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Biographie und Identität

©2010 Diplomarbeit 86 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland, haben die Lebensläufe der Menschen stark beeinflusst. Zwar wurden einerseits vielfältige Wahlmöglichkeiten und Chancen gegeben, jedoch beinhalten die Individualisierungsvorgänge und die Auflösung der traditionellen Gesellschaft auch Risiken, da die Individuen Ihre Lebensentscheidungen für sich treffen und die daraus entstehenden Konsequenzen selbst tragen müssen. Durch die Auflösung von herkömmlichen Lebensformen und die Zunahme von vielfältigen Arten des Lebens entstand die Situation, dass der Einzelne seine Biographie selbst herstellen muss, und dies ohne die Tatsache eines Sicherheit bringenden Lebenszusammenhanges. Sozial vorgefertigte Schablonen für die Ausgestaltung der Identität und der Biographie haben ihre Passform verloren.
Daher ergab sich für mich die Motivation zu dieser Arbeit aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten, welche sich mir im beruflichen Zusammenhang eröffnen. Vor allem auch Heranwachsende stehen vor großen Herausforderungen, wenn es darum geht ‘die richtigen’ Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen.
Die Soziale Arbeit hat es mehr denn je mit Menschen zu tun, die in biografischen Krisen stecken. In Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit besteht kein Zweifel an der Relevanz professioneller Unterstützung bei der Gestaltung biografischer Prozesse. Einigkeit besteht auch an der Ressourcenorientierung der Klientel.
Hier stellt sich mir die Frage, welche Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen der Mensch braucht, um eine stabile Identität aufbauen zu können? Eine weitere Frage entstand aus meiner zukünftig beruflichen Situation. Mit welcher methodischen Herangehensweise kann die Soziale Arbeit dabei unterstützen, eine gelingende Biographie und Identität zu konstruieren? Und wie soll eine solche Begleitung gestaltet werden?
Weiter wollte ich nach einem praktischen Projekt suchen, welches sich mit den gleichen Fragen beschäftigt und darauf antwortet.
Ziel dieser Diplomarbeit ist es, geeignete methodische Vorgehensweisen aufzuzeigen, welche die Subjekte bei ihrer Biographiearbeit und Identitätsentwicklung unterstützen können.
Die Arbeit beginnt mit der Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklungen (Kapitel 2.1/ 2.2). Daraufhin folgt eine ausführliche Erklärung der Individualisierung, um den Modus der Vergesellschaftung deutlich zu machen (Kapitel 2.3).
Am Ende jedes Kapitels folgt eine Zusammenfassung, die die Kernaussagen der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung.

II Gesellschaftstheoretischer Hintergrund.
2.1 Individualisierung durch Modernisierungsprozesse
2.1.1 Halbmoderne Gesellschaft- Die erste Modernisierung
2.1.2 Reflexive Gesellschaft- die zweite Modernisierung
2.2 Individualisierung als neuer Modus der Vergesellschaftung
2.3 Zusammenfassung

III Identitätsentwicklung in der individualisierten Gesellschaft
3.1 Definition des Begriffs Identität
3.2 Identitätsentwicklung nach Erik Erikson
3.2.1 Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson
3.2.1.1 Die ersten vier Antworten auf die Frage „Wer bin ich?
3.2.1.2 Die Jugendphase
3.2.1.2.1 Begriffsdefinition Pubertät
3.2.1.2.2 Begriffsdefinition Adoleszenz
3.2.1.2.3 Die Herausbildung der Ich- Identität im Jugendalter: „Wer bin ich, wer bin ich nicht?“
3.2.1.3 Die drei Phasen des Erwachsenenalters
3.3 Patchwork – Identität nach Keupp
3.3.1 Der Prozess der Identitätsarbeit
3.4 Der Ansatz der balancierenden Identität nach Krappmann
3.5 Zusammenfassung

IV Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen für eine gelingende Identität- ein Kompetenzprofil.
4.1 Fähigkeiten nach Krappmann
4.1.1 Rollendistanz
4.1.2 Empathie
4.1.3 Ambiguitätstoleranz
4.1.4 Identitätsdarstellung
4.2 Kompetenzen und Ressourcen nach Keupp
4.2.1 Materielle Ressourcen
4.2.2 Soziale Ressourcen
4.2.3 Die Fähigkeit zum Aushandeln
4.2.4 Ambiguitätstoleranz
4.2.5 Urvertrauen zum Leben
4.3 Schlüsselqualifikationen nach Negt
4.3.1 Identitätskompetenz- aufgeklärter Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität
4.3.2 Technologische und ökologische Kompetenzen- Umgang mit den psychischen Nebeneffekten der Spätmodernen Produktion
4.3.3 Gerechtigkeitskompetenz- Sensibilität für Enteignungserfahrungen
4.3.4 Historische Kompetenz- Erinnerungs- und Utopiefähigkeit
4.3.5 Zivilgesellschaftliche Kompetenz
4.4 Zusammenfassung

V Biographie und deren Veränderung im Zuge der individualisierten Gesellschaft.
5.1 Definition des Begriffs Biographie
5.2 Biographie in der individualisierten Gesellschaft
5.3 Von der Institutionalisierung zur Deinstitutionalisierung des Lebenslaufes
5.3.1 Institutionalisierung
5.3.2 Deinstitutionalisierung
5.4 Zusammenfassung

