Zusammenfassung
Inhaltsangabe:Einleitung:
Der Bahnhof in Bad Säckingen ist am Morgen des zweiten Augustsamstages 2010 voller Menschen und ihrer Fahrräder. Mehrere hundert drängen sich auf den beiden Bahnsteigen, um ihre Heimreise von der Tour de Ländle mit den extra zu diesem Zweck verkehrenden Sonderzügen mit Gepäckwagen anzutreten. Sie warten ungeduldig auf die Einfahrt der Züge in Richtung Stuttgart und Mannheim und erhoffen sich bei den zahlreichen Helfern Antworten auf ihre Fragen: Wo werden die ihnen zugewiesenen Wagen zum Stehen kommen? Wie wird das Verladen der Räder ablaufen? Es ist sogar ein Verantwortlicher mit Megafon notwendig, um die Informationen zu vermitteln. Mit Ankunft des Zuges in Richtung Stuttgart beginnt das hektische Treiben, die Radfahrer schieben ihre zum Teil mit viel Gepäck beladenen Fahrräder in Richtung der Gepäckwagen. Erst nachdem alle Fahrräder verladen worden sind, das Gepäck sicher verstaut ist, alle Fahrgäste Plätze gefunden haben und der Zug abfährt, wandelt sich die bei Fahrgästen und Helfern vorhandene Anspannung in eine heitere und gelöste Stimmung.
Was als außergewöhnliches Extremereignis bezeichnet werden kann, ist ein Zeichen für die wiederentdeckte Begeisterung für das Fahrrad und zugleich Sinnbild für die Situation, in der sich Radfahrer befinden, wenn es darum geht, Fahrräder im Zug zu transportieren.
Betrachtet man den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in Deutschland aus der Radfahrer-Perspektive, so ist die Fahrradmitnahme grundsätzlich möglich. Allerdings sagt dies noch nichts über die Qualität und Quantität der Fahrradbeförderung aus. Die Bedingungen zur Fahrradmitnahme unterscheiden sich sowohl zwischen als auch innerhalb der Bundesländer erheblich.
Nachfragegerechte Angebote wie die eingangs geschilderten Sonderzüge sind bislang eher eine Ausnahme. Eine Ursache ist, dass mit der Fahrradmitnahme das Risiko für Verspätungen erhöht wird. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Züge insgesamt gut ausgelastet und auch die Mehrzweckabteile und Einstiegsbereiche von Fahrgästen besetzt sind (z. B. in der Hauptverkehrszeit). Gleiches gilt, wenn Radfahrer in größeren Gruppen auftreten oder grundsätzlich nur geringe Fahrradkapazitäten in den Zügen vorhanden sind. Letzteres kann dazu führen, dass bereits bei einer geringen Zahl von aus- und einsteigenden Radfahrern die Haltezeit überschritten wird. Verschärft wird die Situation, wenn die Fahrzeuge für den Fahrradtransport insgesamt wenig geeignet sind. Dies ist bspw. […]
Der Bahnhof in Bad Säckingen ist am Morgen des zweiten Augustsamstages 2010 voller Menschen und ihrer Fahrräder. Mehrere hundert drängen sich auf den beiden Bahnsteigen, um ihre Heimreise von der Tour de Ländle mit den extra zu diesem Zweck verkehrenden Sonderzügen mit Gepäckwagen anzutreten. Sie warten ungeduldig auf die Einfahrt der Züge in Richtung Stuttgart und Mannheim und erhoffen sich bei den zahlreichen Helfern Antworten auf ihre Fragen: Wo werden die ihnen zugewiesenen Wagen zum Stehen kommen? Wie wird das Verladen der Räder ablaufen? Es ist sogar ein Verantwortlicher mit Megafon notwendig, um die Informationen zu vermitteln. Mit Ankunft des Zuges in Richtung Stuttgart beginnt das hektische Treiben, die Radfahrer schieben ihre zum Teil mit viel Gepäck beladenen Fahrräder in Richtung der Gepäckwagen. Erst nachdem alle Fahrräder verladen worden sind, das Gepäck sicher verstaut ist, alle Fahrgäste Plätze gefunden haben und der Zug abfährt, wandelt sich die bei Fahrgästen und Helfern vorhandene Anspannung in eine heitere und gelöste Stimmung.
Was als außergewöhnliches Extremereignis bezeichnet werden kann, ist ein Zeichen für die wiederentdeckte Begeisterung für das Fahrrad und zugleich Sinnbild für die Situation, in der sich Radfahrer befinden, wenn es darum geht, Fahrräder im Zug zu transportieren.
Betrachtet man den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in Deutschland aus der Radfahrer-Perspektive, so ist die Fahrradmitnahme grundsätzlich möglich. Allerdings sagt dies noch nichts über die Qualität und Quantität der Fahrradbeförderung aus. Die Bedingungen zur Fahrradmitnahme unterscheiden sich sowohl zwischen als auch innerhalb der Bundesländer erheblich.
Nachfragegerechte Angebote wie die eingangs geschilderten Sonderzüge sind bislang eher eine Ausnahme. Eine Ursache ist, dass mit der Fahrradmitnahme das Risiko für Verspätungen erhöht wird. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Züge insgesamt gut ausgelastet und auch die Mehrzweckabteile und Einstiegsbereiche von Fahrgästen besetzt sind (z. B. in der Hauptverkehrszeit). Gleiches gilt, wenn Radfahrer in größeren Gruppen auftreten oder grundsätzlich nur geringe Fahrradkapazitäten in den Zügen vorhanden sind. Letzteres kann dazu führen, dass bereits bei einer geringen Zahl von aus- und einsteigenden Radfahrern die Haltezeit überschritten wird. Verschärft wird die Situation, wenn die Fahrzeuge für den Fahrradtransport insgesamt wenig geeignet sind. Dies ist bspw. […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Martina Löbe
Fahrradmitnahme in Nahverkehrszügen
ISBN: 978-3-8428-0867-6
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland, Diplomarbeit, 2010
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2011
I
Inhaltsverzeichnis
I
NHALTSVERZEICHNIS
A
BBILDUNGSVERZEICHNIS
... IV
T
ABELLENVERZEICHNIS
... V
A
BKÜRZUNGSVERZEICHNIS
... VI
1
Einleitung
... 1
1.1 Kontext und Thema ... 1
1.2 Zielstellung und Hypothese ... 3
1.3 Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes ... 4
1.4 Aufbau
der
Arbeit
... 5
2
Methodische Vorgehensweise
... 6
2.1
Literaturrecherche ... 7
2.2
Expertengespräche ... 7
2.2.1 Auswahl der Experten
...
7
2.2.2 Durchführung der Expertengespräche ...
8
2.3
Teilnehmende Beobachtung: Praxis eines Aufgabenträgers ... 8
2.4
Nicht-teilnehmende Beobachtung: Fahrgastverhalten ... 9
2.4.1 Durchführung der nicht-teilnehmenden Beobachtung ... 9
2.4.2 Dokumentation der nicht-teilnehmenden Beobachtung ... 10
2.5
Auswertung des Datenmaterials ... 11
3
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
... 13
3.1
Bedeutung des Fahrradverkehrs und der Fahrradmitnahme ... 13
3.1.1 Fahrradverkehr
...
13
3.1.2 Bike+Ride ... 15
3.1.3 Fahrradmitnahme
...
19
3.1.4 Entwicklung des Fahrradtourismus ... 21
II
Inhaltsverzeichnis
3.2
Erkenntnisse zur Verkehrsmittelwahl ... 26
3.2.1 Mobilitätsverhalten
...
26
3.2.2 Zielgruppen
... 27
3.2.3 Determinanten der Verkehrsmittelwahl
...
28
3.3
Zwischenergebnis: Schlussfolgerungen für die Verbesserung der Fahrradmitnahme ... 34
3.4
Aspekte der Fahrradmitnahme im Schienenpersonennahverkehr ... 37
3.5
Kritische Betrachtung der bisherigen Angebotsplanung... 44
4
Organisation des Schienenpersonennahverkehrs in Deutschland
... 46
4.1
Ausgangspunkt: Bahnreform und Regionalisierung ... 46
4.2
Akteure der Angebotsseite ... 48
4.3
Die öffentliche Ausschreibung als zentrales Vergabeverfahren für den
Schienenpersonennahverkehr ... 51
4.4
Rahmenbedingungen bei der Bestellung von Nahverkehrsleistungen ... 53
4.5
Kritische Betrachtung wettbewerblicher Vergabeverfahren ... 60
5
Beispiele nachfragegerechter Angebote zur Fahrradmitnahme
... 64
5.1
Auswahlbeschreibung und begründung ... 64
5.2
Dortmund-Sauerland-Express ... 65
5.2.1 Ausgangssituation
...
65
5.2.2 Maßnahmen zur Anpassung des Verkehrsangebotes ... 67
5.2.3 Ergebnisse der Maßnahmen ... 71
5.2.4 Auswertung
... 72
5.3
Saisonale Fahrradabteile in den Zügen der metronom Eisenbahngesellschaft mbH ... 73
5.3.1 Ausgangssituation
...
73
5.3.2 Informationen zum Verkehrsangebot des metronom ... 74
5.3.3 Entwicklung der Fahrradmitnahme in den Zügen des metronom ... 76
5.3.4 Fahrzeugseitige Anpassung des Verkehrsangebotes ... 76
5.3.5 Auswertung
... 84
III
Inhaltsverzeichnis
5.4
Fahrradzüge in Baden-Württemberg ... 85
5.4.1 Ausgangssituation
...
85
5.4.2. Entwicklung des baden-württembergischen Schienenpersonennahverkehrs ... 86
5.4.3 Entwicklung der Fahrradzüge ... 87
5.4.4 Landespolitische Zielstellungen
...
89
5.4.5 Auswertung
... 92
5.5
Fahrradzüge der Regionalbahn Schleswig-Holstein ... 93
5.5.1 Ausgangssituation
...
93
5.5.2 Entwicklung des schleswig-holsteinischen Schienenpersonennahverkehrs ... 94
5.3.3 Überblick zu den Fahrradzügen ... 96
5.5.4 Sylter Welle
... 97
5.5.5 Fahrradzüge von Hamburg nach Westerland bzw. Lübeck ... 99
5.5.6 Auswertung
...
101
5.6
Ergebnisse aus der Analyse der Fallbeispiele ... 102
6
Ergebnisse der nicht-teilnehmenden Beobachtung
... 104
7
Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen
... 106
7.1
Schlussfolgerungen ... 106
7.2
Handlungsempfehlungen ... 107
7.3
Weiterführender Forschungsbedarf ... 110
L
ITERATURVERZEICHNIS
... 111
A
NHANG
A
... 127
A
NHANG
B
... 164
IV
Abbildungsverzeichnis
A
BBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Schienengebundene Verkehrsarten im öffentlichen Personennahverkehr ... 4
Abbildung 2: Übersicht der methodischen Herangehensweise ... 6
Abbildung 3: Einsatzfelder des Fahrrades ... 14
Abbildung 4: Wegezwecke nach Hauptverkehrsmittel in Deutschland (2008) ... 15
Abbildung 5: Formen des Fahrradtourismus ... 22
Abbildung 6: Von Radurlaubern bevorzugte Landschaftsformen ... 25
Abbildung 7: Einteilung der Verkehrsteilnehmer in Zielgruppen ... 27
Abbildung 8: Determinanten der Verkehrsmittelwahl ... 28
Abbildung 9: Elemente der Informationskette im Schienenpersonennahverkehr ... 30
Abbildung 10: Die Fahrradbeförderung beeinflussende Faktoren ... 38
Abbildung 11: Konfliktpotenzial im täglichen Betrieb bei der Fahrradmitnahme aus Sicht der
Verkehrsunternehmen bzw. Verkehrsverbünde ... 41
Abbildung 12: Rechtliche Grundlagen für die Durchführung des ÖPNV nach der
Bahnreform ... 47
Abbildung 13: Verhältnis Aufgabenträger Eisenbahnverkehrsunternehmen - Fahrgäste... 48
Abbildung 14: Organisationsebenen im Schienenpersonennahverkehr ... 49
Abbildung 15: Ablauf eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens ... 52
Abbildung 16: Kostenstrukturen im Schienenpersonennahverkehr ... 55
Abbildung 17: Zusammenhang von Rahmenbedingungen und Ausschreibungsinhalten ... 56
Abbildung 18: Instrumente eines Steuerungssystems in Ausschreibungsverfahren ... 57
Abbildung 19: Verlauf des Ruhrtal-Radwegs ... 67
Abbildung 20: Streckenbezogene Verkehrsnachfrage in Niedersachsen ... 74
Abbildung 21: Fahrradabteil der Variante 1/3 ... 80
Abbildung 22: Fahrradabteil der Variante 3/3 ... 80
Abbildung 23: Fahrradmanagement in Baden-Württemberg ... 90
Abbildung 24: Streckenbezogene Verkehrsnachfrage in Schleswig-Holstein am
Wochenende (1995) ... 95
V
Tabellenverzeichnis
T
ABELLENVERZEICHNIS
Tabelle 1: Die Formen von Bike+Ride im Vergleich ... 17
Tabelle 2: Typen von Fahrradtouristen ... 23
Tabelle 3: Tagesreisen nach der Landschaftsform des Zielortes ... 24
Tabelle 4: Fahrradmitnahme im Regionalverkehr ... 40
Tabelle 5: Zielstellungen von Aufgabenträgern und Eisenbahnverkehrsunternehmen ... 50
Tabelle 6: Formen der Leistungsbeschreibung ... 53
Tabelle 7: Wenig beeinflussbare Determinanten bei der Angebotsgestaltung (Auswahl) ... 54
Tabelle 8: Inhalte der Leistungsbeschreibung des zukünftigen Verkehrsangebotes (Auswahl) .. 57
Tabelle 9: Übersicht der untersuchten Fallbeispiele ... 65
Tabelle 10: Kerndaten zum Dortmund-Sauerland-Express (RE 57) ... 66
Tabelle 11: Nachfragemuster zur Fahrradmitnahme im Dortmund-Sauerland-Express ... 68
Tabelle 12: Mögliche Fahrradkapazitäten im Dortmund-Sauerland-Express ... 69
Tabelle 13: Kerndaten zum Verkehrsangebot des metronom ... 75
Tabelle 14: Nachteile von Klappsitzen für die Fahrradbeförderung ... 78
Tabelle 15: Kategorien der in 2010 angebotenen Fahrradzüge in Baden-Württemberg ... 88
Tabelle 16: Maßnahmen für die Fahrradmitnahme im regionalen Schienenpersonen-
nahverkehr ... 92
Tabelle 17: Kerndaten zu den Fahrradzügen der Regionalbahn Schleswig-Holstein ... 97
Tabelle 18: Lösungsansätze für die Verbesserung der Fahrradmitnahme auf der Strecke
Hamburg Westerland (Sylt) ... 100
VI
Abkürzungsverzeichnis
A
BKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abs.
Absatz
ADFC
Allgemeiner Deutscher Fahrradclub e.V.
AEG
Allgemeines Eisenbahngesetz
Art.
