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Das multikulturelle bauliche Erbe, Denkmalpflege und Wiederaufbau in Polen von 1944 bis 1956.

Die Beispiele Stettin und Lublin.

©2009 Magisterarbeit 140 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Seit der politischen Transformation in den Staaten des ehemaligen Ostblocks Ende der 1980er Jahre lässt sich dort ein Prozess beobachten, der in der Wissenschaft häufig mit Wiederentdeckung, Wiedergewinnung oder Rückkehr der Geschichte beziehungsweise der Erinnerung benannt wird. Die Veränderung des Geschichtsbewusstseins wird unter anderem an der Umbenennung von Straßen und Plätzen, dem Sturz und der Neuerrichtung von Denkmälern oder in den Rekonstruktionen alter Gebäude oder ganzer Stadtteile offensichtlich. Die einsetzende Rückgewinnung des lokalen historischen Erbes ist als Gegenbewegung zum kommunistischen Zentralismus und als Revision der Geschichtspropaganda zu verstehen, die die Vergangenheit politisch filterte. Der Historiker John Czaplicka betont, ‘Heritage is a question of choice’ und zeigt in seinen Untersuchungen, dass die postkommunistischen Staaten diese Wahl momentan neu treffen. So begann ein Hinterfragen der im Kommunismus propagierten nationalen Meistererzählungen, die über inszenierte Geschichtspolitik eine Stabilität des politischen Systems bewirken sollten. Dem im Sozialismus vorherrschenden ‘romantisch - symbolischen Kanon’ aus Schlagworten wie ‘Vaterland, Solidarität, Leiden, Freiheit, Opfer’ wird eine differenzierende und lokal divergierende Sicht auf die Geschichte einzelner Regionen entgegengesetzt. In Polen ging in Folge der Kriegswirrungen, durch Flucht, Vertreibung und Umsiedlung und dem starken Zentralismus des kommunistischen Systems ein regionales Bewusstsein verloren: Dialekte verschwanden, Geschichte wurde auf nationaler, nicht auf regionaler oder lokaler Ebene betrachtet. Die demokratische Wende fungierte als Öffnung einer Schleuse der Erinnerungen und führte zu einem Zusammenbruch festumrissener Geschichtsvorstellungen in der Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. In Polen fand im Zuge dessen neben einer Regionalisierung der Erinnerung auch eine Rückbesinnung auf die multiethnische Tradition des Landes statt, auf die Geschichte Polens als Vielvölkerreich, die in der zentralistischen Volksrepublik verneint wurde. Durch die Dezentralisierung und einer eintretenden Entfremdung von Warschau, findet seit 1989 eine historische Spurensuche nach Identität und Vergangenheit auf persönlicher, lokaler sowie regionaler Ebene statt, bei der ganz bewusst nach der Prägung Polens durch nationale und religiöse Minderheiten geforscht wird.
Vor allem in Nord- und Westgebieten Polens entstehen zahlreiche […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Julia Roos
Das multikulturelle bauliche Erbe, Denkmalpflege und Wiederaufbau in Polen von 1944
bis 1956
Die Beispiele Stettin und Lublin.
ISBN: 978-3-8366-4815-8
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland, Magisterarbeit, 2009
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

I Inhaltsverzeichnis
I Inhaltsverzeichnis I
II Abbildungsverzeichnis V
III Abkürzungsverzeichnis VI
1 Einleitung 1
1.1 Fragestellung der Ausarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2 Methodisches Vorgehen: Vergleich Stettin ­ Lublin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.3 Definitionsbestimmung: Was ist ,deutsches', was ,jüdisches' Bauerbe? . . . . . . . . . 5
1.4 Aktueller Forschungsstand, Literatur- und Quellenanalyse . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4.1 Forschungstand bezüglich des deutschen Erbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.4.2 Forschungsstand bezüglich des jüdischen Erbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.5 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.6 Eingrenzung des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.7 Anmerkungen zur Verwendung polnischer Städtenamen und geographischer
Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2 Das multikulturelle Erbe Polens 10
2.1 Vor dem Zweiten Weltkrieg: Polen als Vielvölkerrepublik . . . . . . . . . . . . . . .10
2.2 Zäsur Zweiter Weltkrieg: Polens Weg zum homogenen Nationalstaat . . . . . . . .11
2.2.1 Umbrüche in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .12
2.2.2 Entstehung von Zwischenräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13
2.3 Kriegszerstörungen und Migrationbewegungen in Polen . . . . . . . . . . . . . . .14
2.3.1 Kriegszerstörungen in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .14
2.3.2 Umsiedlungen, Flucht und Vertreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15
3 Wie Feuer und Wasser: Nationale Propaganda und Kommunismus 17
3.1 Die kommunistische Machtübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17
3.1.1 Charakteristik der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17
3.1.2 Prozess der Machtübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .18
3.2 Hindernisse und Widerstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19
3.2.1 Katholizismus und Traditionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19
3.2.2 Nationaler und antirussischer Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20
3.3 ,Kommunismus mit nationalem Gesicht' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21
4 Geschichte im Dienst der Machtstabilisierung 23
4.1 Polens Flucht in die Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23
4.2 Kommunistische Geschichtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25
4.2.1 Hauptthemen der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27
4.2.2 Geschichtssicht und Minderheiten: Vergessen als Element der kollektiven Erinnerung .27
I

I Inhaltsverzeichnis
5 Denkmalpflege und Wiederaufbau in Polen 30
5.1 Denkmalpflege vor dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30
5.2 Denkmalpflege im Kommunismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .32
5.2.1 Rahmenbedingungen des Wiederaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .32
5.2.2 Denkmalpflege als Politikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .34
5.2.3 Flucht vor dem sozialistischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .38
5.3 Vergleich zu den westlichen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39
5.4 Denkmalpflege und das multikulturelle Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .40
6 Wiederaufbau 42
6.1 Das Konzept der sozialistischen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43
6.2 ,National im Inhalt' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .44
7 Das deutsche Erbe in den Nord- und Westgebieten 48
7.1 Integrierende Wirkung der Angst vor den Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . .48
7.2 Piastenpolitik: Legitimierung der Besiedlung der West- und Nordgebiete . . . . . .51
7.3 Identifikations- und Sicherheitsangebot für die Umgesiedelten . . . . . . . . . . . .53
7.4 Die oberflächliche Zerstörungen des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .54
8 Das Beispiel Stettin 56
8.1 Rahmenbedingungen des Wiederaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .56
8.1.1 Akute Probleme des Wiederaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .57
8.1.2 Kompetenz- und Finanzverteilung im Wiederaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . .58
8.2 Der Bruch mit dem Deutschen im Wiederaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . .59
9 Brüche in der Stadtplanung 61
9.1 Der Umgang mit Denkmälern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61
9.2 Denkmalschutz in Stettin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62
9.2.1 Konzentration auf Einzeldenkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62
9.2.2 Die Bedeutung des ,Polnischen' im Wiederaufbau: Das Stettiner Stadtschloss . . . . . .63
9.2.3 Verbal-Radikalismus: Der Wiederaufbau des Schlosses in der medialen Darstellung . . .65
9.3 Brüche in der Stadtstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .66
9.3.1 Die Überformung der Altstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .66
9.3.2 Eingriffe in die Stadtstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .67
10 Kontinuitäten zur deutschen Zeit 68
10.1 Der Umgang mit Denkmälern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .68
10.2 Denkmalschutz und der Erhalt des deutschen Erbes . . . . . . . . . . . . . . . . .69
10.2.1 Hans Bernhard Reichow: Dekontextualisierung der Einzeldenkmale . . . . . . . . . .72
10.2.2 Der Abriss des Langhans - Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .74
10.3 Kontinuitäten in der Stadtstruktur: Vergleich zu den Planungen aus deutscher Zeit .75
II

I Inhaltsverzeichnis
10.3.1 Umgang mit der Altstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .75
10.3.2 Überbauung der Stadtstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .77
11 Fazit: Der Wiederaufbau Stettins zwischen Propaganda und Wirklichkeit 79
12 Das jüdische Erbe in den Ostgebieten 81
12.1 Jüdische Siedlungen in Polen: Ostjuden als Nation? . . . . . . . . . . . . . . . . .81
12.2 Die Vernichtung des jüdischen Lebens durch die Nationalsozialisten . . . . . . . .82
12.3 Das Polnisch - Jüdische Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .83
12.3.1 Antisemitismus vor dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .84
12.3.2 Antisemitismus in der Volksrepublik Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .85
12.3.3 Polnisch - jüdische Opferkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .87
12.4 Das bauliche Erbe der Juden in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88
12.4.1 Die zweite Zerstörungswelle jüdischer Bauten nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . .88
12.4.2 Der Umgang mit erhalten gebliebenen Synagogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .89
13 Das Beispiel Lublin 92
13.1 Siedlungsstrukturen innerhalb der Stadt Lublin . . . . . . . . . . . . . . . . . . .92
13.2 Rahmenbedingungen des Wiederaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .95
13.3 Kompetenz- und Finanzverteilung im Wiederaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . .96
14 Brüche in der Stadtplanung 98
14.1 Überbauung der jüdischen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .98
14.1.1 Umgestaltung des Stadtteils Podzamcze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
14.1.2 Umgestaltung weiterer jüdischer Stadtteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
14.2 Betonung des Polnischen: Sorgfältige Sanierung der Altstadt . . . . . . . . . . . 102
15 Frage nach Kontinuitäten 104
15.1 Erhaltene Zeugnisse jüdischer Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
15.2 Erinnerung an die jüdische Vergangenheit Lublins . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
16 Fazit 107
17 Schlussbetrachtung 110
17. 1 Zusammenfassung: Die Verdrängung des multikulturellen Erbes in Stettin und
Lublin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
17.2 Aktuelle Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
17.2.1 Die Integration des deutschen Erbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
17.2.2 Die Wahrnehmung des jüdischen Erbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
17.2.3 Die Entdeckung des ukrainischen Erbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
III

I Inhaltsverzeichnis
18 Literaturverzeichnis 114
18.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
18.2 Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
18.3 Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
18.4 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
18.5 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
19 Erklärung 132
IV

II Abbildungsverzeichnis
V
II Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:
Stettiner Stadtschloss, Südfassade . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Abbildung 2:
Kanaldeckel in Stettin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Abbildung 3:
Kriegszerstörung der Stadt Stettin . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Abbildung 4:
Die Stettiner Oberstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Abbildung 5:
Denkmal ,,Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion" . . . . . . . 62
Abbildung 6:
Alte Ansicht des Stettiner Stadtschlosses, Südfassade . . . . . . 64
Abbildung 7:
Das Oderband / Oderarterie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Abbildung 8:
Brunnen am Roßmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Abbildung 9:
Denkmal 70 / 71. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Abbildung 10:
Hakenterrasse Detailansicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Abbildung 11:
Hakenterrasse Gesamtansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Abbildung 12:
Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . 72
Abbildung 13:
Grabstein einer deutschen Familie . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Abbildung 14:
Trasa Zamkowa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Abbildung 15:
Ehemaliger Standort des Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . 78
Abbildung 16:
Die erhaltene Synagoge in Lublin. . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Abbildung 17:
Stadtplan Lublins von 1783 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Abbildung 18:
Stadtplan Lublins von 1875 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Abbildung 19:
Aufnahme der jüdischen Stadt, 1930 . . . . . . . . . . . . . . . 94
Abbildung 20:
Stadtplan von 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Abbildung 21:
Aktueller Stadtplan Lublins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Abbildung 22:
Die Ost - West - Verbindung Al. Tysiciecia . . . . . . . . . . . .100
Abbildung 23:
Der Plac Zamkowy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101
Abbildung 24:
Der Stadtteil Czechów . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102
Abbildung 25:
Das Denkmal am neuen Jüdischen Friedhof . . . . . . . . . . .105
Abbildung 26:
Die Jeschiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .105
Abbildung 27:
Das 2007 eingeweihte Einkaufszentrum in Lublin . . . . . . . .112