VI Biographiearbeit als Unterstützung zur Biographiekonstruktion und Identitätsentwicklung
6.1 Grundlagen der Biographiearbeit
6.2 Biographiearbeit im Kontext Sozialer Arbeit
6.3 Soziale Arbeit
6.4 Biographiearbeit in der Sozialen Arbeit in Abgrenzung zur Psychotherapie
6.5 Funktionen und Ziele von Biographiearbeit in der Sozialen Arbeit
6.6 Zusammenfassung
6.7 Die Relevanz von Ressourcen für die Bewältigung biographischer Herausforderungen
6.7.1 Köhärenzgefühl nach Antonovsky
6.7.2 Resilienz
6.8 Die Relevanz von kreativen Medien zur Ressourcenaktivierung
6.8.1 Kreative Medien zur Bewältigung biografischer Herausforderungen
6.8.2 Kreative Medien als Erlebnis aktvierende Methode
6.9 Zusammenfassung

VII Ein kulturpädagogisches Modellprojekt „Lernziel: Lebenskunst“
7.1 Definition des Begriffes Kultur
7.2 Definition des Begriffes Bildung
7.3 Definition des Begriffes Kulturelle Bildung
7.4 Kulturelle Bildung nach Fuchs
7.4.1 Das Menschenbild in der kulturellen Bildung
7.5 Kulturpädagogik- Kulturarbeit als Arbeit der Wahrnehmung
7.6 Wilhelm Schmid- Philosoph der Lebenskunst
7.7 Modellprojekt: „Lernziel Lebenskunst“
7.7.1 „Lernziel Lebenskunst“ - Umsetzung auf drei Ebenen
7.7.2 Bildungswirkungen aus den Praxismodellen
7.7.3 „Lebenskunst“ als zukunftsfähiges Leitbild
7.8 Zusammenfassung

VIII Resümee

IX Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung zur Diplomarbeit

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Identität im Wandel (aus Barz, Kampik, Singer& Teuber (2001), Neue Werte, neue Wünsche. Future Values)

Abb. 2: Stufen der Psychosozialen Entwicklung nach Erik Erikson (aus D. Myers ., 2008: 184)

Abb. 3: Identität als Verknüpfungsarbeit (aus H. Keupp, 2006: 191)

Abb. 4: Dreischritt im Wertewandel der Familie (aus Barz, Kampik, Singer & Teuber (2001), Neue Werte, neue Wünsche. Future Values)

I Einleitung

Die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland, haben die Lebensläufe der Menschen stark beeinflusst. Zwar wurden einerseits vielfältige Wahlmöglichkeiten und Chancen gegeben, jedoch beinhalten die Individualisierungsvorgänge und die Auflösung der traditionellen Gesellschaft auch Risiken, da die Individuen Ihre Lebensentscheidungen für sich treffen und die daraus entstehenden Konsequenzen selbst tragen müssen. Durch die Auflösung von herkömmlichen Lebensformen und die Zunahme von vielfältigen Arten des Lebens entstand die Situation, dass der Einzelne seine Biographie selbst herstellen muss, und dies ohne die Tatsache eines Sicherheit bringenden Lebenszusammenhanges. Sozial vorgefertigte Schablonen für die Ausgestaltung der Identität und der Biographie haben ihre Passform verloren.

Daher ergab sich für mich die Motivation zu dieser Arbeit aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten, welche sich mir im beruflichen Zusammenhang eröffnen. Vor allem auch Heranwachsende stehen vor großen Herausforderungen, wenn es darum geht „die richtigen“ Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen.

Die Soziale Arbeit hat es mehr denn je mit Menschen zu tun, die in biografischen Krisen stecken. In Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit besteht kein Zweifel an der Relevanz professioneller Unterstützung bei der Gestaltung biografischer Prozesse. Einigkeit besteht auch an der Ressourcenorientierung der Klientel.

Hier stellt sich mir die Frage, welche Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen der Mensch braucht, um eine stabile Identität aufbauen zu können? Eine weitere Frage entstand aus meiner zukünftig beruflichen Situation. Mit welcher methodischen Herangehensweise kann die Soziale Arbeit dabei unterstützen, eine gelingende Biographie und Identität zu konstruieren? Und wie soll eine solche Begleitung gestaltet werden?

Weiter wollte ich nach einem praktischen Projekt suchen, welches sich mit den gleichen Fragen beschäftigt und darauf antwortet.

Ziel dieser Diplomarbeit ist es, geeignete methodische Vorgehensweisen aufzuzeigen, welche die Subjekte bei ihrer Biographiearbeit und Identitätsentwicklung unterstützen können.

Die Arbeit beginnt mit der Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklungen (Kapitel 2.1/ 2.2). Daraufhin folgt eine ausführliche Erklärung der Individualisierung, um den Modus der Vergesellschaftung deutlich zu machen (Kapitel 2.3).

Am Ende jedes Kapitels folgt eine Zusammenfassung, die die Kernaussagen der vorherigen Punkte zusammenfasst.

Kapitel drei besteht aus der theoretischen Grundlage. Nach der Definition des Begriffes Identität (Kapitel 3.1), habe ich mich für den wissenschaftstheoretischen Ansatz der psychosozialen Entwicklung nach Erik Homburger Erikson entschieden (Kapitel 3.2.1). Dieses Modell beschreibt die Identitätsentwicklung in insgesamt acht Phasen und begrenzt sie auf die Jugendphase. Dieser Theorie werde ich dem Ansatz nach Heiner Keupp entgegensetzen, da sich dieser mit der alltäglichen Identitätsarbeit befasst und einen starken Bezug auf die gesellschaftlichen Bedingungen nimmt. Die dritte Theorie beschreibt die balancierende Identität nach Lothar Krappmann (Kapitel 3.4). Dieses Modell habe ich hinzugezogen, weil dabei ein soziologischer Blick auf die Identitätsentwicklung geworfen wird. Krappmann geht in seiner Theorie davon aus, dass sich Identität aus der Balance der personalen und sozialen Teilidentität ergibt.

