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Identität und Transformation

Die integrative Wirkung einer kollektiven Identität

©2008 Diplomarbeit 143 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‚Identität und Transformation’ lautet das Thema der vorliegenden Arbeit. Dabei gilt es zu klären, welche integrative Wirkung eine kollektive Identität besitzt und welche Rolle der Idee der ‚Nation’ als integrierender Kraft in den neuformierten postsowjetischen Gesellschaften dabei zukommt. Die zugrundeliegende Fragestellung der in den Kapiteln über Identität, Nation und Transformation behandelten Thematik lässt sich in folgende Fragen fassen: Was ist Identität und welche Rolle spielt sie beim Transformationsprozess? Wie ist der Beitrag nationaler Identitätsangebote zur Herausbildung einer kollektiven Identität zu bewerten? Braucht eine erfolgreiche Transformationsgesellschaft eine nationale Identität?
Gegenstand dieser Arbeit ist demnach eine analytische Darstellung des für den Transformationsprozess im postsowjetischen Raum relevanten Faktors ‚Identität’. Die kollektive Identität, die in den Nationalbewegungen zum Ausdruck kam und der Idee der ‚Nation’ prinzipiell zu eigen ist, war ein wesentlicher Faktor für den Zusammenbruch der Sowjetunion und ist auch jetzt noch ein wesentlicher Parameter bei der Untersuchung, wie erfolgreich der Transformationsprozess in den einzelnen Ländern verlaufen ist. Bevor die zentralen Annahmen und Thesen dieser Arbeit vorgestellt werden, soll zunächst die Methodik, und anschließend die Vorgehensweise erläutert werden. Die Annahmen und Thesen sind in dieser Arbeit als das tragende Gerüst zu verstehen, an denen sich der Autor entlang hangelt, immer in dem Bewusstsein, dass die Arbeit zu zerfasern droht, wenn der einmal eingeschlagene Gedankengang nicht mit Disziplin weiterverfolgt wird. Da sie die gedankliche Essenz der Kapitelinhalte sind, werden sie auch entsprechend oft wiederholt.
In dieser Arbeit wird ein kulturwissenschaftlich-hermeneutischer Ansatz verwendet, der bewusst versucht die Frage der ‚Politischen Kultur’ im Transformationsprozess nicht auszuklammern. Die Frage nach der Identität der Bevölkerung verlangt einen derartigen Ansatz. Die zentrale Frage der politischen Kulturforschung ist die nach der Stabilität und Konsolidierung der Demokratie. Deshalb ist zu fragen, in welchem Maße endogene Faktoren, resultierend aus der eigenen gewachsenen historischen Kultur eines Landes, in der Lage sind, zu dieser Konsolidierung im Transformationsprozess beizutragen. ‘Die Untersuchung von Kultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1 Identität
1.1 Relevanz des Faktors ‚Identität’
1.2 Annäherung an den Begriff ‚Identität’
1.3 Der Bedarf nach einer kollektiven Identität
1.4 Bildung von Wir-Gruppen
1.5 Identitätsstiftung in der Sowjetunion
1.5.1 Patriotische Sinnstiftung als Integrationsfaktor
1.5.2 Forcierte Industrialisierung als Integrationsfaktor
1.5.3 Der ‚Große Vaterländische Krieg’ als Integrationsfaktor
1.6 Identitätssuche nach dem Zerfall der Sowjetunion
1.6.1 Patriotischer Konsens in Russland
1.6.2 Orthodoxer Patriotismus als Element der russischen Identität
1.6.3 Identitätssuche in den postsowjetischen Republiken
1.6.4 Nationalstaatsbildung in der Ukraine
1.6.5 Schaffung einer neuen Regionalidentität am Beispiel Transnistriens

2 Der Begriff der ‚Nation’
2.1 Der Nationalstaat als politisches Ordnungsmuster
2.2 Positive Integration durch das Konzept des Nationalstaates
2.3 Chauvinistischer Nationalismus als Schattenseite der positiven Integrationskraft der Idee der ‚Nation’
2.4 Exkurs: Negative gesellschaftliche Mobilisierung
2.5 Der Unterschied zwischen dem westlichen und dem östlichen Nationenbegriff

3 Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion
3.1 Inoffizieller Nationalitätenvertrag
3.2 Gezielte Industrieansiedlungen als Teil der Nationalitätenpolitik
3.3 Folgen der Nationalitätenpolitik: Nationale Identität als Aufbruchsmoment und Ursache für den Zerfall der Sowjetunion

4 Transformation
4.1 Annäherung an den Begriff der ‚Transformation’
4.2 Transformationstheorien
4.2.1 Systemtheorien
4.2.2 Strukturtheorien
4.2.3 Kulturtheorien
4.2.4 Akteurstheorien
4.2.5 Theoriesynthese

5 Transformation in Osteuropa
5.1 Grundproblematik
5.1.1 Die Unvergleichlichkeit des Systemwechsels von 1989
5.1.2 Das Dilemma der Gleichzeitigkeit
5.2 Prinzipielle Problemfelder bei der Transformation im postsowjetischen Raum
5.2.1 Geographische Gegebenheiten
5.2.2 Mächtiger Staat und passive Gesellschaft
5.2.3 Privilegierte Eliten und geknechtete Unterschichten
5.2.4 Die Welt der Bauern und die Welt der Städte
5.2.5 Russen und Nichtrussen
5.2.6 Extensivität und verzögertes Wirtschaftswachstum
5.2.7 Heiliges Russland und orthodoxe Staatskirche
5.2.8 Hochkultur und Volkskultur
5.2.9 Europa und Asien
5.3 Transformation des politischen Systems
5.3.1 Transformation des Herrschaftsmodells
5.3.2 Transformation zu scheindemokratischen Herrschaftsmodellen
5.3.3 Die Handlungslogik der Ein-Mann-Regime
5.3.4 Die Zerstörung des gesellschaftlichen Pluralismus
5.4 Transformation der Ökonomie

Schluss

Literatur

Einleitung

‚Identität und Transformation’ lautet das Thema der vorliegenden Arbeit. Dabei gilt es zu klären, welche integrative Wirkung eine kollektive Identität besitzt und welche Rolle der Idee der ‚ Nation’ als integrierender Kraft in den neuformierten postsowjetischen Gesellschaften dabei zukommt. Die zugrundeliegende Fragestellung der in den Kapiteln über Identität, Nation und Transformation behandelten Thematik lässt sich in folgende Fragen fassen: Was ist Identität und welche Rolle spielt sie beim Transformationsprozess? Wie ist der Beitrag nationaler Identitätsangebote zur Herausbildung einer kollektiven Identität zu bewerten? Braucht eine erfolgreiche Transformationsgesellschaft eine nationale Identität?

Gegenstand dieser Arbeit ist demnach eine analytische Darstellung des für den Transformationsprozess im postsowjetischen Raum relevanten Faktors ‚ Identität’. Die kollektive Identität, die in den Nationalbewegungen zum Ausdruck kam und der Idee der ‚ Nation’ prinzipiell zu eigen ist, war ein wesentlicher Faktor für den Zusammenbruch der Sowjetunion und ist auch jetzt noch ein wesentlicher Parameter bei der Untersuchung, wie erfolgreich der Transformationsprozess in den einzelnen Ländern verlaufen ist. Bevor die zentralen Annahmen und Thesen dieser Arbeit vorgestellt werden, soll zunächst die Methodik, und anschließend die Vorgehensweise erläutert werden. Die Annahmen und Thesen sind in dieser Arbeit als das tragende Gerüst zu verstehen, an denen sich der Autor entlang hangelt, immer in dem Bewusstsein, dass die Arbeit zu zerfasern droht, wenn der einmal eingeschlagene Gedankengang nicht mit Disziplin weiterverfolgt wird. Da sie die gedankliche Essenz der Kapitelinhalte sind, werden sie auch entsprechend oft wiederholt.