III Abkürzungsverzeichnis
VI
III Abkürzungsverzeichnis
AK
Armia Krajowa [Heimatarmee]
Al.
Aleja [Allee]
AL
Armia Lodowa [Volksarmee]
CKP
Centralny Komitet ydów Polskich [Zentrales Komitee der polnischen Juden]
ECA
Economic Cooperation Administration
ICOMOS
International Council on Monuments and Sites
PIS
Prawo i Sprawiedliwo [Recht und Gerechtigkeit]
PKZ
Pracownie Konserwacji Zabytków [Werkstätten für Denkmalpflege]
PLN
Abkürzung für die polnische Währung Zloty
PSL
Polskie Stronnictwo Ludowe [Polnische Volkspartei]
PRL
Polska Republika Ludowa [Polnische Volksrepublik]
PPR
Polska Partia Robotnicza [Polnische Arbeiterpartei]
PPS
Polska Partia socjalistyczna [Polnische Sozialistische Partei]
PWRN
Prezydium Wojewódzkiej Rady Narodowej [Präsidium des Nationalen Wojewod-
schaftsrats]
SDKPIL
Socjaldemokracja Krolestwa Polskiego i Litwy [Sozialdemokratie des Königreichs
Polens und Litauens]
SDO
Szczeciska Dyrekcja Odbudowy [Stettiner Direktion für Wiederaufbau]
Teatr
NN
Theater Nomen Nescio [den Namen kenne ich nicht]
Ul
.
Ulica [Straße]
UMCS
Uniwersytet Marii Curie-Sklodowskiej [Maria - Curie - Sklodowska - Universität]
UWL
Urzd Wojewódzki Lubelski [Wojewodschaftsamt Lublin]
UWS
Szczeciska Dyrekcja Odbudowy [Stettiner Direktion für Wiederaufbau]

1. Einleitung
1. Einleitung
Seit der politischen Transformation in den Staaten des ehemaligen Ostblocks Ende der 1980er
Jahre lässt sich dort ein Prozess beobachten, der in der Wissenschaft häufig mit Wiederentdek-
kung, Wiedergewinnung oder Rückkehr der Geschichte beziehungsweise der Erinnerung benannt
wird.
1
Die Veränderung des Geschichtsbewusstseins wird unter anderem an der Umbenennung
von Straßen und Plätzen, dem Sturz und der Neuerrichtung von Denkmälern oder in den Rekons-
truktionen alter Gebäude oder ganzer Stadtteile offensichtlich. Die einsetzende Rückgewinnung
des lokalen historischen Erbes ist als Gegenbewegung zum kommunistischen Zentralismus und
als Revision der Geschichtspropaganda zu verstehen, die die Vergangenheit politisch filterte.
2
Der
Historiker John Czaplicka betont, ,,Heritage is a question of choice"
3
und zeigt in seinen Untersu-
chungen, dass die postkommunistischen Staaten diese Wahl momentan neu treffen. So begann
ein Hinterfragen der im Kommunismus propagierten nationalen Meistererzählungen, die über
inszenierte Geschichtspolitik eine Stabilität des politischen Systems bewirken sollten. Dem im
Sozialismus vorherrschenden ,,romantisch - symbolischen Kanon"
4
aus Schlagworten wie ,,Vaterland,
Solidarität, Leiden, Freiheit, Opfer"
5
wird eine differenzierende und lokal divergierende Sicht auf
die Geschichte einzelner Regionen entgegengesetzt. In Polen ging in Folge der Kriegswirrun-
gen, durch Flucht, Vertreibung und Umsiedlung und dem starken Zentralismus des kommuni-
stischen Systems ein regionales Bewusstsein verloren: Dialekte verschwanden, Geschichte wurde
auf nationaler, nicht auf regionaler oder lokaler Ebene betrachtet.
6
Die demokratische Wende
fungierte als Öffnung einer Schleuse der Erinnerungen und führte zu einem Zusammenbruch
festumrissener Geschichtsvorstellungen in der Wissenschaft, Gesellschaft und Politik.
7
In Polen
fand im Zuge dessen neben einer Regionalisierung der Erinnerung auch eine Rückbesinnung
auf die multiethnische Tradition des Landes statt, auf die Geschichte Polens als Vielvölkerreich,
die in der zentralistischen Volksrepublik verneint wurde.
8
Durch die Dezentralisierung und einer
eintretenden Entfremdung von Warschau, findet seit 1989 eine historische Spurensuche nach
Identität und Vergangenheit auf persönlicher, lokaler sowie regionaler Ebene statt, bei der ganz
bewusst nach der Prägung Polens durch nationale und religiöse Minderheiten geforscht wird.
9
1 Beispielsweise: Loew, Peter Oliver; Pletzing, Christian; Serrier, Thomas (Hg.) (2006): Wiedergewonnene Geschichte. Zur An-
eignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas. Wiesbaden; Snyder, Timothy (2003): The Reconstruction
of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus. 1569 - 1999. Yale; Murzyn-Kupisz, Monika; Purchla, Jacek: Przywracanie
pamici. Rewitalizacja zabytkowych dzielnic ydowych w miastach Europy rodkowej [Die Wiederherstellung der Erinnerung.
Die Revitalisierung von denkmalgeschützten jüdischen Stadtteilen in den Städten Mitteleuropas]. Kraków.
2 Czaplicka, John J. (2004): Putting Heritage and Identity into Place after Communism: Gdask, Riga, and Vilnius, S. 147 - 166.
In: Flemming, Christiansen (Hg.): The Politics of Multiple Belonging. Ethnicity and Nationalism in Europe and East Asia.
Hants, S. 147.
3 Ebenda, S. 149.
4 Kobyliska, Ewa (1998): Polens Gedächtnis und seine Symbole, S. 120 - 132. In: Kobyliska, Ewa; Lawaty, Andreas (Hg.):
Erinnern, Vergessen, Verdrängen. Polnische und deutsche Erfahrungen. Wiesbaden, S. 126.
5 Ebenda.
6 Steffen, Karin (2006): Ambivalenzen des affirmativen Patriotismus. Geschichtspolitik in Polen, S. 219-233. In: Osteuropa: Quo
vadis, Polonia? Kritik der polnischen Vernunft. 56/ H. 11, Berlin, S. 233.
7 Wolff-Powska, Anna (2007): Geschichtspolitik. Die polnischen Auseinandersetzungen um Geschichte und Gedächtnis,
S. 207 - 219. In: Deutsches Polen - Institut Darmstadt (Hg.): Jahrbuch Polen 2007. Stadt. Wiesbaden, S. 208.
8 Kraft, Claudia (2006, A): Die Debatte über polnisches Nationalbewusstsein und polnische Erinnerungskultur heute, S. 93 - 112.
In: Faulenbach, Bernd ; Jelich Franz - Josef (Hg.): ,Transformationen' der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989. Essen,
S. 93f.
9 Loew, Peter Oliver (2007): Von Gdask nach Breslaw. Die polnische Vergangenheit in der polnischen Gegenwart, S. 94 - 99. In:
Deutsches Polen-Institut Darmstadt (Hg.): Jahrbuch Polen 2007. Stadt. Wiesbaden, S. 96 f.

1. Einleitung
Vor allem in Nord- und Westgebieten Polens entstehen zahlreiche Initiativen, die sich mit der
multiethnischen und multikonfessionellen Geschichte ihrer Region beschäftigen und diese der
einst oktroyierten Zentralität und Gleichheit Polens entgegensetzen.
10
Aber auch die polnisch-
jüdische Geschichte rückt verstärkt ins Blickfeld der Forschung;
11
eine Initiative, die das Erbe der
Lubliner Juden erforscht, wird im Laufe der Arbeit näher vorgestellt.
12
1.1 Fragestellung der Ausarbeitung
Damit Geschichte wiederentdeckt werden kann, muss sie zunächst verloren gehen, verdrängt,
überbaut, vergessen oder verschleiert werden. Dieser Prozess der ,,Entfremdung von der eigenen
Geschichte"
13
fand in Polen während des Aufbaus des sozialistischen Systems in der Nachkriegs-
zeit und verstärkt in Zeiten des Stalinismus statt, da die ,,Installierung der kommunistischen Ord-
nung (...) eben darin [bestand], die sozialen, kulturellen und politischen Kontinuitäten mit der Ver-
gangenheit gänzlich zu unterbrechen".
14
Zwar knüpfte die nationale Sicht auf die polnische Ge-
schichte an Traditionen aus dem 19. Jahrhundert an und wurde auch nach dem politischen Tau-
wetter von 1956 weiter praktiziert, de facto war jedoch der Zeitraum vom Kriegsende in Polen
1944 / 1945 bis 1956 die Epoche der größten ideologischen Uminterpretation und Neuschreibung
der polnischen Geschichte. In diesen zwölf Jahren erfolgte zudem der Wiederaufbau des kriegs-
zerstörten Polens ­ so dass während dieser Zeitspanne einschneidende Eingriffe in die historisch
geprägte Stadtstruktur und den Denkmalbestand Polens vollzogen wurden. Zwar veränderte der
Siedlungsbau in Wohnvierteln am Stadtrand in den 1970er und 1980er Jahre am nachhaltigsten
den städtischen Charakter im sozialistischen Raum. Die Frage nach dem Umgang mit dem mul-
tikulturellen Erbe, das sich in den historischen Zentren der Städte befand, war aber während der
Wiederaufbauphase am präsentesten. Die Schaffung neuer oder die Vereinnahmung von histo-
rischen Identitäten hatte dazu geführt, dass die gewachsene Strukturen der Städte überbaut oder
unliebsame Bauten, die als politische Symbole galten, vernachlässigt worden waren.
15
Die vorliegende Ausarbeitung stellt diesen Prozess der Überformung von historischen Struk-
turen von 1944 bis 1956, das heißt während der Phase der Machtübernahme und der Zeit des
Stalinismus, heraus. Dadurch wird nachgezeichnet, ob - beziehungsweise wie - die Erinnerung
an die Geschichte Polens als Vielvölkerstaat verloren gehen konnte ­ so dass heute ein Prozess
der Wiederentdeckung eben dieser Geschichte angestoßen werden kann. Dabei legt sie einen
Schwerpunkt auf das jüdische und das deutsche bauliche Erbe.
10 Kraft, Claudia. (2006, B): Lokal erinnern, europäisch denken. Regionalgeschichte in Polen, S. 235 - 244. In: Osteuropa: Quo
vadis, Polonia? Kritik der polnischen Vernunft. 56 / Heft. Berlin, S. 238.
11 Kranz, Tomasz (1998): Das Verbrechen des Nationalsozialismus als historische Erfahrung der Deutschen und Polen, S. 13 - 30.
In: Kranz, Tomasz (Hg.): Die Verbrechen des Nationalsozialismus im Geschichtsbewusstsein und in der historischen Bildung
in Deutschland und Polen, Lublin, S. 27.
12 vgl. hierzu Gliederungspunkt 15.2.
13 Stobiecki, Rafal (2005): Die Gegenwart der Vergangenheit. Kommunismus und Volksrepublik in der öffentlichen Debatte
Polens nach 1945, S. 429 - 451. In: Cornelißen, Christoph; Holec, Roman; Pesek, Jií (Hg.): Diktatur ­ Krieg ­ Vertreibung.
Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Essen, S. 429.
14 Maków, Jerzy (2008): Die Rückkehr der Geschichte nach dem Kommunismus, S. 17-28. In: Rill, Bernd (Hg.): Vergangenheits-
bewältigung im Osten - Russland, Polen, Rumänien. München, S. 17.
15 Bingen, Dieter; Hinz, Hans - Martin (Hg.) (2005): Die Schleifung: Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in
Deutschland und Polen. Wiesbaden, S. 7.

