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'Mann und Weib und Weib und Mann ...'

Geschlechtsspezifische physiologische Voraussetzungen der Stimmbildung bei Erwachsenen

©2009 Diplomarbeit 69 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an.
So singen Pamina und Papageno im ersten Aufzug der Zauberflöte von W. A. Mozart. Diese poetische Aussage mag in mancherlei Hinsicht zutreffen, eine Eigenschaft aber hat das Verhältnis von ‘Mann und Weib’ in jedem Fall mit der Gottheit gemeinsam: die Unergründlichkeit.
Verwirrend ist beispielsweise die Vielzahl und teilweise Widersprüchlichkeit der Aussagen, die in der stimmphysiologischen, gesangspädagogischen und anderweitigen Literatur über Männer und Frauen getroffen werden. Einerseits wird ein physiologisch begründeter Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Gesang überhaupt geleugnet. Husler/Rodd-Marling etwa stellen kategorisch fest: ‘Der menschliche Stimmapparat ist seinem anatomisch-physiologisch-physikalischen Aufbau nach bei Mann und Frau genau derselbe. Daran wird niemand zweifeln.’ Aus der aktuellen Genderforschung äußert Grotjahn, ‘die Differenzen von weiblichem und männlichem Singen (erwiesen sich) in der historischen Analyse als Konstruktionen’. Auch in Gesangsschulen mit einfachem Anspruch wird den Schülern erklärt: ‘Ob Männlein oder Weiblein, die Stimme funktioniert völlig identisch’.
Im Widerspruch hierzu stehen die vielfältigen, kaum miteinander in Übereinstimmung zu bringenden Registersysteme, die über männliche und weibliche Tonerzeugung sehr unterschiedliche Darstellungen vortragen. Auch im Bereich der Klangformung werden von renommierten Forschern drastische Thesen gewagt, die unmittelbar auf die gesangspädagogische Praxis abzielen. So stellt etwa Johan Sundberg in seinem Standardwerk ‘Die Wissenschaft von der Singstimme’ fest, Männern und Frauen seien ‘zwei völlig verschiedene Techniken der Vokalartikulation’ beizubringen.
Auf einen angehenden Gesangslehrer und Studienabsolventen, dessen eigene Unterrichtserfahrung ipso facto noch nicht sehr umfassend sein kann, müssen diese Disparitäten verwirrend wirken. Aus diesem Grund erscheint es nicht allein lohnend, sondern unumgänglich, sich über das komplexe Thema der Geschlechter im Gesangsunterricht einen Überblick zu verschaffen und an entscheidenden Stellen sein physiologisches Wissen zu vertiefen, um die angeblichen geschlechtsbezogenen Gesetzmäßigkeiten richtig einordnen und zutreffende Schlussfolgerungen für die eigene stimmbildnerische Arbeit ziehen zu können.
Dabei versteht es sich, dass die statistisch begründeten Aussagen über Männer- bzw. Frauenstimmen von […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sebastian Bielicke
,,Mann und Weib und Weib und Mann ..."