Nachdem der theoretische Rahmen zur Identitätsbildung gegeben ist, folgt die Betrachtung der benötigten Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen, die eine gelingende Identität befördern (Kapitel 4). Hier gehen die identitätsfördernden Fähigkeiten nach Lothar Krappmann voraus (Kapitel 4.1). Diese bilden eine Grundlage für die folgenden Ressourcen und Kompetenzen nach Heiner Keupp (Kapitel 4.2). Im Anschluss werden die Kompetenzen durch Oscar Negt ergänzt (Kapitel 4.3). Diese sind für mich wichtig hinzuzuziehen, da sie einen starken Bezug zur heutigen Gesellschaft nehmen.

In Kapitel fünf wird zunächst der Begriff Biographie definiert (Kapitel 5.1). Auch hier wird als Grundlage ein theoretischer Rahmen gespannt, und dafür die „Institutionalisierungs“- und „Deinstitutionalisierungsthese“ von Martin Kohli erklärt (Kapitel 5.3/ 5.3.1/ 5.3.2). Daran wird deutlich erkennbar, wie sich die Biographien der Menschen im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung verändert haben.

Daraufhin werden Grundlagen der Biographiearbeit in ihrer Bedeutung für Menschen in schwierigen Lebenslagen thematisiert (Kapitel 6.1). Dabei erklärt sich professionelle Biographiearbeit als methodische Anleitung und Begleitung biografischer Selbstreflexion, durch professionelle Fachkräfte in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit und in Abgrenzung zu therapeutischen Verfahren (Kapitel 6.2/ 6.4). Um den Leser ein Verständnis über Soziale Arbeit zu geben, wird das Arbeitsfeld im nächsten Punkt beschrieben (Kapitel 6.3).

Im Weiteren folgt die Erklärung der übergeordneten Funktionen und Ziele von Biographiearbeit (Kapitel 6.5). Außerdem wird die Relevanz von Ressourcen (Kapitel 6. 7) und kreativer Medien (Kapitel 6.8) für die Bewältigung biografischer Herausforderungen aufgegriffen.

Kapitel sieben eröffnet einen neuen Blick und zeigt kulturpädagogische Herangehensweisen für eine biographische Begleitung auf. Um den Leser die wesentlichen Grundlagen zu berichten, folgt im ersten Schritt die Definition des Begriffs „Kultur“ (Kapitel 7.1). Im zweiten Punkt wird die Bezeichnung „Bildung“ erklärt (Kapitel 7.2). Zuletzt wird die „Kulturelle Bildung“ definiert (Kapitel 7.3). Diese drei Begrifflichkeiten werden durch Erklärungen von Max Fuchs ergänzt (7.4./ 7.4.1).

Daraufhin findet eine Überleitung zur Kulturpädagogik statt, welche als Arbeit der Wahrnehmung beschrieben wird (Kapitel 7.5).

Um das Lernziel des Modellprojektes klar zu machen, wird die Bedeutung der Lebenskunst beschrieben (Kapitel 7.6), bevor die Vorstellung des Modellprojektes (Kapitel 7.7), mit dessen Umsetzung (Kapitel 7.7.1), Bildungswirkungen (Kapitel 7.7.2) und daraus resultierend, ein zukunftsfähiges Leitbild folgt (Kapitel 7.7.3).

Das letzte Kapitel (Kapitel 8) der vorliegenden Arbeit versucht Antworten auf die eingangs gestellten Fragen zu geben und lässt mögliche Fragestellungen für das Thema „Biographie und Identität“ offen.

II Gesellschaftstheoretischer Hintergrund

2.1 Individualisierung durch Modernisierungsprozesse

„Die Geschichte der Individualisierung, ist die Geschichte eines Prozess, in dem sich das Individuum seiner selbst und in seiner Bedeutung für das soziale Gebilde, in dem es lebte, bewusst wurde“ (H. ABELS, 2006, S 45).[1]

Dieser Entwicklungsgang verlief nicht kontinuierlich, sondern in Individualisierungsschüben. Diese Schübe resultieren aus gesellschaftlichen Ereignissen.

Individualisierung kann also als geschichtlicher Prozess gesehen, und als das Ergebnis eines allgemeinen Modernisierungsprozesses verstanden werden (M. JUNGE, 2002, S. 10).[2]

Um dies noch einmal zu verdeutlichen, soll im Folgenden ausführlich auf den Modernisierungsprozess eingegangen werden, weil diese Darstellung als Ausgangspunkt unverzichtbar ist.

2.1.1 Halbmoderne Gesellschaft- Die erste Modernisierung

Für den Soziologen Ulrich Beck, vollzog sich die erste Modernisierung im 19. Jahrhundert. Sie beschreibt die Auflösung der ständischen Agrargesellschaft, welche das Strukturbild der Industriegesellschaft herausgeschält hat (U. BECK, 1986, S. 14).[3] Für ihren Wechsel in die industrielle Moderne war vor allem die Umgestaltung der Produktionsweise verantwortlich, welche wiederum den Kern des sozialen Wandels ausmachte.

Durch die Industrialisierung setzte sich ein Prozess in Gang, welcher durch die Entstehung neuer Techniken und durch den Einsatz von immer mehr Kapital neue Risiken entstehen ließ (vgl. R. SCHEU, 2009, S. 4).[4]

Risiken waren vorerst eher persönlicher Natur und stark an die soziale Lage gebunden. Aus diesem Grund waren existentielle Risiken, welche aus den Produktionsprozessen entstanden, wie beispielsweise Invalidität oder Arbeitslosigkeit reine Klassenrisiken.