1. Einleitung
1.2 Methodisches Vorgehen: Vergleich Stettin ­ Lublin
Diese vergleichende Vorgehensweise wirkt im ersten Moment problematisch, da es sich bei der
jüdischen Minderheit in Polen im Gegensatz zu der deutschen um eine religiöse, nicht um eine
nationale Gruppierung zu handeln scheint. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass
­ nach Heiko Haumann ­ die Juden in Mittelosteuropa ab dem 18. Jahrhundert eine ,,in sich ab-
geschlossene Kulturpersönlichkeit"
16
mit eigenen Sitten, Gebräuchen, Kleidung, einer eigenen Spra-
che sowie religiösen Vorschriften und Traditionen herausbildeten. Wie im Folgenden ausgeführt
wird, definierten sie sich demnach selbst als Nation und wurden auch in der Fremdwahrnehmung
als solche begriffen. Ein Vergleich zwischen dem Umgang mit dem deutschen und dem jüdischen
Erbe erscheint demnach möglich.
Dieser ergibt zudem Sinn, da die polnische Regierung in der Zwischenkriegszeit, der sogenann-
ten II. Republik,
17
auf eine Integration der slawischen Minderheiten und eine Ausgrenzung der
Deutschen und Juden gesetzt hatten. Das Kulturerbe slawischer Minderheiten ist nicht nur we-
gen des Versuchs einer Assimilierung kompliziert zu untersuchen: Die belarussische Minderheit
beginnt erst seit wenigen Jahre eine nationale Identität herauszubilden und ein Einbezug der
Analyse des ukrainischen Bauerbes kann nicht erfolgen, da die Siedlungsschwerpunkte der ukrai-
nischen Minderheiten meist auf dem Land oder in Kleinstädten lagen. Das deutsche und jüdische
Erbe wird in dieser Arbeit aber, vor allem aufgrund der Quellenlage und der Siedlungsstrukturen,
am städtischen Raum vorgestellt. Bei einem Vergleich mit dem ukrainischen Erbe müsste somit
der Unterschied im Wiederaufbau auf dem Land im Gegensatz zur Stadt erörtert werden ­ ein
Themenfeld, das über den Rahmen dieser Arbeit hinausreicht.
Der Umgang mit dem deutschen Erbe wird am Beispiel der Stadt Stettin (Szczecin), das jüdische
Erbe am Beispiel der ostpolnischen Stadt Lublin analysiert. Der Bezugspunkt Stettin bietet sich
an, da die Stadt als Musterbeispiel einer mittelosteuropäischen Siedlung nach dem Zweiten Welt-
krieg angesehen werden kann: Wie viele weitere Städte wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg
von einem fast vollständigen Bevölkerungsaustausch, einem Systemwechsel sowie einem Wechsel
der staatlichen Zugehörigkeit geprägt ­ wie etwa auch Lemberg (Lwiw), Breslau (Wroclaw) und
Wilna (Vilnius)
18
oder zahlreiche Städte in den polnischen Nord- und Westgebieten wie Allen-
stein (Olsztyn) oder Elbing (Elbg).
19
In Stettin war aber von allen heute polnischen Städten der
deutsche Einfluss am intensivsten, da hier die längste und kontenuierlichste Besiedlung durch
Deutsche stattgefunden hatte.
20
Die Ansiedlung von Juden im Stadtraum beeinflusste über 500 Jahre die Stadtgeschichte Lub-
16 Haumann, Heiko (2003): Juden. S. 153 - 159. In: Lawaty, Andreas; Orlowski, Hubert (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte,
Kultur, Politik. München, S. 155.
17 Mit der I. Republik wird in der polnischen Geschichtsschreibung die Adelsrepublik bezeichnet, die Bezeichnung II. Republik
bezieht sich auf die Jahre von 1918 bis 1939, mit der III. Republik ist der polnische Staat nach der politischen Transformation
von 1989 gemeint. Die Bezeichnung IV. Republik wurde von der Partei PIS (Recht und Gerechtigkeit) im Wahlkampf verwen-
det, basiert jedoch auf keiner historischen Epocheneinteilung..
18 Musekamp, Jan (2009, B): Leere Sockel und neue Helden. Stettin und seine Denkmäler. 1945 ­ 2005, S. 175 - 201. In: Bohn,
Thomas M. (Hg.): Von der ,europäischen Stadt' zur ,sozialistischen Stadt' und zurück? Urbane Transformationen im östlichen
Europa des 20. Jahrhunderts. München, S. 175.
19 Musekamp, Jan (2006): Der Königsplatz (Plac olnierza Polskiego) in Stettin als Beispiel kultureller Aneignung nach 1945,
S. 19 - 35. In: Loew, Peter Oliver; Pletzing, Christian; Serrier, Thomas (Hg.): Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von
Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas. Wiesbaden, S. 34.
20 Weczerka, Hugo (1997): Deutsche Geschichte und Kultur im heutigen Polen. Abgrenzung des Themas nach Raum und Zeit,
S. 7 - 25. In: Karp, Hans Jürgen (Hg.): Deutsche Geschichte und Kultur im heutigen Polen. Fragen und Gegenstandsbestim-
mung und Methodologie. Marburg, S. 17.

1. Einleitung
lins. Die Stadt war zwar immer Teil des polnischen Staates, soweit dieser eigenständig existierte,
hatte aber bis zum Zweiten Weltkrieg durchgehend eine jüdische Minderheit von 30 % bis 50 %.
Diese siedelte, wie aufgezeigt wird, in separaten Stadtteilen und wurden als ,anders', als ,nicht-
polnisch' angesehen. Dennoch ist an dieser Stelle auf den Unterschied hinzuweisen, dass Stettin
in der Zwischenkriegszeit auf deutschem Staatsgebiet lag, während Lublin, im polnischen Staat
gelegen, lediglich durch eine große jüdische Minderheit geprägt wurde. Dennoch erscheint die
Untersuchung des deutschen Erbes in einer Stadt, die etwa wie Posen (Pozan) bereits in der
Zwischenkriegszeit polnisch war, nicht sinnvoll, da hier zwar einzelne Bauten ­ größtenteils aus
der Kaiserzeit stammend ­ , aber keine ganzen Stadtteile als deutsch wahrgenommen wurden.
Außerdem fand hier eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Erbe bereits in der
II
. Repu-
blik, nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg, statt, was wiederum den Untersuchungszeitraum
verschieben würde.
21
Wie Stettin wurde Lublin durch die territorialen Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz zu
einer Stadt an der Peripherie: Beide Städte verloren durch die neuentstehenden Grenzen den
Kontakt zu den nahegelegenen Metropolen: Lublin zu Lemberg, Stettin zu Berlin. Wie Stet-
tin hatte Lublin, bedingt durch den Zweiten Weltkrieg, mit einem starken Bevölkerungsverlust,
wenn auch nicht mit einem vollständigen Austausch, zu kämpfen. Trotz unterschiedlicher Sied-
lungstraditionen und Stadtgrößen vor dem Zweiten Weltkrieg, einer anderen infrastrukturellen
Anbindung und industriellen Entwicklung ist das zerstörte Zentrum der Städte 1945 miteinan-
der vergleichbar. In beiden Städten gab es eine Untergliederung der zerstörten Altstadt: In Stettin
war die Altstadt zweigeteilt ­ in die Unterstadt, die eine slawische Siedlung älteren Ursprungs
war, und die Oberstadt, die sich durch den Zuzug deutscher Siedler im 12. Jahrhundert entwickelt
hatte. Die ebenfalls zweigliedrige Altstadt Lublins war in einem ihrer Teile polnisch geprägt, als
zweiter altstädtischer Teil entwickelte sich ab dem 14. Jahrhundert eine ihr vorgelagerte jüdische
Stadt. Beide städtischen Zentren wurden durch die Einwirkungen des Zweiten Weltkriegs massiv
zerstört: Lublin durch die Bombardierungen der Wehrmacht und einer systematischen Zerstö-
rung der Judenstadt nach der Deportation der jüdischen Lubliner, Stettin durch die Luftangriffe
der Alliierten und den Einmarsch der Roten Armee. In beiden Städten wurden nach 1945 unter-
schiedliche Wiederaufbaukonzepte hinsichtlich der beiden altstädtischen Viertel angewandt, in
beiden Städten entschied man sich je bei einem Teil der Altstadt gegen den Wiederaufbau. Die
Wohngebiete aus dem 19. Jahrhundert hatten sowohl in Stettin als auch in Lublin den Krieg re-
lativ unzerstört überstanden. Durch die Lage an der Peripherie waren beide Städte ins politische
und propagandistische Abseits geraten. Ihr Wiederaufbau wurde weit weniger unterstützt als der
von Warschau (Warszawa), Danzig (Gdask), Posen oder später Breslau. Trotzdem blieben beide
nicht vollständig unbeachtet: In Stettin wurde eine spezielle Behörde, die Stettiner Wiederauf-
baudirektion, gegründet um den Wiederaufbau der Stadt voranzutreiben, Lublin war 1954 im
Zuge des zehnjährigen Jubiläums des Lubliner Komitees in den Zuständigkeitsbereich der Wie-
deraufbaubehörde Warschau gekommen.
Der markanteste Unterschied im Vergleich des Umgangs mit dem multikulturellen Erbe ist, dass
das Erbe der Deutschen als Zeugnisse der ,Täter' angesehen, und dementsprechend politisch wie
propagandistisch dessen Zerstörung gefordert wurde. Dagegen waren die Hinterlassenschaften
der Juden das Erbe einer Minderheit, die wie die Polen Opfer des Zweiten Weltkriegs geworden
21 Frank, Lorenz (2006): Konzepte für den Wiederaufbau historischer Altstädte in Polen nach 1945, S. 9 - 28. In: Koldeway - Ge-
sellschaft (Hg.): Bericht über die 44. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung, Bonn, S. 21.

1. Einleitung
war. Doch genau mit dieser Unterscheidung arbeitet die folgende Ausführung: Es wird untersucht,
inwiefern das deutsche Erbe stärker zerstört, überbaut und verdrängt wurde als das jüdische, und
inwieweit dies politisch oder emotional mit der weitverbreiteten antideutschen Einstellung der
Nachkriegsjahre zusammenhing.
1.3 Definitionsbestimmung:
Was ist ,deutsches', was ,jüdisches' Bauerbe?
Die Analyse des multikulturellen baulichen Erbe scheint eine Zuweisung von Nationalitäten an
Bauwerke oder Stadtteile zu beinhalten. Da sich, wie unter Kapitel 6.2 aufgezeigt wird, eine Zu-
ordnung von Adjektiven wie deutsch, jüdisch oder polnisch für bestimmte Bauten als problema-
tisch erweist, wird sie hier vermieden. Vielmehr geht es bei dem Ausgangspunkt der Fragestellung
nach dem multikulturellen Erbe um die Wahrnehmung der Bauten im Untersuchungszeitraum.
Es wird nach dem Umgang mit den Überresten der multikulturellen Vergangenheit Polens ge-
fragt, die von der polnischen Gesellschaft in den 1950 er Jahren als Erbe dieser Geschichte auf-
gefasst wurden. Begriffe wie ,,poukraiski"
22
, ,,poniemiecki"
23
oder ,,poydowski"
24
(nach den Ukrai-
nern", ,,nach den Deutschen" ,,nach den Juden") tauchen im adjektivischen Bezug auf Gebäude,
Gegenstände, Stadtteile oder Friedhöfe immer wieder in den Akten, der Literatur oder der Um-
gangssprache auf. Sie zeigen, dass das in der vorliegenden Arbeit untersuchte Bauerbe als ,nicht-
polnisch' angesehen wurde. In diesem Sinne sind die Begriffe des deutschen und jüdischen Erbes
in Polen in den folgenden Ausführungen zu verstehen und stets in gedankliche Anführungszei-
chen zu setzen.
1.4 Aktueller Forschungsstand, Literatur- und Quellenanalyse
Die Zerstörung und der Wiederaufbau von Architektur als symbolische Politik ist ein spannender
Themenkomplex, dem sich in letzter Zeit immer mehr Publikationen und Forschungsprojekte
widmen.
25
Eine umfassende Darstellung zu dieser Thematik auf deutsch-polnischer Ebene, die
die zahlreichen Einzelstudien systematisiert und kontextualisiert, liegt jedoch noch nicht vor.
26
In Bezug auf die Nachkriegsjahre in Polen und die Implementierung der sozialistischen Ideologie
gelten innerhalb der polnischen Geschichtswissenschaft Kersten Krystyna und Jerzy Holzer als
maßgeblich, deren Forschungen für die Darstellung der historischen Grundlagen dieser Aus-
arbeitung herangezogen werden. Innerhalb der polnischen Sozialismusforschung wird verstärkt
die grundlegende Frage untersucht, inwieweit die polnische Politik von 1944 bis 1989 von au-
22 Staatsarchiv in Lublin, 698, UWL, Sg. 63, Sprawa dotyczce osiedlenia ludnoci polskie na gospodarkach wysiedlonych
Ukraiców [Angelegenheit, der Ansiedlung der polnischen Bevölkerung in den Wirtschaftsräumen, aus denen die Ukrainer
ausquartiert wurden]
23 Zybura, Marek (2003): Das deutsche Kulturerbe in Polen, S. 144 - 153. In: Lawaty, Andreas; Orlowski, Hubert (Hg.): Deutsche
und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München, S. 145 f.
24 Staatsarchiv in Lublin, PWRN, Sg. 96, Grobownictwo wojenne ­ zamykanie i likwidacje cmentarzy [Kriegsgräber ­ Schließung
und Auflösung von Friedhöfen], 1967.
25 Vgl. etwa: Bingen, Dieter; Hinz, Hans - Martin (2000); Bartetzky, Arnold; Dmitrieva, Marina; Troebst, Stefan (Hg.) (2005):
Neue Staaten - neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst der staatlichen Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918.
Köln, u.a sowie Bingen, Dieter; Hinz, Hans - Martin (2005).
26 Wilderotter, Hans (2005): ,,Kein Stein wird auf dem anderen bleiben". Zerstörung und Wiederaufbau von Architektur als
symbolische Politik, S. 12 - 32. In: Bingen, Dieter; Hinz, Hans-Martin (Hg.): Die Schleifung: Zerstörung und Wiederaufbau
historischer Bauten in Deutschland und Polen. Wiesbaden, S. 12.