Geschlechtsspezifische physiologische Voraussetzungen der Stimmbildung bei
Erwachsenen
ISBN: 978-3-8428-0831-7
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Hamburg, Deutschland, Diplomarbeit,
2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2011

II
Inhaltsverzeichnis
Seite
I. Einleitung
1
A. Ziel der Arbeit
1
B. Definition des Themas
2
C. Methodik
4
II. Untersuchung
5
A. Haltung und Atmung
5
1. Allgemeines
5
2. Vitalkapazität
5
3. Einflüsse der Bekleidung
6
4. Einflüsse einer Schwangerschaft
9
B. Stimmerzeugung
11
1. Allgemeines
11
2. Tonhöhe
11
3. Register
16
a. Registertheorien und -terminologien
16
b. Vollfunktion
18
c. Randfunktion
21
d. Registerausgleich und Mittelstimme
24
e. Exkurs: Psychische und expressive Konnotationen der Hauptregister 27
f. Pfeifregister
30
g. Strohbassregister
30

III
4. Phonationsmodi
31
5. Hormonelle Einflüsse
32
a. Menstruation
32
b. Hormonpräparate
33
c. Schwangerschaft
34
d. Alterserscheinungen
35
C. Resonanz und Artikulation
36
1. Allgemeines
36
2. Rauhigkeit
38
3. Nasalität
39
4. Vokale und formant tuning
40
5. Sängerformant und Decken
43
6. Konsonanten
45
III. Ergebnis
46
A. Zusammenfassung
46
B. Stellenwert des Themas im Gesamtkontext des Gesangsunterrichts
47
C. Kritik, Diskussion und Forschungsdesiderate
48
IV. Anhang
A1
A. Anatomische Abbildungen
A1
B. Graphen und Notenbilder
A4
C. Tabellen
A7

IV
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Wendler, J., W. Seidner und U. Eysholdt: Lehrbuch der Phoniatrie und
Pädaudiologie. 4., völlig überarbeitete Auflage Stuttgart, New York 2005

1
I. Einleitung
A. Ziel der Arbeit
Mann und Weib und Weib und Mann
Reichen an die Gottheit an.
So singen Pamina und Papageno im ersten Aufzug der Zauberflöte von W. A.
Mozart. Diese poetische Aussage mag in mancherlei Hinsicht zutreffen, eine
Eigenschaft aber hat das Verhältnis von ,,Mann und Weib" in jedem Fall mit der
Gottheit gemeinsam: die Unergründlichkeit.
Verwirrend ist beispielsweise die Vielzahl und teilweise Widersprüchlichkeit der
Aussagen, die in der stimmphysiologischen, gesangspädagogischen und ander-
weitigen Literatur über Männer und Frauen getroffen werden.
Einerseits wird ein physiologisch begründeter Unterschied zwischen männlichem
und weiblichem Gesang überhaupt geleugnet. Husler/Rodd-Marling etwa stellen
kategorisch fest: ,,Der menschliche Stimmapparat ist seinem anatomisch-physio-
logisch-physikalischen Aufbau nach bei Mann und Frau genau derselbe. Daran
wird niemand zweifeln."
1
Aus der aktuellen Genderforschung äußert Grotjahn,
,,die Differenzen von weiblichem und männlichem Singen [erwiesen sich] in der
historischen Analyse als Konstruktionen".
2
Auch in Gesangsschulen mit einfa-
chem Anspruch wird den Schülern erklärt: ,,Ob Männlein oder Weiblein, die
Stimme funktioniert völlig identisch [...]".
3
Im Widerspruch hierzu stehen die vielfältigen, kaum miteinander in Übereinstim-
mung zu bringenden Registersysteme, die über männliche und weibliche Ton-
erzeugung sehr unterschiedliche Darstellungen vortragen.
4
Auch im Bereich der
Klangformung werden von renommierten Forschern drastische Thesen gewagt,
die unmittelbar auf die gesangspädagogische Praxis abzielen. So stellt etwa Johan
Sundberg in seinem Standardwerk ,,Die Wissenschaft von der Singstimme" fest,
Männern und Frauen seien ,,zwei völlig verschiedene Techniken der Vokalarti-
kulation" beizubringen.
5
Auf einen angehenden Gesangslehrer und Studienabsolventen, dessen eigene Un-
terrichtserfahrung ipso facto noch nicht sehr umfassend sein kann, müssen diese
Disparitäten verwirrend wirken. Aus diesem Grund erscheint es nicht allein loh-
nend, sondern unumgänglich, sich über das komplexe Thema der Geschlechter im
Gesangsunterricht einen Überblick zu verschaffen und an entscheidenden Stellen
sein physiologisches Wissen zu vertiefen, um die angeblichen geschlechtsbezo-
genen Gesetzmäßigkeiten richtig einordnen und zutreffende Schlussfolgerungen
für die eigene stimmbildnerische Arbeit ziehen zu können.