In dieser Arbeit wird ein kulturwissenschaftlich-hermeneutischer Ansatz verwendet, der bewusst versucht die Frage der ‚Politischen Kultur’ im Transformationsprozess nicht auszuklammern. Die Frage nach der Identität der Bevölkerung verlangt einen derartigen Ansatz. Die zentrale Frage der politischen Kulturforschung ist die nach der Stabilität und Konsolidierung der Demokratie. Deshalb ist zu fragen, in welchem Maße endogene Faktoren, resultierend aus der eigenen gewachsenen historischen Kultur eines Landes, in der Lage sind, zu dieser Konsolidierung im Transformationsprozess beizutragen. „Die Untersuchung von Kultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen, nicht aber darin, den Kontinent Bedeutung zu entdecken und seine unkörperliche Landschaft zu kartographieren.“[1]

Stefan Garsztecki ist prinzipiell beizupflichten, wenn er feststellt, dass „gut 10 Jahre nach dem Beginn der Transformation [...] der Faktor Kultur in vergleichenden Studien allmählich in den Mittelpunkt rückt“[2]. Dies lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass der Kulturbegriff und das Konzept der politischen Kultur im Rahmen der Transformationsforschung einzig und allein darüber entscheidet, welche Aussagen sich über die „demokratische Ausgestaltung, die Konsolidierung einer demokratischen Zivilgesellschaft, [...] die Permanenz der Demokratie“[3] treffen lassen. Der Siegeszug des rational-choice-Ansatzes scheint also zugunsten von kulturwissenschaftlich-hermeneutischen Ansätzen vorerst gestoppt zu sein. Gerade beim Vergleich der unterschiedlichen Transformationserfolge ist der kulturwissenschaftliche Ansatz von großer Bedeutung. Aus diesem Grund wurde auch der Faktor ‚ Identität’ ausgewählt, um als Variable bei der Untersuchung des Transformationsprozesses zu fungieren.

Dementsprechend zu dem weitgefassten Zugang zum Transformationsprozess ist die Literaturauswahl in dieser Arbeit auch interdisziplinär und versucht möglichst verschiedenen Aspekte und Sichtweisen des Transformationsprozesses zu berücksichtigen. Der Zeitschrift OSTEUROPA kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu, denn sie versteht sich als eine „interdisziplinäre Monatszeitschrift zur Analyse von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeschichte in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa“[4], entsprechend dem Ansatz dieser Arbeit. Klaus Mehnert, der Namensgeber des Kaliningrader Europa-Institutes, leitete die Zeitschrift zwischen 1951 und 1975. Sein interdisziplinärer Ansatz spiegelt sich im Europa-Institut Klaus Mehnert in Kaliningrad sowie in der Zeitschrift OSTEUROPA. Die Auswertung der Erscheinungen der letzten 15 Jahre in Bezug auf Artikel zum Thema ‚ Identität’ nimmt einen großen Stellenwert in dieser Arbeit ein. Herauszuheben aus der verwendeten Literatur ist noch Georg Elwerts Beitrag zur Bildung von Wir-Gruppen und zur Entstehung von Nationalbewusstsein.[5] Dadurch gelang es die Verbindung zwischen einer kollektiven Identität und dem in den postsowjetischen Staaten entstehenden Nationalbewusstsein zu ziehen. Im Kapitel zur ‚ Transformation’ waren besonders das Lehrbuch von Wolfgang Merkel[6] hilfreich, bei der Untersuchung der Transformation in Osteuropa sind Andreas Kappeler[7], Uwe Halbach[8] und Peter W. Schulze[9] als die wesentlichen Impulsgeber zu nennen.

Ohne tiefer in die unterschiedlichen Ansätze zu Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, zu normativ-ontologischer, historisch-dialektischer und empirisch-analytischer Schule eingehen zu wollen, muss beachtet werden, dass es sich bei Begriffen wie ‚ Transformation’, ‚ Identität’, ‚ Integration’, ‚ Nation’ oder anderen um gedankliche und sprachliche Konstrukte handelt, die keine Abbildung in der Realität haben. Es sollte also prinzipiell ein Gespür dafür vorhanden sein, dass das Medium Sprache Wirklichkeit konstruiert. In der modernen Nationalismustheorie spricht man inzwischen von der ‚ Erfindung der Nation’ und spielt dabei auf die Rolle der Eliten als Geburtshelfer beim sogenannten ‚ nationalen Erwachen’ von Nachzüglergesellschaften an.[10] Grundsätzlich gilt, dass Wissenschaft stets nur ein Abbild der Realität ist. Sämtliche Klassifikationsversuche sind im Grunde Versuche der Welt eine Struktur zu geben; die Sprache erfüllt in der heutigen Welt ganz wesentlich eine Benennungs- und Klassifizierungsfunktion. Sprache strebt danach, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Zufall und Kontingenz zu leugnen und zu unterdrücken. Ambivalenz ist ein Nebenprodukt der Arbeit der Klassifikation. Ambivalenzen sollen aber vermieden werden, um die Ordnung des Gedankengebäudes aufrecht zu erhalten und Unbehagen zu vermeiden. Nach Zygmunt Bauman besteht die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens darin, „Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte“[11]. Die vorliegende Arbeit möchte aber genau dieses vermeiden, und stattdessen Ungenauigkeiten in geringem Umfang zulassen, da es unmöglich ist sie auszuschließen. Mit diesem kurzen gedanklichen Ausflug sollte lediglich auf die Schwierigkeit des Themas ‚Identität und Transformation’ mit derartig abstrakten Begriffen hingewiesen werden, da sich hinter den Begriffen Vorstellungswelten verbergen, die nie vollständig zu fassen sind; entstehende Unschärfen sind daher nicht beabsichtigt, sondern einfach unvermeidbar und erfüllen auch einen gewissen Zweck, da es illusorisch ist, die Komplexität der Welt mit wenigen Worten fassbar zu machen. Mit diesem Ansatz soll der Tendenz in der Politikwissenschaft entgegengewirkt werden, Typologien zu entwickeln, dabei den Kontakt zum Gegenstand zu verlieren und am Ende nichts mehr erklären zu können.

Naturgemäß stellen sich Unschärfen dadurch ein, dass die zitierten Autoren die Begriffe unterschiedlich definieren und verwenden, besonders schwierig wird es, wenn Begriffe aus dem Englischen übersetzt werden. Dennoch soll zu Beginn der Kapitel über ‚ Identität’ und ‚ Transformation’ versucht werden, die Spannweite dieser Begriffe darzustellen, sie zu definieren und damit ihren Bedeutungsgehalt zu begrenzen. Dennoch soll in einem ersten Schritt versucht werden, sich dem Phänomen ‚Identität’ zu nähern (Kapitel 1.1 & 1.2). Aus den individuellen Vorstellungen von Identität entsteht eine kollektive Identität, die das Bewusstsein einer Großgruppe bestimmt. In Kapitel 1.3 wird zu ergründen versucht, warum das Bedürfnis nach einer kollektiven Identität besteht. Demnach gilt es zu unterscheiden zwischen einer individuell-psychologischen und einer kollektiven Identität. Diese stehen jedoch in einem Wechselverhältnis zueinander, auf das später noch eingegangen wird. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten sich aus zahlreichen Faktoren neue Wir-Gruppen, die einer kollektiven Identität bedurften (Kapitel 1.4). Eine kollektive Identität, so die erste zentrale These der vorliegenden Arbeit, ist eine der Voraussetzungen für ein funktionierendes Gemeinwesen, da durch sie die notwendige gesellschaftliche Integration und Mobilisierung geleistet werden kann. Sie liefert den Kitt für die gesellschaftliche Kohäsion, verhindert einen Zerfall des Staatswesens gleichermaßen wie seine Integration in andere Staaten und die damit verbundene Selbstauflösung. Eine gemeinsame Identität setzt eine gemeinsame Interpretation geschichtlicher Ereignisse, gemeinsame Zukunftserwartungen und als Grundlage dessen eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Medien voraus, in denen eine Artikulation der gemeinsamen Vorstellungen stattfindet und kontroverse Aspekte entsprechend diskursiv abgebildet werden. Somit umfasst Identität im Sinne der vorliegenden Arbeit die drei Bereiche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine kollektive Identität hat also gewisse Voraussetzungen, die entweder schon vorhanden sind oder erst konstruiert werden müssen. Nach der Implosion der Sowjetunion und dem Wegfall ihrer legitimitätsstiftenden Ideologie und ihrer integrierenden Faktoren (Kapitel 1.5) setzte in der postsowjetischen Phase die Suche nach einer neuen kollektiven Identität in den neuentstandenen Republiken ein (Kapitel 1.6).