1. Einleitung
ßen, inwieweit von innen bestimmt war.
27
Daneben konzentriert man sich auf eine Aufarbeitung
weißer Flecken, das heißt der Thematiken, die während des Sozialismus Tabuthemen waren, wie
beispielsweise Flucht und Vertreibung, sowjetische Verbrechen oder die Frage nach Polen als
mögliche Täter während des Zweiten Weltkriegs.
28
Dies führte bisher zu einer Vernachlässigung
von Fragen nach einzelnen Aspekten des Aufbaus des Sozialismus, wie dem Wiederaufbau, der
Geschichtspolitik oder der Denkmalpflege. In der deutschen Geschichtswissenschaft wird die
polnische Geschichte per se, aber auch die Zeit des Sozialismus in Polen sowie die polnische
Denkmalpflege lediglich in Ansätzen behandelt. Zahlreiche polnische Untersuchungen liegen
aber in deutscher oder englischer Übersetzung vor. Bezüglich des Wiederaufbaus sind in der
deutschen Forschung die großen Projekte wie die Rekonstruktionen von Warschau, Danzig und
Breslau bekannt, werden aber relativ undifferenziert betrachtet.
29
Deswegen wird in den folgenden
Ausführungen bezüglich der Denkmalpflege im Allgemeinen sowie Stettin und Lublin im Spe-
ziellen verstärkt auf polnische Publikationen zurückgegriffen.
1.4.1 Forschungstand bezüglich des deutschen Erbes
In der polnischen Geschichtsforschung wird die deutsche Prägung der West- und Nordgebiete
selbstverständlich anerkannt und festgestellt, ,,dass Ostpreußen, Pommern, Schlesien bis zum Zweiten
Weltkrieg deutsche Provinzen, Königsberg, Stettin und Breslau deutsche Städte waren"
30
, eine Revisi-
on der sozialistischen Geschichtspropaganda, die unter der deutschen Bevölkerung noch kaum
wahrgenommen wurde. Man forscht in Polen momentan intensiv zum deutschen Erbe in den
Nord- und Westgebieten, zahlreiche Untersuchungen und Konferenzen werden angestoßen, vor
allem in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Dementsprechend liegt zu dem Aspekt des
deutschen Kulturerbes in Polen eine Vielzahl an überwiegend gut recherchierten Aufsätzen vor,
bei denen es sich meist um spezifische Einzelfalluntersuchungen handelt,
31
so dass heute noch
immer das gilt, was John Czaplicka 1997 feststellte:
,,Eine umfassende Geschichte über das Vorgehen bei Aneignung und Vernachlässigung von Ele-
menten, die früher mit deutscher Kultur in den neuen polnischen Gebieten nach dem Zweiten
Weltkrieg assoziiert wurden, muß daher noch durch sorgfältige Einzelstudien geschrieben wer-
den, die örtliche Archive ausschöpft."
32
Genau dies versucht diese Ausarbeitung zu leisten: Sie ist eine Einzelfallstudie, in der der Um-
gang mit der deutsch geprägten Stadtstruktur, Bausubstanz und Umbaupläne anhand des Bei-
27 Wóycicki, Kazimierz (1998): Opfer und Täter. Die polnische Abrechnung mit der Geschichte nach 1989, S. 291 - 308. In:
König, Helmut; Kohlstruck, Michael; Wöll, Andreas (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.
Wiesbaden, S. 291.
28 Kraft, Claudia (2006, A), S. 107.
29 Frank, Lorenz (2006), S. 9.
30 Kessler, Wolfgang (2001): Zwischen Deutschland und Polen. Zu Geschichte und Geschichtsschreibung des preußischen Ostens
und polnischen Westens, S. 31 - 81. In: Weber, Matthias (Hg.): Deutschlands Osten ­ Polens Westen. Vergleichende Studien zur
geschichtlichen Landeskunde. Frankfurt am Main, S. 73.
31 Vgl. hierzu den Forschungsstand zu Stettin: Hier liegen maßgebliche Aufsätze vom Jörg Hackmann, Katja Bernhardt und Jan
Musekamp vor, die vor allem die Frage nach Kontinuitäten zwischen dem deutschen Vorkriegs- und dem polnischen Nach-
kriegsstettin untersuchen, wie etwa: Hackmann, Jörg (2000): Stettin: Zur Wirkung der deutsch-polnischen Grenze auf die
Stadtentwicklung nach 1945, S. 209 - 235. In: Stöber, Georg; Maier Robert (Hg.): Grenzen und Grenzräume in der deutschen
und polnischen Geschichte. Scheidelinie oder Begegnungsraum? Hannover. Bernhardt, Katja; Musekamp, Jan (2008): 1945
­ ein Bruch? Stadtplaner in Stettin und Szczecin, S. 38 - 59. In: Thomas Serrier (Hg.): Aneignung fremder Kulturen in plurikul-
turellen Städten in Nordosteuropa. 20. Jahrhundert. Lüneburg; Musekamp, Jan (2006), Wiesbaden.
32 Czaplicka, John (1997): Geteilte Geschichte, geteilte Erbschaft. Stadtbild und Kulturlandschaft im Baltikum und Polen, S.
9 - 40. In: Nordost - Archiv (Hg.): Zeitschrift für Regionalgeschichte. Jahresregister VI/1997, Lüneburg, S. 25.

1. Einleitung
spiels der Stadt Stettin aufgezeigt wird. Darüber hinaus wird diese Analyse bezüglich des deut-
schen Erbes kontextualisiert, indem sie in Vergleich zum jüdischen Erbe gesetzt wird. Hieraus
kann deutlich werden, inwiefern eine Vernachlässigung des deutschen Erbes dafür spezifisch und
somit politisch-propagandistisch motiviert war. Bei einer feststellbaren Gleichgültigkeit gegen-
über Hinterlassenschaften anderer Minderheiten können Gründe für das Desinteresse auch in
Stadtplanungskonzepten und Denkmalpflegetheorien gesucht werden.
1.4.2 Forschungsstand bezüglich des jüdischen Erbes
Die polnische Geschichtswissenschaft wendet sich nicht nur der deutschen, sondern der gesam-
ten multikulturellen Vergangenheit Polens und somit dem baulichen Erbe anderer Minderheiten,
wie der jüdischen, zu.
33
Initiativen entstehen, die sich dem jüdischen Bauerbe widmen ­ wie das
bereits genannte Teatr
NN
.
34
In der Bevölkerung wächst das Interesse an den baulichen Hinter-
lassenschaften der Juden. Immer häufiger werden Synagogen restauriert und in Kulturzentren
umgewandelt. Lokale Studien zu einzelnen Regionen und Städten innerhalb Polens werden pu-
bliziert.
35
Doch auch zur Frage des jüdischen Erbes im heutigen Polen liegt noch keine umfassen-
de Abhandlung vor, viele Themenfelder der polnisch - jüdischen Beziehungen und der jüdischen
Ansiedlung innerhalb Polens sind bis heute unbehandelt geblieben.
Es kann festgehalten werden, dass zur spezifischen Fragestellung der Ausarbeitung bisher wenig,
bezüglich einiger Teilaspekte dafür bereits vertieft geforscht worden ist. So ist der Forschungs-
stand bezüglich des deutschen Erbes wie auch zur Stadt Stettin weiter fortgeschritten, als die
Untersuchungen zum jüdischen Erbes und dem Wiederaufbau Lublins. Dementsprechend wird
bei der Arbeit im Allgemeinen auf zahlreiche Einzelfallstudien zurückgegriffen, hinsichtlich der
Ausführungen zu Lublin verstärkt Archivmaterial und lokale Studien mit einbezogen. Da aber
der Wiederaufbau Stettins durch eine speziell dafür gegründete Behörde, die Wiederaufbaudirek-
tion Stettin, erfolgte, liegt dort das Quellenmaterial bezüglich der Wiederaufbaukonzepte- und
projekte gebündelter vor und der Zugriff darauf fällt leichter. Dagegen war die Verantwortung für
den Wiederaufbau Lublins der Baubehörde des Wojewodschaftsamtes zugeteilt, weswegen hier
die Aktenlage wesentlich unübersichtlicher ist. Dokumente aus den unterschiedlichen Bereichen
­ der Baubehörde sowie der Abteilung für Kunst und Kultur, die für denkmalpflegerische Projekte
zuständig war ­ müssen herangezogen werden. Daneben liegen Pläne zum Wiederaufbau Lublins
im dortigen Landesamt für Denkmalpflege. Bei einer Intensivierung der Analyse des Wiederauf-
baus Lublins müsste der dortige Aktenstand mit dem Quellenmaterial der Wiederaufbaubehörde
Warschaus gegengelesen werden, die am Wiederaufbau Lublin beteiligt war.
33 Loew, Peter Oliver (2007), S. 98.
34 Weintraub, Katarszyna (2007): Es war einmal ein Städtchen ... oder: Die Aneignung von Erinnerung, S. 116 - 133. In: Deutsches
Polen-Institut Darmstadt (Hg.): Jahrbuch Polen 2007. Stadt. Wiesbaden, S. 131.
35 Vgl. u.a.: Wisniewski, Tomasz (1998): Jewish Bialystok. and the surroundings in Eastern Poland. A guide for Yesterday and
Today. Ipswich sowie Sabor, Agnieszka (2008): Schtetl. Auf den Spuren der jüdischen Städtchen. Dzialosyzce ­ Piczów
­ Chmielnik ­ Szydlów ­ Chciny. Kraków.