Dabei versteht es sich, dass die statistisch begründeten Aussagen über Männer-
bzw. Frauenstimmen von Durchschnittswerten innerhalb der Probandengruppe
sprechen. Gesangswissenschaft ist eine Humanwissenschaft und keine exakte Na-
1 Husler/Rodd-Marling S. 91.
2 Grotjahn S. 36.
3 Myer S. 99.
4 Vgl. statt vieler nur Seidner/Wendler S. 91 ff.
5 Sundberg (1997) S. 180.

2
turwissenschaft. Auch bei allgemein anerkannten Gesetzmäßigkeiten können indi-
viduelle Ausnahmen im Rahmen der physiologischen Grenzen auftreten, ohne
dass hierdurch die Gesetzmäßigkeit als solche in Frage stünde. Aus empirischen
Untersuchungsergebnissen ist daher nicht ohne weiteres ein Befund im Einzelfall
zu deduzieren.
6
Derartige Ergebnisse zu liefern kann folglich auch nicht das Ziel dieser Arbeit
sein. Die gründliche Prüfung der einzelnen Schülerstimme, das funktionale Ein-
fühlungsvermögen des Gesangslehrers kann durch stimmwissenschaftliche Be-
funde nicht ersetzt werden.
Gleichwohl werden die Feststellungen des Gesangspädagogen gezielter getroffen
und klarer formuliert werden können, wenn er weiß, was bei einem männlichen
bzw. weiblichen Schüler statistisch zu erwarten ist und welche Zusammenhänge
unter den Funktionskreisen die Vokologie in den vergangenen Jahrzehnten aufge-
deckt hat.
B. Definition des Themas
Die Eingrenzung des Themas ergibt sich aus den Bestandteilen des Untertitels
dieser
Arbeit:
,,Geschlechtsspezifische
physiologische
Voraussetzungen
der Stimm-
bildung bei Erwachsenen".
,,Geschlechtsspezifisch" zeigt an, dass hier vor allem Unterschiede zwischen den
Vertretern verschiedener Geschlechter behandelt werden sollen. Varianzen inner-
halb der Geschlechtergruppen, etwa zwischen hohen und tiefen oder dramatischen
und lyrischen Stimmen werden nicht ausgiebig diskutiert. Das bedeutet jedoch
keineswegs, dass der Verfasser die Bedeutung der interindividuellen Unterschiede
verkannt hätte. Wo eine Aussage oder ein Ergebnis für sich gesehen eine unzu-
lässige Verallgemeinerung darzustellen scheint, ist sie als Ausssage über durch-
schnittliche und im medizinischen Sinne gesunde Vertreter des jeweiligen
Geschlechts gemeint. Es erscheint nur umständlich und wenig zielführend, jede
entsprechende Aussage mit einem ,,durchschnittlich" oder ,,von Ausnahmen
abgesehen" zu relativieren. Ferner werden bezüglich der stimmbildnerischen Ziele
(unter denen ja Voraussetzungen erst als solche erscheinen) insbesondere im
Bezug auf die klassische Gesangsstimme Stereotypisierungen kolportiert, die
klassischen Sängern beiderlei Geschlechts zugeordnet werden (z. B. in Bezug auf
die Farbe eines leichten Soprans oder das hohe c`` des Tenors). Das entspricht den
kontextspezifischen Anforderungen der gesangspädagogschen Praxis.
,,Physiologisch" bedeutet hier sowohl im allgemeinsprachlichen Sinne körperlich-
funktional als auch im medizinischen Sinne gesund.
7
Im Kontext des Gesangs-
unterrichts ist die Stimmgesundheit des Schülers ein vorrangiges Ziel, und die Ar-
beit an körperlichen Funktionen hat sich primär an den im medizinischen Sinne
physiologischen Abläufen zu orientieren.