Artikel
AT
Aufgabenträger
BAG-SPNV
Bundesarbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger des SPNV e.V.
BR
Baureihe
Bsp.
Beispiel
bspw.
beispielsweise
bzw.
beziehungsweise
ca.
circa
DB AG
Deutsche Bahn AG
ebd.
ebenda
EU
Europäische Union
EVU
Eisenbahnverkehrsunternehmen
FZH
Fahrzeughersteller
ggf.
gegebenenfalls
Hbf
Hauptbahnhof
IRE
InterRegioExpress
IV
Individualverkehr
KBS
Kursbuchstrecke
Kfz
Kraftfahrzeug
LINT
Leichter Innovativer Nahverkehrstriebwagen
LNVG
Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen mbH
LVS
LVS Schleswig-Holstein Landesweite Verkehrsservicegesellschaft mbH
ME
metronom
MEr
metronom regional
metronom
metronom Eisenbahngesellschaft mbH
Mio.
Million[en]
MIV
motorisierter Individualverkehr
NVBW
Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg mbH
o. Ä.
oder Ähnliche[s]
o. V.
ohne Verfasser
VII
Abkürzungsverzeichnis
ÖV
öffentlicher Verkehr
ÖPNV
öffentlicher Personennahverkehr
ÖSPV
öffentlicher Straßenpersonenverkehr
PBefG
Personenbeförderungsgesetz
Pkw
Personenkraftwagen
RB
Regionalbahn
RB SH
Regionalbahn Schleswig-Holstein
RE
Regionalexpress
ReG
Regionalisierungsgesetz
SEV
Schienenersatzverkehr
sog.
so genannt[e]
SPNV
Schienenpersonennahverkehr
TU
Technische Universität
u. a.
unter anderem
u. U.
unter Umständen
vgl.
vergleiche
VOL/A
Vergabe und Vertragsordnung für Leistungen Teil A
VVO
Verkehrsverbund Oberelbe GmbH
z. B.
zum Beispiel
z. T.
zum Teil
ZRL
Zweckverband Schienenpersonennahverkehr Ruhr-Lippe
1
Einleitung
1
Einleitung
Der Bahnhof in Bad Säckingen ist am Morgen des zweiten Augustsamstages 2010 voller Menschen
und ihrer Fahrräder. Mehrere hundert drängen sich auf den beiden Bahnsteigen, um ihre Heim-
reise von der ,,Tour de Ländle
"1
mit den extra zu diesem Zweck verkehrenden Sonderzügen mit
Gepäckwagen anzutreten. Sie warten ungeduldig auf die Einfahrt der Züge in Richtung Stuttgart
und Mannheim und erhoffen sich bei den zahlreichen Helfern Antworten auf ihre Fragen: Wo
werden die ihnen zugewiesenen Wagen zum Stehen kommen? Wie wird das Verladen der Räder
ablaufen? Es ist sogar ein Verantwortlicher mit Megafon notwendig, um die Informationen zu
vermitteln. Mit Ankunft des Zuges in Richtung Stuttgart beginnt das hektische Treiben, die Rad-
fahrer schieben ihre zum Teil mit viel Gepäck beladenen Fahrräder in Richtung der Gepäckwa-
gen. Erst nachdem alle Fahrräder verladen worden sind, das Gepäck sicher verstaut ist, alle Fahr-
gäste Plätze gefunden haben und der Zug abfährt, wandelt sich die bei Fahrgästen und Helfern
vorhandene Anspannung in eine heitere und gelöste Stimmung
2
.
Was als außergewöhnliches Extremereignis bezeichnet werden kann, ist ein Zeichen für die wie-
derentdeckte Begeisterung für das Fahrrad und zugleich Sinnbild für die Situation, in der sich
Radfahrer befinden, wenn es darum geht, Fahrräder im Zug zu transportieren.
1.1
Kontext und Thema
Betrachtet man den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in Deutschland aus der Radfahrer-
Perspektive, so ist die Fahrradmitnahme grundsätzlich möglich. Allerdings sagt dies noch nichts
über die Qualität und Quantität der Fahrradbeförderung aus. Die Bedingungen zur Fahrradmit-
nahme unterscheiden sich sowohl zwischen als auch innerhalb der Bundesländer erheblich.
Nachfragegerechte Angebote wie die eingangs geschilderten Sonderzüge sind bislang eher eine
Ausnahme. Eine Ursache ist, dass mit der Fahrradmitnahme das Risiko für Verspätungen erhöht
wird. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Züge insgesamt gut ausgelastet und auch die Mehr-
zweckabteile und Einstiegsbereiche von Fahrgästen besetzt sind (z. B. in der Hauptverkehrszeit).
Gleiches gilt, wenn Radfahrer in größeren Gruppen auftreten oder grundsätzlich nur geringe
Fahrradkapazitäten in den Zügen vorhanden sind. Letzteres kann dazu führen, dass bereits bei
einer geringen Zahl von aus- und einsteigenden Radfahrern die Haltezeit überschritten wird. Ver-
schärft wird die Situation, wenn die Fahrzeuge für den Fahrradtransport insgesamt wenig geeignet
1
Die Tour de Ländle ist eine mehrtägige Freizeit-Fahrradrundfahrt, die jedes Jahr durch verschiedene Regi-
onen Baden-Württembergs führt und durch ein kulturelles Rahmenprogramm begleitet wird (vgl. auch
NVBW [Hg.] 2009: 27).
2
Weitere Informationen zu dieser Beobachtung sind in Anhang B 10 beschrieben.
2
Einleitung
sind. Dies ist bspw. dann der Fall, wenn der Fahrgastwechsel durch schmale Türen, Stufen oder
schlecht erreichbare Mehrzweckbereiche verlangsamt wird.
Die Aufgaben, die der Schienenpersonennahverkehr in den jeweiligen Räumen zu erfüllen hat
und die Höhe der zur Verfügung stehenden Finanzmittel, beeinflussen, inwieweit die Fahrrad-
mitnahme bei der Angebotskonzeption berücksichtigt wird. Besonderen Stellenwert besitzen die
Berufspendler, die im Gegensatz zu Freizeitreisenden, regelmäßig fahren. Deswegen wird die
Fahrzeuggröße nach dem, zumindest kurzfristig betrachtet, relativ verlässlichen Bedarf bemessen.
Welchen Stellenwert weitere Nutzungsformen besitzen und inwieweit sie bei der Gestaltung eines
Verkehrsangebotes berücksichtigt werden, hängt ab vom jeweiligen Bedarf und davon, welche
Konsequenzen das für die Kostenstruktur eines Verkehrsangebotes bedeutet. Die Beförderung von
Fahrrädern ist dahingehend gekennzeichnet, dass im Fahrzeug ausreichend große und gut zu-
gängliche Stellplätze benötigt werden, die somit nicht für reguläre Sitze zur Verfügung stehen.
Diese Flächen können maximal mit längs angeordneten Klappsitzen versehen werden. Die Fahr-
radmitnahme hat demzufolge unmittelbare Auswirkungen auf die Größe und Gestaltung der
Fahrzeuge. In der Regel stehen den verursachten Mehrausgaben aus betriebswirtschaftlicher Per-
spektive keine vergleichbaren Einnahmen gegenüber. Infolgedessen führen oftmals erst eine re-
gelmäßig die Kapazitäten überschreitende Nachfrage und erhebliche betriebliche Probleme sowie
massive Beschwerden von Radfahrern und anderen Fahrgästen zu einer Verbesserung der Fahr-
radbeförderung.
Aber was bedeutet eine nachfragegerechte Fahrradmitnahme und wie kann sie angebotsorientiert,
d. h. positiv verändert werden, ohne erst auf extreme negative Erscheinungen zu reagieren? Um
diese Fragen zu beantworten, wird die Thematik aus zwei Perspektiven untersucht. Dazu zählt
zum Ersten die Nachfrageseite, im Wesentlichen vertreten durch Fahrgäste mit Fahrrädern. Da es
sich bei Nahverkehrszügen um kollektive Verkehrsmittel handelt, muss hierbei auch die Fahr-
gastgemeinschaft als Ganzes einbezogen werden. Zum Zweiten sind die Angebotsseite und damit
jene Akteure relevant, die für die Planung und Bereitstellung eines Schienenpersonennahver-
kehrsangebotes von entscheidender Bedeutung sind.
Als solche agieren zunächst die
Eisenbahnverkehrsunternehmen
(EVU), welche die Verkehrs-
leistung erstellen. Da die Fahrgelderlöse nicht ausreichen, die Kosten des Schienenpersonennah-
verkehrs zu tragen, ist eine Teilfinanzierung mit öffentlichen Mitteln nötig. Infolge der Regiona-
lisierung werden diese Verkehre seit 1996 durch die Bundesländer konzipiert. Durch Landesnah-
verkehrsgesellschaften, Zweckverbände oder Verkehrsverbünde planen und bestellen sie den
3
Einleitung
Schienenpersonennahverkehr. Im weiteren Sinn als
Aufgabenträger
(AT) zusammengefasst, bilden
sie den zweiten zentralen Akteur.
Darüber hinaus werden die Hersteller von Schienenfahrzeugen in die Analyse eingebunden (im
Weiteren als
Fahrzeughersteller
bezeichnet). Die Fahrzeuge sind als essenzielles und sichtbares
Transportmittel einer ansonsten immateriellen Verkehrsdienstleistung deshalb von besonderer
Bedeutung, weil sie für die Nachfrage der Fahrradmitnahme den zentralen limitierenden Faktor
darstellen, der zudem von Radfahrern vorab nicht einkalkuliert werden kann. Denn erst wenn
sich die Türen des Zuges geöffnet haben, wird ersichtlich, ob die Fahrt überhaupt angetreten wer-
den kann oder ob die Mitnahme verweigert wird.
Die Zusammenarbeit der drei Akteure Aufgabenträger, Eisenbahnverkehrsunternehmen und
Fahrzeughersteller wird in erster Linie durch europäische und nationale Vorgaben geregelt. Denn
aufgrund der zum Teil erheblichen Teilfinanzierung durch die Bundesländer müssen Verkehrs-
leistungen in einem wettbewerblichen Verfahren vergeben werden.
1.2
Zielstellung und Hypothese
In dieser Arbeit wird untersucht, von welchen Faktoren die Beförderung von Fahrrädern auf der
Angebots- und Nachfrageseite beeinflusst wird und welche Bedingungen und Entscheidungen
notwendig sind, um nachfragegerechte Angebote umsetzen zu können. Dies erfolgt anhand von
vier Fallbeispielen. Dabei wird das Thema in Anlehnung an den handlungsorientierten Ansatz der
Verkehrsgeographie bearbeitet. Dieser bietet die Möglichkeit, wertend Stellung zu beziehen und
konkrete Handlungsempfehlungen für die Verkehrspolitik und die Verkehrsplanung zu formulie-
ren (vgl. M
AIER
/A
TZKERN
1992: 22).
N
UHN
/H
ESSE
betonen, dass für verkehrsgeographische Untersuchungen eine interdisziplinäre Be-
trachtung unerlässlich ist (2006: 16), weshalb neben der ökonomischen und ingenieurswissen-
schaftlichen Perspektive auch verkehrspsychologische und verkehrssoziologische Gesichtspunkte
berücksichtigt werden.
Es werden die folgenden Leitfragen zugrunde gelegt:
Welche Nutzungsschwierigkeiten haben Radfahrer im Schienenpersonennahverkehr?
Welchen Stellenwert hat die Umsetzung der Fahrradmitnahme auf der Angebotsseite und
wie wird sie von den Akteuren bisher berücksichtigt?
Unter welchen Rahmenbedingungen wird der Schienenpersonennahverkehr geplant und
wie wirken sie sich auf die Gestaltung der Fahrradmitnahme aus?
Welche Handlungsmöglichkeiten haben die Akteure der Angebotsseite, die Fahrradmit-
nahme nachfragegerecht umzusetzen?
4
Einleitung
Darauf aufbauend ergibt sich die zentrale Hypothese dieser Arbeit:
Die Akteure der Angebotsseite haben unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, die Fahrradmit-
nahme zu verbessern. Insbesondere die Aufgabenträger können die Rahmenbedingungen für
nachfragegerechte Angebote positiv gestalten, wobei die spezifischen Nutzungsschwierigkeiten
von Radfahrern zu berücksichtigen sind.
1.3
Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes
Die Zielsetzung eröffnet einen weiten Themenbereich, der im Rahmen dieser Diplomarbeit nicht
erschöpfend behandelt werden kann. Aus diesem Grund wird die Fragestellung präzisiert.
Schienenpersonennahverkehr
ist ein Teil des öffentlichen Personennahverkehrs, in dem verschie-
dene Verkehrsarten zusammengefasst sind (vgl. Abbildung 1). Aufgrund der hohen Bedeutung der
Raum- und Siedlungsstruktur für die Ausprägung der Verkehrsnachfrage ist eine umfassende Ana-
lyse sowohl städtischer als auch regionaler Verkehre nicht möglich (vgl.
INFAS
/DLR 2010: 33). Die
folgende Untersuchung ist daher auf den
Regionalverkehr
begrenzt, welcher Regionalexpress- und
Regionalbahnverkehre umfasst. Da es an einer scharfen Abgrenzung zum Stadt- und Vorort-
verkehr mangelt, gelten als Regionalverkehr lang laufende Linien mit einer geringen Taktfre-
quenz (z. B. stündlich), wenigen Halten und stark wechselnden Haltestellenabständen, die sowohl
urbane als auch ländliche Räume miteinander verbinden und an die höhere Anforderungen hin-
sichtlich Fahr- und Sitzkomfort gestellt werden (vgl. BAG-SPNV 2010a: 60; BMV [Hg.] 1997: 44).
Abbildung 1: Schienengebundene Verkehrsarten im öffentlichen Personennahverkehr
Quelle: eigene Darstellung nach AEG § 1 (2); PB
EF
G § 4; BAG-SPNV 2010a: 60
Schienenbahnen
gemäß Personenbeförderungsgesetz (PBefG)
Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV)
Eisenbahnen
gemäß Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG)
- Straßenbahnen
- Hoch- und Untergrundbahnen
- ...
- Stadt- und Vorortverkehr
z. B. S-Bahn
- Regionalverkehr
z. B. Regionalbahn (RB), Regionalexpress (RE)*
Schienenpersonennahverkehr (SPNV)
Öffentlicher Straßenpersonenverkehr (ÖSPV)
* Die Begriffe RB und RE sind geschützte Marken der Deutschen Bahn AG, die von nicht-bundeseigenen
Eisenbahnen bisher nicht verwendet werden. Da sie sich aber bundesweit etabliert haben, werden sie im Folgenden
unternehmensneutral verwendet.
5
Einleitung
Die Vergabe dieser Verkehrsleistungen wird ausschließlich für das Standardverfahren der
öffent-
lichen Ausschreibung
analysiert. In diesem Prozess der Planung und Bestellung von Leistungen im
Schienenpersonennahverkehr können, je nach Perspektive, alle Akteure in einem Auftraggeber-
Kunden-Verhältnis stehen. Bei der Zusammenarbeit von Aufgabenträger, Eisenbahnverkehrs-
unternehmen und Fahrzeughersteller untereinander wird in dieser Arbeit deshalb der Begriff
Marktpartner verwendet. Als Kunden werden ausschließlich Fahrgäste bzw. Reisende bezeichnet.