Die zweite These lautet, dass die zentrale Einheit, die kollektive Identität schafft, die Nation ist. Damit ist die Nation eine wesentliche Ressource im Transformationsprozess. Diesem Gedankengang wird im zweiten Kapitel nachgegangen. Nachdem zunächst erklärt werden soll, was unter dem Begriff der ‚ Nation’ verstanden werden soll, soll das Konzept des Nationalstaates als politisches Ordnungsmuster (Kapitel 2.1) beschrieben werden. In Kapitel 2.2 wird darauf aufbauend auf die Integration dieses Konzeptes eingegangen. Negative Mobilisierung findet oftmals durch einen Rückgriff auf einen chauvinistisch ausgelegten Nationalstaatsgedanken statt. Bei der Literaturdurchsicht drängte sich fast der Eindruck auf, dass die beide Integrations- und Mobilisierungskonzepte so eng miteinander verbunden sind, das eine trennscharfe Unterscheidung fast unmöglich ist. Aus diesem Grund wird in Kapitel 2.3 das Konzept der negativen Mobilisierung in einem Exkurs behandelt. Der dadurch entstehende Nationalismus muss sicher als negativer Teilaspekt der positiven Integrationsleistung der Idee der ‚ Nation’ gelten. Die anderen Voraussetzungen auf die der Nationalstaatsgedanke in Osteuropa mit seiner sehr viel heterogeneren Bevölkerungsstruktur als in Westeuropa trifft, sind unter anderem Gegenstand der Betrachtung im Kapitel 2.4. Den Abschluss des Kapitels zur Nation bilden darauf aufbauend Überlegungen zum Unterschied zwischen de westlichen und dem östlichen Nationenbegriff in Kapitel 2.5. Das relativ kurze dritte Kapitel ist der Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion gewidmet. Diese Nationalitätenpolitik ist hauptverantwortlich für die ‚Explosion des Ethnischen’ ab Mitte der 80er Jahre. Nachdem erläutert wurde, worin der Ansatz dieser Politik grundsätzlich bestand, macht es sich Kapitel 3.1 zur Aufgabe den inoffiziellen Nationalitätenvertrag auszuführen, der die regionalen Eliten bewusst förderte. Gezielte Industrieansiedlungen durch die zentral koordinierte Planwirtschaft vergrößerten die Heterogenität in der Bevölkerungsstruktur (Kapitel 3.2). Auch diese Politik kann damit als ein Element der Nationalitätenpolitik gelten, da durch sie ortsfremde russischsprachige Kader auch an der Peripherie des Imperiums angesiedelt werden konnten. Dieses Gemisch aus den nationalisierenden lokalen Eliten[12] und den ortsfremden sowjetisch sozialisierten Industriekadern, war die Grundlage für das Brodeln in der Perestrojka-Phase und das Hochkochen Anfang der 90er Jahre als der vermeintliche ‚melting pot’ Sowjetunion sich als Völkergefängnis entpuppte und durch die ‚Explosion des Ethnischen’ der Sowjetführung um die Ohren flog (Kapitel 3.3).

Die territoriale Neuordnung nach der Implosion der Sowjetunion führte zur Schaffung von Nationalstaaten. Dies ist neben der politisch-institutionellen und ökonomischen Neuausrichtung der dritte Aspekt im Transformationsprozess. Deshalb wird auf die Neugliederung der ehemaligen Sowjetunion in Nationalstaaten als Teilaspekt postsowjetischer Transformation verstärkt in dieser Arbeit geachtet werden. Das Integrationskonzept über die Idee der ‚ Nation’ die Gesellschaft zu integrieren, war zwar in Westeuropa sehr erfolgreich – auch wenn es für zwei Weltkriege mitverantwortlich war – trifft in Osteuropa aber auf ganz andere Voraussetzungen, da die Bevölkerungsstruktur viel heterogener ist. Stattdessen müssen in Osteuropa Integrationskonzepte zum Tragen kommen, die die kollektive Identität in einem größeren Zusammenhang sehen, in einer gemeinsamen politischen Vision, in der Menschenrechte und Demokratie fester Bestandteil sind.

Die Untersuchung der Transformation in den ehemals realsozialistischen Staaten Osteuropas erfolgt im fünften Kapitel der Arbeit. Zuvor sollen im vierten Kapitel verschiedene Transformationstheorien vorgestellt werden und bezüglich ihrer Brauchbarkeit für die Analyse der Transformation in Osteuropa hinterfragt werden: Was können sie erklären und was nicht? Nach diesem eher allgemeineren Zugängen wird versucht, die Transformation in Osteuropa in wenigen Kapiteln fassbar zu machen. Eine empirische Darstellung des Transformationsprozesses der relevanten Länder kann nicht erfolgen, eher soll ein problemorientierter analytischer Aufriss einiger Faktoren erfolgen. Als erstes soll das Spezifische des Prozesses in den 90er Jahren in den osteuropäischen Ländern illustriert werden, danach prinzipielle Spannungsfelder, die sich aus historisch-kulturell-geografischen Daten ergeben, dargestellt werden, bevor in einem letzten Schritt der Ablaufprozess ebenso wie die verschiedenen Ebenen der Transformation schlaglichtartig beleuchtet werden.

Der Teil der Arbeit der sich dem Phänomen der ‚ Transformation’ widmet, wird grundsätzlich von folgenden Fragen strukturiert werden:

1. Was soll unter Transformation verstanden werden? Gibt es überhaupt das große Paradigma ‚ Transformation’ auf das sich alle Transformationsforscher als einheitlichen Untersuchungsgegenstand stützen können oder ist Transformation nicht ein konturloser Begriff unter dem sich alles und jedes fassen lässt, jegliche Systemwechsel in beliebigen politischen Systemen auf der ganzen Welt unbestimmt in Dauer, Intensität, Richtung und Ausgangssituation (Kapitel 4.1)?
2. Welche theoretischen Zugänge wurden grundsätzlich entwickelt, um Transformationsprozesse besser analysieren und verstehen zu können? Vor welchem Hintergrund wurden sie entwickelt und was für ein Erklärungspotential bergen sie zum besseren Verständnis der Transformation in Osteuropa (Kapitel 4.2)?
3. Auf Grundlage dieser Bestandsaufnahme erfolgte eine genauere Analyse des Transformationsprozesses in Osteuropa (Kapitel 5). Zunächst wurde das Hauptaugenmerk auf den Aspekt der Besonderheit dieses Transformationsprozesses gegenüber den vorherigen gelegt (Kapitel 5.1). Inwiefern war der Transformationsprozess in Osteuropa komplexer als die vorhergegangenen? Welche Ebenen umfasste er?
4. Kapitel 5.2 ist der Darstellung der speziellen Gegebenheiten und Konstanten im postsowjetischen oder osteuropäischen Raum gewidmet. Transformation findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern hat gewisse Voraussetzungen und Vorbedingungen, die auch Einfluss auf den Transformationsverlauf nehmen und die gewisse Entwicklungswege erschweren.
5. In Kapitel 5.3 und 5.4 steht die Empirie der Transformation im Vordergrund. Zu fragen ist grundsätzlich: Was ist in den postsowjetischen Ländern überhaupt passiert? Welche Transformationen durchliefen das politische und das ökonomische System? Gibt es zugrundeliegende Logiken und Handlungsmuster?

Die zentralen Annahmen [13] der gesamten vorliegenden Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Identität ist eine Kategorie, die sich zusammensetzt aus einem individuell-psychologischen Aspekt und einem kollektiven. Eine kollektive Identität setzt sich zwar zusammen aus der Summe der Einzelidentitäten, umfasst aber nur einen kleinen Teilbereich der Einzelidentität, nämlich den, der sich auf die Wahrnehmung einer Gruppe als Gesamtheit bezieht.
2. Gesellschaftliche Integration ist einer der entscheidenden Faktoren zur staatlichen Konsolidierung und damit zum Gelingen des Transformationsprozesses. Da die Implosion der Sowjetunion auch eine staatliche Neuordnung auf ihrem Territorium nach sich zog, müssen die selbstständig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken nach einer kollektiven Identität suchen mit Hilfe derer es gelingen kann, die heterogenen postsowjetischen Bevölkerungsschichten zu integrieren.
3. Die Idee der Nation ist zum zentralen Moment der kollektiven Identität im Transformationsprozess in vielen osteuropäischen Staaten geworden. Nationale Ideen werden von politischen Akteuren genutzt, um Bevölkerungsgruppen zu integrieren. Den Nationalbewegungen in den Volksfronten kam eine entscheidende Rolle beim Zusammenbruch der sowjetischen Ordnung zu.
4. Nationalismus ist nicht von vorneherein negativ zu bewerten. Er leistet einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration in diesen Ländern. Dennoch liegen auch die Gefahren von nationalen Ideen angesichts der heterogenen Siedlungsstruktur Osteuropas auf der Hand. Notwendige geschichtliche Aufarbeitungsprozesse werden zudem verhindert und Frustrationen durch Transformationsprozess auf externe Faktoren abgeschoben was zur Bildung von Feindbildern beiträgt.
5. Die vor dem Zusammenbruch des realsozialistischen Blocks entwickelten Transformationstheorien sind zwar hilfreich bei der Erklärung bestimmter Prozesse, jedoch besteht nach wie vor ein Mangel an Theoriemodellen, um die postsowjetische Transformation zu erklären. Aus diesem Grund soll neben den klassischen theoretischen Erklärungsansätzen, anschließend die Besonderheiten der Transformationsbedingungen im postsowjetischen Raum dargestellt werden.
6. Transformation im postsowjetischen Raum findet seit Mitte der achtziger Jahre auf mehreren Ebenen statt. Da die Transformation nicht nur das politische, sondern auch das ökonomische und gesellschaftliche System erfasst, ist eine Betrachtung der einzelnen Ebenen, die komplex miteinander verwoben sind, sinnvoll. Bei der Untersuchung der Transformationsprozesse soll auch ein besonderes Augenmerk auf die Kontinuitäten im postsowjetischen Raum gelegt werden, die für ein Stocken oder eine Richtungsentscheidung mitverantwortlich sind.