Entsprechend der Zielsetzung der Arbeit und der fachlichen Ausrichtung des Ver-
fassers wird unter physiologisch stimmphysiologisch im engeren Sinne verstan-
den. Die für einen Nichtfachmann schwer zugängliche Neurophysiologie bleibt
6 Biemans S. 1.
7 Pschyrembel S. 1494: ,,Physiologie ist die Wissenschaft u. Lehre von den [nb:] normalen
Lebensvorgängen, insbesondere von den physikalischen Funktionen des Organismus [...]."

3
ausgespart, zumal sie auch noch nicht hinreichend ausgeforscht ist und nach
Ansicht von Neumann für die Stimmbildung ohnehin keine geschlechtsspezi-
fischen Erkenntnisse bereithält.
8
Physiologisch ist allerdings nicht gleichbedeutend mit anatomisch. Das genetisch
festgelegte biologische Geschlecht des Schülers (engl. ,,sex") steht hier im Mittel-
punkt der Aufmerksamkeit. Es beginnt jedoch keine erwachsene Schülerstimme in
einem unberührten Naturzustand mit dem Unterricht, vielmehr hat sie bereits eine
weitgehende Sozialisation durchlaufen. Die funktionellen Abläufe sind folglich
auch von der Vorstellung des Schülers von seiner Geschlechterrolle (engl.
,,gender") beeinflusst, beispielsweise im Gebrauch von Kopf- und Brustregister
bei Frauenstimmen.
9
Diese Gegebenheiten stellen relevante Voraussetzungen der
Stimmbildung dar. Zwar ist das biologische Geschlecht für die physiologischen
Eigenschaften einer Stimme prägender als das soziale
10
(zumindest für akustisch
messbare Werte);
11
eine Einbeziehung von empririschen Studien über das rollen-
geprägte physiologische Verhalten ist aber legitim.
,,Voraussetzungen" ist als Begriff selbsterklärend. Die Zielsetzung der Arbeit ist
es, Voraussetzungen zu beschreiben, mithin primär eine deskriptive und nicht eine
präskriptive. Es soll referiert werden, welche Unterschiede bisher erforscht und in
der Literatur beschrieben sind. Pädagogische Schlussfolgerungen sind aufgrund
der Vielfalt der Meinungen und Ansätze in der heutigen Gesangspädagogik inner-
halb des hier gegebenen Rahmens nicht gründlich auszudiskutieren. Nichtsdesto-
weniger werden Äußerungen maßgeblicher Autoren im einschlägigen Zusam-
menhang wiedergegeben, um zu illustrieren, inwieweit es sich bei dem dar-
gestellten Sachverhalt um eine Voraussetzung der stimmbildnerischen Arbeit
handelt.
Eine wesentliche Gruppe von Voraussetzungen wird sich aus Untersuchungen der
Sprechstimme ergeben. Die Stimme wird täglich in großem Umfang als Kommu-
nikationsmittel genutzt. Dabei übt oder vernachlässigt sie Funktionen, die der
Singstimme dann leichter bzw. schwerer zugänglich sind.
12
,,Stimmbildung" zeigt innerhalb des Physiologischen eine Konzentration auf die
Stimmphysiologie an. Definitiv ausgeklammert werden die Bereiche der all-
gemeinen Musikalität, der durchschnittlichen Begabung mit Textverständnis und
Vorstellungskraft und weiterer Aspekte, die vorwiegend für andere Anteile des
Gesangsunterrichts relevant sind als für den stimmbildnerischen. Dabei steht die
am längsten und ausführlichsten diskutierte und auch unter Probanden der empi-
rischen Forschung überproportional vertretene klassische Gesangsstimme im
Vordergrund, ohne dass jedoch die moderneren Stile unberücksichtigt blieben.
Die physiologischen Voraussetzungen sind für alle Stile die gleichen, nur die Zie-
le der Stimmbildung weichen z. T. ab (etwa in der Frage des Registerausgleichs).