Ein weiterer prägender Aspekt der ersten Moderne ist der Rückgang der tradierten Sozialformen, wie etwa den Familienstrukturen und religiösen Bindungen an Normen und Wertvorstellungen (U. BECK, 1986, S. 25).[5]

In diesem Zusammenhang beschreibt auch der Soziologe Karl Lenz die erste Moderne als „halbmoderne Gesellschaft“, welche die Ablösung traditioneller Kulturen durch industriegesellschaftliche Lebensformen zum Inhalt hatte (K. LENZ, 1998, S. 53).[6]

Ihre Legitimation bezog die erste Moderne in ihrer Entwicklung aus der Mangelbeseitigung, dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme, der Schaffung gesellschaftlichen Wohlstandes und der Ermöglichung individueller Freiheiten.

Diese zusätzliche Produktion eines „Mehr und Besser“ verursachte jedoch auch parallel zusätzliche Kosten in Form von systematisch mit produzierten Risiken und Gefährdungen. Deren Legitimation wurde ersetzt durch ihre Verharmlosung und Wegverteilung, so dass der Modernisierungsprozess weder behindert, noch die Grenzen des Zumutbaren überschritten wurden (U. BECK, 1986, S. 26).[7]

Die Logik der Reichtumsverteilung innerhalb der Wirtschafts-, Politik- und Wissenssysteme wurden jedoch mit der Zunahme großindustrieller Gefahrenlagen zusehends brüchiger (R. SCHEU, 2009, S. 5).[8]

2.1.2 Reflexive Gesellschaft- die zweite Modernisierung

Mit der reflexiven Gesellschaft oder der zweiten Moderne, sind allgemein die Anfänge des 21. Jahrhundert beschrieben.

Reflexive Modernisierung bedeutet nach Beck eine „Selbsttransformation der Industriegesellschaft“.

Bislang wurde Modernisierung als Befreiung aus den vorher traditionell gegebenen Zwängen gesehen.

Was geschieht wenn die Industriegesellschaft sich selbst zur Tradition wird? Dann wird die Moderne selbst zum Thema, sie wird reflexiv (U. BECK, 1991, S. 40).[9]

Dieser Wandel wird durch nicht beabsichtigte „Nebenfolgen“ der ersten Moderne ausgelöst und vorangetrieben. Es entwickelten sich Risikolagen, welche zeitlich und räumlich nicht mehr eingrenzbar waren.

In der Momentaufnahme der reflexiven Modernisierung konstituiert sich die Risikogesellschaft.

,,Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Modernisierung die ständisch verknöcherte Agrargesellschaft aufgelöst und das Strukturbild der Industriegesellschaft herausgeschält hat, löst Modernisierung heute die Konturen der Industriegesellschaft auf, und in der Kontinuität der Moderne entsteht eine andere gesellschaftliche Gestalt" (U. BECK, 1991, S. 14).[10]

Für Beck bedeutet Modernisierung zwar auch technologische Rationalisierungsschübe und die Veränderung von Arbeit und Organisation, jedoch umfasst Modernisierung für ihn darüber hinaus noch sehr viel mehr:

„Den Wandel der Sozialcharaktere und Normalbiographien, der Lebensstile und Liebesformen, der Einfluss- und Machstrukturen, der politischen Unterdrückungs- und Beteiligungsformen, Wirklichkeitsauffassung und Erkenntnisnormen . Der Ackerpflug, die Dampflokomotive und der Mikrochip sind im sozialwissenschaftlichen Verständnis von Modernisierung sichtbare Indikatoren für einen sehr viel tiefer greifenden, das ganze gesellschaftliche Gefüge erfassenden und umgestaltenden Prozess, in dem letztlich Quellen der Gewissheit, aus denen sich das Leben speißt, verändert werden“ (U. BECK, 1977; 1979, S. 25).[11]

In diesem Zusammenhang zeichnet sich die zweite Moderne außerdem durch eine Enttraditionalisierung aus. Dabei verschwinden die Traditionen nicht einfach, sondern sie verlieren ihre Selbstverständlichkeit.

Die Individuen in enttraditionalisierten Lebenswelten, sind gezwungen reflexiv zu werden und in ihrer Lebensführung biographisch zu denken. Anstelle von traditionellen Sicherheiten, tritt der individualisierende Zwang, Risiken und Chancen abzuwägen (K. LENZ, 1998, S. 51).[12]

Während in der ersten Moderne das Denken, sich an den Begriffen wie Industrie, Klassen, Männer- und Frauenrollen, Kleinfamilie oder Nationalstaat festhalten konnte, entstehen mit der Individualisierung ganz neue andersartige Identitäten, Beziehungsmuster, Politikstile und Verantwortungsformen.

2.2 Individualisierung als neuer Modus der Vergesellschaftung

Der Begriff Individualisierung taucht in unterschiedlicher Literatur unter verschiedenen Definitionen und Beschreibungen auf. Als Ausgangspunkt ist hier der theoretische Ansatz von Ulrich Beck gewählt. Sein gesellschaftstheoretischer Ansatz verweist deutlich auf veränderte Biographien. Zu dieser Grundlage werden Aussagen von Karl Lenz hinzugezogen.

Das soziale Leben der Menschen wird in den gegenwärtigen, weitentwickelten Gesellschaften durch Individualisierungsprozesse beeinflusst. Das Individuum wird zentraler Bezugspunkt für sich selbst und für die Gesellschaft (U. BECK, 1986, S, 7).[13]

Oder wie es Beck formulierte: „ Der oder die Einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen “ (U. BECK, 1986, S. 209).[14] Beck behauptet, dass sich in allen reichen westlichen Industrieländern seit den 1960er Jahren ein >> gesellschaftlicher Individualisierungsprozess << von bisher unbekannter Reichweite und Dynamik vollzogen hat und immer noch vollzieht. Für ihn ist die Individualisierung ein Kernbestandteil der reflexiven Moderne. Jenseits von Klasse und Stand ergibt sich in der Moderne eine neue Klassifizierung des Individuums, nämlich nach seiner Lebenslage und nach der Art, wie es sein Leben führt (H. ABELS, 2006, S: 225).[15]

Individualisierung werde oft mit Individuation, also Personenwerdung, Emanzipation oder Einmaligkeit assoziiert. Dies trifft jedoch nicht die Bedeutung des Begriffs „Individualisierung“ im Sinne von Beck. Genauso wenig meint Individualisierung Vereinzelung, Autonomisierung oder den Zerfall der Gesellschaft.