1. Einleitung
1.5 Aufbau der Arbeit
Die Ausarbeitung gliedert sich in drei große Abschnitte: Der erste Teil setzt sich allgemein mit
den Rahmenbedingungen des Untersuchungszeitraums 1944 bis 1956 auseinander und kenn-
zeichnet Merkmale der damaligen Wiederaufbaukonzeptionen, polnischer Geschichtspolitik und
Denkmalpflege. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem deutschen Erbe in den Nord- und
Westgebieten Polens und veranschaulicht dieses am Beispiel der Stadt Stettin. Im dritten Ab-
schnitt wird das jüdische Erbe in den Ostgebieten vorgestellt und anhand des Beispiels Lublins
der Umgang damit in der Volksrepublik herausgearbeitet.
Im ersten, einführenden Abschnitt, der von Kapitel 2 bis 6 reicht, wird zunächst die Entwicklung
Polens von einem Vielvölkerstaat zu einem homogenen Nationalstaat nachgezeichnet, um zu
klären, wie und weshalb sich im Polen der Nachkriegszeit die Frage nach dem Umgang mit dem
multikulturellen baulichen Erbe stellte. Anschließend werden die Charakteristika der Zeit der
Machtübernahme durch die Sozialisten benannt, wobei der Schwerpunkt auf den Widerständen
und Schwierigkeiten, auf die diese dabei stießen, liegt. Diese bewirkten eine Instabilität des sozia-
listischen Polens in der direkten Nachkriegszeit, welche wiederum maßgeblichen Einfluss auf die
sozialistische Geschichtspolitik und Propaganda nahm, die anschließend näher beleuchtet wird.
Inwiefern sich die sozialistische Geschichtsanschauung in der Denkmalpflege widerspiegelte und
inwieweit diese das multikulturelle Erbe unter ihren Schutz stellte, wird im darauffolgenden Glie-
derungspunkt herausgearbeitet. Überleitend zum Umgang mit dem deutschen Erbe wird auf die
städtebauliche Konzeption der sozialistischen Stadt und den Grundsatz des nationalen Bauens
eingegangen.
Einleitend zum Beispiel Stettin wird der Umgang mit dem deutschen Kulturerbe im Allgemeinen
skizziert sowie das Verhältnis Polens zu Deutschland grundlegend thematisiert, um die Baumaß-
nahmen in Stettin in einen weitergefassten Kontext einzubetten. Für Stettin werden einführend
die Rahmenbedingungen herausgestellt, anschließend die Brüche in der Stadtplanung und die
Verdrängung des Deutschen aus dem städtischen Raum beleuchtet. Kontrastierend wird nach
möglichen Kontinuitäten hinsichtlich des deutschen Baubestands und der deutschen Vorkriegs-
planungen gefragt ­ um diese im Fazit mit den Brüchen innerhalb der Stadtplanungen abzuglei-
chen, um so zu einem abschließende Urteil zu gelangen.
Darauffolgend wird der Komplex des jüdischen Erbes durch Fragen nach der Definition der Ost-
juden als Nation, deren Vernichtung durch die Nationalsozialisten und einer Skizze zum pol-
nisch-jüdischen Verhältnis eingeleitet. Zur Bearbeitung des Beispiels Lublins werden zunächst
die dortigen Siedlungsstrukturen, Kriegszerstörungen und Rahmenbedingungen des Wiederauf-
baus vorgestellt. Danach werden ­ analog zu den Untersuchungen zu Stettin ­ zunächst die Brü-
che, anschließend die Kontinuitäten herausgefiltert, um erneut im Fazit ein abschließendes Urteil
zu ziehen. In den Schlussbetrachtungen werden die beiden Ergebnisse miteinander abgeglichen,
aktuelle erinnerungskulturelle Entwicklungen aufgezeigt und weiterführende Fragestellungen
hinsichtlich einer Vertiefung der Thematik dieser Ausarbeitung entwickelt.

1. Einleitung
1.6 Eingrenzung des Themas
Dieser Aufbau der Arbeit zeigt, dass zahlreiche unterschiedliche Facetten der polnischen Ge-
schichte, der Denkmalpflege und des Wiederaufbaus angesprochen werden. Komplexe Thema-
tiken wie das polnisch-deutsche oder polnisch-jüdische Verhältnis, der Antisemitismus in Polen
sowie erinnerungskulturelle Entwicklungen nach 1956 können dadurch nicht im vollen Ausmaß
erfasst werden. Diese Themen werden an den entsprechenden Stellen der Ausführung soweit
vertieft, wie dies für ein Verständnis der Fallanalyen Stettin und Lublin notwendig ist. Ferner
müssen auch Einschränkungen aufgrund des bislang unzureichenden Forschungsstands gemacht
werden: Beispielsweise liegt noch keine fundierte Analyse bezüglich der Erinnerung der Volks-
republik sowie des demokratischen Polens an das Leid der Opfer des Holocaust vor, so dass hier
nur Einzelfallstudien, etwa zu den Gedenkstätten in Auschwitz oder Majdanek, herangezogen
werden können. Die erinnerungskulturelle Entwicklung im Raum Lublin wurde zudem noch
nicht bearbeitet, weswegen hierzu nach eigenständigen Quellenstudien nur Tendenzen aufgezeigt
werden können.
1.7 Anmerkungen zur Verwendung polnischer Städtenamen
und geographischer Bezeichnungen
Die korrekte Benennung der polnischen West- und Nordgebiete sowie der sich dort befindlichen
ehemals deutschen Siedlungen ist ein langes und strittiges Thema; bis heute wurde aufgrund von
divergierenden Geschichtswahrnehmungen noch keine sinnvollen Sprachregelungen gefunden.
36
Diese Arbeit benennt geographische Räume anhand der zum Erscheinungszeitpunkt gültigen
Grenzziehungen, und spricht somit von Masuren und Ermland als polnische Nord-, von Pom-
mern und Schlesien als polnische Westgebiete. Der Raum um Lublin wird als ostpolnischer Raum
bezeichnet. Der Begriff ,Ostjudentum' wird nicht in seiner abwertenden Bedeutung gebraucht,
wie sie der Antisemitismus Anfang des 20. Jahrhunderts ausprägte, sondern wird verwendet, um
die Lebenswelt der Juden in Mittelosteuropa von der der assimilierten Juden in den europäischen
Großstädten zu differenzieren. Der Raum der postkommunistischen
EU
- Mitgliedsstaaten wird
als Mittelosteuropa oder Ostmitteleuropa bezeichnet und diese Begriffe gleichbedeutend verwen-
det. Polnische Städtenamen werden im Fließtext in ihrer deutschen Übersetzung genannt, wobei
bei der Erstnennung der polnische Name in Klammern angegeben wird. Die Wahl der deutschen
Städtenamen fiel ausschließlich wegen eines besseren Leseflusses, nicht aufgrund historischer
oder politischer Überzeugungen. Beim Erscheinungsort polnischer Publikationen in den Litera-
turangaben wird die polnische Version der Städtenamen genutzt.
36 Kessler, Wolfgang (2001), S. 43 ff.

2. Das multikulturelle Erbe Polens
0
2. Das multikulturelle Erbe Polens
Polen vor dem Zweiten Weltkrieg ist nur schwer mit dem Land zu vergleichen, das auf den Kon-
ferenzen der ,Großen Drei' in Jalta und Teheran sowie der abschließenden Zusammenkunft in
Potsdam entworfen wurde. Wegen der Macht- und Territorialansprüche der Sowjetunion musste
Polen etwa 180.000 km
2
seiner Gebiete im Osten, der heutigen Ukraine, Litauens und Belarus,
abtreten.
37
Polen verlor dabei nicht nur 46 % seines Staatsterritoriums,
38
sondern auch seine neben
Warschau und Krakau wichtigsten kulturellen Zentren Wilna und Lemberg.
39
Als Entschädigung
hierfür wurden Polen etwa 103.000 km
2
ehemals deutschen Bodens zugesprochen.
40
Breslau und
Stettin sollten den Verlust von Lemberg und Wilna kompensieren.
41
Diese Westverschiebung des
Staates Polen brachte es mit sich, dass sich auf dem neuen Staatsgebiet zahlreiche Städte, Bauten
und Denkmäler befanden, die mit anderen Nationen, Religionen und Kulturen in Verbindung
gebracht wurden.
2.1 Vor dem Zweiten Weltkrieg: Polen als Vielvölkerrepublik
Doch Polen veränderte sich nicht nur durch die Verschiebung seiner Grenzen um etwa 200 km
nach Westen:
42
Während es vor dem Zweiten Weltkrieg eine Vielvölkerrepublik, eine Gemen-
gelage aus unterschiedlichen Nationen, Sprachen, Kulturen und Religionen war, wurde mit dem
Potsdamer Abkommen ein fast homogener Nationalstaat geschaffen.
Der polnische Staat, der nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge des Versailler Vertrags entstanden
war, war dagegen nur auf dem Papier ein Nationalstaat. In der Realität stellte die polnische Be-
völkerung ­ nach der Beendigung des polnisch - sowjetischen Kriegs 1920 und der Festlegung der
polnischen Außengrenze etwa 200 km östlich der sogenannten Curzon-Linie ­ lediglich 64 % der
Einwohner des neuen Staates.
43
Die größte Minderheit im Polen der Zwischenkriegszeit waren,
im Südosten des Landes lebend, die Ukrainer mit 16 % bzw. 5,1 Millionen Personen,
44
gefolgt von
der jüdischen Minderheit mit etwa 10 % bzw. 3,1 Millionen Personen.
45
Diese wohnten vor allem
in den Städten der östlichen Gebiete und definierten sich als eigene Nation.
46
37 Borodziej, Wlodzimierz; Ziemer, Klaus (Hg.) (2000): Deutsch - polnische Beziehungen. 1939 - 1945 - 1949. Eine Einführung.
Osnabrück, S. 11.
38 Juchler, Jakob (1986): Die sozialistische Gesellschaftsformation. Allgemeine Theorie und Fallstudie. Polen 1945 - 1984. Frank-
furt am Main, u.a., S. 173.
39 Thum, Georg (2006): Die fremde Stadt. Breslau nach 1945. München, S. 31.
40 Borodziej, Wlodzimierz Ziemer Klaus (2000), 11.
41 Thum, Georg (2006), S. 38 f.
42 Ebenda, S. 31.
43 Bereits nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Idee der Errichtung einer langfristigen Friedensordnung durch Schaffung
möglichst homogener Nationalstaaten. Den Grenzziehungen der neuentstandenen Staaten lagen Nationalitätenstatistiken
zugrunde. Die polnisch - sowjetische Grenze verlief jedoch östlich von der, die der britischen Außenminister Curzon anhand
von Sprachanalysen herausgearbeitet hatte: Die nach ihm benannte Linie trennte die Gebiete mit einer eindeutig polnischen
Bevölkerungsmehrheit von denen, in denen nicht - polnischsprachige Bewohner die Mehrheit stellten. Durch die Grenzziehung
nach dem polnisch - sowjetischen Krieg entstand ein Staat mit etwa 30 % nationaler oder religiöser Minderheiten; vgl. hierzu
Kessler, Wolfgang (2003): Ethnische Minderheiten. S. 450 - 455. In: Lawaty, Andreas; Orlowski, Hubert (Hg.): Deutsche und
Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München, S. 450 f.
44 Urban, Thomas (2005): Der Verlust. Die Vertreibungen der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert. Bonn, S. 452.
45 Ebenda, S. 452.
46 Ebenda, S. 33.