,,Erwachsene" Männer und Frauen sind der Gegenstand dieser Arbeit. Die
stimmliche Entwicklung von der Geburt bis zum Stimmwechsel wird nicht be-
handelt. Als erwachsen soll hier eine Person gelten, deren Postmutationsphase
abgeschlossen ist. Eine klare Altersbegrenzung ist damit allerdings nicht möglich.
Männerstimmen gelten bei Habermann ab dem 18. bis 20. Lebensjahr als weit-
8 Neumann S. 26.
9 Zum Unterschied zwischen ,sex` und ,gender` vgl. Biemans S. 4 ff.
10 Biemans S. 165.
11 Ibd. S. 169.
12 Miller S. 133.

4
gehend erwachsen.
13
Mathelitsch/Friedrich setzen das Ende der Postmutations-
phase bei Männern auf das 18. Lebensjahr fest.
14
Bei Frauen liegen alle Autoren
jeweils ein bis zwei Jahre früher.
In Anbetracht des vorliegenden Materials ist zudem die Einschränkung nötig, dass
als Zielpopulation aller hiesigen Betrachtungen vorrangig Angehörige des west-
lichen Kulturkreises untersucht wurden. Geschlechtsspezifische Studien mit asia-
tischen oder afrikanischen Probanden sind hier nicht in hinreichendem Umfang
bekannt, so dass über diese Populationen auch keine greifbaren Erkenntnisse
referiert werden können.
Zur sprachlichen Vereinfachung sei klargestellt, dass, soweit hier von ,,männ-
lichen" und ,,weiblichen" Personen oder Körperteilen die Rede ist, sich dies stets
auf Erwachsene bezieht.
Eine konkrete Kernfrage für eine derart offen und beziehungsreich angelegte
Thematik zu formulieren, ist schwierig. Ich frage deshalb eher allgemein:
Gibt es physiologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die für
die Stimmbildung relevant sind, und worin bestehen sie gegebenenfalls?
C. Methodik
Die Voraussetzungen der Stimmbildung sind vielfältig, wie oben bereits angedeu-
tet wurde. Entsprechend muss, selbst bei Konzentration auf die physiologische
Perspektive, die Betrachtung dieser Arbeit multidimensional ausfallen.
Eine eigenständige empirische Forschung erschien vor allem aus diesem Grund
kaum ergiebig. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln hätte der Verfasser al-
lenfalls Versuche mit einer sehr kleinen, nicht repräsentativen Probandenzahl ver-
anstalten können, deren Ergebnisse aufgrund der entsprechend hohen statistischen
Irrtumswahrscheinlichkeit wenig besagt hätten. Der Aufwand wäre demgegenüber
immens gewesen, bieten doch sämtliche Stimmfunktionen relevante Fragestellun-
gen, die zu untersuchen wären.
Angesichts der Multidimensionalität des Themas erschien es sinnvoller, sich ganz
auf die bereits vorhandene, umfangreiche Literatur zum Thema zu stützen und
konsequent zusammenzutragen, was Wissenschaft und Lehre zu dessen Teilaspek-
ten bisher festgestellt haben. Dabei wurden Recherchen im Schrifttum der Ge-
sangspädagogik, der Phoniatrie, der Linguistik, der Stimmakustik sowie vereinzelt
auch der Genderforschung angestellt, um für einen aussagekräftigen Überblick
möglichst viele verschiedene Aspekte zu erfassen. Angesichts der Fülle an Lite-
ratur in jedem dieser Gebiete ist eine Vollständigkeit natürlich nicht überall er-
reichbar. Der Schwerpunkt der Recherchen liegt klar im Bereich der Gesangs-
pädagogik und der klinischen und akustischen Erforschung der Sängerstimme.