Er bezeichnet damit vielmehr die Auf- und Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen, durch jene in denen man die eigene Biographie selbst herstellen und inszenieren muss, ohne stabile sozialmoralische Milieus, die es durch die gesamte Industriemoderne gegeben hat (K. LENZ, 1998, S. 52).[16]

Er beschreibt ein allgemeines Modell der dreifachen Individualisierung und fasst dieses in den folgenden Dimensionen zusammen:

- eine "Freisetzungsdimension": die Herauslösung der Individuen aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhängen;
- eine "Entzauberungsdimension": Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitenden Normen und
- eine "Kontroll- und Reintegrationsdimension": eine neue Art der sozialen Einbindung durch Institutionen (U. BECK 1986, S.206)[17].

Die Individualisierungsthese von Beck bedeutet jedoch nicht, dass der Einzelne völlig zwanglos zwischen verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten seine Wahlen treffen könnte. Denn der Zerfall von traditionellen Vorgaben hinterlässt kein gesellschaftsfreies Vakuum, in welchem individuell, beliebiges Platz findet.

Beck beschreibt die Individuallagen, welche sich aus den traditionellen Verfestigungen lösen als institutionsabhängig. Damit möchte er deutlich machen, dass aus den ersten beiden Dimensionen (Freisetzungs- und Entzauberungsdimension) intensive Abhängigkeiten von neuen institutionellen Vorgaben entstehen (U. BECK, 1986 S. 210).[18]

Auch Lenz beschreibt ähnliches, indem er verdeutlicht, dass die Kontrollmacht an neue oder dominanter gewordene abhängige Institutionen abwandert.

Genannt seien der Arbeitsmarkt mit seinen Handlungsdirektiven, der Sozialstaat oder die Medien, welche den Individuen verschiedene Grenzen setzen und neue Standardisierung bewirken (K. LENZ, 1998, S. 52).[19]

In diesem Kontext beschreibt die Individualisierungsthese von Beck außerdem, dass das Individuum seine Wahlen zwischen den Entscheidungsmöglichkeiten immer unter Restriktionen zu treffen hat, welche mehrfach von außen (Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Konjunkturen, Moden etc.) erzwungen werden. Wobei Entscheidungen selten ohne Ambivalenzen und Zweifel getroffen werden können. Ausschlaggebend hierbei ist, dass überhaupt eine Alternative offen steht.

Das Resultat der Individualisierung ist, dass die Biografien selbst hergestellt werden müssen.

Lenz schlägt an dieser Stelle eine weitere Dimension als Ergänzung der aufgezeigten Dimensionen von Beck vor. Er spricht von einer „ Biografisierungs- und Zuschreibungsdimension “ (K. LENZ, 1998. 53).[20] Hier soll hervorgehoben und betont werden, „ dass die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird “ (U. BECK, 1986, S. 216).[21]

Lenz betont weiter, dass die eben genannte Dimension und die von Becks beschriebener Kontroll- und Reintegrationsdimension kein begrifflicher Widerspruch darstellt, sondern dass beide zum Individualisierungsprozess gehören. Sie bilden das „ widersprüchliche Doppelgesicht “ von Freiheit und Abhängigkeit (K. LENZ, 1998, S. 53).[22]

Biografisierungs- und Zuschreibungsdimension soll hier erklären, dass das Individuum gezwungen ist, sich als eigenes Planungsbüro zu begreifen, wobei der Einzelne gleichzeitig für die Konsequenzen aus seinen nicht getroffenen Entscheidungen aufkommen muss.

Demnach sind in der gegenwärtigen Gesellschaft bei der Konstruktion der eigenen Identität und der eigenen Biographie etliche risikoreiche Aspekte zu berücksichtigen.

Die Biographien werden auf Grund der Individualisierung selbstreflexiv. Die ehemals sozial vorgegebene Biographie wird in einem selbst hergestellten und herzustellenden Lebenslauf verwandelt (U. BECK/ E. BECK- GERNSHEIM, 1994, S. 216).[23]

Die Normalbiographie wird somit zur Wahlbiographie, zur >> Bastelbiographie <<. Für Beck enthält die Bastelbiographie immer auch Risiken für das Individuum, da es sich fortwährend in einem unterschwelligen Zustand der Dauergefährdung befindet (U. BECK/ E. BECK- GERNSHEIM, 1994, S. 25).[24]

2.3 Zusammenfassung

Zusammenfassend kann an dieser Stelle gesagt werden, dass die Individuen stark von den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Prozessen betroffen sind.

Der Einzelne ist in der heutigen, nach Beck genannten „Risikogesellschaft“ für sein Handeln und die daraus resultierenden Konsequenzen selbst verantwortlich. Der Mensch wird aus traditionellen Gegebenheiten herausgelöst und wird zu seinem eigenen Planungsbüro. Die Aufklärung von geglaubten Gewissheiten und der Verlust von Sicherheiten, die Rationalisierung der Arbeit und ungleiche Lebenslagen, Widersprüchlichkeit und Beliebigkeit politischer Legitimation haben die Gesellschaft zum Risiko gemacht. Das Individuum kann längst nicht mehr hoffen, dass sein Leben nach vorgegebenen Mustern verlaufen wird. Im Gegensatz dazu, sieht es sich gezwungen, in einer Gesellschaft, welche ihm keine feste Orientierungen mehr gibt, als Einzelner und dabei selbst zu entscheiden, wie es in seinem Leben weitergeht und wie es leben will. Damit steigen zwar die Wahlmöglichkeiten aber gleichzeitig auch das Risiko, falsche Entscheidungen zu treffen.

