahlreichen, wenn auch selten vorkommenden Nebenwirkungen sehr sparsam eingesetzt werden sollte.

2.6 Weitere Informationen zur ADHS

Es soll nun eine kleine Einführung in den Umgang mit ADHS Kindern geben, um grundsätzliche Fehler von vornherein vermeiden zu können.

Hilfreiche Regeln für Eltern und Lehrer

20 eiserne Regeln des Verhaltensmanagements sollen Eltern und Lehrern helfen, besser mit den Kindern umzugehen. Wer die symptomatischen Reaktionsabläufe versteht, kann diese Regeln nachvollziehen. Neuhaus hat diese mit zahlreichen Beispielen wie folgt definiert (2003, S. 143ff):

1. Klares Festsetzen, welches Verhalten erwartet wird („…werde dich heute Abend um 18:30 Uhr abfragen“)
2. Ankündigen, welche Tätigkeiten zu erledigen ist. Kleine Listen können dabei helfen.
3. „Motzen“ oder „verbales Verweigern“ nicht berücksichtigen.
4. Kritik eines Problems immer an der Situation erklären, nicht ausufern
5. Nicht an Kleinigkeiten herummeckern, sondern Wesentliches!
6. Verstärkung der Anstrengungsbereitschaft und nicht nur das Handlungsergebnis
7. Dabei nicht extrem loben oder strafen à zieht extreme Reaktionen nach
8. Bei Erregungssteigerung Blick entfernen und Stimme senken
9. Nonverbales bzw. verkürztes Korrigieren fördern
10. Keine Etikettierungen
11. Extremadverbien „ständig“, „immer“, „nie“, … vermeiden
12. Kinder bei Streitigkeiten trennen und petzen nicht zulassen
13. Im Eklat trennen und Auszeit nehmen
14. Eskalation zu einem späteren Zeitpunkt erst verbalisieren
15. Erst Positives, dann Negatives erwähnen
16. Schriftliche Kommunikation miteinbeziehen
17. „Supervision“, nicht mehr erziehen, sondern als Partner bei Entscheidungen miteinbeziehen
18. Modelllernen. Umgang mit Zeit, Ordnung und Geld vorleben.
19. Verhalten ist nicht persönlich zu nehmen
20. Je mehr Humor für Syndrom typisches entwickelt werden kann, desto besser ist es.

Darüber hinaus soll den Kindern eine Struktur vermittelt werden, in der sie sich wohlfühlen und zurechtfinden. Komplizierte Tagesablaufe, die oft im Chaos enden, sollen damit von vornherein ausgeschlossen werden. Die Kinder brauchen eine leicht führende Hand, zum Beispiel das gemeinsame Frühstück und Abendessen, der tägliche Spaziergang, usw. an denen sie sich orientieren können. Es ist dazu sehr wichtig, dass die Erwartungen den Kindern vorgelebt werden, denn nur so erkennen und akzeptieren sie diese.

Sinn von Strafen bei ADHS

Viele Lehrer sind durchwegs überfordert mit ADHS betroffenen Kindern. Sie entwickeln Abneigungen und sprechen Strafen aus. Viele hyperaktive Kinder, die zusätzlich an einer Störung des Sozialverhaltens leiden, machen zu schulischen Bestrafungen frühzeitig Bekanntschaft mit pädagogisch noch fragwürdigeren Methoden. Die Rede ist von Prügel, Schläge oder Ohrfeigen. Doch diese Maßnahmen schaden den Kindern seelisch und sie nützen darüber hinaus auch gar nichts, da ADHS Betroffene sehr wenig aus Fehlern und Strafen lernen. Das einzige was sie vielleicht lernen, ist dieselbe Art von Maßnahmen anzuwenden, wenn sie selbst zu Aggressivität neigen (vgl. Drüe, 2007, S. 196). Ganz normale Ermahnungen und Strafandrohungen werden von Seiten der Kinder ignoriert bzw. der Elternteil ins Lächerliche gezogen. Strafen, die der Betroffene als nicht gerechtfertigt ansieht, erzeugen in ihm eine starke Abwehr bis hin zur kompletten Ablehnung.