2. Das multikulturelle Erbe Polens
Darüber hinaus lebten noch etwa
- 2,4 % bzw. 800.000 Deutsche
- 6 % bzw. 2 Millionen Belarussen
- 0,6 % bzw. 200.000 Litauer
- 0,1 % bzw. 30.000 Tschechen
- 0,44 % bzw. 140.000 Russen
und eine kleine Gruppe an Tataren und Karaimen auf dem polnischen Territorium.
47
Eine Volks-
zählung von 1931 ergab, dass 75,2 % der Bevölkerung Polens katholisch waren, davon aber 10,4 %
den griechischem Ritus praktizierten; 11,8 % der Bevölkerung waren orthodox, 2,6 % protestan-
tisch, 9,8 % jüdisch und 0,6 % gehörten anderen Glaubensgemeinschaften wie dem Islam an.
48
Während man die slawischen Minderheiten in den polnischen Staat zu integrieren und zu assimi-
lieren versuchte, setzte man gegenüber Juden und Deutschen auf eine Politik der Ausgrenzung.
49
Auch innerhalb der Minderheiten konnte kaum von in sich homogen geschlossenen Gruppie-
rungen gesprochen werden: Beispielsweise reichte die jüdische Lebenswelt von den polnisierten
Juden Warschaus bis zu der tief religiös geprägten Welt des Schtetls mit ihrem traditionsverhaf-
teten Charakter.
50
Die Tradition Polens als multikultureller Staat reichte bereits Jahrhunderte in
die Geschichte zurück. Neben den genannten Minderheiten gab es Ansiedlungen von beispiels-
weise Italienern, Schotten oder Armeniern.
51
Aber nicht nur die Gesellschaft Mittelosteuropas
war multikulturell geprägt, sondern auch die dortige Bausubstanz und Stadtstrukturen. Nach der
Analyse der Historiker Carsten Goehrke und Bianka Pietrow-Ennker sind Multhiethnizität und
Multikonfessionalität die prägenden Faktoren für Stadtstruktur und Stadtentwicklung in Mittel-
osteuropa.
52
Erst durch die gewaltigen Umbrüche des Zweiten Weltkriegs wurde Polen zu einem Staat, der
zu 97 % national homogen ist. Diese Entwicklung, die erstmalig in der Geschichte die nationalen
Bedürfnisse Polens befriedigte, betraf den gesamten Raum des östlichen Europas, in dem sich alle
Staaten, mit Ausnahme des damaligen Jugoslawiens, von Vielvölkerrepubliken hin zu national
einheitlichen Staaten wandelten.
53
Das einzige, was nach dem Zweiten Weltkrieg von der einsti-
gen Vergangenheit als Vielvölkerstaat zeugte, war die Bausubstanz jeder Städte und Dörfer, die
über Jahrhunderte hinweg durch Minderheiten geprägt worden waren.
2.2 Zäsur Zweiter Weltkrieg: Polens Weg zum homogenen Nationalstaat
Der Zweite Weltkrieg stellte eine ,,beispielslose demographische Katastrophe" dar.
54
Der Osteuropa-
historiker Karl Schlögel verdeutlicht die damit verbundenen gewaltigen Umbrüche wie folgt:
47 Ebenda, S. 452.
48 Siedlarz, Jan (1996): Kirche und Staat im kommunistischen Polen. 1945 - 1989. Paderborn, u.a., S. 35.
49 Urban,Thomas (2005), S. 33.
Urban, Thomas (2005), S. 33.
50 Hoffmann, Ewa (2000): Im Schtetl. Die Welt der polnischen Juden. Wien, S. 24.
51 Ebenda, S. 22.
52 Goehrke, Carsten; Pietrow-Ennker, Bianka (2006): Städte im östlichen Europa. Zürich. Zitiert nach: Bohn, Thomas M.
(Hg.): Von der ,europäischen Stadt' zur ,sozialistischen Stadt' und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des
20. Jahrhunderts. München, S. 3.
53 Kersten, Krystyna (1991): The Establishment of Communistic Rule in Poland. 1943 - 1948. Berkely, u.a., S. 18.
54 Gross, Jan Tomasz (2000): ,,Jeder lauscht ständig, ob die Deutschen nicht schon kommen." Die zentralpolnische Gesellschaft
und der Völkermord. S. 215-233. In: Borodziej, Wlodzimierz; Ziemer, Klaus (Hg.) (2000): Deutsch - polnische Beziehungen.
1939 - 1945 - 1949. Eine Einführung. Osnabrück, S. 215.

2. Das multikulturelle Erbe Polens
,,Flucht und Vertreibung haben das Gefüge des alten Mitteleuropa brutal umgewälzt. Nach Ausrottung
der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis verschwand auch das Deutschtum aus dem Osten. Millionen
Europäer wurden entwurzelt, verschoben, gewaltsam neu gruppiert."
55
Zwischen 1939 und 1943 wurden insgesamt 15,1 Millionen, zwischen 1944 und 1948 mehr als
31 Millionen Menschen Mitteleuropas vertrieben oder zwangsumgesiedelt.
2.2.1 Umbrüche in Polen
Polen wurde zu einem homogenen Nationalstaat. Dazu musste aus den abgetrennten Ostge-
bieten die polnische Bevölkerung umgesiedelt, aus den hinzugewonnenen westlichen Gebieten
die Deutschen vertrieben werden. Im Zuge der ,Aktion Weichsel'
wurden 1947 Angehörige der
ukrainischen Minderheit, die ihre traditionellen Siedlungsgebiete im heutigen Südosten Polens
hatte, in Pommern und Masuren angesiedelt. Die Bevölkerung in Masuren, dem Ermland und
Oberschlesiens wurde durch spezielle Kommissionen auf ihren polnischen Charakter hin unter-
sucht.
56
Darüber hinaus hinterließen 16,3 Millionen Kriegsopfer Mitteleuropas und die fünf bis
sechs Millionen Juden sowie 200.000 Sinti und Roma, die aus rassistischer Motivation heraus
ermordet worden waren, eine klaffende Lücke in der Bevölkerung.
57
So leben im heutigen Polen
weniger als 3 % Nicht-Polen, darunter 0,9 % oder 350.000 Deutsche, 0,7 % Ukrainer und 0,5 %
Belarussen.
58
Zahlenmäßig noch niedriger vertreten sind die nationalen Minderheiten an Tsche-
chen, Litauern, Slowaken und Roma. Die ukrainische Minderheit ist weit über das Land verteilt,
die belarussische beginnt erst heute ein eigenes Nationalbewusstsein auszuprägen.
59
Nicht nur Polen und Deutschland waren von gewaltigen Transfers der oft seit Jahrhunderten
regional ansässigen Bevölkerung betroffen; es handelte sich hierbei um einen Prozess, der gesamt
Mittelosteuropa betraf.
60
Verstärkt wurde diese ,kulturelle Entmischung' durch die Auswanderung
vieler Juden, die den Holocaust überlebt hatten.
61
Das Ergebnis war eine fast vollständige Ver-
nichtung des Judentums und ein Verschwinden des Deutschtums aus Mittelosteuropa.
62
Der Kulturraum Mitteleuropa wurde durch den Eisernen Vorhang in zwei Hälften geschnitten,
ein Bewusstsein für die kulturelle Zusammengehörigkeit der Region ging verloren.
63
An der ehe-
maligen Schnittstelle der Vielvölkerreiche des 19. Jahrhunderts, an der
Europa am vielfältigsten
und dichtesten gewesen war, in dem Gebiet, das häufig als Gemengelage oder als ,,Mischzone"
64
55 Schlögel, Karl zitiert nach: Aust, Stefan; Burgdorff, Stephan (2005): Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem
Osten. Bonn, S. 198.
56 Castellan, Georges (1983): Gott schütze Polen! Geschichte des polnischen Katholizismus 1795 - 1982. Freiburg, u.a., S. 215.
57 Aust, Stefan; Burgdorff, Stephan (2005), S. 199.
58 Kessler, Wolfgang (2003), S. 454.
59 Majewski, Piotr (2007): Die Rolle der antideutschen Instrumentalisierungen in Polen. 1944 - 1989, S. 131 - 145. In: Bingen,
Dieter; Loew, Peter Oliver; Wóycicki, Kazimierz (Hg.): Die Destruktion des Dialogs. Zur innenpolitischen Instrumentalisie-
rung negativer Fremdbilder und Feindbilder. Polen, Tschechien, Deutschland und die Niederlande im Vergleich. 1900 bis heute.
Wiesbaden, S. 131.
60 Zum Beispiel wurden 120.000 Bulgaren aus Mazedonien und Thrakien sowie Tschechen und Slowaken aus der heutigen Uk-
raine ausgewiesen. Ruthenen aus der Tschechoslowakei wurden in der heutigen Ukraine angesiedelt. Es kam zum Austausch
der Bevölkerung zwischen Ungarn und der Slowakei, zwischen Jugoslawien und Ungarn sowie Italien, vgl. hierzu: Aust, Stefan;
Burgdorff, Stephan (2005), S. 200 ff.
61 Ebenda, S. 202.
62 Ebenda, S. 203.
63 Chojecka, Ewa (2004): Polnische ,West-Forschung' und das Syndrom des Eisernen Vorhangs, S. 411 - 420. In: Born, Robert;
Janatková, Alena; Labuda, Adam S. (Hg.): Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs. Berlin, S.
412 f.
64 Aust, Stefan; Burgdorff, Stephan (2005), S. 204.

2. Das multikulturelle Erbe Polens
bezeichnet wird, wo ,,griechisch - orthodoxe und armenische Christen, Katholiken und Protestanten,
Altgläubige und Juden"
65
zusammenlebten und eine ,,muliple Identität"
66
ausbildeten, entstanden
homogene Nationalstaaten.
67
Was von der einstigen Multikulturalität oder Multiethnizität ge-
blieben ist, sind bauliche Spuren der ehemaligen Siedler, herausgerissen aus ihren historischen
Kontext. ,,Sprachen verschwanden, nur noch die Steine sprachen deutsch, polnisch, ruthenisch, ungarisch,
hebräisch ­ je nachdem."
68
2.2.2 Entstehung von Zwischenräumen
Die multikulturell geprägten und durch die Einwirkungen des Zweiten Weltkriegs ,entmischten'
Regionen Mitteleuropas nennt Peter Oliver Loew in Rückgriff auf die Definition von Philipp
Ther ,Zwischenräume'. Diese sind Gebiete mit ,,ethnische[n], kulturelle[n], sprachliche[n] Überla-
gerungen"
69
, die in ihrer historischen Vielschichtigkeit der nationelen Geschichtssicht der Nach-
kriegszeit entgegenstehen.
70
,Zwischenräume' ­ wie etwa Pommern, Schlesien oder Masuren ­ definieren sich wie folgt:
,,ein Gebiet, dessen frühere Einwohner vertrieben wurden und dessen neue Bewohner durch Konstruktion
bzw. Rekonstruktion des lokalen bzw. regionalen Gedächtnisses einen Zwischenraum ex post entstehen
lassen."
71
Für Polen und den Untersuchungsgegenstand dieser Ausarbeitung sind zudem ,,virtuelle Zwi-
schenräume"
72
von Bedeutung, die von zerstreut siedelnden Angehörigen einer ,Gedächtnisge-
meinschaft' wie Juden oder Armeniern ausgeprägt werden. Diese definieren sich ,,ebenfalls zwi-
schen verschiedenen Nationalbewegungen und Identifikationspolen"
73
, zwischen unterschiedlichen
Sprach- und Religionseinflüssen, zwischen verschiedenen kulturellen und nationalen Identifika-
tionen.
Die neue Elite muss sich zur Legitimation der Besiedlung und bei der Aneignung eines
solchen ,Zwischenraums' mit dem vorgefundenen, beziehungsweise ,,zurückschwingenden"
74
mate-
riellen Erbe beschäftigen. Dabei kann als Reaktion sowohl eine Exklusion (Enteignung) als auch
eine Inklusion (Aneignung) auftreten. Der Umgang mit dem Kulturerbe kann auch dazwischen
liegen und von Gleichgültigkeit, Vergessen, Bedrohung oder einer propagandistischen Instru-
mentalisierung geprägt sein.
75
Welche der Reaktionen bei der Besiedlung der Zwischenräume,
die durch die Flucht, Vertreibung und Umsiedlung der Deutschen und der Ermordung der Juden
in Polen entstanden waren, hinsichtlich des baulichen Erbes auftraten, wird anhand der Beispiele
Stettin und Lublin aufgezeigt.
65 Ebenda.
66 Ebenda.
67 Dieser Prozess der ,Entmischung' durch ethnische Säuberungen, Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen war jedoch kein
,,Betriebsunfall der Geschichte" oder ,,das Werk eines Verrückten". Als Spreng- und Schubkräfte wirkten die Nationalisierung der
Massen, die soziale Revolution, die mit der Industrialisierung einherging sowie das Zauberwort der ,Selbstbestimmung der
Völker'. Logistisch möglich wurden die gewaltigen Umwälzungen der Bevölkerungszusammensetzungen durch die technischen
Neuerungen des 20. Jahrhunderts, einer ausgebauten Infrastruktur und intensiv arbeitenden Bürokratie. Vgl. Ebenda, S. 212 ff.
68 Ebenda, S. 203.
69 Loew, Peter Oliver; Pletzing, Christian; Serrier, Thomas (2006), S. 9.
70 Ebenda.
71 Ebenda, S. 10.
72 Ebenda.
73 Ebenda.
74 Ebenda, S. 11.
75 Ebenda.