Individualisierung bedeutet demnach, die eigene Biographie und Identität kontinuierlich selbst herzustellen und zu konstruieren, was Chancen und Risiken beinhaltet.

III Identitätsentwicklung in der individualisierten Gesellschaft

Vorangehend wurden die Veränderungen in der individualisierten Gesellschaft aufgezeigt. Nun soll der wissenschaftlich theoretische Rahmen der Identitätsentwicklung, anhand drei Sozialisationstheorien nach Erikson, Keupp und Krappmann folgen. An erster Stelle dieses Kapitels steht die Begriffsdefinition von Identität.

3.1 Definition des Begriffs Identität

Aufgrund der erklärten gesellschaftstheoretischen Hintergründe wird hier eine Definition von Identität aufgezeigt, welche in diesem Kontext schlüssig ist.

Der Sozialpsychologe Heiner Keupp beschreibt Identität als einen subjektiven Konstruktionsprozess, in welchem das Individuum eine Passung von innerer und äußerer Welt sucht (H. KEUPP, 2008, S. 7).[25] Identität ist ein Projekt, das zum Ziel hat, ein individuell gewünschtes oder notwendiges „ Gefühl von Identität “ (sense of identity) zu erzeugen (H. KEUPP/ R. HÖFER, 1998, S. 34).[26]

Als Voraussetzung für dieses Gefühl nennt Keupp soziale Anerkennung und Zugehörigkeit. Der Mensch konstruiert seine eigene Identität nicht beliebig und unwiderruflich, sondern er setzt sie in Relation zu seinen tatsächlichen Lebensbedingungen.

Dazu ergänzend ist die Definition von dem Sozialpsychologen und Psychoanalytiker Hans Kilian zu nennen. Kilian definiert den Begriff der Identität als „ jene Struktur des Menschen (...), durch die das psychische mit dem gesellschaftlichen und das gesellschaftliche mit dem psychischen Leben vermittelt wird “ (H. KILIAN, 1971, S. 17).[27]

Nach dem deutschen Soziologen und Pädagogen Lothar Krappmann, wird Identität unter Beachtung von Interaktionsprozessen, als „ (...) Leistung, die das Individuum als Bedingung seiner Beteiligung an Kommunikations- und Interaktionsprozessen zu erbringen hat “, definiert (L. KRAPPMANN, 1971, S.207).[28]

An dieser Stelle wird deutlich, dass Identität von verschiedenen Autoren vielfältig definiert wird. Dabei bildet der Bezug der Definition einerseits auf die gesellschaftliche Situation und andererseits auf die Interaktionsprozesse eine Grundlage für die vorliegende Arbeit.

Identität bezieht sich auf unterschiedliche Lebensfelder, wie beispielsweise der Arbeit, der Familie oder der Kultur. Um diese Teilidentitäten in Balance zu bringen und aus mehreren Bausteinen eine Identität zu basteln, sind psychische, soziale und materielle Ressourcen nötig.

Interessant an diesem Punkt ist die nachfolgende Grafik, welche beleuchtet, dass die Identität auch dem Wandel der Gesellschaft unterworfen ist.

Abb. 1: Identität im Wandel

50er 60er 70er 80er 90er 2000er

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Barz, Kampik, Singer& Teuber (2001), Neue Werte, neue Wünsche. Future Values.

Die obige Grafik macht noch einmal die Veränderungen von Identität im Kontext der individualisierten Gesellschaft deutlich.

„(...) Identitätsbildung in der Spätmoderne (...) ist eine aktive Leistung der Subjekte, die zwar risikoreich, aber auch die Chance zu einer selbstbestimmten Konstruktion enthält“ (H. KEUPP, 2008, S.7).[29]

Ein wichtiges Modell zum Verständnis der Identitätsentwicklung stammt von dem Psychoanalytiker Erik Erikson (1902- 1994) (C. HÖLZLE, 2009, S. 36).[30] Hier ist kritisch anzumerken, dass das klassische Modell von Erikson in der Identitätsforschung in Frage gestellt wird (vgl. H. KEUPP, 2008, S. 25).[31]

Erikson „ hat ein theoretisches Modell entworfen, an dem man sich abzuarbeiten hat. Auf den Schultern des Riesen stehend lässt sich dann gut fragen, ob seine Antworten auf die Identitätsfrage ausreichen, ob sie vor allem in den Dynamiken einer sich veränderten gesellschaftlichen Großwetterlage ihre Passform behalten oder ob sie differenziert und weiterentwickelt werden müssen“ (H.KEUPP, 2008, S. 26).[32]

Im nächsten Punkt wird Eriksons Entwicklungstheorie beschrieben, um anschließend der Kritik Keupps nachgehen zu können.

3.2 Identitätsentwicklung nach Erik Erikson

Erikson öffnet den Blick für die sozialen Bedingungen der Entwicklung von Identität. Er verbindet seine Entwicklungstheorie der Identität mit einer Sozialisationstheorie und beschreibt die Identitätsentwicklung als Stufenmodell, bei welchem in verschiedenen Altersstufen unterschiedliche Entwicklungsaufgaben bearbeitet und gelöst werden müssen (vgl. H. ABELS, 2006, S. 271).[33] Dabei greift er die Phasentheorie Sigmund Freuds - dem Begründer der Psychoanalyse - auf und entwickelt es weiter, sodass ein detailliertes und umfassendes Lebenszyklus- Modell entsteht (K. J. TILLMANN, 2006, S. 216).[34]