Als Radfahrer gelten solche Fahrgäste, die ihre Fahrräder in Nahverkehrszügen befördern oder
transportieren möchten. Die Besonderheit von Radfahrern liegt zum einen darin, dass alle Kun-
dengruppen, je nach Definition und Anwendungsgebiet, auch als solche in Erscheinung treten
können. So sind Berufspendler oder Schüler, sofern sie ein Fahrrad befördern würden, auch als
Radfahrer zu bezeichnen. Zum anderen können bspw. Fahrgäste, die den Schienenpersonennah-
verkehr werktags als Berufspendler nutzen, am Wochenende als Fahrradtouristen in den Nahver-
kehrszügen unterwegs sein. Dieselbe Person kann demzufolge unterschiedliche Forderungen an
dasselbe Verkehrsangebot stellen.
Die Vielfalt der Fahrradtypen, Fahrradanhänger und Hilfsmittel zum Gepäcktransport sind nicht
Gegenstand der Untersuchung. Als
Fahrräder
werden ausschließlich zweirädrige, einsitzige und
nichtmotorisierte Räder verstanden (vgl. DB AG 2009a).
1.4
Aufbau der Arbeit
Im zweiten Kapitel wird zunächst die methodische Vorgehensweise beschrieben. Anschließend
sind grundlegende Informationen zur Verknüpfung von Fahrrad- und Schienenpersonennahver-
kehr zusammengestellt. Diese beinhalten neben der Bedeutung des Fahrradverkehrs und der Fahr-
radmitnahme auch wichtige Erkenntnisse zur Verkehrsmittelwahl. Zudem werden Faktoren ab-
geleitet, die für die Verbesserung der Fahrradmitnahme besonders relevant sind. Um zu erörtern,
inwieweit die angebotsseitig wirkenden Akteure diese beeinflussen können, wird im vierten Ka-
pitel dargelegt, auf welche Weise der Schienenpersonennahverkehr in Deutschland organisiert ist
und welche grundlegenden Schritte zur Umsetzung eines Verkehrsangebotes notwendig sind.
Darauf baut die Analyse der Fallbeispiele in Kapitel fünf auf. Hieraus wird ermittelt, welche Rah-
menbedingungen notwendig sind und wie die zuvor ermittelten Faktoren ausgeprägt sein müssen,
damit ein nachfragegerechtes Fahrradmitnahmeangebot bereitgestellt werden kann. Im sechsten
Kapitel werden die Erkenntnisse der nicht-teilnehmenden Beobachtung dargelegt, bevor im sieb-
ten und letzten Kapitel die zentrale Hypothese überprüft und die Ergebnisse zusammengefasst
werden. Daraus werden Handlungsempfehlungen abgeleitet und weitergehende Forschungsfragen
formuliert.
6
Methodische Vorgehensweise
2
Methodische Vorgehensweise
Die Bearbeitung des Themas folgt dem interpretativ-verstehenden Ansatz. Dieser richtet sich auf
die Rahmenbedingungen, die die Wahrnehmung, Meinungen und das Handeln von Menschen
beeinflussen. Neben der Subjektivität der befragten Personen ist die Subjektivität des Forschers
wesentliches Kennzeichen qualitativ-verstehender Arbeitsmethoden und der daraus abgeleiteten
Ergebnisse (vgl. R
EUBER
/P
FAFFENBACH
2005: 107). Der Forscher ,,ist als Interpret des Geschehens
ein Teil des Kommunikationsprozesses. Seine persönlichen Voraussetzungen und Ressourcen be-
stimmen mit darüber, was er in ,seiner` Deutung zu Tage fördert" (ebd.: 116). Gleichzeitig sollte
konstatiert werden, dass es im ,,Kontext sozialer Interaktion [...] nur eine Vielfalt unterschied-
licher miteinander konkurrierender Sichtweisen" und keine ,,objektive Wirklichkeit" gibt (ebd.:
115). Die Arbeitsmethoden müssen die ,,Handlungen nach ihren Intentionen rekonstruieren,
ihren Sinnzusammenhang aufzeigen und damit ,verstehbar` machen" (S
CHNELL
/H
ILL
et al. 1995:
79f. zit. bei ebd.:
116).
Diesem Leitgedanken folgend, wurde die vorliegende Thematik mit unterschiedlichen Methoden
untersucht (vgl. Abbildung 2). Die folgenden Unterkapitel legen die Überlegungen und Schritte in
der Informationsbeschaffung und Ergebnisinterpretation dar und begründen diese.
Abbildung 2: Übersicht der methodischen Herangehensweise
Eigene Darstellung
Literaturrecherche
Kapitel 2.1
Qualitative Inhaltsanalyse nach M
AYRING
Gegenstandsbezogene Theoriebildung
Expertengespräche
Teilnehmende Beobachtung: Praxis eines Aufgabenträgers
Nicht-teilnehmende Beobachtung: Fahrgastverhalten
Auswertung des Datenmaterials
Kapitel 2.2
Kapitel 2.3
Kapitel 2.4
Kapitel 2.5
7
Methodische Vorgehensweise
2.1
Literaturrecherche
Mit der Literaturrecherche wurden wichtige Hintergrundinformationen ermittelt, die u. a. zur
Vorbereitung der Expertengespräche dienten. Es galt, die von den Experten geäußerten Argu-
mente zu überprüfen, kritisch zu hinterfragen und mit weiteren Fakten zu untermauern. Gesich-
tet wurden neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wie Monographien, Fachzeitschriften
u. Ä. auch Stellungnahmen, Gutachten und Berichte (sog. ,,graue Literatur"). Informationen, wel-
che Angebote zur Fahrradmitnahme vorhanden sind, konnten auf den Internetseiten der Ver-
kehrsverbünde und Verkehrsunternehmen recherchiert werden.
2.2
Expertengespräche
Die Durchführung von Experteninterviews war für das vorliegende Thema ein wichtiger Be-
standteil, da viele der Informationen zu den Fallbeispielen nicht in der Literatur zu finden sind.
2.2.1
Auswahl der Experten
Experten sind zunächst jene Personen, die bei den zu untersuchenden Fallbeispielen involviert
sind oder zum Zeitpunkt der Angebotskonzeption beteiligt waren. Sie beschäftigen sich beruflich
mit der Fahrradmitnahme oder sind durch ihre Arbeit in Interessenverbänden mit dieser vertraut.
Ausschlaggebend ist ihr Prozesswissen (vgl.
B
OGNER
/M
ENZ
2005: 43), welches aus der Tätigkeit bei
den an den Fallbeispielen involvierten Akteuren und durch die Beteiligung an der Bearbeitung der
Fahrradmitnahme-Thematik resultiert.
Es wurden zum einen Experten auf der Angebotsseite, d. h. von Aufgabenträgern, Eisenbahnver-
kehrsunternehmen und Fahrzeugherstellern befragt. Sie dienten dazu, Kenntnisse über die kon-
krete Ausgestaltung der Fallbeispiele zu erhalten. Weiterhin waren sie notwendig, um die Position
und die Einflussmöglichkeiten der durch sie repräsentierten Akteursgruppe zu analysieren. Dazu
zählt ebenso das Zusammenwirken mit und ihre Stellung gegenüber anderen Akteuren. Hierbei
galt es, auch die Erkenntnisse aus der teilnehmenden Beobachtung auf der Managementebene
eines Aufgabenträgers zu überprüfen und weiterzuentwickeln (vgl. Kapitel 2.3).
Darüber hinaus wurden Gespräche mit Vertretern von Interessenverbänden geführt, die sich mit
Fahrgastbedürfnissen oder mit der Problematik der Fahrradmitnahme auseinandersetzen. Als Ver-
treter der Nachfrageseite sind sie Experten für die Bedürfnisse und Erwartungen, die Fahrgäste an
ein Verkehrsangebot stellen. Ihnen kommt auch deshalb eine besondere Bedeutung zu, da Fahr-
gastbelange bei der Konzeption öffentlicher Verkehre bisher nur unzureichend berücksichtigt
werden.
Als Experten zählen ferner jene Personen, die ihr wissenschaftliches Wirken auf die Analyse und
Verbesserung des öffentlichen Verkehrs konzentrieren. Die Gespräche mit ihnen folgten dem
8
Methodische Vorgehensweise
Ziel, das Detailwissen in den Kontext der allgemeinen und zukünftigen Entwicklung des öffent-
lichen Verkehrs einordnen zu können.
2.2.2
Durchführung der Expertengespräche
Es wurden 18 problemzentrierte Interviews geführt (vgl. Anhang A 1). Dabei handelt es sich um
eine offene, halbstrukturierte Gesprächsform, die narrative Elemente enthalten kann. Den Inter-
views lagen Fragen mit ausgewählten inhaltlichen Schwerpunkten zugrunde, die den Gesprächs-
partnern zur Vorbereitung vorab übermittelt wurden (vgl. M
AYRING
2002: 67; R
EU
-
BER
/P
FAFFENBACH
2005: 133, Anhang A 2). Die Gespräche erfolgten in der Regel persönlich und
wurden nicht auf Tonband oder ein vergleichbares Medium aufgezeichnet. Stattdessen wurden die
Inhalte handschriftlich und stichpunktartig protokolliert. Durch den informellen Rahmen der
Interviewsituation sollte eine angenehme Gesprächsatmosphäre geschaffen werden, um detail-
lierte Informationen zu erhalten (vgl. R
EUBER
/P
FAFFENBACH
2005: 158). Dies war angesichts der
Wettbewerbssituation, innerhalb derer die Thematik bearbeitet wurde, notwendig.
Die Gespräche dauerten bis zu drei Stunden. Bei Bedarf wurden nachträgliche Fragen durch die
Experten telefonisch oder via E-Mail beantwortet. Teilweise wurden in den Gesprächen weitere
Materialien überreicht, die in die Auswertung der Gespräche mit einbezogen wurden (vgl. Kapitel
2.5).
2.3
Teilnehmende Beobachtung: Praxis eines Aufgabenträgers
Die vorliegenden Ergebnisse wurden auch durch meine teilnehmende Beobachtung bei der LVS
Schleswig-Holstein Landesweite Verkehrsservicegesellschaft mbH (LVS) beeinflusst. Bei ihr han-
delt es sich um eine Landesnahverkehrsgesellschaft, die u. a. für die landesweite Konzeption, län-
derübergreifende Koordination und Bestellung des Schienenpersonennahverkehrs zuständig ist.
Weiterhin überprüft die LVS die Leistungserbringung der Eisenbahnverkehrsunternehmen (vgl.
ÖPNVG S
CHLESWIG
-H
OLSTEIN
§ 2 Nr. 5). Sie arbeitet im Auftrag des Landes Schleswig-Holstein,
welches den Aufgabenträger für den Schienenpersonennahverkehr darstellt. In dieser Funktion
sowie als Gesellschaft des Landes Schleswig-Holstein und der kommunalen Gebietskörperschaften
ist sie im weiteren Sinne als Aufgabenträger zu bezeichnen (vgl. hierzu auch Kapitel 4.2).
Durch die Einbindung in den Arbeitsalltag der Managementgesellschaft eines Aufgabenträgers
war es mir möglich, meine Wahrnehmung für dessen Perspektive und die Schwierigkeiten bei der
Verbesserung der Fahrradmitnahme zu schärfen. Damit handelt es sich um eine Form der Feld-
forschung, bei der ,,ein längerfristiger Kontakt mit dem Gegenstandbereich" besteht (M
AYRING
2002: 106). Nach M
EIER
K
RUKER
/R
AUH
kann sie als teilnehmende Beobachtung bezeichnet wer-
den (2005: 58). Sie bestand sowohl aus der konzeptionellen Mitarbeit als auch aus der systema-
tischen Aneignung der Perspektive der Management-Ebene eines Vertreters der Aufgabenträger-
9
Methodische Vorgehensweise
seite. Dadurch war es mir möglich, in der Literatur vorgefundene Sachverhalte eingehender zu
analysieren sowie in einen weiteren Kontext einzuordnen (vgl. ebd.: 60).
2.4
Nicht-teilnehmende Beobachtung: Fahrgastverhalten
Das Verhalten von Fahrgästen bei der Nutzung von Nahverkehrszügen zu beobachten, besitzt für
die Thematik zwar nur einen explorativen Stellenwert, ist für die Untersuchung dennoch ein
notwendiger Bestandteil. Denn es gibt bisher kaum umfassende empirische Erkenntnisse darüber,
mit welchen Nutzungsschwierigkeiten Radfahrer im Schienenpersonennahverkehr konfrontiert
sind.
Die Belange von Fahrgästen besitzen in der bisherigen Angebotsplanung oftmals nur einen unter-
geordneten Stellenwert. Fahrgästen ist es zudem bislang kaum möglich, entscheidenden Einfluss
auf die Gestaltung des Schienenpersonennahverkehrs zu nehmen (vgl. S
CHIEFELBUSCH
2010: 18;
B
LÜMEL
2004: 30-33; S
CHÖLLER
[Hg.] 2005: 13). Diese Form der Planung ,,hinter verschlossenen
Türen" ist durch die nicht-teilnehmende Beobachtung in den Mehrzweckbereichen der Nahver-
kehrszüge bewusst um die Perspektive des Geschehens ,,vor Ort" erweitert worden.
Ziel war es, in Erfahrung zu bringen, wie die Mehrzweckbereiche durch Radfahrer und andere
Fahrgäste genutzt werden und inwieweit Nutzungskonflikte auftraten. Neben dem Handeln der
Einzelpersonen war die Interaktion mit anderen Fahrgästen entscheidend (vgl. C
OLLIN
1994: 11),
wofür im Folgenden der Begriff
Fahrgastverhalten
verwendet wird (vgl. Kapitel 3.4). Auch Rei-
sende ohne Fahrrad sind auf mögliche wiederkehrende Verhaltensmuster hin beobachtet worden
(z. B. hinsichtlich ihrer Sitzplatzwahl). Diese waren dann von Bedeutung, wenn sie Hypothesen
stützten, wie sich Fahrgäste grundsätzlich im öffentlichen Verkehrsraum bewegen und verhalten.
Die daraus abgeleiteten Hypothesen und Fragen flossen in die weiteren Analysen und Experten-
gespräche ein (vgl. M
EIER
K
RUKER
/R
AUH
2005: 57).
Ein weiteres Ziel war, meine persönlichen Erfahrungen mit der Fahrradmitnahme zu überprüfen,
zu ergänzen und zu präzisieren. Meine Erkenntnisse resultieren aus der mehrjährigen alltäglichen
Nutzung des Berliner Nahverkehrs (im Wesentlichen der S-Bahn) einschließlich der Fahrradmit-
nahme und aus meinen Fahrradreisen, bei denen ich auch die Nahverkehrszüge Brandenburgs
und anderer Bundesländer genutzt habe (z. B. Thüringen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen).