2. Das multikulturelle Erbe Polens
2.3 Kriegszerstörungen und Migrationbewegungen in Polen
Durch den Zweiten Weltkrieg wurde die Landkarte Europas neu gezeichnet. Polen, traditionell
das Bindeglied zwischen Ost und West, wurde in das östliche System integriert, das dem westli-
chen Lebensmodell entgegengestellt war.
76
Vertriebene, Umgesiedelte oder Zurückkehrende fan-
den im Westen Polen nicht nur eine neue Heimat, eine fremde Bauweise, Landschaft, Architektur
und Stadtstruktur vor, sondern waren auch mit der Etablierung eines anderen Herrschaftssystems
und einer neuen geographischen Ausrichtung Polens innerhalb Europas konfrontiert.
77
2.3.1 Kriegszerstörungen in Polen
Zudem war Polen das Land, das im Zweiten Weltkrieg neben Deutschland die größten materi-
ellen Zerstörungen erlitten hatte.
78
Die Vernichtung der polnischen Städte fand in vier Schüben
statt: Im September 1939 bombardierte die deutsche Luftwaffe polnische Städte. Zwischen 1943
und 1945 fanden im heutigen Westpolen alliierte Luftangriffe statt. Die Kämpfe der deutschen
Besatzer gegen den polnischen Untergrund beziehungsweise gegen die Rote Armee führten zu
weiteren Verwüstungen.
79
Nach der ,Befreiung' Polens durch die Rote Armee kam es zu teils be-
wussten Zerstörungen.
80
Dabei wurden von 700 Städten im Gebiet des heutigen Polens insgesamt
117 stark zerstört, darunter Warschau zu 100 %, Danzig zu 90 %, Posen zu 60 %, und Breslau zu
50 %.
81
Die Denkmalsubstanz Polens wurde zu 37 % vernichtet,
82
die Infrastruktur zu 65 %. Die
fortwährende Demontage von Seiten der Sowjetunion verstärkte den hohen Zerstörungsgrad der
polnischen Industriebetriebe.
83
Prozentual gesehen hatte Polen die höchsten menschlichen Ver-
luste zu verzeichnen.
84
Fünf bis sechs Millionen Menschen aus Polen
85
starben im Zweiten Welt-
krieg, 90 % von ihnen wurden Opfer der bewussten Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten.
76 yliski, Leszek (2007): Deutsches Mitteleuropa und polnisches Intermarium: Mythisches Gedächtnis ­ politisches Kalkül,
S. 60 - 67. In: Schmitz, Walter (Hg.): Zwischeneuropa / Mitteleuropa. Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation.
Dresden, S. 61.
77 Koziska, Bogdana (2005): Neue Stadtstrukturen und Symbole des Neuanfangs in Stettin: Die sozialistische Stadt im Gefüge
historisch gewachsener Städte, S. 66 - 77. In: Bingen, Dieter; Hinz, Hans-Martin (Hg.): Die Schleifung: Zerstörung und Wie-
deraufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen. Wiesbaden, S. 66.
78 Tomaszewski, Andrzej (2004): Der Umgang mit Kulturgütern in Polen und in Deutschland im 20. Jahrhundert (aus polnischer
Sicht), S. 33 - 42. In: Langer, Andrea (Hg.): Der Umgang mit dem kulturellen Erbe in Deutschland und Polen im 20. Jahrhun-
dert, Warszawa, S. 40.
79 Zablocka-Kos, Agnieszka (2000): Von der Zerstörung zu Rekonstruktion und moderner Bebauung. Altstadtsanierungen in
Polen nach 1945. S. 161 - 174. In: Arbeitskreis Stadterneuerung an deutschsprachigen Universitäten; Institut für Stadt- und
Regionalplanung der TU Berlin (Hg.): Jahrbuch 2000. Stadterneuerung. Berlin, S. 161.
80 Ebenda, S. 162.
81 Kalinowski, Konstanty (2005): Rückgriff auf die Geschichte. Der Wiederaufbau der Altstädte in Polen - das Beispiel Danzig,
S. 80 - 95. In: Bingen, Dieter; Hinz, Hans - Martin (Hg.): Die Schleifung: Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in
Deutschland und Polen. Wiesbaden, S. 81.
82 Zalubski, Stanislaw; Kleszynska, Barbara (1996): Das Beispiel Polen, S. 29 - 42. In: Richter, Erika; Dytroff, Hans - Dieter (Hg.):
Denkmalpflege im neuen Europa. Stuttgart, u.a., S. 31.
83 Alexander, Manfred (2005): Kleine Geschichte Polens. Bonn, S. 327.
84 Kersten, Krystyna (1991), Vorwort Gross, Jan Tomasz, S. 12.
85 Zu den Angaben polnischer Kriegsopfer vgl. Friedrich, Klaus - Peter (2007): Erinnerungspolitische Legitimierungen des Op-
ferstatus: Zur Instrumentalisierung fragwürdiger Opferzahlen in den Geschichtsbildern vom Zweiten Weltkrieg in Polen und
Deutschland, S. 176 - 191. In: Bingen, Dieter; Loew, Peter Oliver; Wóycicki, Kazimierz (Hg.): Die Destruktion des Dialogs. Zur
innenpolitischen Instrumentalisierung negativer Fremdbilder und Feindbilder. Polen, Tschechien, Deutschland und die Nieder-
lande im Vergleich. 1900 bis heute. Wiesbaden, S. 179 ff.: Unter den sechs Millionen Polen, die kanonisiert genannt werden,
in den letzten Jahren aber vorsichtig auf fünf Millionen Opfer korrigiert wurden, befinden sich etwa drei Millionen ermordete
polnische Juden. Außerdem wurden im Sozialismus diejenigen Polen, die durch sowjetischen Terror während der Besatzung
Ostpolens von 1939 bis 1941 ums Leben kamen, pauschal zu den Opfern der deutschen Besatzung gerechnet..

2. Das multikulturelle Erbe Polens
2.3.2 Umsiedlungen, Flucht und Vertreibung
Der Bevölkerungsverschiebung am Ende des Zweiten Weltkriegs ging eine gezielte Siedlungs-
politik der Nationalsozialsten in den besetzten Gebieten voraus ­ Hitler kann als ,,Erfinder der
ethnografischen Flurbereinigung"
86
bezeichnet werden: Aus den direkt an das Reich angeschlosse-
nen Gebieten sowie aus dem Raum Zamo, welcher als Musterbezirk der nationalsozialistischen
Siedlungspolitik galt, wurden die polnischen Einwohner vertrieben. An deren Stelle siedelten sich
Deutsche aus dem Baltikum, dem Balkan oder der Sowjetunion an. Die polnische Elite wurde be-
wusst vernichtet, zahlreiche Polen als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert. Die jüdische
Bevölkerung wurde in Ghettos konzentriert und anschließend in Vernichtungs- und Konzen-
trationslager deportiert.
87
Von 1939 bis 1941 verschleppten die Sowjets Polen und Ukrainer aus
den von ihnen besetzten Gebieten Polens in die innere Sowjetunion. Auch unter ihnen kam es
zu einer systematischen Auslöschung der polnische Staatselite: Dabei wurden mindestens 20.000
Personen erschossen.
88
Am Ende des Zweiten Weltkriegs kam es erneut zu erheblicher, zum Teil freiwilliger, vorwiegend
aber erzwungener Emigration:
89
Von 1945 bis 1948 wurden insgesamt 2.213.628 Deutsche so-
wie 518.219 Ukrainer, Belarussen und Litauer aus Polen ausgesiedelt.
90
Slowinzen und Masuren
zwang man zur Emigration beziehungsweise Assimilierung.
91
Die im Raum Przemyl verblie-
benen Ukrainer siedelte man nach nationalen Unruhen im Westen und Norden Polens an und
verbot die Unierte Kirche. Die ukrainischen Siedlungen wurden größtenteils niedergebrannt. So
wurde versucht, weiteren national motivierten Aufständen vorzubeugen.
Die Deutschen flohen ab Sommer 1944 vereinzelt vor der Roten Armee ­ ein Phänomen, das sich
ab Januar 1945 verstärkte, nachdem die Rote Armee mit Ostpreußen und Schlesien ,,alte Gebiete
des deutschen Reichs"
92
erreicht hatte. Ab Sommer 1945 wurden, zum Teil in wilden Vertreibungen,
zum Teil organisiert, Deutsche aus den Gebieten östlich der Oder / Neiße ausgesiedelt. Der Ent-
mischungsgedanke war zwar bereits vor dem Zweiten Weltkrieg präsent. Er verstärkte sich da-
nach jedoch insofern, dass nach den Untaten der Nationalsozialsten ein weiteres Zusammenleben
mit der deutschen Bevölkerung, die man als kollektiv schuldig ansah, unmöglich schien.
93
Aus den an die Sowjetunion gefallenen Gebieten Ostpolens wurden ebenfalls über eine Million
Menschen nach Polen deportiert.
94
Die Umsiedlungen verliefen häufig unter grauenvollen Bedin-
gungen: Die Menschen fuhren tagelang in offenen Güterzügen Richtung Westen, viele erfroren
auf der Fahrt.
95
86 Aust, Stefan; Burgdorff, Stephan (2005), S. 235.
87 Urban, Thomas (2005), S. 11.
88 Ebenda, S. 10.
89 Borodziej, Wlodzimierz (2003): Flucht - Vertreibung - Zwangsaussiedlung, S. 88 - 95. In: Lawaty, Andreas; Orlowski, Hubert
(Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München, S. 88.
90 Aust, Stefan; Burgdorff, Stephan (2005), S. 35.
91 Ziólkowski, Marek (2004): Erinnern und Vergessen nach dem Kommunismus in Polen. S. 53 - 68. In: Ruchniewicz, Krzysztof;
Troebst, Stefan (Hg.): Diktaturbewältigung und nationale Selbstvergewisserung. Geschichtskulturen in Polen und Spanien im
Vergleich. Wroclaw, S. 58.
92 Borodziej, Wlodzimierz (2003), S. 91.
93 Kraft, Claudia (2005): Der Platz der Vertreibung der Deutschen im historischen Gedächtnis Polens und der Tschechoslo-
wakei/ Tschechiens, S. 329 - 353. In: Cornelißen, Christoph; Holec, Roman; Pesek, Jií (Hg.): Diktatur ­ Krieg ­ Vertreibung.
Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Essen, S. 331 f. Daneben spielten materielle und
wirtschaftliche Interessen eine Rolle, vgl. hierzu Thum, Georg (2006), S. 107 ff.
94 Zu der Schwierigkeit der Nennung von konkreten Zahlen vgl. Friedrich, Klaus-Peter (2007), S. 185.
95 Urban, Thomas (2005), S. 154.

2. Das multikulturelle Erbe Polens
Ziel der Alliierten und der Sowjetunion war die Schaffung möglichst homogener Nationalstaa-
ten:
96
Stalin, Roosevelt und Churchill sahen die Bevölkerungstransfers als unabdingbar
zur Frie-
denssicherung, da diese so nicht länger von Grenz- und Minderheitskonflikten abhängig sei.
97
Aber auch Polen sah die Entwicklung hin zum homogenen Nationalstaat als positive Grundlage
für die Zukunft des Landes. Die Armeezeitung ,,Polska Zbrojna" vom 29. März 1946 gibt an, dass
auf dem neuen Staatsgebiet Polens 23.622.000 Einwohner leben, davon seien 21 Millionen Polen,
zwei Millionen Deutsche und etwa eine Million bereits als ,autochon', das heißt ursprünglich
polnisch, eingestufte Personen. Man begrüßte, dass Polen durch weitere Zwangsaussiedlungen zu
einem ,,national einheitlichen Staat" werde.
98
Durch die Entwicklung hin zum homogenen Nationalstaat ­ durch territoriale Verschiebungen,
Umsiedlungen und die Vernichtung der Juden ­ trat eine Trennung zwischen dem Kulturgut und
dessen kulturellem Träger ein. Somit entstand eine materielle wie geistige Distanz zwischen den
baulichen Hinterlassenschaften und den neuen Bewohnern des Gebiets.
99
Wie diese mit dem
architektonischen Erbe umgingen, wird in der folgenden Ausarbeitung dargestellt.
96 Kaplanová, Kristina (2004): Denkmalpflege und nationales Kulturerbe: Die Nationalisierung der Denkmäler in der Tschecho-
slowakei nach dem Zweiten Weltkrieg, S. 435 - 447. In: Born, Robert; Janatková, Alena; Labuda, Adam S. (Hg.): Die Kunsthis-
toriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs. Berlin, S. 435.
97 Aust, Stefan; Burgdorff, Stephan (2005), S. 209.
98 Im Original: ,,Panstwo narodowe jednolite", vgl. Polska Zbrojna, 29.3.1946, Nr. 76, S. 5 zitiert nach Friedrich, Klaus - Peter (2007),
S. 178.
99 Sakson, Andrzej (1997): Das deutsche Kulturerbe in Polen. Ein Projekt des Posener West - Instituts. S. 51 -53. In: Karp, Hans
Jürgen (Hg.): Deutsche Geschichte und Kultur im heutigen Polen. Fragen und Gegenstandsbestimmung und Methodologie.
Marburg, S. 51.