Die grundlegenden Thesen dieser Arbeit lauten zusammengefasst:

1. Eine kollektive Identität ist eine der Voraussetzungen für ein funktionierendes Gemeinwesen, da durch sie die notwendige gesellschaftliche Integration und Mobilisierung geleistet werden kann.
2. Jede soziale Gruppe gibt sich eine kollektive Identität. Dabei wird sehr oft auf die gemeinsame ethnische Abstammung und die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Nation verwiesen.
3. Das Identitätsbewusstsein der gesellschaftlichen Eliten in Osteuropa war geprägt durch eine Renaissance des Nationalen und hatte entscheidenden Einfluss auf den Transformationsprozess und die Herausbildung von Nationalstaaten auf dem Territorium der Sowjetunion.
4. Die zentrale Einheit, die kollektive Identität schafft, ist die Nation. Damit ist die Nation eine wesentliche Ressource im Transformationsprozess.
5. Das Integrationskonzept über die Idee der ‚ Nation’ war zwar in Westeuropa sehr erfolgreich – auch wenn es für zwei Weltkriege mitverantwortlich war – trifft in Osteuropa aber auf ganz andere Voraussetzungen, da die Bevölkerungsstruktur viel heterogener ist.
6. Stattdessen müssen liberalere Integrationskonzepte in Osteuropa zum Tragen kommen, die die kollektive Identität in einem größeren Zusammenhang sehen, in einer gemeinsamen politischen Vision, in der Menschenrechte und Demokratie fester Bestandteil sind.

1 Identität

1.1 Relevanz des Faktors ‚Identität’

Ein Staat kann nicht in einem politisch-ideologischen Vakuum existieren. Es braucht eine ideell-politische Staatsdoktrin, auf deren Grundlage die integrativen Kräfte für eine kollektive Identität gewonnen werden. Identität wird auf der Grundlage eines Gefühls von Heimat gewonnen. Heimat kann dabei weit gefasst werden und die ganze Sowjetunion umschließen, sie kann aber auch regional gedacht werden. Wenn Heimat nur die eigene Region umfasst, ist das Heimatgefühl stärker, weil die ganze Heimat dem persönlichen Lebensraum zugerechnet werden kann. Heimat ist immer mit dem Gefühl verbunden, einen Platz in der Welt zu haben, dem man sich verbunden fühlt und zu dem man zurückkehren kann. Eine eigene Identität kann nur dann entstehen, wenn der Mensch diesen eigenen Platz in der Welt gefunden hat. Nur dann kann er die Frage ‚Wer bin ich?’ zufriedenstellend beantworten.

Der Bewusstseinswandel in Teilen der sowjetischen Bevölkerung, dass eine eigene Identität jenseits der sowjetischen von Nöten sei, wurde durch die Politik der Glasnost und die von Gorbačev explizit geforderte Aufarbeitung der ‚weißen Flecken’ in der sowjetischen Geschichte und Literatur mehr unbewusst als bewusst eingeleitet. Damit wurde nicht nur die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung auf den Kopf gestellt, sondern ein Prozess initiiert, an dessen Ende eine radikale Umorientierung des politischen und historischen Bewusstseins ganzer Völker stand, die ihre Vergangenheit und ihre spezifische nicht-sowjetische Identität entdeckten: die Ukrainer, Belarussen, die baltischen Völker ebenso wie die Bevölkerung der zentralasiatischen und kaukasischen Republiken. Eine neue politische Kultur etablierte sich durch die Enthüllung der Verbrechen aus der Stalin-Zeit, die Absage an den Lenin-Kult und schließlich die Lossagung von der Oktoberrevolution als legitimatorischer Grundlage des Sowjetstaates.[14] Den Nationalbewegungen in den Volksfronten kam – wie in der dritten Annahme formuliert – eine entscheidende Rolle beim Zusammenbruch der sowjetischen Ordnung zu.

Die Etablierung einer neuen politischen Kultur ist logischerweise verknüpft mit der Frage nach einer wie auch immer gearteten postsowjetischen, postkommunistischen Identität in allen neu entstandenen Staaten auf dem Territorium der Sowjetunion. Die Suche nach einer neuen Identität ist bis heute noch nicht abgeschlossen und stellt einen ganz wesentlichen Faktor bei der Untersuchung der Transformationsprozesse in Osteuropa dar.

In diesem ersten Teil der Arbeit sollen die ersten drei Thesen überprüft werden:

1. Eine kollektive Identität ist eine der Voraussetzungen für ein funktionierendes Gemeinwesen, da durch sie die notwendige gesellschaftliche Integration und Mobilisierung geleistet werden kann.
2. Jede soziale Gruppe gibt sich eine kollektive Identität. Dabei wird sehr oft auf die gemeinsame ethnische Abstammung und die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Nation verwiesen.
3. Das Identitätsbewusstsein der gesellschaftlichen Eliten war geprägt durch eine Renaissance des Nationalen und hatte entscheidenden Einfluss auf den Transformationsprozess und die Herausbildung von Nationalstaaten auf dem Territorium der Sowjetunion.

1.2 Annäherung an den Begriff ‚Identität’

Vereinfacht gesagt ist die Identität das Bild, das man von sich selbst und von den verschiedenen Facetten seiner eigenen Persönlichkeit hat. Abgrenzung ist dabei ein zentrales Element zur Formung einer Identität. Erst ein entgegengesetztes Anderes, das einem das eigene Ich vor Augen führt, lässt die eigene Identität bewusst werden. Identität (von lat. identitas = vollkommene Gleichheit) beschreibt in der Sozialpsychologie das Einssein eines individuellen oder kollektiven Akteurs mit seinen Rollen und seiner Verortung im gesellschaftlichen und politischen Umfeld.[15] Grundsätzlich kann von einer Wechselwirkung zwischen individueller und kollektiver Identität ausgegangen werden, da wie schon gesagt, aus den individuellen Vorstellungen von Identität eine kollektive Identität entsteht, die das Bewusstsein einer Großgruppe bestimmt. Demnach gilt es zu unterscheiden zwischen einer individuell-psychologischen und einer kollektiven Identität. Eine kollektive Identität ist nach der ersten These eine der Voraussetzungen für ein funktionierendes Gemeinwesen, da durch sie die notwendige gesellschaftliche Integration und Mobilisierung geleistet werden kann; jegliche Form der Herrschaft muss auf sie als integrierendes Element zurückgreifen.