2.4.1
Durchführung der nicht-teilnehmenden Beobachtung
Beobachten bedeutete, meine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf mehrere Aspekte zu richten und
über die gesamte Fahrt konstant zu bewahren. Verglichen mit den vorhandenen Erfahrungen aus
der alltäglichen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel mussten die Beobachtungen ,,fokussierter,
scharfsichtiger und kritischer" erfolgen und durften nicht vorschnell interpretiert werden (ebd.).
10
Methodische Vorgehensweise
Von den im Zeitraum Mai bis August 2010 unternommenen Fahrten wurden elf dokumentiert
(vgl. Anhang A 3 und B). Diese Beobachtungsfahrten erfolgten an verschiedenen Tagen und Zei-
ten auf unterschiedlichen Streckenabschnitten. Aus meinem Wohnort Kiel resultierte, dass sie
überwiegend auf Schleswig-Holstein und Hamburg konzentriert sind. Sofern möglich habe ich die
Anreise zu den Expertengesprächen auch dazu verwendet, das Fahrgastverhalten in jenen Zügen
zu beobachten, die in den Fallbeispielen thematisiert werden (z. B. metronom in Nieder-
sachsen/Hamburg oder verschiedene Fahrradzüge in Baden-Württemberg).
Ziel war es, verschiedene Reisezwecke (z. B. Berufs- und Ausbildungsverkehr, Freizeitverkehr),
Verkehrsunternehmen und Fahrzeugtypen abzubilden. Je nach Zugtyp und länge waren ein oder
mehrere, darüber hinaus unterschiedlich ausgestattete Mehrzweckabteile vorhanden. Zudem
wurde in Einzelfällen die Situation auf dem Bahnsteig erfasst.
Die Beobachtungen wurden verdeckt durchgeführt. Ausschlaggebender Grund war, das Verhalten
der Fahrgäste geringstmöglich beeinflussen zu wollen (vgl. M
AYRING
2002: 55): ,,Der Vorteil [...]
ist, dass das erfasst wird, was Menschen wirklich tun [...]" (M
EIER
K
RUKER
/R
AUH
2005: 57). Sich
als beobachtende Person zu erkennen zu geben, hätte jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit eine
Verhaltensänderung ausgelöst.
2.4.2
Dokumentation der nicht-teilnehmenden Beobachtung
Für die Beobachtungen wurde ein Raster mit den wichtigsten Dimensionen aufgestellt (vgl. ebd.:
58f; Anhang A 4). Dieses umfasste zunächst die rahmenbildenden Gegebenheiten des Zug-Ange-
botes (z. B. Streckenverlauf, Abfahrtszeiten, Fahrzeugtyp und Zuglänge, Anzahl der Mehrzweck-
abteile) einschließlich Abweichungen vom Regelbetrieb (z. B. Verspätungen). Des Weiteren wur-
den mit der Wetterprognose und der Schätzung der Sitzplatzauslastung von außen einwirkende
Parameter erfasst. Das Wetter hat, wie in Kapitel 3.1.2 noch dargelegt wird, insbesondere im Frei-
zeitverkehr Einfluss auf die Fahrradnutzung.
Die Auslastung eines Zuges beeinflusst, inwieweit Mehrzweckbereiche als gewöhnliche Sitz- und
Stehmöglichkeit genutzt werden. Die Nachfrage einer Zugfahrt ist nach tatsächlicher und von
Fahrgästen wahrgenommener Auslastung zu unterscheiden, wobei letztere einer sehr subjektiven
Bewertung unterliegt. Für gewöhnlich empfinden Fahrgäste einen Zug auch dann als voll, wenn
noch Sitzplätze vorhanden sind. Es ist zu beobachten, dass sich Fahrgäste eine Intimsphäre schaf-
fen, die das Verhalten und die Wahrnehmung anderer Reisender maßgeblich beeinflusst (vgl.
C
IS
/R
ÜGER
2010; Gespräch mit V
OLKER
B
LOHM
/S
TEFAN
K
LOPPENBURG
,
Regionalbahn Schleswig-
Holstein). Die Auslastung konnte während der Beobachtungsfahrten nur geschätzt werden und
unterliegt daher einer subjektiven Bewertung.
11
Methodische Vorgehensweise
Beobachtet wurden neben Radfahrern alle Personen, die den Mehrzweckraum betraten oder ein-
deutige Intentionen zeigten, ihn betreten zu wollen. Dabei wurden verschiedene Begebenheiten
fokussiert, die nach vorher definierten Kriterien ausgewählt worden sind (vgl. Anhang A 4). Dazu
zählen bspw.: Wie wurden Fahrräder in den Zug befördert und wo wurden sie im Fahrzeug abge-
stellt? Wie verteilten sich Fahrgäste auf freie Sitzplätze (,,feste" Sitze und Klappsitze)? Auf welche
Weise haben Radfahrer und andere Fahrgäste aufeinander reagiert und miteinander kommuni-
ziert?
Die beobachteten Situationen und ggf. markante Aussagen von Fahrgästen und dem Zugpersonal
wurden unmittelbar handschriftlich und stichpunktartig protokolliert. Darüber hinaus wurde die
Verteilung von Fahrgästen und Fahrrädern in einer Skizze erfasst. Alle Aufzeichnungen wurden
zeitnah und chronologisch in die Beobachtungsprotokolle übertragen, welche in Anhang B bei-
gefügt sind. Die Protokolle werden, soweit möglich, durch Fotos der Mehrzweckabteile und Fahr-
zeugzeichnungen, in die die in den Skizzen festgehaltenen Situationen eingetragen wurden, er-
gänzt.
2.5
Auswertung des Datenmaterials
Für eine pragmatische und gegenstandsbezogene Verarbeitung wurden zwei zentrale Ansätze ver-
folgt. Die Datenauswertung ist an die
Qualitative Inhaltsanalyse
nach M
AYRING
angelehnt. Dieser
liegt zugrunde, dass unter Berücksichtigung des Datenmaterials theoriegeleitet ein Katego-
riensystem entwickelt wird. Mit dessen Hilfe wird das Material in Einheiten zerlegt. Damit sollen
die relevanten Inhalte herausgefiltert, eingeschätzt und interpretiert werden können (vgl.
M
AYRING
2002: 114-121). Ziel war es zum einen, die Aufgaben, Rahmenbedingungen, Maßstäbe
und Einstellungen zu erörtern, die das Handeln der jeweiligen Akteure bestimmen. Zum anderen
sollte ermittelt werden, welche Faktoren zur nachfragegerechten Angebotsgestaltung bei den un-
tersuchten Fallbeispielen geführt haben.
Bei den Beobachtungen wurde die
Gegenstandsbezogene Theoriebildung
angewendet. Hierbei
werden bereits während der Datenerhebung implizite Konzepte entwickelt oder verfeinert, die
wiederum in die weitere Datensammlung einbezogen werden. Erhebung und Auswertung fanden
demzufolge gleichzeitig statt (vgl. ebd.: 103-105). Sie eignet sich besonders für ,,explorative Un-
tersuchungen [und] einer mit teilnehmender Beobachtung arbeitenden Feldforschung" (ebd.:
107). Das bedeutet, dass die Erkenntnisse aus den Beobachtungen in die Expertengespräche einge-
flossen sind und umgekehrt. Zudem wurden Ansätze für mögliche Handlungsempfehlungen über-
prüft und weiterentwickelt.
Für eine weitergehende Interpretation der Ergebnisse der nicht-teilnehmenden Beobachtung wä-
re eine größere Zahl von Beobachtungsfahrten nötig, die über einen längeren Zeitraum und ggf.
12
Methodische Vorgehensweise
unter Berücksichtigung weiterer Einflüsse hätten dokumentiert werden müssen. Diese Zielsetzung
hätte jedoch einen weiten Themenbereich eröffnet, der nicht Gegenstand der zugrundegelegten
Problemstellung ist. Infolgedessen sind die Ergebnisse nur als ein explorativer Bestandteil zu be-
werten.
13
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
3
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Nachfolgend werden zunächst die aktuelle Bedeutung des Fahrradverkehrs sowie die verschiede-
nen Verknüpfungsangebote mit dem Schienenpersonennahverkehr erläutert. Ziel ist es, daraus
den Bedarf und die Einsatzfelder für Fahrradmitnahme zu ermitteln (Kapitel 3.1). Im Weiteren
werden grundlegende Aspekte zur Verkehrsmittelwahl dargelegt (Kapitel 3.2). Die wichtigsten
Erkenntnisse dieser beiden Unterkapitel werden anschließend zusammengefasst (Kapitel 3.3).
Kapitel 3.4 dient der Beschreibung, welche Faktoren die Qualität und Quantität der Fahrradmit-
nahme beeinflussen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden in Kapitel 3.5 einer kritischen
Betrachtung unterzogen.
3.1
Bedeutung des Fahrradverkehrs und der Fahrradmitnahme
3.1.1
Fahrradverkehr
Aktuell ist eine Zunahme des Radverkehrs zu verzeichnen, die nicht nur auf die Verbesserung der
Fahrradinfrastruktur, sondern vor allem auch auf die Renaissance des Fahrrades als im Nahbereich
vielseitiges, schnelles und flexibles Verkehrsmittel zurückzuführen ist. Das Fahrrad entwickelt
sich, neben dem zu Fuß gehen allmählich zum neuen ,,Nahverkehrsmittel" für Strecken von bis zu
fünf Kilometern, wo es universell zum Einsatz kommt. Sichtbar wird die Entwicklung auch da-
durch, dass mittlerweile 82 Prozent der Haushalte in Deutschland über mindestens ein Fahrrad
verfügen und eine Pro-Kopf-Verfügbarkeit von 0,9 Fahrrädern ermittelt werden konnte (vgl.
IN-
FAS
/DLR 2010: 3, 60; C
HLOND
/K
UHNIMHOF
2009: 14).
Die derzeitige politische und gesellschaftliche Begeisterung für das Fahrrad ist auf weitere Vorteile
zurückzuführen. Es ist ein die natürlichen Ressourcen schonendes, klimafreundliches und preis-
wertes Fortbewegungsmittel, das vielfältige und individuelle Mobilitätsbedürfnisse erfüllt (vgl.
Abbildung 3) sowie die Bewegung und damit die Gesundheit fördert.
Die weitere Steigerung des Fahrradverkehrs ist politisch beabsichtigt. So heißt es u. a. in dem auf
Bundesebene verabschiedeten ,,Nationalen Radverkehrsplan 2002-2012", dass der Radverkehr als
Bestandteil einer nachhaltig integrierten Verkehrspolitik etabliert und als Gesamtsystem gefördert
werden und an dem sich Bund, Länder und Gemeinden sowie alle gesellschaftlichen Kräfte ge-
meinsam beteiligen sollen (vgl. BMVBW [Hg.] 2002: 8). Ein weiteres Beispiel sind die landespoli-
tischen Zielstellungen Baden-Württembergs, das ,,Fahrradland Nr. 1" zu werden, an dem sich
auch die Kommunen beteiligen (vgl. hierzu Kapitel 5.4.4).
14
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Abbildung 3: Einsatzfelder des Fahrrades
Quelle: eigene Darstellung nach DTV 2009a: 5
Der Anstieg des Fahrradverkehrs ist aber auch aus anderen Gründen zu erwarten. Zum Beispiel
kann aus der Vielzahl der Fahrradtypen (z. B. Trekkingräder, Falträder, Liegeräder) und der spe-
zifischen Ausrüstung (z. B. in Form von Fahrradtaschen für verschiedene Einsatzbereiche und
modernen Fahrradhelmen) abgeleitet werden, dass das Fahrrad zum Ausdruck eines individuellen
Lebensstils geworden ist. Vorreiter sind die urbanen Räume, in denen bspw. immer mehr Rad
fahrende Geschäftspersonen unterwegs sind, oder junge Eltern beobachtet werden können, wel-
che ihre Kinder in Fahrradanhängern oder auf Gepäckfahrrädern mitnehmen.
,,[Das Fahrrad] gewinnt an Attraktivität durch besondere Ausstattung, den exklusiven
Preis, Stiling und das Renommee von Sportlichkeit, Jugend, Kraft und Innovation, sowie
den Nimbus des Neuen, Innovativen, das dem Umweltschutz dient und zu einem neuen
Lebensstil gehört" (H
ILGERS
1994: 7).
Dabei zeigt sich auch, dass das Fahrrad keine ,,besondere" Klientel besitzt und dass seine Nutzung
weniger durch sozioökonomische Merkmale beeinflusst wird, als vielmehr eine Frage der indivi-
duellen Einstellung ist (vgl. C
HLOND
/K
UHNIMHOF
2009: 14). Zudem ist das Fahrrad ein Verkehrs-
mittel mit Nutzern in allen Alters- und Einkommensklassen, das bei Frauen und Männern annä-
hernd gleichermaßen beliebt ist (vgl. ebd.: 7; BMV [Hg.] 1997: 15;
INFAS
/DLR 2010: 66, 106).
Aus der Verteilung der Wegezwecke wird ersichtlich, dass die Einsatzfelder des Fahrrades vor
allem der Freizeit- und Einkaufsverkehr sind (vgl. Abbildung 4). Allerdings sind diese Verteilung
und der Anteil des Fahrradverkehrs am Verkehrsaufkommen räumlich heterogen ausgeprägt und
einer unterschiedlichen Entwicklungsdynamik unterworfen (vgl.
INFAS
/DLR: 2010: 3, 108f).
Innerhalb des alltäglichen Wohnumfelds
Fahrrad als Verkehrsmittel
Æ Nutzung im Alltag
Weg zur Arbeit/Schule/Einkauf
Fahrrad als Freizeit-/Sportgerät im Alltag
z. B. als Trainingsgerät im Vereinssport etc.
Außerhalb des alltäglichen Wohnumfelds
Fahrrad als Freizeit-/Sportgerät
Nutzung zu Freizeit-/Urlaubszwecken
15
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Abbildung 4: Wegezwecke nach Hauptverkehrsmittel in Deutschland (2008)
Quelle: eigene Darstellung nach
INFAS
/DLR 2010: 93
Der politische und gesellschaftliche Stellenwert des Fahrradverkehrs wächst, was sich in der der-
zeitigen Förderung bzw. stärkeren Nutzung widerspiegelt. Das Fahrrad wird vor allem im Frei-
zeitverkehr eingesetzt.
3.1.2
Bike+Ride
3
Aus der integrierten Verkehrspolitik resultiert, dass der Einsatz des Fahrrades auch für größere
Distanzen gefördert werden soll. Damit erlangen Verkehrsmittel, die seinen Aktionsradius, d. h.
seine Reichweite und Einsatzfelder erweitern, größere Bedeutung. Aus der intramodalen
4
Kombi-
nation von Fahrrad und Nahverkehrszug resultiert für den Schienenpersonennahverkehr ein bis
zu sechsfach größeres Einzugsgebiet um den Bahnhof
5
(vgl. BMV [Hg.] 1997: 13). Berücksichtigt
man zudem die Ergebnisse zur Mobilität in Deutschland 2008, ergibt sich für den Schienen-
3
Der Begriff
Bike+Ride
(B+R) wird in dieser Arbeit für alle intramodalen Verknüpfungsmöglichkeiten von
Fahrrad- und Schienenpersonennahverkehr verwendet (Fahrradmitnahme, Fahrradparken und Fahrrad-
vermietung, vgl. hierzu auch Tabelle 1 auf Seite 17), Es ist zu beachten, dass andere Autoren diese Bezeich-
nung ausschließlich für das Fahrradparken in Haltestellennähe nutzen (z. B. TU
D
RESDEN
2010: 73).