Andere Quellen mögen als exemplarisch und als Ansatzpunkt für einen interdiszi-
plinären Austausch angesehen werden. So stütze ich mich im Bereich der Sozio-
linguistik hauptsächlich auf die gründlichen Recherchen von Biemans.
Die Grobstruktur des Haupttteils folgt der Themenstellung gemäß der heute allge-
mein üblichen Einteilung stimmphysiologischer Arbeiten nach dem Modell der
13 Habermann S. 255.
14 Mathelitsch/Friedrich S. 63 f.; ibd. S. 123.

5
drei stimmlichen Funktionskreise Haltung/Atmung, Phonation und Resonanz/
Artikulation.
15
Innerhalb jedes Abschnittes sind die Quellen diskursiv angeordnet.
II. Untersuchung
A. Haltung und Atmung
1. Allgemeines
Atmung dient im Zusammenhang mit der Stimmgebung dazu, einen subglotti-
schen Luftüberdruck und damit einen transglottischen Luftstrom zu generieren,
der die aneinander angenäherten Stimmlippen zum Vibrieren bringen kann.
16
Voraussetzung für eine optimale, flexible Atmung ist generell eine physiolo-
gische, das heißt freie und aufrechte Körperhaltung.
17
(Vgl. auch Abb. 1, S. A2).
Die Erfordernisse an stimmgerechte Haltung sowie die geläufige Einteilung der
totalen Lungenkapazität in Residualvolumen und Vitalkapazität sind für Männer
und Frauen grundsätzlich identisch. Geschlechtsspezifische Verhältnisse werden
hier meist nicht einmal thematisiert.
18
2. Vitalkapazität
Das Geschlecht ist (neben Alter, Größe, Trainingszustand u. a.) einer der Fak-
toren, welche die Vitalkapazität bestimmen, d. h. die durch Ein- und Ausatmung
bewegbare Luftmenge.
19
Nach Sundberg haben Männer bei gleicher Körpergröße
eine etwas größere Vitalkapazität als Frauen.
20
Nach Habermann beträgt die
Teilmenge des sogenannten Phonationsvolumens, i. e. ,,das für die maximale
Tondauer verfügbare linear von der Vitalkapazität (VK) abhängende Luftvolu-
men" an der gesamten Lungenkapazität bei Männern in den Grenzwerten etwa um
fünf Prozentpunkte mehr als bei Frauen (50 - 80 % gegenüber 45 - 75 %).
21
Die von Luchsinger konstatierten bewegten Luftvolumina bei ausgebildeten
Sängern schwanken in relativ großem Ausmaß. Geschlechtsunabhängig weisen
hohe Stimmen ein geringeres bewegtes Luftvolumen auf als tiefe.
22
Von praktischen Konsequenzen hieraus ist jedoch nirgends die Rede, so dass es
sich hierbei nicht um eine relevante Voraussetzung der Stimmbildung zu handeln
scheint. Der Unterschied ist quantitativ eher marginal und steht zudem in einem
komplexen Zusammenhang mit dem Trainingszustand der Atemmuskulatur, der
Größe des Kehlkopfes (der bei Frauen wiederum kleiner ist als bei Männern, s. u.,
15 Pezenburg S. 21-27; ibd. S. 5; Sundberg (1997) S. 5 f.; Seidner/Wendler S. 5 f.; Habermann
S. IX.
16 Sundberg (1997) S. 41.
17 Seidner/Wendler S. 56.
18 Statt vieler Habermann S. 7 ff.; ibd. S. 20 ff. und Seidner Sp. 1412-1414.
19 Seidner/Wendler S. 55.
20 Sundberg (1997) S. 51 f.
21 Habermann S. 18.
22 Luchsinger o. J., zit. nach Habermann S. 27.

6
S. 13) sowie dem bevorzugten Phonationsmodus bzw. dem überwiegend benutz-
ten Register (s. Abschnitt II.B). Deshalb haben Männer auch beim Sprechen einen
geringeren glottalen Widerstand als Frauen
23
und dementsprechend einen höheren
transglottalen Luftstrom.