Identität beinhaltet nach meiner Einschätzung die folgenden drei Faktoren:

- Gemeinsame Erinnerung, Geschichte, Herkunft: gemeinsame Feinde, gemeinsame Riten (2. Weltkrieg)
- Gemeinsame Zukunftshoffnungen (Ideologie, Religion, Sinnstiftung)
- Gemeinsame Gegenwart (Sprache, Medien/ Propaganda, gemeinsame politische Führung, wirtschaftlicher, sportlicher Erfolg, internationales Ansehen)

Zunächst soll versucht werden, sich dem Begriff ‚ Identität’ systematisch zu nähern. Das politikwissenschaftliche Verständnis von Identität erfasst in demokratietheoretischer Hinsicht „die vollkommene Übereinstimmung oder Gleichheit von Herrschern und Beherrschten zur Gewährleistung direkt ausgeübter Volkssouveränität.“[16] Dies ist jedoch nur ein Nebenaspekt auf den in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden soll. Denn neben dieser ideengeschichtlich geprägten Auffassung wird zunehmend eine „sozialpsychologisch orientierte Bedeutung des Begriffes verwendet, die zwischen den beiden Dimensionen personaler und kollektiver Identität unterscheidet sowie auf das Selbstverständnis einer Gemeinschaft zielt, dessen Stabilität und Kontinuität auf Integration, Kohäsion und Konsens basieren, dessen Dynamik und Pluralität hingegen von Konflikten, Widersprüchen und Dissens motiviert werden“[17]. Diese sozialpsychologische Bedeutung der Identität ist insofern relevant, da die individuell-psychologischen Aspekte der Identität einen Beitrag zur kollektiven Identität leisten, die dann wiederum relevant für die gesellschaftliche Integration ist. Weiter heißt es bei Wolfgang Bergem: „Die Identität von Großgruppen entwickelt sich in Prozessen sozialer Interaktion und Kommunikation als Selbstverortung [...] Als Selbstdefinition verarbeitet diese Identifikation auch Fremdzuschreibungen von Eigenschaften und bezieht sich auf die Vergangenheit in Form eines kollektiven Gedächtnisses, das die Erinnerungen an gemeinsam erlebte bzw. erlittene Erfahrungen speichert, auf die Gegenwart in Form eines Orientierungsrahmens bei der aktuellen Wahrnehmung und Ordnung von Informationen zur Konstruktion von Sinn sowie auf die Zukunft in Form antizipierender Projektion möglicher Entwicklungen.“[18] Auch Bergem sieht also die Bezugspunkte für die Identität in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er unterscheidet zwischen einem weiter gefassten Begriff der kulturellen Identität und dem engeren Terminus der politischen Identität, an dem sich auch der in dieser Arbeit verwendete Identitätsbegriff orientieren soll. Politische Identität ist auf die „Legitimation von Herrschaft gerichtet und damit auf die Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung gegenüber ihrem politischen System“[19]. Daraus folgt und das ist einer der grundlegenden Annahmen der vorliegenden Arbeit, dass Identität eine Kategorie ist, die sich zusammensetzt aus einem individuell-psychologischen Aspekt und einem kollektiven. Eine kollektive Identität setzt sich zwar zusammen aus der Summe der Einzelidentitäten, umfasst aber nur einen kleinen Teilbereich der Einzelidentität, nämlich den, der sich auf die Wahrnehmung einer Gruppe als Gesamtheit bezieht. Durch die kollektive Identität wird die Unterstützung für das politische System gewährleistet, es ist der zentrale Legitimationsfaktor.

In dieser Arbeit steht die kollektive Identität im Vordergrund, weil durch sie ein Gemeinschaftsgefühl hergestellt wird, das nach der zitierten Definition eine Integration der Individuen in eine Gemeinschaft oder Gesellschaft zu leisten vermag. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff von Identität soll die Integration der auf dem Staatsgebiet lebenden Bevölkerung ermöglichen, um sie als Kollektiv an eine bestimmte politische Ordnung zu binden und ihre Bedürfnisse kollektiv zu formulieren. Die Schaffung einer gemeinsamen Identität ist damit Voraussetzung für die Staatsbildung. Dies ist im Kontext dieser Arbeit besonders relevant, da nach dem Zerfall der Sowjetunion, die ehemaligen Republiken mit einem Minimum an Autonomie vor die Aufgabe gestellt waren, eigenständige Staaten zu bilden und die Bevölkerung in das neuentstandene Gemeinwesen zu integrieren. So schreibt auch Bergem: „Kollektive Identität stellt ein Reservoir an Gemeinschaftlichkeit und Zusammengehörigkeitsempfinden bereit, auf das auch moderne Gesellschaften zur Sicherung eines zu ihrer Existenz notwendigen Mindestmaßes an Integration angewiesen sind.“[20] Das Zusammengehörigkeitsgefühl kann also vor allem über die kollektive Identität gestiftet werden. Die neu entstandenen Staaten bedürfen also in ganz besonderer Weise dieser Quelle von Gemeinschaftlichkeit. Er führt aus, dass kollektive Identität „durch die Reziprozität von Integration nach innen und Distinktion nach außen generiert“ wird. „Ihre Herausbildung beruht sowohl auf innerer Homogenisierung als auch auf Grenzziehung und Unterscheidung.“[21] Gemeinsame Feindbilder spielen demnach eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung einer kollektiven Identität. Im Kapitel 2.3 ‚Negative Mobilisierung’ wird auf die Feindbilder und ihre Funktion für die Identitätsgewinnung näher eingegangen werden. Alle diese Elemente einer Definition von Identität, die Wolfgang Bergem anreißt werden im weiteren Verlauf der Arbeit wieder aufgenommen und vertieft. Im Kapitel 1.2 sollte nur zunächst das ganze Spektrum vorgestellt werden, das es zu berücksichtigen gilt, wenn der Faktor ‚ Identität’ in einer politikwissenschaftlichen Untersuchung des Transformationsprozesses als erklärende Variable eingeführt wird.

1.3 Der Bedarf nach einer kollektiven Identität

„Eine Idee zu hegen, die von keinem anderen geteilt wird, ist eine Kühnheit, die schmeichelhaft und erfreulich ist, aber allzu nah an Verrücktheit heranreicht, als dass man sich dabei sicher fühlen könnte. Eine gemeinsame Idee dagegen verspricht Schutz: eine Gemeinschaft, eine ideologische Bruderschaft, Brüderlichkeit des Geschicks oder der Mission. Die Versuchung zu teilen ist überwältigend.“[22]

Mit diesem Gedanken analysiert Zygmunt Baumann das allgemeine Bedürfnis zu einer Gemeinschaft zu gehören, eine gemeinsame Idee zu teilen. Er sieht die Postmoderne trotz aller Individualisierungsbestrebungen als das Zeitalter der Gemeinschaft an: der Lust auf Gemeinschaft, der Suche nach Gemeinschaft, der Erfindung der Gemeinschaft, der Imaginierung der Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist in der Lage eine kollektive Identität zu stiften. Nur durch sie haben wir nicht das Gefühl entwurzelt zu sein in einer Welt organisierter Anderer, die sich ihrer Identität bewusst sind. Diese Furcht, allein und ohne eine Gruppenidentität zu sein, ist verantwortlich dafür, dass wir eine ethnische Gruppenzugehörigkeit suchen, da die Mitglieder der ethnischen Gruppen für vertrauenswürdig aufgrund der Identitätsdimension der Ethnizität gehalten werden, wie das für Außenseiter nicht gilt. „Die ethnische Gruppe stellt ein Refugium gegen eine feindselige, lieblose Welt dar.“[23]

Die ethnische Gruppe ist also nach Baumans Ausführungen der natürliche Stifter von kollektiver Identität, derer wir alle bedürfen, um uns in dieser Welt der organisierten Anderen nicht fremd und verloren vorzukommen. Nach dem Wegfall der Sowjetideologie musste eine neue Kraft an diese Stelle rücken und das Vakuum ausfüllen. Die integrative Kraft der gemeinsamen ethnischen Zugehörigkeit wurde von den Nationalbewegungen genutzt, um das positive Moment für den neu entstandenen Nationalstaat zu gebrauchen.

1.4 Bildung von Wir-Gruppen

Hauptproblem der Transformationsgesellschaften ist es, ein Wir-Gefühl erst wieder zu schaffen, da der Totalitarismus die Individuen durch die Auflösung ziviler Institutionen atomisiert hatte.[24] Ökonomische bzw. soziale Unsicherheit können soziale Prozesse auslösen, die nationalistische Bewegungen hervorbringen können. Es können aber auch andere Formen imaginierter Gemeinschaft die Konsequenz sein, wie religiöse Bewegungen oder klassenkämpferische Gruppen. Alle diese Prozesse bezeichnet Georg Elwert als „Wir-Gruppen-Prozesse“[25]. Alle sozialen Gruppen geben sich eine Identität, wodurch ein kollektiver Akteur geschaffen wird, auf den Eigenschaften der Individuen übertragen werden; dies führt zu dem schon zuvor beschriebenen Wechselverhältnis zwischen individueller und kollektiver Identität. Ethnizität und Nationalismus unterscheiden sich von den meisten Wir-Gruppen-Prozessen dadurch, dass sie klassenübergreifend sind, und dadurch vertikal integrieren können.[26]