4
Unter
Intermodalität
wird die Möglichkeit verstanden, innerhalb einer Reise verschiedene Verkehrsmittel
miteinander zu verknüpfen. Sie ist eine Sonderform der Multimodalität, welche allgemein die Möglichkeit
beschreibt, verschiedene Verkehrsmittel zu nutzen (vgl. TU
D
RESDEN
2010: 23).
5
Mit der Bezeichnung
Bahnhof
werden in dieser Arbeit alle für Fahrgäste nutzbaren Schnittstellen zum
System Eisenbahn verstanden. Eine Unterscheidung nach Bahnhöfen und Haltepunkten gemäß Eisenbahn-
Bau- und Betriebsordnung (EBO) erfolgt nicht.
36
28
32
22
11
21
12
11
12
4
3
8
14
19
14
2
4
6
9
25
7
Fahrrad
öf f entlicher
Personenverkehr*
Hauptverkehrsmittel
insgesamt
Ausbildung
dienstlich
Arbeit
Begleitung
private Erledigungen
Einkauf
Freizeit
* in dieser Kategorie sind f olgende Verkehrsmittel zusammengef asst: Flugzeug,
Reisebus, Fernzug, Schif f /Fähre, S-Bahn/Nahverkehrszug, U-Bahn/Straßenbahn,
Linienbus/Stadtbus, Taxi, anderes Verkehrsmittel
16
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
personennahverkehr die Chance, seine Attraktivität weiter zu erhöhen. Denn die Erreichbarkeit
von Zielen mit dem öffentlichen Verkehr wird eher positiv bewertet, je geringer die Entfernung
zwischen Wohnung und Bahnhof ist (vgl.
INFAS
/DLR 2010: 4). Dies ist umso relevanter, wenn
man berücksichtigt, dass noch immer 58 Prozent aller Wege bzw. 79 Prozent Verkehrsleistung
bundesweit mit dem motorisierten Individualverkehr zurückgelegt werden (vgl. ebd.: 2010: 25f).
Aus Sicht des Schienenpersonennahverkehrs besteht das Potenzial, neue, an die Fahrradnutzung
gekoppelte Kundenkreise zu erschließen (vgl. BMV [Hg.] 1997: 13) sowie Fahrgäste enger zu bin-
den (vgl. TU D
RESDEN
2010: 199). Gerade auf längeren Distanzen können sich beide komplemen-
tär ergänzen (vgl. B
RACHER
2003: 19), so dass im Regionalverkehr von einer geringen Konkurrenz
auszugehen ist. Des Weiteren kommen C
HLOND
/K
UHNIMHOF
zu dem Ergebnis, dass Fahrrad- und
öffentlicher Verkehr aus Sicht der Nutzer ,,Spezialisten" sind, die sich für besondere Fahrtzwecke
und Kontexte eignen und für gewöhnlich nicht in Konkurrenz zueinander stehen (2009: 15).
Allerdings können die bisherigen Verkehrsmodelle den Fahrradverkehr nicht zuverlässig einbin-
den, so dass das B+R-Potenzial nicht oder nur mit großen Unsicherheiten quantifiziert werden
kann (vgl. B
RACHER
2003: 23, exemplarisch für das Fahrradparken bei M
ÜLLER
2009 zit. bei TU
D
RESDEN
2010: 83). Ausschlaggebend ist das komplexe Zusammenspiel der die Verkehrsmittel-
wahl objektiv und subjektiv beeinflussenden Faktoren (siehe Kapitel 3.2).
Des Weiteren sind Aspekte, welche Bedürfnisse mit der Kombination der beiden Verkehrsmittel
erfüllt werden können, bedeutsam. Ähnliches gilt für die Qualität des Angebotes. Der motorisierte
Individualverkehr hat diesbezüglich Maßstäbe gesetzt, an denen sich andere Verkehrsformen
vielfach messen lassen müssen (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3).
Die Verknüpfung des Fahrrades mit dem Schienenpersonennahverkehr kann auf drei Arten erfol-
gen: Das Fahrrad wird für den Vor- und Nachlauf benutzt und im Hauptverkehrsmittel ,,Nahver-
kehrszug" befördert (
Fahrradmitnahme
) oder es wird ausschließlich im Vor- und/oder Nachlauf
eingesetzt. Letzteres umfasst das Abstellen des eigenen Fahrrades in Bahnhofsnähe (
Fahrrad-
parken
) sowie das Ausleihen eines fremden Fahrrades (
Fahrradvermietung
). Jede Angebotsform
besitzt charakteristische Einsatzfelder und Qualitätsanforderungen. Diese sind in Tabelle 1 exem-
plarisch zusammengestellt.
Grundvoraussetzung ist in jedem Fall ein Hauptverkehrsmittel, mit dem die typische Fahrradent-
fernung von fünf Kilometer erweitert werden kann und welches einen deutlichen Zeitgewinn
ermöglicht (vgl. BMV [Hg.] 1997: 11). Da der Schienenpersonennahverkehr mit seiner schnellen
Punkt-zu-Punkt-Erschließung und seinen großen Kapazitäten als Rückgrat des öffentlichen Per-
sonennahverkehrs gilt, stellt er ein geeignetes Verkehrsmittel für die Verknüpfung mit dem Fahr-
rad dar.
17
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Tabelle 1: Die Formen von Bike+Ride im Vergleich
Fahrradmitnahme
Beschreibung
Transport von Fahrrädern in Nahverkehrszügen
Einsatzfelder
Das Fahrrad wird am Zielort benötigt und es steht kein Zweitrad oder Leihfahr-
rad zur Verfügung
Asymmetrische Wegeketten: die Fahrt führt nicht zum Ausgangsbahnhof zurück
Zur Überbrückung bei plötzlichem Schlechtwetter oder Pannen
Vor allem im Freizeitverkehr, aber nicht notwendigerweise darauf beschränkt
Æ siehe hierzu Kapitel 3.1.3
Qualitäts-
anforderungen
z. B. hinsichtlich Tarifgestaltung, Informationsangebot und der Gestaltung der
Schnittstellen Bahnhof und Bahnsteig/Fahrzeug
Æ siehe hierzu Kapitel 3.4
Fahrradparken
Beschreibung
Das eigene Fahrrad wird in Bahnhofsnähe abgestellt, z. B. in Form von
frei zugänglichen und unbewachten Abstellanlagen mit Fahrradhaltern
Fahrradboxen
Fahrradstationen mit weiteren Serviceangeboten
Einsatzfelder
Bei symmetrischen Wegeketten, daher vor allem im Ausbildungs- und Berufsverkehr
Qualitäts-
anforderungen
Je nach Angebotsform unterschiedlich, im Wesentlichen aber
in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs
ausreichende Anzahl Fahrradabstellmöglichkeiten
Sicherheit gegen Beschädigung und Diebstahl
Wetterschutz und ausreichende Beleuchtung
Fahrradvermietung
Beschreibung
Temporäre Nutzung eines fremden Fahrrades (entgeltfrei oder gegen Nutzungsge-
bühr), im Wesentlichen sind zu unterscheiden:
Punktuelle Vermietung, bei der das Leihfahrrad an den Verleihenden oder einen
Kooperationspartner zurückgegeben wird, z. B. einzelne Händler mit Leih-
fahrrädern in ländlichen Regionen mit touristischer Bedeutung
Als Verleihsystem: Nutzung öffentlich zugänglicher Fahrräder, welche sich über
ein bestimmtes Gebiet erstrecken und an verschiedenen Stellen abgestellt oder
zurückgegeben werden können, z. B. in urbanen Räumen wie das StadtRad
Hamburg
Einsatzfelder
Je nach System und Randbedingungen für kürzere oder weitere Distanzen und
verschiedene Wegezwecke
Qualitäts-
anforderungen
Je nach Angebotsform unterschiedlich, für Verleihsysteme bspw.:
Informationen sind vor Reisebeginn erhältlich
Einwegnutzung möglich
automatisierter Service
durchgängige Verfügbarkeit
Einbeziehung von Verknüpfungspunkten zum öffentlichen Personennahverkehr
preisgünstig für kurze Zeitabschnitte
Quelle: eigene Darstellung nach B
RACHER
/K
RUEGER
et al. 1996: 10-16; BMV [Hg.] 1997: 11-50; B
ICKEL
-
BACHER
2002: 145; TU
D
RESDEN
2010: 73-78, 85-88, 101-115; B
ORCHERDING
/C
ANZLER
et al.
2010: 20
Um das B+R-Potenzial zu erschließen, sind jedoch weitere Voraussetzungen notwendig. Dazu
zählen nicht nur eine geeignete Fahrradinfrastruktur (z. B. Radverkehrsnetz, Abstellmöglich-
18
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
keiten, Serviceangebote), sondern auch funktionierende Transport- und Informationsketten (z. B.
aufeinander abgestimmte Schnittstellen bzw. ein durchdachtes und umfassendes Marketingkon-
zept; vgl. ebd.: 11-16).
Dabei zeigen sich insgesamt, aber auch bezüglich der einzelnen Angebotsformen, räumlich diffe-
renzierte Nachfragemuster und Nutzerpotenziale, die sich mitunter deutlich unterscheiden. Als
Einflussfaktoren gelten u. a. die Topographie, Siedlungsstruktur und Einwohnerdichte sowie die
Quantität und Qualität der Radverkehrsinfrastruktur und des SPNV-Angebotes. Aber auch kon-
kurrierende Verkehrsangebote (z. B. die Verfügbarkeit eines Pkw), die Fahrradtradition und das
,,Fahrradklima" sowie die Nutzerstrukturen (z. B. der Anteil von Studenten) wirken auf die Ver-
kehrsmittelwahl ein (vgl. B
RACHER
2003: 8; TU
D
RESDEN
2010: 19f).
Die Nutzung des Fahrrades wird außerdem durch die Witterung geprägt. Dabei lassen sich All-
tagsradler von der Jahreszeit und schlechtem Wetter nur wenig beeinflussen. Erst bei extrem un-
wirtlichen Bedingungen sinkt ihre Fahrradnutzung deutlich (vgl. BMV [Hg.] 1997: 15; TU
D
RES-
DEN
2010: 20). Umgekehrt verhält es sich hinsichtlich der Nutzung des Fahrrades als Freizeit- und
Sportgerät. Anhaltspunkte hierfür sind zum einen der saisonale Verlauf radtouristischer Ta-
gesausflüge, die sich zu 80 Prozent auf die Monate Mai bis Oktober konzentrieren (vgl. DTV
2009a: 12; Anhang A 5). Zum anderen sind die Motive von Radreisenden vor allem mit Aktivitä-
ten verbunden, die in der Natur oder draußen ausgeführt werden und mit denen Bewegung ver-
bunden ist. So kombinieren sie einen Fahrradurlaub überdurchschnittlich oft mit Aktiv-, Wander-
oder Badeurlauben (vgl. DTV 2009b: 56ff). Sie sind damit deutlich stärker auf ,,gutes" Wetter an-
gewiesen. Ein plötzlicher Wetterumschwung kann daher dazu führen, dass eine Verkehrsleistung
zu einem anderen Zeitpunkt als erwartet nachgefragt wird (vgl. Gespräche mit V
OLKER
B
LOHM
/S
TEFAN
K
LOPPENBURG
sowie G
ERHARD
S
CHNAITMANN
, Nahverkehrsgesellschaft Baden-
Württemberg mbH).
Bike+Ride bietet ein fast flächendeckendes Entwicklungspotenzial. Dazu zählen bspw. der subur-
bane Raum, der einen Schwerpunkt des B+R-Aufkommens darstellt, genauso wie Erholungsge-
biete, bei denen der Freizeitverkehr einen größeren Stellenwert besitzt (vgl. BMV [Hg.] 1997: 14).
Der Bedarf für die Fahrradmitnahme, das Fahrradparken und die Fahrradvermietung sind ebenso
von der Qualität der jeweils anderen Angebotsformen und des ergänzenden ÖPNV-Angebotes
beeinflusst (z. B. Busverbindungen vom Bahnhof zum Zielort). So kann bspw. ein ungenügendes
Angebot von Abstellanlagen in Bahnhofsnähe zu mehr Fahrradmitnahmen in den Hauptverkehrs-
zeiten führen (vgl. Gespräch mit T
ILMAN
B
RACHER
,
Deutsches Institut für Urbanistik).
19
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Die Verknüpfung mit Verkehrsmitteln, die den Aktionsradius des Fahrrades erweitern, wird zu-
nehmend bedeutender. Dabei besitzen die Angebotsformen Fahrradmitnahme, Fahrradparken und
Fahrradvermietung spezifische Einsatzfelder und daraus resultierende Nutzer- und Entwicklungs-
potenziale.
3.1.3
Fahrradmitnahme
Die charakteristischen Vorteile der Mitnahme des eigenen Fahrrades sind, dass dieses auf die Be-
dürfnisse der Person zugeschnitten und seine Verfügbarkeit sichergestellt ist. Der Umgang mit
diesem ist vertraut und habitualisiert. Sofern keine Einschränkungen vorhanden sind, bietet die
Fahrradmitnahme eine nahräumlich und zeitlich sehr flexible Mobilität (vgl. H
OLZAPFEL
et al.
2009 zit. bei TU
D
RESDEN
2010: 113). Ein weiterer Vorzug liegt darin, dass nicht zum Ausgangs-
punkt des Weges zurückgekehrt werden muss. B
RACHER
kommt zu dem Schluss, dass Mietradnut-
zer andere Präferenzen besitzen als Fahrgäste, die Fahrräder mitnehmen (2003: 15). Weiterhin
haben die Expertengespräche ergeben, dass vor allem im Freizeitverkehr Radfahrer auf ihr eigenes
Fahrrad nicht verzichten möchten (vgl. Gespräche mit G
ERHARD
S
CHNAITMANN
sowie
T
HOMAS
R
ESSEL
,
Zweckverband Schienenpersonennahverkehr Ruhr-Lippe). Eine Substitution der Fahr-
radmitnahme durch Fahrradparken oder Fahrradvermietung wird daher nur eingeschränkt mög-
lich sein. Eine Aufgabenteilung zwischen diesen Angebotsformen stellt daher die beste Möglich-
keit dar, das B+R-Potenzial optimal auszuschöpfen (vgl. BMV
[Hg.]
1997: 39).