Für Erikson ist Identität das Bewusstsein des Individuums von sich selbst und die Kompetenz der Meisterung des Lebens. Seine Vorstellung von Ich-Identität steht für Kontinuität, Gleichheit und Kohärenz. Die Grundannahme Erikson ist, dass Identität nicht allein aus dem Individuum entsteht, sondern auch kulturell und sozial konstruiert wird (H. ABELS, 2006, S. 271).[35]

Er begreift die psychosoziale Entwicklung als Wachstumsprozess auf der Basis lebensphasenspezifischer Krisen oder Kernkonflikte. Dabei ist es für eine gesunde Entwicklung notwendig, dass die thematischen Konflikte auf einer bestimmten Stufe ausreichend bearbeitet werden, um ein Gefühl der Ich- Stärke entwickeln und die nächste Stufe erfolgreich bewältigen zu können (H. ABELS, 2006,S. 273 ff.).[36] Jede Stufe kommt zu ihrem Höhepunkt, tritt in ihre kritische Phase und erfährt ihre bleibende Lösung. Die bleibende Lösung besteht in einer bestimmten Grundhaltung des Individuums zu sich selbst und zu seiner Umwelt. Diese Grundhaltung beschreibt Erikson auch als „ Ich Qualität “. Diese sagt etwas über die relative psychosoziale Gesundheit des Menschen aus. Die Stufenfolge in Eriksons Modell ist generell gültig und unumkehrbar, wobei die Altersangaben nur ungefähre Richtwerte darstellen.

Die Adoleszenz ist nach Eriksons Entwicklungstheorie, das vorherrschende Thema bei der Suche nach Identität. Denn dort verlässt der Heranwachsende allmählich primäre, gemeinschaftliche Beziehungen und bereitet sich auf zweckgerichtete, gesellschaftliche Beziehungen vor. Die Frage: „Wer bin ich?“ und „wer will ich sein“? wird im Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter oft experimentell erprobt, indem Jugendliche in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche „Selbste“ ausprobieren.

3.2.1 Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson

Erikson unterscheidet acht Phasen im Lebenszyklus, in denen jeweils eine spezifische Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ gegeben wird.

Diese werden im Folgenden vorgestellt.

3.2.1.1 Die ersten vier Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“

Die psychische Entwicklung in den ersten vier Lebensphasen erklärt Erikson ähnlich wie Freud. Erikson stellt jedoch hierbei schon den Bezug des Kindes zur sozialen Umwelt her. Dabei verlagert er den Akzent der Psychoanalyse von den Bedingungen, die das individuelle Ich lähmen, auf die Frage nach den Wurzeln des Ich in der Gesellschaft (E. ERIKSON 1950a, S. 11 zit. in. H. ABELS, 2006, S. 275).[37] Die Stufen der Ich- Stärke, die Erikson dabei erklärt, sind psychische und soziale Qualitäten des Kindes, da sich die psychische und die psychosoziale Entwicklung wechselseitig bedingen.

- Erste Phase: „Ich bin was man mir gibt.“

Die erste Phase nimmt das Säuglingsalter in den Blick. Erikson überschreibt diese mit der Aussage: „Ich bin, was man mir gibt.“ Der Kerngedanke liegt dabei darin, dass der Säugling komplett von der Mutter abhängig ist. Die psychosoziale Krise, welche der Säugling erlebt, ist die Erfahrung, dass die Befriedigung seiner Bedürfnisse nicht kontinuierlich oder nicht immer ausreichend erfolgt. Die dabei entstehende Ungewissheit, ob, wann und wie diese Befriedigung erfolgt, kann sich zu einem Gefühl des Misstrauens und der Resignation verdichten. Im Gegenzug führt die Erfahrung einer regelmäßigen und liebevollen Zuwendung zu einem Gefühl des Vertrauens. Diese Grundhaltung bezeichnet Erikson als Urvertrauen. Der Konflikt der in dieser ersten Lebensphase entsteht ist der zwischen Misstrauen und Urvertrauen. Die Ich- Stärke dieser ersten Phase, welche den ersten Ansatz einer gelingenden Identität bildet, nennt Erikson Hoffnung (H. ABELS, 2006, S. 275).[38]

- Zweite Phase: „Ich bin, was ich will.“

Die zweite Phase beschäftigt sich mit dem Kleinkindalter. Im Kind entwickelt sich auf die Frage, wer es ist, die Antwort: „Ich bin, was ich will.“ Das Kleinkind lernt Gegenstände zu greifen und festzuhalten. Dieser Prozess gelingt nicht immer. Fallen dem Kind die Dinge zu Beginn noch aus der Hand begreift es allmählich, dass die Kunst, sie festzuhalten und loszulassen, von seinem Willen abhängig ist. Auch die Bewegung des Kindes ist nun gewollt, indem es anfängt zu krabbeln und seine Umgebung erkundet. Es ist die Lebensphase in der die Eltern beginnen das Kind zu fordern. Hierbei denkt Erikson an die Erwartungen der Eltern, dass ihr Kind lernt, etwas zu können und zu wollen, was es können soll (H. ABELS, 2006, S. 276).[39]

Die Krise in dieser Phase entsteht in dem Missverhältnis zwischen den Forderungen, die an das Kleinkind gestellt werden, und dem was es tatsächlich schon kann. Dabei entscheidet sich, ob die Grundhaltung zur Autonomie oder zu einem Gefühl von Scham und Selbstzweifel ausschlägt. Die Grundstärke in der zweiten Phase ist der Wille.