Elwert beschreibt drei miteinander verwobene ökonomische Prozesse als Mitverursacher von Identitätsdefiziten als Massenphänomen, was dann zur verstärkten Herausbildung von kollektiven Identitäten geführt hat. Hier gilt es zwar zu beachten, dass Elwert vor 20 Jahren und mit dem Blick eines Ethnologen vor allem die Entwicklung in Afrika beschrieben hat, dennoch gibt es genügend Parallelen zum postsowjetischen Raum, die eine Darstellung von Elwerts Thesen auch in diesem Kontext gewinnbringend erscheinen lassen. Die drei Faktoren sind: die Ausweitung der warenökonomischen Beziehungen, die Proletarisierung und als Folge ungleichzeitiger Entwicklung der Warenökonomie auch die Wanderarbeit. Im Zuge dieser historischen Entwicklung verliert der Einzelne seinen kontrollierten Lebensraum, also die Erzeugung von Subsistenzmitteln in der Familie, und bekommt stattdessen einen effektiven neuen Lebensraum zugewiesen, den er selbst nicht mehr kontrollieren kann. Dieser effektive Lebensraum entsteht durch weitreichende Ketten des Warenhandels, ortsübergreifende Kommunikationszusammenhänge und die Möglichkeit der Arbeitsemigration. Dies ist gleichbedeutend mit einem Verlust an Heimat.[27]

In dieser Situation der Instabilität muss jede Verheißung von Gemeinschaft als strahlendes Gegenbild wirken. Denn Gemeinschaft bedeutet soziale Beziehungen, die nicht durch das Tauschmedium ‚ Geld’ gesteuert werden und in denen alle relative Gleichheit zukommt. Schon im Aufbau von Wir-Gruppen durch soziale Bewegungen entstehen neue Strukturen des Vertrauens. Das Prinzip der Nation erweist sich - wie oben schon beschrieben - auch hier als relativ überlegen durch die vertikale klassenübergreifende Integration, da sie ganze Gesellschaften in ihrer Heterogenität der sozialen Schichten und Altersgruppen fassen kann. So überlebten alle drei sozialistischen föderativen Staaten, die Sowjetunion, Jugoslawien und die Tschechoslowakei den Sozialismus nicht lange, da die Nationalbewegungen keinen Platz mehr für föderative Staatskonzepte ließen. Die Nationalbewegungen waren in der Transformationsgesellschaft zum Katalysator der Identitätssuche geworden.[28]

1.5 Identitätsstiftung in der Sowjetunion

Nachdem auf den vorigen Seiten dargestellt wurde, wie das Verhältnis von Identität und Integration beschaffen ist, soll auf den folgenden Seiten auf die Identitätsstiftung in der Sowjetunion eingegangen werden. Denn nur wenn man sich verdeutlicht, wie der Integrationsmechanismus bis in die Mitte der 80er Jahre hinein funktionierte, kann man verstehen, auf welchen mentalen Nährboden die aktuelleren gesellschaftlichen Integrationsmuster zurückgreifen können. In der Sowjetunion fand Integration und Identitätsstiftung auf andere Weise statt als jetzt in den postsowjetischen Staaten, aber auch hier wirkte die Gefahr einer Bedrohung von außen – den aggressiven Faschismus, der nach marxistisch-leninistischer Lesart ein Produkt des Kapitalismus war – in enormen Maße identitätsstiftend und damit legitimitätsstiftend für die Sowjetunion.

Einen guten Überblick über die integrierenden Faktoren in der Sowjetunion bietet der Aufsatz „Identifikation und Sinnstiftung: Integrative Elemente in der Sowjetunion“ von Dietmar Neutatz[29]. In der stalinistischen Diktatur und im poststalinistische Sowjetsystem waren neben den bekannten disziplinierenden und repressiven auch integrative Faktoren präsent. Dazu gehören die forcierte Industrialisierung, der „Große Vaterländische Krieg“ und der technische Fortschritt, der sich symbolisch in der Raumfahrt verdichtete, sowie der bessere Lebensstandard und die Stabilität der Brežnev-Zeit. Während die Industrialisierung nach Ansicht von Dieter Neutatz als integrativer Faktor überschätzt wurde, haben der Krieg und die Raumfahrt bis heute einen hohen Stellenwert in der kollektiven Erinnerung und spielen eine zentrale Rolle in der patriotischen Sinnstiftung im heutigen Russland.[30]

Neutatz befasst sich in seinem Aufsatz auch mit der Frage, welche Integrationswirkung die forcierte Industrialisierung und der technische Fortschritt, verbunden mit der Suggestion, das sozialistische Projekt zu verwirklichen und den kapitalistischen Westen zu überholen, hatte. In diesem Kontext gehört der erste Fünfjahresplan, die Stalinschen Großprojekte wie der Dnjeprstaudamm, das Stalingrader Traktorenwerk, das Stahlwerk von Magnitorosk oder die Moskauer Metro, sowie in der Nachkriegszeit das sowjetische Weltraumprogramm mit seinen spektakulären Erfolgen – das mit den Namen Sputnik und Gagarin verbunden ist. Der zweite und vielleicht bedeutendste Integrationsfaktor, wie Neutatz später zeigt, ist der Zweite Weltkrieg oder genauer das, was in Russland unter dem Namen „Großer Vaterländischer Krieg“ firmiert und die große patriotische Kraftanstrengung gegen den Angriff und Vernichtungsfeldzug Hitler-Deutschlands 1941- 45 bezeichnet. Die Verbesserung der Lebensumstände nennt Neutatz als drittes großes Integrationsmoment. Wie in allen Gesellschaften so ist auch in der Sowjetunion davon auszugehen, dass die soziale und politische Integration der Bevölkerung vom Grad der Zufriedenheit mit der Versorgung, den Löhnen und der Lebensqualität sowie mit den Aufstiegschancen zusammenhing.[31]

1.5.1 Patriotische Sinnstiftung als Integrationsfaktor

Um sich einen Eindruck der Atmosphäre zu Beginn der 30er Jahre zu machen, genügt ein Blick in die Aufzeichnungen von damals. Am besten kommt die Euphorie dieser Tage in den Tagebucheinträgen von Zeitzeugen zum Ausdruck. So schreibt Lew Kopelew in seinen Memoiren: „Das Jahr 1932 lebt in meiner Erinnerung im Glanz freudiger Gefühle, selbstbewusster Jugend und zahlloser Hoffnungen. Dort im Ausland wütete die Wirtschaftskrise. In Deutschland gab es 7 Millionen Arbeitslose. In den USA waren es noch viel mehr. [...] Tagtäglich berichteten unsere Zeitungen von Streiks in den kapitalistischen Ländern, von Hunger und Elend. [...] Wie anders sah es dagegen bei uns aus! Die Zeitungen veröffentlichten Telegramme und Artikel über unsere neuen Fabriken, Hochöfen und Maschinen-Traktoren-Stationen, von immer neuen Erfolgen und Errungenschaften, von immer grandioseren Plänen.“[32]

An anderer Stelle schreibt er: „Wir waren zu Bekennern und Predigern der neuen Glaubenslehre erzogen worden, der einzig wahren Religion des wissenschaftlichen Sozialismus. Die Partei wurde zu unserer kämpfenden Kirche, die der ganzen Menschheit ewige Seligkeit brachte, ewigen Frieden und das Paradies auf Erden. Sie hatte siegreich alle anderen Kirchen, Sekten und Häresien überwunden. Die Werke von Marx, Engels, Lenin waren unsere heilige Schrift, Stalin der unfehlbare hohe Priester. Fabriken, Bergwerke, Lokomotiven, Drehbänke, Traktoren und Turbinen verwandelten sich in Kultgegenstände, sakramental von Segen erfüllt. [...] Täglich brachten die Zeitungen Meldungen über den Output von Traktoren, Autos, Dreschmaschinen. Die leidenschaftslose Größe der Statistik – Planziffern, Rechenschaftsberichte und Zahlenkolonnen – hatte für uns eine pythagoräisch-kabbalistische, zauberkräftige Macht. (Sozialismus ist Kalkulation.) Als das Traktorenwerk Stalingrad begann, täglich 120 Schlepper fertigzustellen, durchpulste mich Freude.“[33]

Auch Marschall Grigorij Žukov, ebenfalls ein prominenter Zeitzeuge, beschreibt in seinen 1970 publizierten Memoiren für die Jahre vor dem deutschen Überfall einen „unwiederholbaren, eigentümlichen Stimmungsaufschwung, einen Optimismus, eine Art Begeisterung und gleichzeitig Tatkraft, Bescheidenheit und Einfachheit im Umgang der Leute. Gut, sehr gut hatten wir zu leben begonnen.“[34]

Die Zitate aus Kopelevs und Žukovs Memoiren zeigen, dass Terror und Repression – obwohl sie für den Stalinismus konstitutiv waren – dennoch die damalige Lebenswirklichkeit nicht zur Gänze abbilden und andere Elemente folglich auch in der Erinnerung präsent sind. Aus ihnen spricht eine Identifikation mit dem Regime, das es offenbar verstanden hat, den ‚sozialistischen Aufbau’ in einer Weise zu vermitteln, die auf einen Teil der Bevölkerung motivierend und integrierend wirkte. Bei Kopelev sind es die berauschenden Erfolge der forcierten Industrialisierung, die Suggestion von der Sowjetunion als dem einzigen Land, in dem es aufwärts geht, während die kapitalistischen Länder in der Weltwirtschaftskrise versinken, sowie die Gewissheit, an einer Gemeinschaft teilzuhaben, die im Besitz der alleinseligmachenden Ideologie mit historischer Gesetzmäßigkeit siegen würde. Bei Žukov sind es Optimismus, Begeisterung und Zufriedenheit über einen beginnenden Wohlstand.