24
Die Ausdauer bei der Stimmgebung hängt eher vom
variablen Luftverbrauch als von der gering schwankenden Luftkapazität ab,
25
die
für den Sänger im Ergebnis nur von ,,untergeordneter Bedeutung" ist.
26
Die Stimmphysiologen sind sich hier einig. Aus der Gesangspädagogik ertönen
jedoch Stimmen, die dem Atemapparat von Männern und Frauen dennoch
unterschiedliche Metaphern unterlegen möchten. Heuer-Christen spricht in ihrem
fantasievollen Vortrag über geschlechtsspezifischen Unterricht exemplarisch von
gegensätzlichen bildhaften Vorstellungen zur Spannung des Atemkörpers: Ihre
weiblichen Studierenden hätten auf eine vertikale Spannungsvorstellung besser
angesprochen, die männlichen hingegen auf eine suggerierte Breitspannung.
27
Leider bleibt bei ihr jedoch unklar, auf welchen physiologischen Voraussetzungen
dieser Effekt beruht. Auch unterscheidet sie zwischen lyrischen und dramatischen
Stimmen nur hinsichtlich des interpretatorischen Zugangs, nicht hinsichtlich der
Stimmbildung,
28
was wenig plausibel erscheint, ist doch der subglottische Atem-
druck eines der Hauptmerkmale dieser beiden Stimmgattungen.
So ist denn dieser Gedanke allenfalls Indiz für ein Desiderat der systematischen
empirischen Forschung.
Generell ist zu sagen, dass anatomisch begründete geschlechtsspezifische
Unterschiede in der sängerischen Atemschulung bisher nicht nachgewiesen sind.
Wenn es geringfügige Unterschiede gibt, so sind sie wohl eher mittelbar auf den
größeren Körperwuchs von Männern oder den tendenziell stärker verhauchten
Phonationsmodus bei Frauen zurückzuführen.
29
3. Einflüsse der Bekleidung
Die Kleidung eines Menschen kann seine Haltung und seine Atembewegungen
beeinträchtigen. ,,Korsett, schnürende Bänder oder Gürtel, figurbetonende Kleider
usw." üben einen ungünstigen Einfluss auf den Stimmapparat aus.
30
Hierin liegt ein genderspezifischer Einflussfaktor. Zwar gibt es heute kaum noch
männerspezifische Kleidung (eine Frau in Hosen wird heute und in unserer
Hemisphäre allgemein als sozial üblich angesehen), einige Bekleidungsusancen
sind aber nach wie vor den Frauen vorbehalten (ein Mann im Rock stellt noch
immer eine Seltenheit dar).
31
Scheinbar wird Femininität an einem Mann noch
immer weniger akzeptiert als Maskulinität an einer Frau.
32
23 Vgl. Koenig S. 2.
24 Vgl. Sundberg (1997) S. 59.
25 Klöppel S. 220.
26 Seidner/Wendler S. 55.
27 Heuer-Christen S. 29.
28 Ibd. S. 31.
29 Koenig S. 2.
30 Waldersee S. 180.
31 Die Beispiele nennt Biemans S. 164 im Zusammenhang mit stimmlichen Geschlechts-
merkmalen.
32 Biemans S. 164.

7
Es liegen dem Verfasser keine statistischen Daten darüber vor, ob bei Frauen eine
größere Tendenz dazu herrscht, den eigenen Bauch durch enge Gürtel und Bein-
kleider einzuschnüren. Eine entsprechende Erhebung wäre sicher aufschlussreich.
In jedem Fall ist eine die Beweglichkeit des Bauches behindernde Kleidung im
Hinblick auf das stimmbildnerische Ziel der Costoabdominalatmung eine ungün-
stige Voraussetzung.
Insbesondere die Auswirkung von hochhackigen Schuhen auf das Haltungsgefüge
und damit auf die Atmung und die Stimmerzeugung selbst hat der Phoniater Niels
Graf von Waldersee ausführlich und präzise beschrieben.