Fahrräder werden im öffentlichen Verkehr am häufigsten im Rahmen von freizeitmotivierten
Wegen befördert (vgl. ebd.: 19). Ausnahmen belegen jedoch, dass die Fahrradmitnahme auch für
berufliche Fahrten stark nachgefragt werden kann, wie das Beispiel der S-Bahn Berlin zeigt. Eine
Untersuchung aus der Mitte der 1990er Jahre ergab, dass die Mehrheit der an Werktagen bis zu
50.000 transportierten Fahrräder mit beruflichen Fahrten verbunden war (vgl. ebd.). Als förder-
liche Strukturen werden die höhere Angebotskapazität im Vergleich zu anderen Regionen in
Deutschland, das Nichtvorhandensein regelmäßiger Sperrzeiten, die tarifliche Integration der
Fahrradmitnahme in ,,konventionelle" Zeitkarten und der unterdurchschnittliche Pkw-Bestand in
Berlin benannt (vgl. B
RACHER
2003: 13). Aktuellere Zahlen wurden durch die S-Bahn Berlin ver-
meldet. Demnach werden im Sommer bis zu 60.000 Fahrräder je Tag transportiert (vgl. H
ORN
2009: 13). Rückschlüsse auf den jeweiligen Wegezweck können jedoch nicht gezogen werden.
Zudem sind in diesem Wert die jüngsten Entwicklungen aus der sog. S-Bahn-Krise noch nicht
berücksichtigt (für weitere Informationen siehe bspw. F
RANZ
2009, N
EUHAUS
2009 und T
IETZE
2010). Es ist daher zu vermuten, dass der Wagenmangel und das ohnehin schon begrenzte Platz-
angebot, die Fahrradmitnahme dahingehend beeinflusst haben, dass weniger Fahrräder befördert
werden konnten. Möglich ist jedoch auch, dass in der Phase, in der nicht sicher war, ob, wann
20
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
und auf welchem Streckenabschnitt eine S-Bahn fahren würde, mehr Fahrgäste ihre Fahrräder
mitnehmen wollten, um ggf. flexibel und unabhängig weiterfahren zu können (vgl. Gespräch mit
S
TEFFEN
O
BST
, Stadler Pankow GmbH).
Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung der Fahrradmitnahme im Schienenpersonennahverkehr
des Verkehrsverbundes Oberelbe (VVO): Von 2003 zu 2004 wurden 30 Prozent mehr Fahrräder
transportiert, ohne dass dies auf nennenswerte organisatorische oder infrastrukturelle Verände-
rungen zurückgeführt werden kann (vgl. VVO 2009: 4 zit. bei TU
D
RESDEN
2010: 106). Bezogen
auf die Tage Montag bis Freitag bedeutet das einen durchschnittlichen absoluten Anstieg von etwa
700 auf ungefähr 1.100 Fahrradmitnahmen (vgl. D
EHNERT
2009: 11). Eine weitere sprunghafte
Steigerung um 56 Prozent ist das Resultat verbesserter Tarifbestimmungen zur Fahrradmitnahme
in 2005. So wurde für Inhaber von Monats- oder Jahreskarten die kostenlose Fahrradmitnahme
auch in den Nahverkehrszügen der Deutschen Bahn ermöglicht (vgl. ebd.; VVO 2008 zit. bei TU
D
RESDEN
2010: 128). Die Fahrradmitnahme stieg bis 2007 auf durchschnittlich knapp 2.000 Fahr-
räder an (bezogen auf Mo-Fr, vgl. D
EHNERT
2009: 11). Verfolgt man die Entwicklung im Schie-
nenpersonennahverkehr des VVO von 2003 bis 2008, sind die größten Steigerungen im Alltags-
verkehr von Montag bis Freitag zu verzeichnen. Absolut betrachtet treten jedoch samstags die
höchsten Nachfragewerte auf (vgl. ebd.: 9f). Diese Ergebnisse belegen einerseits die hohe Bedeu-
tung des Freizeitverkehrs für die Fahrradmitnahme, was durch den Elberadweg beeinflusst sein
dürfte. Dieser ist der beliebteste und nachfragestärkste Radfernweg Deutschlands (vgl. ADFC
2010: 15-17). Andererseits dokumentieren diese Beispiele nochmals, dass die Fahrradmitnahme
nicht notwendigerweise auf den Freizeitverkehr beschränkt sein muss.
Aus den beiden Beispielen wird deutlich, dass die Nachfrage regional sehr heterogen ausgeprägt
sein kann. Sie hängt im besonderen Maße von den Bedingungen und der Qualität des jeweiligen
Verkehrsangebotes ab (vgl. BMV [Hg.] 1997: 18). Dies umfasst neben der Güte des Angebotes ins-
gesamt (z. B. Taktfrequenz und Streckennetz) die Qualität der Fahrradmitnahmebedingungen
(z. B. Tarifgestaltung). Eine bislang nicht vorhandene oder nur gering ausgeprägte Nachfrage sagt
daher noch nichts über das Entwicklungs- und Nachfragepotenzial der Fahrradmitnahme aus.
Die absolute Nachfrage dieser beiden Beispiele sollte jedoch nicht miteinander verglichen werden.
Zum einen sind die Betrachtungsebenen unterschiedlich, da die S-Bahn Berlin keinen Regional-
verkehr darstellt. Zum anderen dürfte der Verdichtungsraum Berlin u. a. aufgrund seiner großen
räumlichen Ausdehnung und des ausgeprägten S-Bahn-Netzes eine Sonderstellung einnehmen.
Trotz dieser und anderer positiver Beispiele, welche die mitunter deutlichen Nachfragesteige-
rungen der beförderten Fahrräder belegen (vgl. TU
D
RESDEN
2010: 115; siehe auch Kapitel 5),
stellt die Fahrradmitnahme ein Nischenprodukt dar. Allerdings besitzt sie eine ,,hohe Symbolkraft
für die Verknüpfung von Fahrrad und ÖPNV" (vgl. ebd.: 110). Rad fahrende Fahrgäste schätzen
21
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
die Möglichkeit zur Fahrradbeförderung sehr, auch wenn sie diese Option nur selten wahrneh-
men (vgl. ebd.). Daraus folgt, dass Verkehrsunternehmen mittels Fahrradmitnahmeangeboten ein
kundenfreundliches Image aufbauen können.
Eine Befragung von Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen hat ergeben, dass diese Wir-
kung bereits erkannt worden ist. Demnach geben zwei Drittel der befragten ÖPNV-Unternehmen
an, dass die Fahrradmitnahme einen positiven Imagefaktor für ihr Unternehmen darstellt. Demge-
genüber steht die Erkenntnis, dass die große Mehrheit der Befragten den wirtschaftlichen Nutzen
der Fahrradmitnahme für ihr Unternehmen als gering einstuft. Nur sehr wenige können in Fahr-
radmitnahmeangeboten einen wirtschaftlichen Vorteil erkennen (vgl. E
NGEL
2009: 112f zit. bei
TU
D
RESDEN
2010: 109f).
Die Fahrradmitnahme besitzt charakteristische Vorteile und Einsatzfelder, insbesondere im Frei-
zeitverkehr, die durch andere B+R-Angebote nicht erreicht werden können. Das Nutzungs- und
Nachfragepotenzial ist räumlich unterschiedlich ausgeprägt und maßgeblich mit der Angebots-
qualität des Schienenpersonennahverkehrsangebotes verbunden. Die Fahrradmitnahme hat zu-
dem einen großen Einfluss auf das Image der Verkehrsunternehmen.
3.1.4
Entwicklung des Fahrradtourismus
Da der Freizeitverkehr einen potenziellen Wachstumsmarkt des öffentlichen Personennahver-
kehrs darstellt (vgl. L
ASCH
/L
EMKE
et al. 2005 zit. bei P
ROBST
/K
AHRS
et al. 2006: 69), werden im
Folgenden wichtige Entwicklungen der freizeitmotivierten Wege beschrieben. Von besonderem
Interesse ist der Fahrradtourismus, da darin ein besonderes Entwicklungspotenzial für die Fahr-
radmitnahme vermutet wird.
Allgemeine Entwicklungstendenzen
In der Vergangenheit hat die Zahl der freizeitmotivierten Wege zugenommen, während die be-
rufsbedingten Wege weniger geworden sind. Zudem werden Freizeitwege immer länger, insbe-
sondere am Wochenende, wo sie den wichtigsten Wegezweck am Sonntag darstellen (70 Prozent
aller Wege, vgl.
INFAS
/DLR 2010: 117).
Auf die Bündelungsfähigkeit des Freizeitverkehrs wirkt sich negativ aus, dass auch hier zuneh-
mend individuelle Wege zurückgelegt werden (vgl. P
ROBST
/K
AHRS
et al. 2006: 71). Die Punkt-zu-
Punkt-Verkehrsbedienung des Schienenpersonennahverkehrs kann die Mobilitätsbedürfnisse
somit nur noch bedingt erfüllen.
22
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Entwicklung des Fahrradtourismus
Grundsätzlich ist zwischen eintägigen Ausflügen und Übernachtungsreisen zu unterscheiden. Bei
letzteren kann die Fahrradnutzung die Hauptaktivität oder lediglich eine von mehreren Tätigkei-
ten darstellen (vgl.
Abbildung 5
).
Abbildung 5: Formen des Fahrradtourismus
Quelle: eigene Darstellung nach DTV 2009a: 5, DTV 2009b:14f
Zwischen den Freizeitradfahrern sind deutliche Unterschiede festzustellen, wobei der genutzte
Fahrradtyp als zentrales Unterscheidungsmerkmal herangezogen werden kann. Aus den Fahrrad-
touristen im engeren Sinn können drei Typen von Fahrradtouristen abgeleitet werden: Trekking-,
Mountainbike- und Rennradfahrer, wobei erste die größte Gruppe darstellen (vgl. DTV 2009b: 38,
124; siehe Tabelle 2).
Außerhalb des alltäglichen Wohnumfelds
Fahrrad als Freizeit-/Sportgerät
Nutzung zu Freizeit-/Urlaubszwecken
Radnutzung ist Hauptmotiv und
Hauptattraktivität
Æ Fahrradurlaub/Radreise
z. B.
Etappenreisen:
Ort der Unterkunft wechselt täglich, Start- und
Zielpunkt sind nicht identisch
Standortreisen:
Mehrere Übernachtungen am selben Ort mit
Sternfahrten in die umliegende Region
Rundreisen:
Ort der Unterkunft wechselt täglich, Start- und
Zielpunkt sind jedoch identisch
im Rahmen von Übernachtungsreisen
Radnutzung während maximal eintägigem
Ausflug als Hauptmotiv bzw. Hauptattraktivität
Æ Fahrradausflug
z. B.
Radtour
Mountainbike-Tour
Rennradtour
bei Ausflügen
Radnutzung als eine Aktivität von mehreren
Æ Reise mit Attraktivität Radfahren
z. B.
Radausflug auf Reise
Stadtführung per Rad
Nutzung Fahrradverleih
im Rahmen von Übernachtungsreisen
Fahrradtourismus im engeren Sinn
Fahrradtourismus im weiteren Sinn
23
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Tabelle 2: Typen von Fahrradtouristen
Trekkingradfahrer
Mountainbike-Radfahrer
Rennradfahrer
Reisemotivation
Aktives Erleben und Ken-
nenlernen von Land und
Leuten
Sportliche Aktivität
(Geschicklichkeit)
Sportliche Aktivität
(Geschwindigkeit)
Strecken-
beschaffenheit
Überwiegend befestigte,
verkehrsarme Radwege mit
touristischer Beschilderung
und Infrastruktur
Unbefestigte Wege, zum
Teil auch Off-road
Asphaltierte Radwege und
verkehrsarme Straßen für
Hochgeschwindigkeitsfahr-
ten
Topografie der
Destination
Reliefarme, kulturell inte-
ressante Landschaft;
geringe Steigungen;
beliebt: z. B. Flusstäler
Zumeist bergige Land-
schaft; hügeliges bis sogar
steiles Gebiet
Abwechslungsreiche Land-
schaft (flach bis bergig)
Zielgruppe
Genussradler jeden Alters
von Familie mit Kind bis
Senior; Interesse an Kultur,
Kulinarik, Landschaft
Sportlich ambitionierte und
trainierte Radfahrer
Sportlich ambitionierte und
trainierte Radfahrer;
Interesse an Natur und
Aussicht
Tagesetappen
ca. 40 - 60 Kilometer
Je nach Terrain unter-
schiedlich, bis zu 50 Kilo-
meter, 500-1.500 Höhen-
meter
Tagesetappen von bis zu
über 100 Kilometer
Quelle: eigene Darstellung von DTV 2009b: 38 (Zusammenstellung nach
DWIF
2009 [Quelle konnte nicht
nachrecherchiert werden]; DSV [Hg.] 2008)
Wertschöpfung des Fahrradtourismus
Der Fahrradtourismus gehört zu den wichtigsten touristischen Nachfragesegmenten in der Bun-
desrepublik. Sein wirtschaftlicher Stellenwert ist, sowohl in Bezug auf den Bruttoumsatz vor Ort
als auch einschließlich der Reisekosten und Investitionen, mit dem Campingtourismus vergleich-
bar (vgl. DTV 2009a: 10, 28; siehe Anhang A 6). Von den Fahrradtouristen profitiert insbesondere
das Gastgewerbe, gefolgt vom Einzelhandel und dem Dienstleistungssektor. Der Bruttoumsatz von
Fahrradausflüglern liegt insgesamt höher als bei übernachtenden Fahrradtouristen (vgl. DTV
2009a: 8; siehe Anhang A 7).
Eine Untersuchung zu den regionalwirtschaftlichen Effekten des Radtourismus in Rheinland-Pfalz
kommt zu dem Ergebnis, dass ,,Fahrradtourismus nicht nur ein wichtiges touristisches Segment
darstellt, sondern in den Regionen, in denen er stattfindet, einen wichtigen Beitrag zum Volks-
einkommen leisten kann. Vor allem in ländlichen Regionen mit nur geringer Wirtschaftskraft
kann der Radtourismus einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor darstellen" (ETI 2007: 189).
Marktforschungsergebnisse zu Fahrradausflügen
Tagesreisende Fahrradtouristen sind, stark vereinfacht betrachtet, in einem fortgeschrittenen Al-
ter (vgl. Anhang A 9), leben in Partnerschaften ohne Kinder und verfügen über überdurchschnitt-
liche Einkommen (vgl. DTV 2009a: 11). Der Anteil der Fahrradausflüge an den Tagesreisen insge-
24
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
samt variiert sowohl zwischen als auch innerhalb der Bundesländer (siehe Tabelle 3, Anhang A 8).
Er wird zum einen dadurch beeinflusst, inwieweit fahrradtouristische Strukturen und konkurrie-
rende Freizeitangebote vorhanden sind. Zum anderen sind der Typ des Zielortes und die Land-
schaftsformen relevant.
Tabelle 3: Fahrradtouristische Tagesreisen nach der Landschaftsform des Zielortes
Landschaftsform
Zahl der empfangenen
Tagesreisen insge-
samt in Mio.
Fahrradtouristische
Tagesreisen in Mio.