1.5.2 Forcierte Industrialisierung als Integrationsfaktor

Die forcierte Industrialisierung, wie sie in den ersten Fünfjahresplänen seit den ausgehenden 1920er Jahren betrieben und bewusst als Fortschritts- und Überlegenheitsmythos inszeniert wurde, wird in der Literatur regelmäßig genannt. ‚Der Große Sprung nach vorn’ ist das zentrale Element des Integrations- und Mobilisierungspotentials des Sowjetregimes. Neutatz geht jedoch davon aus, dass die Integrationskraft dieses Faktors tendenziell überschätzt wurde, da man sich nicht vom inszenierten Massenenthusiasmus und den Suggestionen der damaligen Publizistik täuschen lassen darf. Der Enthusiasmus konnte sich – wenn überhaupt – nur auf Teile der städtischen Bevölkerung beziehen. Unter den Bauern, also der Mehrheit der Bevölkerung, erscheinen Aufbruchsstimmung und Enthusiasmus als absurde Kategorien wenn man sich die brutale Bedingungen der Kollektivierung der Landwirtschaft vergegenwärtigt und die verheerenden Auswirkungen, die diese für die ländliche Bevölkerung hatte.

Das bolschewistische Regime führte einen Krieg ‚Stadt gegen Land’, und die Bauern wehrten sich gegen die Zerstörung ihrer traditionellen Lebensweise mit Waffengewalt und passivem Widerstand. Allenfalls mit der Unterstützung der besitzlosen Dorfbewohner konnten die Bol’ševiki rechnen, aber wie die Studien zur Kollektivierung zeigen, war selbst damit nicht immer zu rechnen. Der ‚ Klassenkampf’ auf dem Dorf fand im Sinne der Bol’ševiki nicht statt, sondern wurde von außen in die Dorfgemeinschaften hineingetragen. Das Stalinsche Regime brach den Widerstand der Bauern mit massivem Gewalteinsatz.[35] Hierbei kann man beim besten Willen nicht von Integration sprechen, sondern muss blutigen Terror und Einschüchterung konstatieren.

Hinsichtlich der städtischen Bevölkerung liegen die Verhältnisse komplizierter, jedoch ist auch hier davon auszugehen, dass die Begeisterung von den ‚Enthusiasten’ ausging, also von Komsomolzen, die sich mental in den vom Regime erzeugten künstlichen Kriegszustand hineinversetzten und dadurch zu Höchstleistungen und Entbehrungen angespornt wurden. Für die Mehrheit der Arbeiter war das sicher nicht der Fall. Eine gewisse Integrationskraft kam sicher den prestigeträchtigen Großprojekten und technischen Errungenschaften zu, angefangen vom Elektrifizierungsprogramm Lenins über die gigantischen Kraftwerks-, Verkehrs- und Industriebauten bis zu Jurij Gagarins Weltraumflug. Technikeuphorie und eine Faszination des Fortschritts waren mit Sowjetpatriotismus verbunden.

1.5.3 Der ‚Große Vaterländische Krieg’ als Integrationsfaktor

Eine kollektive Identität war immer schon am einfachsten über die gemeinsame Erinnerung an die große Vergangenheit zu stiften. So wird der ‚Große Vaterländische Krieg’ von vielen Autoren als zentraler Integrationsfaktor für die Sowjetunion gesehen.[36] Dies liegt daran, dass ein großer Teil der sowjetischen Bevölkerung den ‚ Großen Vaterländischen Krieg’ als Existenzkampf erlebte. Stalin appellierte erfolgreich an den Patriotismus und wie er selbst erklärte, ging es dabei nicht um den Sozialismus, sondern um die Heimat.[37] Nach Kriegsende waren viele Menschen ernüchtert, die auf eine Beendigung des permanenten Ausnahmezustandes und die Rücknahme einiger unpopulärer Maßnahmen wie die Kollektivierung der Landwirtschaft gehofft hatten. Dennoch hatte Stalin diesen Krieg gewonnen und dieser Sieg verschaffte ihm und seiner Diktatur einen Rückhalt in der Bevölkerung, den sie vor dem Krieg nicht gehabt hatte. So kommt Neutatz zu dem Schluss, dass „die Bedrohung von außen in gewisser Weise von der Erfahrung der Terrorherrschaft und vom verbrecherischen Grundcharakter der stalinistischen Diktatur ablenkte und zu ihrer Legitimierung und Stabilisierung beitrug.“[38]

Lev Gudkov kommt zu dem Schluss, dass nach wie vor eine der wesentlichen, wenn nicht die Hauptquelle der Identitätsstiftung überhaupt auch im heutigen Russland die Erinnerung an den Sieg im ‚Großen Vaterländischen Krieg’ ist.[39] Die Integrationskraft ist also auch über 60 Jahre nach Beendigung des Kriege noch da. Dies ist allerdings nur möglich, weil durch die sowjetischen, heute die russischen Medien die Erinnerung an diesen Krieg permanent im Gedächtnis gehalten wird. Der Krieg ist die einzige positive Stütze für das nationale Selbstbewusstsein der Gesellschaft. Der Sieg im Krieg legitimiert im nachhinein das totalitäre sowjetische Regime. Die Erinnerung an die Stalinschen Repressionen verblasst, vielmehr beurteilt die öffentliche Meinung heute Stalin zunehmend positiv. Bis heute wirkt das Tabu, die Kehrseiten des Sieges aufzuarbeiten. Die Erinnerung an den Krieg nützt vor allem der Legitimation der zentralisierten und repressiven sozialen Ordnung wie Lev Gudkov feststellt. Sie ist in die allgemeine posttotalitäre Traditionalisierung von Kultur und Gesellschaft unter Putin eingefügt, wie auch im nächsten Kapitel gezeigt werden soll.[40]

1.6 Identitätssuche nach dem Zerfall der Sowjetunion

Dem ‚homo sovieticus’ hatte sich die Frage nach seiner Identität kaum gestellt. Der Begriff ‚ identičnost’ war in keinem sowjetischen Wörterbuch zu finden. Die Einheitsideologie ließ keinen Platz für weitergehende Fragen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte die Suche nach neuen Identitäten schließlich beginnen. Nachdem im Kapitel 1.5 die identitäts- und integrationsstiftenden Mechanismen in der Sowjetunion beschrieben wurden, soll im Kapitel 1.6 die Suche nach neuen identitäts- und damit integrationsstiftenden Elementen beschrieben werden. Die Dekonstruktion sowjetischer Mythen ging Hand in Hand mit der Rekonstruktion von Mythen aus der Zarenzeit. Dazu gehörte ein stilisiertes und idealisiertes Bild des ‚ancien régime’: Die Verdienste der Romanovs wurden wiederentdeckt und alsbald in das neue kollektive Gedächtnis integriert. Adel, Großunternehmer und Industrielle, Kosaken, vor allem jedoch die Russisch Orthodoxe Kirche erlangten ihre historischen Rechte zurück. In diesen Konstruktionen ist immer auch die Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit erkennbar.[41]

In den Jahren der Transformation ist sich Russland seiner Identität unsicher geworden. Ende des Jahres 1997 stellte Christiane Uhlig das Fehlen einer kollektiven Identität fest, in deren Namen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Schichten zu gemeinsamem Handeln für den Aufbau der neuen Gesellschaft zusammenfinden könnten.[42] Gerade in Zeiten der Krise gibt es ein Bedürfnis nach nationalen Identifikationsangeboten. Dass gerade in den schwierigen Transformationsjahren der Verlust der sowjetischen Identität besonders schwer wiegt, beklagte auch Boris El’cin: „Jede Etappe hatte ihre Ideologie. Jetzt haben wir keine. Russland braucht eine gesamtnationale Idee, die die Nation zusammenschweißt, die Menschen eint und mobilisiert zur Wiedergeburt Russlands und die ein Gegengewicht ist zum politischen Gezänk.“[43] Dies war auch der Grund dafür, dass die halbamtliche Zeitung Rossijskaja Gaseta, einen Wettbewerb nach der besten ‚Idee für Russland’ ausschrieb. Es bestand also in der Administration und unter den Eliten Konsens, dass es notwendig sei, eine im eigentlichen Sinne staatliche Ideologie auszuarbeiten. Dies kann nur vor dem Hintergrund der kommunistischen Tradition verstanden werden nach der eine Ideologie notwendiger Bestandteil von Herrschaft war, um die Bevölkerung zu integrieren.