Aber auch ständiges Nachgeben des Erziehers führt zu einer Verstärkung der Desorientiertheit und Opposition. Eine Lösung besteht darin, die Situation zu beruhigen und sich einzeln zu besinnen, um sich später kurz über das Fehlverhalten und die daraus entstandenen Konsequenzen zu einigen (vgl. Neuhaus, 2003, S. 126).

Alltag fördert ADHS

Neuhaus (2003, S. 126ff) ist überzeugt, dass es heutzutage für Jugendliche im Alltag schwieriger ist als es früher war. Die Offenheit für alles Neue und eine Vielzahl neuer Reize bei immer geringer werdender Orientierungsmöglichkeiten kann von ADHS betroffenen Kindern nicht mehr verarbeitet werden, es kommt zu einer Reizüberflutung. Dazu will der Jugendliche ein Handy, einen eigenen Fernseher. Er benötigt täglich Internetzugang und ist ohne PC teilweise hilflos. Die Kindheit ist im Wesentlichen eine „Fernseh- und Medienkindheit“ geworden. Dadurch erfahren die Kinder eine „synthetische Realität“ (vgl. Amft, u.a., 2004, S. 43f), die ihnen die Welt konsumierend und mediatisiert auf Kosten eigener Primärerfahrungen näher bringt. In der Schule verbessert sich die Situation ebenfalls nicht. Klassen werden größer, die Anforderungen höher. Bereits Kinder ohne ADHS haben hier schon deutliche Schwierigkeiten. Dies alles sind Faktoren, welche die ADHS Symptomatik verstärken. Desweiteren verlangt unser Schulsystem sehr frühzeitig eigenständiges Arbeiten, Fähigkeiten wie Selbstorganisation und partnerschaftliches Lernen. Dies ist nach Born und Oehler (2006, S. 11) bei ADHS Betroffenen erst nach langer zielgerichteter Vorbereitung möglich. Doch hier den Lehrern die Schuld in die Schuhe zu schieben wäre falsch, denn sie wurden in ihrer Ausbildung kaum auf diese speziellen Probleme vorbereitet und sind vielmals überfordert, obwohl ADHS und die bekannten Symptome schon sehr lange existieren, wenn auch ohne der Bezeichnung ADHS.

ADHS als Modeerscheinung

„Eine ADHS ist nicht anerzogen, nicht hausgemacht, keine Ausrede für Erziehungsfehler, … keine neue Erfindung, sie ist überhaupt keine Erfindung. Sie ist auch nicht neu, sondern ein möglicher, meist problematischer, oft unerfreulicher Teil menschlichen Seins“ (Drüe, 2007, S. 45).

[...]


[1] HKS : H yper k inetisches S yndrom

[2] ADD: A ttention D eficit D isorder (entspricht dem deutschen ADS)

[3] ADHD: A ttention D eficit-/ H yperactivity D isorder (entspricht dem deutschen ADHS)

[4] ADHS: A ufmerksamkeits d efizit- / H yperaktivitäts s törung

[5] ADS: A ufmerksamkeits d efizit s törung

[6] ICD 10: I nternational Statistical C lassification of D iseases and Related Health Problems – Rev. 10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme

[7] DSM IV: D iagnostic and S tatistical M anual of Mental Disorders, 4. Auflage (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen)

[8] Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (kurz: Tourettesyndrom) ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch das Auftreten von Tics charakterisiert ist.

[9] Autismus ist eine angeborene, unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns.

[10] Animismus: Das Kind denkt, alle Dinge auf der Welt sind voller Absichten und voller Energie und Handlungsdrang wie es selbst. Dieses Phänomen ist nach Jean Piaget bei allen Kindern vom 2. bis zum 7. Lebensjahr zu beobachten (vgl. Kesselring, 1999, S. 120).

[11] Egozentrismus: Dadurch denkt das Kind, alles andere auf der Welt hat die gleichen Ansichten wie es selbst und teilt sein Meinung. Es geht davon aus, dass alles wegen ihm erschaffen wurde und kann sich somit nicht in andere hineindenken, kennt nur seinen eigenen Standpunkt (vgl. Kesselring, 1999, S. 95ff).

[12] d efinite d aily d ose

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783842810532
DOI
10.3239/9783842810532
Dateigröße
1.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität München – Sportwissenschaft
Erscheinungsdatum
2011 (Februar)
Note
2,0
Schlagworte
adhs sport klettern behandlung
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Titel: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung - Möglichkeiten durch Klettern
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