Anteil insgesamt in
Prozent
Ballungsräume 1.586
53,2
3,4
Mittelgebirge über 1.000 m
266
10,2
3,8
Mittelgebirge unter 1.000 m
575 27,0 4,7
Küstenregionen 136
7,3
5,4
Alpenregion 82
7,3
8,9
Seengebiete 112
9,7
8,7
Flusslandschaften 303 15,7 5,2
Sonstige Landschaftsformen
344
22,6
6,6
Insgesamt 3.404
153,0
4,5
Anmerkung: gerundete Werte
Quelle: veränderte Darstellung nach DTV 2009b: 41 (Zusammenstellung nach
DWIF
2005-2007)
Der hohe relative Stellenwert in der Alpenregion kann neben dem Mountainbiking auf die land-
schaftlich reizvollen Voralpen zurückzuführen sein, die auch für normale Fahrradausflüge ein
attraktives Ziel darstellen. Darüber hinaus fällt auf, dass insbesondere ländlich geprägte Räume
mit einem geringen Verkehrsaufkommen beliebte Ziele sind. Dies ist dann besonders ausgeprägt,
wenn sie aus Verdichtungsräumen in kurzer Zeit gut erreichbar sind (vgl. DTV 2009b: 41ff). Zu-
dem ,,gibt [es] bereits Regionen in Deutschland, deren touristisches Image in hohem Maße mit
dem Fahrrad verknüpft ist. Dazu zählen Flusslandschaften (z. B. Donau) ebenso wie Meeresküsten
(z B. Insel Rügen), Seengebiete (z. B. Mecklenburgische Seenplatte) oder auch Städte (z. B. Müns-
ter)" (ebd.: 42). Der D
EUTSCHE
T
OURISMUSVERBAND
schlussfolgert, dass der Anteil der Fahrradaus-
flüge in diesen Gegenden über den Durchschnittswerten in Tabelle 3 liegen dürfte (vgl. ebd.: 43).
Marktforschungsergebnisse zu Fahrradurlauben
Die Mehrheit der Fahrradurlauber kommt aus Deutschland (95 Prozent), besitzt ein mittleres Ein-
kommen und entstammt beinahe allen Berufsgruppen und Altersklassen. Das Durchschnittsalter
beträgt 45,7 Jahre (siehe Anhang A 10). Radurlauber verreisen überwiegend individuell und in
kleinen Reisegruppen. Dabei sind Paare und Familien mit Kindern besonders häufig anzutreffen
(vgl. ebd.: 50, 52).
25
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Informationsmedium Nummer eins ist das Internet, gefolgt von Empfehlungen von Bekannten,
Tourismusinformationen sowie Reiseliteratur und Prospekte o. Ä. Die zentralen Informations-
quellen im Internet sind etwa zu gleichen Anteilen die Seiten der Orte/Städte und der Regionen,
als auch Suchmaschinen, wobei die beiden letztgenannten im Vergleich zu Nicht-Radurlaubern
überproportional häufig genutzt werden (vgl. ebd.: 52f).
Ausschlaggebende Kriterien für die Wahl des Urlaubszieles sind eine landschaftlich reizvolle Ge-
gend, das Angebot und der Zustand der Radwege sowie eine hohe Luftqualität. Flusslandschaften
sind mit Abstand die beliebtesten Landschaftsformen. Darauf folgen Seen- und Küstenlandschaf-
ten (vgl. ebd.: 59ff; siehe Abbildung 6).
Abbildung 6: Von Radurlaubern bevorzugte Landschaftsformen
Anmerkung: Rundungsabweichungen möglich
Quelle: veränderte Darstellung nach ETI 2007: 139 sowie DTV 2009b: 59
Bei der Anreise der Fahrradurlauber zeigt sich die Dominanz des motorisierten Individualver-
kehrs. Demnach wählt mit 77 Prozent die deutliche Mehrheit der Fahrradurlauber den Pkw. Zu-
dem entfallen weitere 6 Prozent auf das Wohnmobil. Nur in 7 Prozent der Fälle wird der Schie-
nenpersonenverkehr zur Anreise genutzt (Nah- und Fernverkehr). Dabei werden sowohl das ei-
gene Fahrrad mitgenommen als auch Fahrräder am Urlaubsort ausgeliehen.
Die Vorteile des Pkw sind die hohe zeitliche und räumliche Flexibilität in der Reisegestaltung und
die ,,(zumindest von vielen subjektiv empfundene) preisliche Attraktivität dieses Anreisever-
kehrsmittels, die mit zunehmender Reisegruppengröße sogar weiter steigt" (DTV 2009b: 55). Zu-
dem können die Kriterien Bequemlichkeit (z. B. einfacher Fahrradtransport mittels Pkw-
6
11
24
28
28
61
10
29
48
46
48
34
25
44
22
20
15
4
60
16
6
7
9
1
0%
20%
40%
60%
80%
100%
Hochgebirge
Mittelgebirge
Ebene Landschaf t
Küstenlandschaf t
Seenlandschaf t
Flusslandschaf t
sehr bevorzugt
bevorzugt
weniger bevorzugt
gar nicht bevorzugt
26
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Gepäckträger) und Sicherheit (z. B. keine Gefahr der Überbuchung) die Entscheidung für den Pkw
befördern (vgl. ebd.: 56).
Der Vorzug des Schienenverkehrs liegt darin, dass nicht zum Ausgangsort der Reise (z. B. Stell-
platz des Pkw) zurückgekehrt werden muss, wodurch ein räumlich flexibler Reiseverlauf möglich
ist (vgl. ebd.). Allerdings zeigt sich, dass Radurlauber das Angebot des öffentlichen Verkehrs kriti-
scher bewerten als Nicht-Radurlauber (siehe Anhang A 11). Der D
EUTSCHE
T
OURISMUSVERBAND
kommt daher zu dem Schluss, dass ,,ein Stück weit [...] sicherlich auch die vielerorts sehr einge-
schränkten Fahrradmitnahmemöglichkeiten im ÖPNV zur geringeren Kundenzufriedenheit der
Radfahrer [beitragen]" (ebd.: 64).
Zusammenfassung und Ausblick
Die Ergebnisse zeigen zunächst, dass Fahrradausflüge und Fahrradreisen beliebte Formen der Frei-
zeitgestaltung sind und vor allem in ländlichen Regionen einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor
darstellen können. Allerdings hat der Schienenpersonennahverkehr an dieser Entwicklung bislang
nur unzureichend partizipiert. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Zahl der Freizeitwege in
den vergangenen Jahren insgesamt kontinuierlich erhöht hat und eine Zunahme des Fahrradtou-
rismus erwartet wird, ist ein weiteres Entwicklungspotenzial für die fahrradtouristische Verknüp-
fung von Fahrrad- und Schienenpersonennahverkehr zu erwarten. Als Begründung können der
zunehmende Einsatz von Elektrofahrrädern oder auch deutlich zielgruppenorientiertere Angebote
sowie intensivere und umfangreichere Marketingaktivitäten angeführt werden (vgl. DTV 2009a:
21f). Zugleich zeigt sich auch hier das spezifische Einsatzfeld der Fahrradmitnahme. Insbesondere
für Fahrradreisen dürfte eine nicht substituierbare Nachfrage vorhanden sein, die u. a. auf die
räumlich flexible Routenplanung und spezifisches Equipment (z. B. Lenker- und Gepäckträgerta-
schen) zurückgeführt werden kann.
3.2
Erkenntnisse zur Verkehrsmittelwahl
Ob und wie stark ein bereitgestelltes Verkehrsangebot nachgefragt wird, hängt von einer Vielzahl
von Faktoren ab. Eine der zentralen Fragen, die dabei beantwortet werden muss, ist, inwieweit
das Angebot die vorhandenen Mobilitätsbedürfnisse zu erfüllen vermag. Dazu ist es notwendig,
die Präferenzen der Nachfrageseite zu kennen und zu wissen, von welchen Faktoren diese beein-
flusst werden sowie welche Wechselwirkungen bestehen.
3.2.1
Mobilitätsverhalten
Die Verkehrsmittelwahl ist Teil eines Entscheidungsprozesses mit dem Ziel, Mobilitätsbedürfnisse
zu befriedigen (vgl. R
OTHENSTEIN
2010: 25). Dieser wird als Mobilitätsverhalten bezeichnet. Dabei
27
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
wird unter Mobilität
6
nicht nur die tatsächliche Ortsveränderung (,,Verkehr") sondern auch die
Fähigkeit zur Fortbewegung verstanden (vgl. T
OPP
1994: 488). Dieser Entscheidungsprozess ist aus
verschiedenen Phasen zusammengesetzt: (1) Notwendigkeit der Ortsveränderung, Auswahl des (2)
Zeitpunktes und (3) Zielortes, Wahl des (4) Verkehrsmittels und des (5) Verkehrsweges (vgl.
R
OTHENSTEIN
2010: 25). Das bedeutet, dass die Phase der Reiseplanung, die der eigentlichen Orts-
veränderung vorgeschaltet ist, als Teil der gesamten Fortbewegung verstanden werden muss.
3.2.2
Zielgruppen
Verkehrsteilnehmer werden häufig anhand soziodemographischer Merkmale in Nutzersegmente
bzw. Zielgruppen eingeteilt (vgl.
INFAS
/DLR 2010: 111; A
CKERMANN
2010). Dazu zählen insbeson-
dere die Pkw-Verfügbarkeit und die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Es können
die in Abbildung 7 aufgeführten Segmente unterschieden werden. Die Ergebnisse zeigen eine
große Gruppe von Stammnutzern des motorisierten Individualverkehrs (
IV-Stammnutzer
), die auf
ein unzureichendes ÖPNV-Angebot zurückgeführt werden kann. Die Gruppe der potenziellen
Nutzer des öffentlichen Verkehrs (
ÖV-Potenzial
) setzt sich aus Personen zusammen, die aus un-
terschiedlichen Gründen den Pkw bevorzugen. Dies können sowohl eine mangelnde Qualität des
öffentlichen Verkehrs als auch subjektive Vorteile des Individualverkehrs sein (vgl.
INFAS
/DLR
2010: 112; R
OTHENSTEIN
2010: 26f).
Abbildung 7: Einteilung der Verkehrsteilnehmer in Zielgruppen
Die prozentualen Anteile beziehen sich auf die Erhebung zur Mobilität in Deutschland 2008.
Quelle: eigene Darstellung nach
INFAS
/DLR 2010: 111
6
Die Begriffe Mobilität und Verkehr werden unterschiedlich verwendet. Eine Übersicht hat G
ERIKE
(2005:
22-27) zusammengestellt.
Wenig-
Mobile
6 %
Fahrrad-
fahrer
5 %
ÖV-
Captives
8 %
ÖV-
Stamm-
kunden
7 %
ÖV-Gele-
genheits-
kunden
19 %
ÖV-
Potenzial
19 %
IV-Stamm-
kunden
36 %
Verkehrsmittel-
nutzung
ÖPNV-Nutzung
nein
ja
seltener
seltener als
wöchentlich
mit ÖPNV
unterwegs
(fast) täglich
mit dem
Fahrrad
unterwegs
mindestens
wöchentlich
mit ÖPNV
unterwegs
(fast) täglich
wöchentlich
bzw. monatlich
sehr gut/gut
schlechter
Erreichbarkeit der
Ziele mit ÖPNV
Pkw (potenziell) verfügbar
28
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
3.2.3
Determinanten der Verkehrsmittelwahl
Die individuelle Verkehrsmittelwahl ist durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Ein-
flussfaktoren determiniert, zwischen denen mitunter erhebliche Abhängigkeiten und Wechsel-
wirkungen bestehen. Dazu gehören rationale Kriterien (z. B. Reisezeit, Reisekosten) sowie psy-
chosoziale und individuelle Faktoren, die im Folgenden als objektive bzw. subjektive Einflussgrö-
ßen bezeichnet werden (vgl. bspw. G
ORR
1997; K
LÜHSPIES
1999: 176f; G
ORTER
/R
ÖNNAU
et al.
2001: 14). Einen Überblick gibt Abbildung 8. Faktoren, die für die vorliegende Thematik beson-
ders relevant sind, werden anschließend näher erläutert.
Abbildung 8: Determinanten der Verkehrsmittelwahl
Quelle: eigene Darstellung nach R
OTHENSTEIN
2010: 36 unter Berücksichtigung von H
ILGERS
1994 und
K
LÜHSPIES
1999
Soziodemographische Einflüsse
Die
Verfügbarkeit eines Pkw
oder Zeitfahrausweises (z. B. Jahreskarte) für den öffentlichen Ver-
kehr beeinflusst die Verkehrsmittelwahl insofern erheblich, als damit bereits eine langfristig wir-
kende Vorentscheidung getroffen wird (vgl. R
OTHENSTEIN
2010: 28f). Diese Wirkung bestätigen
die Ergebnisse zur Mobilität in Deutschland 2008. Demnach geht der Anteil der Wege mit öffent-
lichen Verkehrsmitteln erheblich zurück, sobald ein Haushalt über einen Pkw verfügt (vgl.
IN-
FAS
/DLR 2010: 2).
Verkehrsmittelwahl
Subjektive Einflussfaktoren
- Informiertheit
- Erfahrungen mit den Verkehrs-
mitteln und Ortskenntnisse
- Routinen
- Kundenzufriedenheit und Image
- Emotionale Motive
- Einstellungen und Werte
Wegezweck
- Beruf
- Ausbildung
- Einkauf
- Freizeit
- Private Erledigungen
Soziodemographische Faktoren
- Pkw-Verfügbarkeit
- Haushaltsgröße
- Erwerbsstatus
- Alter
- Einkommen
- Bildungsstand
Externe Einflüsse
- Staatliche Restriktionen
(z. B. Steuern)
- Wetter
Verkehrsangebot
- Kosten
- Pünktlichkeit
- Reisezeit
- Taktdichte
- Informationen
- Komfort
(z. B. Sitzplatzverfügbarkeit)
Raumstruktur
- Standorte der Aktivitäten
(z. B. Arbeitsplatz, Freizeit-
aktivitäten, Einkaufsorte)
- Distanz zwischen Quell- und
Zielort
- Räumliche Ausgestaltung der
Verkehrsnetze
29
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Wegezweck
Je nach Wegezweck sind die Bedürfnisse der Verkehrsteilnehmer unterschiedlich ausgeprägt. Da-
raus resultieren u. a. verschiedene Quelle-Ziel-Beziehungen und Reisezeiten. Beispielsweise
zeichnen sich
Berufs- und Ausbildungswege
in ihren Zielen und Zeiten durch eine vergleichs-
weise große Regelmäßigkeit aus (vgl. D
ADUNA
/B
ORNKESSEL
2006: 189), was an den Nachfragespit-
zen in den Hauptverkehrszeiten sichtbar wird.
Freizeitwege
unterliegen hingegen keinen festge-
legten Quelle-Ziel-Beziehungen und keinem festen Zeitregime der Verkehrsteilnehmer. Infolge-
dessen finden sie stärker entgegen der Starklastrichtungen in den Hauptverkehrszeiten, in der
werktäglichen Nebenverkehrszeit oder am Wochenende statt. Dabei ist zu unterscheiden, ob es
sich um alltäglichen (z. B. zu sportlichen Aktivitäten nach Feierabend) oder nicht-alltäglichen
Freizeitverkehr handelt (z. B. für Ausflugsfahrten am Wochenende; vgl. BMV
[Hg.]