33
Die Haltung der Wirbelsäule wird beeinflusst durch die Fußhaltung, ebenso die
Stellung
des
Beckens,
des
Zwerchfells,
des
Kopfes.
Die
Halswirbelsäule
wirkt
u. a.
ein auf die Enge bzw. die Weite des Rachens, auf die Kehlkopfaufhängung und
damit die Spannung der Stimmlippen, also die Höhe der Stimme.
34
In einer optimalen Stellung der Wirbelsäule zieht der gerade Bauchmuskel,
der Musculus rectus abdominis, bei festgestelltem Becken den Brustkorb nach
unten, wobei das Becken angehoben wird. Mit seiner Anspannung wird der
Streckung der Rückenmuskulatur entgegengewirkt, was eine bessere Brustkorb-
stabilität ermöglicht, so gelangt ein Optimum an Luft in die Lungen.
[...]
Eine Frau mit hochhackigen Schuhen hält ihre Knie und ihr Becken ständig
gebeugt. Dabei wird das Gesäß nach hinten geschoben, und es kommt zur kom-
pensatorischen Hohlkreuzbildung. Ein Hohlkreuz verhindert die Ausdehnung der
Atmungsorgane durch die Anspannung der Muskeln, die für die Ausatmung
zuständig sind, weil die Absenkung des Zwerchfells unterbunden wird. So ist das
Zwerchfell in seiner Funktion der Abfederung - der sogenannten Stütze - gestört
und kann sich nicht der Atmung anpassen. Außerdem ist die Muskulatur der Len-
denwirbelsäule nicht in der Lage zu kompensieren. [...]
Als Konsequenz der eingeschränkten Rippen- und Bauchatmung (Costo-
abdominalatmung) entsteht eine Atmung, die nur bis auf die Höhe der Schlüssel-
beine reicht, bei der notgedrungen viel zu wenig Luft in die Lungen gelangt[,]
und eine unangestrengte, organische Atmung erschwert bzw. unmöglich macht.
Bei ausschließlichem Tragen von Stöckelschuhen kommt es zu Kontraktionen der
Kniebeuge-Muskulatur sowie der Muskeln, die das Becken kippen. Die Anpas-
sung der Atmung wird hierbei derart eingedämmt, so dass es durch
das Hohlkreuz zu einem ,,Buckel" (kompensatorische Hyperkyphose) der Brust-
wirbelsäule kommt. Der Brustkorb sinkt zusammen, und die Atmung wird
zusätzlich behindert. Die Folge davon ist eine Schlüsselbeinatmung, zumindest
eine Rippen-Schlüsselbeinatmung.
35
Die Halswirbelsäulenstellung entsteht in diesem Haltungsmuster als Resultat des
,,Buckels" (der Vorwölbung bzw. der Kyphose) der Brustwirbelsäule in kompen-
33 Der Verfasser weicht hier bewusst von dem Grundsatz ab, dass derart umfangreiche wörtliche
Zitate in wissenschaftlichen Arbeiten nicht üblich sind. Gerechtfertigt erscheint dies ausnahms-
weise zum einen durch die Qualität der Beschreibung Waldersees, zum anderen aber auch
durch die Festgelegtheit des anatomisch-physiologischen Vokabulars. Für eine gleichwertige
Darstellung in eigenen Worten fehlt es an präzisen Synonymen.
34 Waldersee S. 177.
35 Ibd. S. 178.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783842808317
DOI
10.3239/9783842808317
Dateigröße
2.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Musik und Theater Hamburg – Musikpädagogik, Studiengang Musikerziehung im freien Beruf an den Musikschulen
Erscheinungsdatum
2010 (Dezember)
Note
1,0
Schlagworte
musikpädagogik gesang stimme physiologie gender studies
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Titel: 'Mann und Weib und Weib und Mann ...'
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