- Dritte Phase: „Ich bin, was ich mir vorstellen kann.“

In der dritten Phase, weiß das Kind nun sicher, dass es ein Ich ist. Es muss jetzt herausfinden, was für eine Art von Person es werden will. Das Kind lernt sich freier zu bewegen, wobei sich gleichzeitig sein Sprachvermögen ausweitet. Bewegung und Sprache erweitern seine Vorstellungswelt (vgl. E. ERINKSON 1950b, S. 87 in H. ABELS, 2006, S. 276).[40]

Das Alter in dieser Phase, ist die Zeit der unendlichen Wissbegier und des immer neuen Messens und Vergleichens mit den Eltern. In der Phantasie des Kindes versetzt es sich an die Stelle der Eltern und spielt dabei auch sexuelle Bedürfnisse durch. Freud nennt diese Entwicklungsstufe infantil- genitale Phase. In diesem Abschnitt kommt es zu einer libidinösen Beziehung zu den Eltern. Diese geht aber mit dem unbewussten Gefühl einher, dass eine solche Beziehung nicht legitim ist. Das Kind fühlt sich in dieser Phase so mächtig, dass es sich sogar zutraut mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil um die Gunst des anderen Elternteils zu rivalisieren. Gleichzeitig lauert hinter diesen Allmachtsphantasien die elementare Angst vor der Rache des Rivalen. Es kommt zu einem Konflikt zwischen sexuellen Bedürfnissen und kulturell zugelassenen Befriedigungen.

Kinder drängen in dieser Phase mit „nervenden“ Fragen in das Ohr der Eltern, werden körperlich aggressiv oder malen sich aus, wie sie sich über andere stellen könnten, um das eigene Ich größer erscheinen zu lassen. Bei dem Wunsch, das eigene Ich groß zu denken, entsteht auch das Gefühl andere dabei zu verletzen. Dabei erfahren es Kinder schmerzlich am eigenen Leibe, wenn die im Spiel mit Gleichaltrigen auf deren ähnlich motivierte Handlungen und Phantasien treffen. Der Konflikt im Spielalter wird aus diesem Grund mit Initiative gegen Schuld beschrieben. Die positive Ich- Qualität besteht darin, sich das soziale Zulässige vorzunehmen und das Falsche zu unterlassen. Die Grundstärke, die sich in dieser Phase ausbildet ist die Zielstrebigkeit.

[...]


[1] Abels Heinz: Identität: Über die Entstehung des Gedanken, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden, VS Verlag, 2006, S. 45

[2] Matthias Junge: Individualisierung, Frankfurt am Main, Campus Verlag,2002, S. 10.

[3] Ulrich Beck: Risikogesellschaft , Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 14.

[4] vgl. Rainer Scheu: Die Risikogesellschaft heute: Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit risikosoziologischer Implikationen, München, Grin Verlag, 2009, S. 4

[5] Ulrich Beck: Risikogesellschaft , Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 25

[6] Karl Lenz: Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al., Jugendarbeit als Lebensort, S. 53

[7] Ulrich Beck: Risikogesellschaft , Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 26

[8] Rainer Scheu: Die Risikogesellschaft heute: Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit risikosoziologischer Implikationen, München, Grin Verlag, 2009, S. 5

[9] Beck, Ulrich (1991): Der Konflikt der zweiten Moderne. In: Wolfgang Zapf (1991): Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 40

[10] Ebd. S. 14

[11] Ulrich Beck, s. 25, zit. n. Kosellek 1977, Lepsius 1977, Eisenstadt 1979

[12] Karl Lenz: Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al., Jugendarbeit als Lebensort, S. 51

[13] Ebd. S. 7

[14] Ulrich Beck: Risikogesellschaft , Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 209

[15] Heinz Abels: Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht zu leicht verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, VS Verlag, Wiesbaden, 2006, S. 225

[16] Karl Lenz: Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al., Jugendarbeit als Lebensort, S. 52

[17] Ebd., S. 206

[18] Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft , Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 210

[19] Karl Lenz: Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al., Jugendarbeit als Lebensort, Juventa Verlag, Weinheim und München, 1998, S. 52

[20] Karl Lenz: Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al., Jugendarbeit als Lebensort, S. 53

[21] Ulrich Beck: Risikogesellschaft , Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 216

[22] Karl Lenz: Zur Biografisierung der Jugend in: Lothar Böhnisch et al., Jugendarbeit als Lebensort, S. 53

[23] Ulrich Beck/ Elisabeth Beck- Gernsheim: Riskante Freiheiten, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1994, S. 216

[24] Ebd. S. 13

[25] Heiner Keupp u.a: Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2008, S. 7

[26] Heiner Keupp, Renate Höfer: Identitätsarbeit heute: Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1998, S. 34

[27] Hans Kilian: Das enteignete Bewusstsein: Zur dialektischen Sozialpsychologie, Luchterhand Verlag, Neuwied am Rhein, 1971, S. 17

[28] Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, Ernst Klett Verlag, Stuttgart, 1971, S. 207

[29] Heiner Keupp u.a: Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2008, S. 7

[30] Christina Hölzle, Irma Jansen: Ressourcenorientierte Biographiearbeit: Grundlagen- Zielgruppen- Kreative Methoden, VS Verlag, Wiesbaden, 2009, S. 36

[31] Vgl. Heiner Keupp u.a: Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2008, S. 25

[32] Ebd. S. 26

[33] Abels Heinz: Identität: Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht zu leicht verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, VS Verlag, Wiesbaden, 2006, S. 271

[34] Klaus- Jürgen Tillmann: Sozialisationstheorien: Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung, Rowohlts Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2006, S. 216

[35] Ebd.

[36] Ebd. S. 273

[37] Ebd. S. 275

[38] Abels Heinz: Identität: Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht zu leicht verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, VS Verlag, Wiesbaden, 2006, S. 275

[39] Ebd. 276

[40] Ebd. S. 276

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2010
ISBN (eBook)
9783842802186
Dateigröße
674 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main – Gesundheit und Soziales, Studiengang Sozialpädagogik
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
entwicklung individualisierung kulturpädagogik erikson keupp
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Titel: Biographie und Identität
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