1997:
62; siehe
auch Abbildung 3 auf Seite 14).
Werden mehrere Wegeziele miteinander verknüpft (z. B. wenn die Fahrt von der Arbeit mit ei-
nem Einkaufsweg verbunden wird), werden vor allem individuelle Verkehrsmittel favorisiert.
Öffentliche Verkehrsmittel sind hingegen bei einem oder bei mehreren über längere Distanzen
liegenden Wegezwecken attraktiver (vgl. H
ILGERS
1994: 8).
Verkehrsangebot
Hierbei handelt es sich um die spezifischen und oftmals gut quantifizierbaren Merkmale eines
Verkehrsmittels, die vor allem die Basiseigenschaften eines Angebots wiederspiegeln (vgl. E
ICH-
MANN
/B
ERSCHIN
et al. 2006: 230; siehe auch die noch folgenden Ausführungen zur
Kunden-
zufriedenheit
). Es zeigt sich,
,,dass wirkliche Nachfragesprünge im ÖPNV allein durch eine verbesserte Vermarktung
ohne eine qualitative Verbesserung des vorhandenen Angebots nicht zu erwarten sind.
Nennenswerte Zuwächse sind erst mit deutlichen Angebotsausweitungen und einer er-
höhten Basisqualität zu erwarten. Sofern diese gegeben sind, ist zusätzlich eine aktive, an-
haltende und beispielhafte Informationspolitik notwendig, um eingeschliffenen Nutzungs-
gewohnheiten der Autofahrer eine überzeugende Alternative entgegen zu setzen" (
IN-
FAS
/DIW 2004: 103).
Kosten
Obwohl es sich bei den Aufwendungen um einen objektiv messbaren Faktor handelt, wird er von
den Verkehrsteilnehmern subjektiv bewertet. Dies verdeutlicht die unterschiedliche Einschätzung
der Kosten für die Nutzung des Pkw im Vergleich zum öffentlichen Verkehr:
30
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
,,Die positive Einstellung zum eigenen Pkw lässt die finanziellen Belastungen zum Betrieb
des Fahrzeugs in einem günstigen Licht erscheinen: Als Fahrtkosten werden häufig nur die
Benzinkosten gerechnet; Anschaffung, Wartung, Verschleiß, Versicherung und Kfz-Steu-
ern bleiben unberücksichtigt" (H
ÖGER
1999: 8).
Informationen
Die Kenntnisse zum öffentlichen Verkehr sind in der Bevölkerung unterschiedlich ausgeprägt.
Berücksichtigt man die Komplexität der Angebotsstrukturen, benötigt ein (potenzieller) Fahrgast
zunächst zwingend notwendige Kerninformationen, um seine Fahrt mit einem öffentlichen Ver-
kehrsmittel antreten zu können. Diese umfassen bspw. Informationen zur Zugangshaltestelle,
Abfahrtzeit, Fahrtverlauf und Tarifbestimmungen, welche einfach zugänglich und verständlich
sein müssen (vgl. Abbildung 9). Hinzu kommen weitere Kommunikationsmaßnahmen (z. B. Nut-
zungshinweise, einheitliche Produktbezeichnungen, Wegeleitung in den Bahnhöfen), die mit den
Kerninformationen zu einer aufeinander abgestimmten Informationskette verknüpft und stärker
auf Zielgruppen fokussiert sein müssen (vgl. P
ROBST
/K
AHRS
et al. 2006: 91). Andernfalls ist bei den
Verkehrsteilnehmern mit einer Alternative zum öffentlichen Verkehr zu erwarten, dass sie ,,zu
einem Weg des geringen Widerstands tendieren und sich nicht in wenigen Fällen vom ÖPNV
abwenden bzw. diesen von vornherein nicht in Anspruch nehmen" (vgl. u. a. N
ESSLER
/G
ONTARD
et al. 2004 zit. bei D
ADUNA
/S
CHNEIDEREIT
et al. 2006: 209).
Abbildung 9: Elemente der Informationskette im Schienenpersonennahverkehr
Quelle: eigene Darstellung nach D
ADUNA
/S
CHNEIDEREIT
et al. 2006: 213
Grundinformation
Vorhandene
Verkehrsmittel
Bedienungszeiträume
Bedienungszeiten
Tarifstrukturen
Vorinformation
Durchführbarkeit
von geplanten
Fahrten
Fahrplanauskunft
Zugangsinformation
Weg zum und
innerhalb des
Bahnhofs
Wegweiser
Umgebungsinformation
Weg innerhalb
und vom
Bahnhof
Wegweiser
Umgebungsplan
Fahrzeuginformation
Fahrzeugaus-
rüstung und
-ausstattung
Anzeige
Beschilderung
Ansagesysteme
Bahnhofsinformation
Einrichtungen und
Ausstattungen des
Bahnhofs
Aushangfahrplan
Liniennetzplan
Informationssäulen
31
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Raumstruktur
Aus der Anzahl und Länge der Wege, der Lage der Quell- und Zielorte sowie daraus resultieren-
der Distanzen und der Qualität der vorhandenen Verkehrsnetze entstehen für die einzelnen Ver-
kehrsmittel entsprechende Vor- und Nachteile.
Subjektive Einflussfaktoren
Besonderes Kennzeichen der subjektiven Motive ist, dass sie sich einer harten, eindeutig quantifi-
zierbaren Berechnung entziehen (vgl. K
LÜHSPIES
1999: 22).
Informiertheit
Die Informiertheit hängt neben den zur Verfügung stehenden Informationen auch von der indivi-
duellen Verarbeitung der Verkehrsteilnehmer ab. Handlungsrelevant sind objektive Umwelt-
merkmale demnach nur, ,,wie sie als subjektive Informationen bei den handelnden Personen ver-
fügbar sind" (B
AMBERG
/B
IEN
1995: 110f zit. bei G
ORR
1997: 55). G
ORR
resümiert, dass die Ver-
kehrsteilnehmer über keine ,,objektive Informationsbasis" verfügen und damit die ,,einzelnen
Verkehrsmittel in unterschiedlichem Maße verzerrt [wahrnehmen]" (1997: 76).
Erfahrungen mit den Verkehrsmitteln und Ortskenntnisse
Die Frage, wie informiert ein Fahrgast ist, hängt auch von seinen Ortskenntnissen und seinen Er-
fahrungen mit dem Verkehrsmittel ab (vgl. auch D
ADUNA
/S
CHNEIDEREIT
et al. 2006: 210f). Be-
wegen sich Verkehrsteilnehmer außerhalb ihres gewohnten Verkehrsumfeldes, ist ein höheres
Informationsbedürfnis zu erwarten. Dies würde bspw. erklären, weshalb ein solches vor allem im
Freizeitverkehr zu verzeichnen ist (vgl. BMV [Hg.] 1997: 18). Die Erfahrungen, die ein Verkehrs-
teilnehmer mit einem bestimmten Verkehrsmittel sammelt, sind zudem als Lernprozess zu verste-
hen. Dadurch sind
,,die Fahrgäste bezüglich des Systems als ,Amateure` zu betrachten [...]. Nicht jedermann
und jedefrau ist mit dem Angebot vertraut, und immer wieder kommen neue Fahrgäste
hinzu, welche noch keinen Lernprozess durchlaufen haben. Hinzu kommt, dass Angebote
immer wieder ändern und das bereits Erlernte dadurch teilweise wertlos wird" (W
EID-
MANN
2007: 40).
Als Folge der Dominanz des motorisierten Individualverkehrs ist davon auszugehen, dass vor al-
lem bei den Zielgruppen
ÖV-Gelegenheitskunden
,
ÖV-Potenzial
und
IV-Stammkunden
und da-
mit bei der Mehrzahl der Verkehrsteilnehmer nur begrenzte Erfahrungen in der Nutzung des
Schienenpersonennahverkehrs vorliegen (vgl. ergänzend P
ERNACK
2005: 1). H
ILGERS
betont je-
doch, dass vor allem jene Verkehrsmittel attraktiv erscheinen, die ein hohes Maß an Vertrautheit,
32
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
Sicherheit und Unkompliziertheit bieten (1994: 6). Demzufolge sind im öffentlichen Verkehr aus-
führliche Informationen vor und während der Reise und unter Berücksichtigung des jeweiligen
Wegezwecks erforderlich.
Routinen
In 95 Prozent der Entscheidungen ist ein eingeübtes und gewohntes Verhalten ausschlaggebend
für die Wahl des Verkehrsmittels (vgl. G
ORR
1997: 179). Dieses wird als ,,wichtige psychosoziale
Entlastungsfunktion interpretiert [...], die wesentlich dazu beiträgt, unbewusste Angstquellen und
Komplexität zu verringern, indem sie den Zwang zu dauernden Entscheidungen erheblich redu-
ziert" (vgl. G
IDDENS
1997: 37 zit. bei Z
EMLIN
S. 134f). Diese Routinen werden in Verkehrsmodel-
len aber nicht berücksichtigt. P
ETERSEN
betont, dass sich Routinen gegen Modelle sperren, die die
Nutzung von Verkehrsmitteln ,,als Abfolge einzelner bewusster Wahlentscheidungen verstehen".
Er schlussfolgert, dass in Routinen keine Verkehrsmittelwahl im klassischen Sinne existiert
(P
ETERSEN
2003: 8f).
Kundenzufriedenheit
Die Kundenzufriedenheit ist ein wesentlicher Erfolgsparameter dafür, ob öffentliche Verkehrsmit-
tel genutzt und weiterempfohlen werden (vgl. A
CKERMANN
2010: 12). So berichten zufriedene
Kunden ihre Erfahrungen durchschnittlich etwa drei Personen, wohingegen ein Unzufriedener
seine Negativerfahrungen an ca. zehn Personen weitergibt (vgl. S
CHNIPPE
2000: 156).
Ein Mittel, diesen Einfluss darzustellen, ist das Kano-Modell der Kundenzufriedenheit. Demzufol-
ge wird die Kundenzufriedenheit durch drei Kategorien von Eigenschaften beeinflusst: den Basis-
eigenschaften, den Leistungseigenschaften und den Begeisterungseigenschaften. Basiseigenschaf-
ten sind die Kriterien, die der Kunde erwartet und welche keinen Einfluss auf die Kundenzufrie-
denheit ausüben (z. B. Pünktlichkeit). Allerdings wirkt sich ihr Fehlen negativ aus. Leistungsei-
genschaften sind die von den Kunden artikulierten Anforderungen (z. B. Fahrgastinformationen).
Sie sind spezifisch und messbar. Die Zufriedenheit und Zahlungsbereitschaft sind umso größer, je
mehr davon vorhanden sind. Zu den Begeisterungseigenschaften zählen hingegen jene Merkmale,
die von den Kunden nicht artikuliert werden, aber einen großen Einfluss auf die Kundenzufrie-
denheit und Begeisterung besitzen (z. B. Hilfsbereitschaft des Zugpersonals). Mit der Zeit werden
Leistungseigenschaften zu Basiseigenschaften und Begeisterungseigenschaften zu Leistungseigen-
schaften.
Die Kundenzufriedenheit unterliegt des Weiteren einer regional, z. T. sogar lokal unterschied-
lichen Bewertung der Leistungsmerkmale (vgl. u. a. P
ROBST
2004 zit. bei E
ICHMANN
/B
ERSCHIN
et
al. 2006: 229). Zudem sind deutliche Unterschiede zwischen Kunden und Nicht-Kunden festzu-
33
Grundlagen zur Beförderung von Fahrrädern im Schienenpersonennahverkehr
stellen, da letztgenannte strengere, d. h. an den zur Verfügung stehenden Alternativen (v. a. am
Pkw) gemessene Maßstäbe ansetzen (vgl. E
CK
2006: 111).
Darüber hinaus ist die Kundenzufriedenheit eng mit dem
Image
eines Verkehrsmittels verknüpft:
,,Imageprobleme im ÖPNV gehen nicht selten aus der Enttäuschung unzufriedener Kunden her-
vor" (E
ICHMANN
/B
ERSCHIN
et al. 2006: 223). H
ILGERS
betont, dass über die Gestaltung des Images
Verkehrsmittel gezielt gefördert werden können (1994: 7).
Emotionale Motive
Der Einfluss emotionaler Motive auf die Verkehrsmittelwahl ist erheblich:
,,Häufig überwiegen emotionale, unbewusste Motive, die jedoch vom Individuum vor sich
selbst und anderen rationalisiert werden. Bloße Appelle an die Vernunft berücksichtigen
die Vielzahl und Verschränkung der Entscheidungsfaktoren kaum und bleiben daher wir-
kungslos" (H
ILGERS
1994: 4).
Dazu zählen nach K
LÜHSPIES
bspw. das Ausleben von Freiheitsgefühlen, der Abbau sozialer
Ängste oder die Möglichkeit einer positiven Selbstdarstellung (vgl. 2001, ähnlich bei H
ILGERS
1994). Er resümiert:
,,Das ,Verkehrsmittel Nr. 1` ist das Kfz also nicht etwa deshalb, weil es praktisch oder be-
quem sein kann, sondern vor allem deswegen, weil es seine Nutzer emotional anspricht
und in diesem Sinne ,attraktiv` erscheint (K
LÜHSPIES
2001: 8).
Zudem zeigen sich Differenzen, je nachdem, zu welchem Zweck ein Weg unternommen wird. Im
Freizeitverkehr ist die Verkehrsmittelwahl bspw. insbesondere emotional geprägt (vgl. K
LÜHSPIES
1999: 45ff) und hierbei vor allem durch die Kriterien Image, Autonomie und Erlebnismöglichkei-
ten beeinflusst (vgl. H
ILGERS
1994: 12).
K
LÜHSPIES
hat das ,,psychosoziale Regulationspotenzial" des motorisierten Individualverkehrs, des
öffentlichen Personennahverkehrs und des Fahrradverkehrs untersucht. Dabei handelt es sich um
die ,,Gesamtheit aller emotionalen Ausgleichsfunktionen, die ein Verkehrsmittel seinen Kunden
(= Nutzer) zur Regulation der individuellen psychischen Bedürfnisse anbietet" (1999: 27). Er
kommt zu dem Ergebnis, dass diese Verkehrsformen signifikant unterschiedliche psychosoziale
Regulationspotenziale aufweisen. Dieses ist beim Kfz besonders stark ausgeprägt, da fast alle emo-
tionalen Motive der Nutzer attraktiv angesprochen werden. Demgegenüber steht der öffentliche
Personennahverkehr mit einem insgesamt relativ schwachen psychosozialen Regulationspotenzi-
al, dessen spezifischer Vorteil in positiven Kommunikationschancen zu finden ist. Beim Fahrrad
handelt es sich um ein Verkehrsmittel mit relativ starkem psychosozialen Regulationspotenzial,
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2010
- ISBN (eBook)
- 9783842808676
- DOI
- 10.3239/9783842808676
- Dateigröße
- 4.6 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Humboldt-Universität zu Berlin – Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät, Studiengang Geographie
- Erscheinungsdatum
- 2011 (Januar)
- Note
- 1,5
- Schlagworte
- fahrrad schienenpersonennahverkehr marketing verkehr deutschland