[...]


[1] Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/ M. 1987. S. 9. Zitiert nach: Garsztecki, Stefan: Kulturkonzepte und Transformationsforschung, in: Höhmann, Hans-Hermann (Hrsg.): Kultur als Bestimmungsfaktor der Transformation im Osten Europas: Konzeptionelle Entwicklungen – Empirische Befunde. Bremen 2001. S. 52-71. S. 68.

[2] Garsztecki, Stefan: Kulturkonzepte und Transformationsforschung, in: Höhmann, Hans-Hermann (Hrsg.): Kultur als Bestimmungsfaktor der Transformation im Osten Europas: Konzeptionelle Entwicklungen – Empirische Befunde. Bremen 2001. S. 52-71. S. 57.

[3] Garsztecki, 2001, S. 56.

[4] aus dem Impressum der Zeitschrift OSTEUROPA. OSTEUROPA 3/ 2008.

[5] Elwert, Georg: Ethnizität und Nationalismus: Über die Bildung von Wir-Gruppen. Berlin 1989. Elwert lehrte am Ethnologischen Institut an der Freien Universität Berlin, wo ich ihn selbst kennen lernte.

[6] Merkel, Wolfgang: Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung. Opladen 1999.

[7] Kappeler, Andreas: Russische Geschichte. München 1997; Kappeler, Andreas: Russland als Vielvölkerreich: Entstehung, Geschichte, Zerfall. München 2001.

[8] Halbach, Uwe: Das sowjetische Vielvölkerimperium. Nationalitätenpolitik und nationale Frage. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich 1992.

[9] Schulze, Peter W.: Die Russische Föderation, in: Piehl, Ernst/ Schulze, Peter W./ Timmermann, Heinz: Die offene Flanke der Europäischen Union. Russische Föderation, Belarus, Ukraine und Moldau. Berlin 2005. S. 37 – 244.

[10] Vgl. Bohn, Thomas M.: Vom Nutzen und Nachteil der Nationalgeschichtsschreibung für die Osteuropaforschung. Plädoyer für das „übliche Schema“ der russischen Geschichte. OSTEUROPA 3/ 1998. S. 282 – 285; Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt/ M./ New York 1988.

[11] Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992. S. 20 f.

[12] Der in dieser Arbeit verwendete Begriff ‚nationalisierende Eliten bzw. Regime’ soll verstanden werden als Bezeichnung für Akteure, die die Integrationskraft der nationalen Idee bezeichnen und - bewusst oder unbewusst - auch die Exklusion von nationalen, ethnischen und religiösen Minderheiten in Kauf nehmen.

[13] Der Unterschied zwischen Annahmen und Thesen besteht prinzipiell darin, dass von Annahmen ausgegangen wird und Thesen überprüft werden sollen. Da eine wirkliche Überprüfung bei einer kulturtheoretischen Arbeit nicht stattfinden kann, verschwimmt der Unterschied teilweise. Trotzdem sollen unter Annahmen, die häufiger in der Literatur zu findenden Thesen verstanden werden, während sich der Autor mit den Thesen, die in der Arbeit untersucht werden sollen, prinzipiell auf dünneres Eis begibt.

[14] Vgl. Scherrer, Jutta: Das Erbe: Geschichte und Gesellschaftskultur, in: Höhmann, Hans-Hermann/ Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Russland unter neuer Führung. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts. Berlin 2001. S. 21-31. S. 21 f.

[15] Vgl. Schmidt, Manfred G.: Identität, in: Ders.: Wörterbuch zur Politik. Stuttgart 1995. S. 409.

[16] Bergem, Wolfgang: Identität, in: Greiffenhagen, Martin/ Greiffenhagen, Sylvia: Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wesbaden 2002. S. 192-200. S. 192.

[17] Bergem, 2002, S. 192.

[18] Bergem, 2002, S. 192 f.

[19] Bergem, 2002, S. 193.

[20] Bergem, 2002, S. 193.

[21] Bergem, 2002, S. 193.

[22] Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992. S. 299.

[23] Bauman, 1992, S. 301.

[24] Vgl. Beyme, Klaus von: Systemwechsel in Osteuropa. Frankfurt/ M. 1994. S. 120.

[25] Elwert, Georg: Ethnizität und Nationalismus; Über die Bildung von Wir-Gruppen. Berlin 1989. S. 29.

[26] Vgl. Elwert, 1989, S.31.

[27] Vgl. Elwert, 1989, S. 32 ff.

[28] Vgl. Elwert, 1989, S. 36 f.; Beyme, Klaus von: Systemwechsel in Osteuropa. Frankfurt/ M. 1994. S. 124 ff.

[29] Neutatz, Dietmar: Identifikation und Sinnstiftung: Integrative Elemente in der Sowjetunion. OSTEUROPA 12/ 2007. S. 49 – 63.

[30] Vgl. Neutatz, 2007, S. 49 ff.

[31] Vgl. Neutatz, 2007, S. 52 ff.

[32] Lew Kopelew: Und Gott schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommnisten. Hamburg 1979. S. 340-341. Zitiert nach: Gudkov, Lev: Russlands Systemkrise: Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus. OSTEUROPA 1/ 2007. S. 3 ­- 14. S. 6.

[33] Lew Kopelew: Und Gott schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommnisten. Hamburg 1979. S. 344-345. Zitiert nach: Gudkov, Lev: Russlands Systemkrise: Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus. OSTEUROPA 1/ 2007. S. 3 ­- 14. S. 6.

[34] Grigorij K. Žukov: Vospominanija razmyšlenija. Moskva 1970. S. 242. Zitiert nach: Gudkov, Lev: Russlands Systemkrise: Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus. OSTEUROPA 1/ 2007. S. 3 ­- 14. S. 6.

[35] Vgl. Barberowski, Jörg: Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003. S. 122-127; Altrichter, Helmut: Kleine Geschichte der Sowjetunion. München 1993. S. 64 – 130.

[36] Vgl. u.a. Neutatz, 2007, S. 60; Rolf, Malte: Imperium und Regionalität: Sportparaden und regionale Feste im Stalinismus, in OSTEUROPA 5/ 2006. S. 99-122; Gudkov, Lev: Die Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus den Erinnerungen an den Krieg, in: OSTEUROPA 4-6/ 2005. S. 56-73; Niedermüller, Peter: Der Mythos der Gemeinschaft: Geschichte, Gedächtnis und Politik im heutigen Osteuropa, in: Corbea-Hoisie, Andrei/ Jaworski, Rudolf/ Sommer, Monika (Hrsg.): Umbruch im östlichen Europa: Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis. Innsbruck 2004. S. 11-26.

[37] Vgl. dazu bes. Bonwetsch, Bernd: Der „Große Vaterländische Krieg“: Vom deutschen Einfall bis zum sowjetischen Sieg (1941-1945), in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. III, S. 934-936.

[38] Neutatz, 2007, S. 57.

[39] Gudkov, Lev: Die Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus den Erinnerungen an den Krieg, in: OSTEUROPA 4-6/ 2005. S. 56-73. Lev Gudkov (1946) ist Soziologe, Leiter der Abteilung für soziale und politische Forschung des Levada-Zentrums Moskau.

[40] Vgl. Gudkov, 2005, S. 56-73.

[41] Vgl. Scherrer, Jutta: Ideologie, Identität und Erinnerung. Eine neue Russische Idee für Russland? OSTEUROPA 8/ 2004. S. 27 – 41. S. 27 ff.

[42] Vgl. Uhlig, Christiane: Nationale Identitätskonstruktionen für ein postsowjetisches Russland. OSTEUROPA 12/ 1997. S. 1191 – 1206.

[43] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.1996. Zitiert nach: Simon, Gerhard: Auf der Suche nach der „Idee für Russland“. OSTEUROPA 12/ 1997. S. 1169 – 1190. S. 1170.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836648738
Dateigröße
1003 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Baltische Föderale Immanual Kant Universität Kaliningrad – Politik- und Sozialwissenschaften, Europawissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
transformation osteuropa identität nationalstaat sowjetunion
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Titel: Identität und Transformation
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