3. Wie Feuer und Wasser: Nationale Propaganda und Kommunismus
3. Wie Feuer und Wasser:
Nationale Propaganda und Kommunismus
Die Etablierung eines sozialistischen Systems in Polen, einem Land, das stark antirussisch und
tief religiös geprägt war, stieß zwangsläufig auf Widerstand. Die polnischen Kommunisten ver-
suchten die fehlende Machtbasis mit einer Vereinnahmung nationaler Belange für ihre Politik zu
kompensieren. Im Folgenden werden die Rahmenbedingungen und Widerstände bei der Mach-
timplementierung der Sozialisten geschildert sowie deren Reaktion darauf, eine populistisch-na-
tionale Propaganda, offengelegt.
3.1 Die kommunistische Machtübernahme
Wie aus dem vorangegangenen Gliederungspunkt hervorging, war die Zeit der Etablierung des
sozialistischen Systems in Polen eine Zeit der Mobilität: Bis 1947 kehrten etwa 1,1 Millionen
polnische Zwangsarbeiter aus Deutschland sowie 22.000 in die Sowjetunion Deportierte zurück.
Zudem wurden über eine Millionen Einwohner der polnischen Ostgebieten in die Grenzen des
neuen Staates umgesiedelt. Dahingegen kam es neben dem Exodus der Deutschen zu einer gro-
ßen Emigrationswelle der Juden und eines Teils des polnischen Widerstands,
100
da dieser sowohl
antideutsch als auch antisowjetisch motiviert war.
3.1.1 Charakteristik der Zeit
Krystyna Kersten berechnet, dass zwischen 1939 und 1950 jeder vierte Pole seinen Wohnort
gewechselt hat.
101
Neben den hohen Wanderungsbewegungen war die schwierige Versorgungs-
situation prägend für die Nachkriegszeit. Es kam immer wieder zu Streiks und Unruhen,
102
die
verstärkt wurden durch die Enttäuschung darüber, dass das Kriegsende aus der Perspektive der
meisten Polen keine Befreiung, sondern eine zweite Besatzung bedeutete.
103
Der Zeitabschnitt bis zur endgültigen Machtimplementierung durch die Sozialisten im Jahre
1948 wird aufgrund der Unruhen in den Städten, aber auch aufgrund der Aufstände der Ukrainer
im Südosten Polens
104
sowie den partisanenartigen Kämpfen zwischen der Roten Armee und dem
polnischen Untergrund
105
häufig als bürgerkriegsähnlich, zumindest jedoch als ,,Zeit des kompro-
mißlosen Machtkampfes"
106
beschrieben. Es kam zu radikalen Veränderungen innerhalb der Bevöl-
kerungsstruktur, zu einer Zerschlagung sozialer Hierarchien und einer Ablösung der teils bereits
im Zweiten Weltkrieg durch Deutsche und Sowjets bewusst vernichteten Elite.
107
100 Kersten, Krystyna (1991), S. 164.
101 Ebenda, S. 165.
102 Ebenda, S. 168.
103 Ebenda, S. 169.
104 Prusyzski, Jan (1989): Ochrona zabztków w Polsce. Geneza organizacja prawo. [Denkmalpflege in Polen. Entstehungsge-
schichte, Organisation, Recht ]. Warszawa, S. 126.
105 Der polnische Untergrund, die Heimatarmee [AK - Armia Krajowa], die im engen Kontakt mit der Exilregierung in London
stand, war bis zu mehreren hunderttausend Mann stark. Die von den Kommunisten während des Kriegs aufgebaute Volksarmee
[AL - Armia Lodowa] konnte diese Bedeutung nie erreichen. Vgl. hierzu Siedlarz, Jan (1996), S. 38.
106 Siedlarz, Jan (1996), S. 37.
107 Majewski, Piotr (2007), S. 131.

3. Wie Feuer und Wasser: Nationale Propaganda und Kommunismus
3.1.2 Prozess der Machtübernahme
Nachdem unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee 1944 in Lublin eine Art Gegen-
part zur Exilregierung in London gebildet worden war, begann die schleichende Übernahme der
politischen Macht durch die Sozialisten. Im sogenannten Lubliner Komitee stellten sie zwar nur
ein Drittel der Minister, besetzten aber, unter der Schirmherrschaft der Roten Armee stehend,
sämtliche Schlüsselfunktionen.
108
Die offizielle Zusammenarbeit mit Politikern aus der Exilregie-
rung kann als scheindemokratischer Prozess gewertet werden. In Wirklichkeit kam es zu einer
schrittweisen Isolierung aller Nicht - Kommunisten.
109
Nach langwierigen Verhandlungen wurde am 28. Juni 1945 die ,Regierung der nationalen Einheit'
gegründet. Bei dieser handelte es sich um eine Erweiterung des Lubliner Komitees; zwölf der
21 Minister waren bereits darin vertreten gewesen.
110
Der Wahlkampf im Jahr 1947 war geprägt
von starken Pressionen durch den kommunistischen Sicherheitsapparat sowie dem Ausschluss
ganzer Wählergruppen: Der zwangsvereinte Demokratische Block gewann dabei mit 80,1 %, die
Mehrheit der Stimmen, die
PSL
111
erreichte trotz Fälschungen des Wahlergebnisses 10,3 %.
112
Am 4. Februar 1947 wurde der Moskautreue Boleslaw Bierut zum Staatspräsidenten gewählt,
am 19. Februar 1947 die ,Kleine Verfassung' verabschiedet.
113
Die 1948 erfolgte Vereinigung der
Polnischen Arbeiterpartei mit den Sozialisten zur Polnischen Vereinten Arbeiterpartei kann als
Abschluss der Implementierung des sowjetischen Einparteiensystems gesehen werden.
114
Während der Großteil der Bevölkerung, wie im Folgenden gezeigt wird, diesen politischen Ent-
wicklungen skeptisch gegenüber stand, wurde die Errichtung einer sozialistischen Republik Polen
gerade von der jüngeren, durch den Krieg entwurzelten Generation, positiv wahrgenommen.
115
Erst als in den 1950er Jahren der Druck auf die Arbeiter durch Normerhöhung und eine Ver-
schlechterung der Versorgung anstieg, kam es zur ideologischen Abkehr.
116
In Zahlen ausgedrückt zeigt sich die Akzeptanz oder die Unterstützung des sozialistischen Sy-
stems anhand der Entwicklung der Parteizugehörigkeit wie folgt: Bei der Etablierung des Lub-
liner Komitees im Sommer 1944 waren 20.000 Personen Mitglied der Sozialistischen Partei. Im
Sommer 1945 war die Zahl der Parteimitglieder auf 188.900 angewachsen und im Dezember
108 Siedlarz, Jan (1996), S. 38.
109 Heyde, Jürgen (2006): Geschichte Polens. München, S. 113.
110 Alexander, Manfred (2005), S. 323.
111 auf polnisch: ,,Polskie Stronnictwo Ludowe", auf deutsch: Volkspartei; stärkster Gegner der Kommunisten, vgl. hierzu Alexander,
Manfred (2005), S. 323.
112 Siedlarz, Jan (1996), S. 40 f.
113 Ebenda, S. 42.
114 Heyde, Jürgen (2006), S. 113.
115 Die Zusammenarbeit mit den Kommunisten war nicht nur ideologisch motiviert, sondern konnte auch mit Opportunismus,
politischer Naivität oder persönlichen Karrierebestrebungen zusammenhängen. Vgl. hierzu Wóycicki, Kazimierz (1998), S. 295.
Letzteres wurde durch die Auslöschung beziehungsweise Ablösung der alten Eliten begünstigt: Das System konnte gute Auf-
stiegschancen bieten. Daneben wurde durch die Nationalsozialisten ein Großteil der jüdischen Bewohner Polens vernichtet,
nach dem Krieg wurden die Deutschen aus dem neuen Staatsgebiet Polens vertrieben: Deutsche und Juden stellten bis zum
Zweiten Weltkrieg die Stadtbevölkerung und das Bürgertum par excellence dar ­ und somit die Schicht, die dem kommu-
nistischen System Widerstand geboten hätte. Jan Tomasz Gross plädiert deswegen auf eine Vordatierung des Beginns der
sozialistischen Machtübernahme auf 1939 ­ da sowohl deutsche als auch sowjetische Kriegs- und Menschheitsverbrechen die
Einführung des Sozialismus in Polen vorbereitet hätten. Vgl. hierzu Kersten, Krystyna, 1991, Vorwort Gross, Jan Tomasz,
S. 18 ff. Zudem führte der Prozess der Ankunft der Flüchtenden und Umgesiedelten in den Aufnahmeländern zu einer kultu-
rellen, demographischen, konfessionellen und soziologischen Revolution ­ was die Herausbildung einer neuen sozialen Hierar-
chie durch das Aufbrechen alter Strukturen begünstigte. Vgl. hierzu Heyde, Jürgen (2006), S. 116.
116 Ebenda.

3. Wie Feuer und Wasser: Nationale Propaganda und Kommunismus
1945 konnte einen Mitgliederstand von 235.000 Personen verzeichnet werden.
117
Mit 1946 be-
gann eine starke Politisierung innerhalb der polnischen Bevölkerung, die von einer niedrigen
Akzeptanz des neuen Systems sprach. Diese zeigte sich nicht nur in einer Stagnation der Anzahl
der Parteiangehörigen, sondern auch über kritische Nachrichten in der Presse, in Streiks und
Gewaltausbrüchen.
118
3.2 Hindernisse und Widerstände
Der Sozialismus konnte in Polen nur durch eine ,,sowjetische Intervention"
119
eingeführt werden.
Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es nur eine kleine kommunistische Partei,
120
die auf keine aus-
geprägte Tradition der Arbeiterbewegung zurückblicken konnte.
121
Jerzy Maków zeigt auf, dass
in keinem der Länder Mittelosteuropas der kommunistische Parteiapparat durch den Willen der
Bevölkerung aufgebaut wurde, dass die polnische Gesellschaft im Vergleich zu ihren Nachbar-
staaten aber einen überdurchschnittlich niedrigen Sowjetisierungsgrad erreichte.
122
Anhand der niedrigen Mitgliederzahlen und dem schlechten Ausbildungsgrad der sozialistischen
Partei lässt sich deren Schwäche in den Anfangsjahren der polnischen Volksrepublik erkennen:
Jakob Juchler betont, dass der Marxismus/ Leninismus in Polen zwar propagiert wurde, ,,aber
insgesamt nur sehr wenig verankert werden"
123
konnte. 1949 hatten zum Beispiel nur 10 % der
Parteimitglieder einen Schulungskurs absolviert, der zudem auf einem niedrigen Niveau gewesen
wäre
124
­ was die ,Ideologieresistenz' der Polen zeigt. Die Mitgliederzahlen lagen auch nach den
Anfangsjahren des Sozialismus weit unter dem Soll: So war 1956 nur jeder zwölfte Erwachsene
im produktiven Alter Parteimitglied,
125
im Arbeitermilieu war von 1949 bis 1955 sogar ein Rück-
gang der Mitgliedschaft um insgesamt 22 % zu verzeichnen. Dies entsprach in relativen Zahlen
einer noch höheren Abnahme, da die Arbeiterklasse in den Jahren der intensiven Industrialisie-
rung nach dem Krieg anwuchs. Am Ende der Stalinzeit war demnach nur jeder zehnte Arbeiter
und nur jeder 40. Bauer Parteimitglied.
126
Der Widerstand gegen die Implementierung des so-
wjetischen Systems setzte sich aus verschiedenen Strömungen zusammen: zum einen aus einer
national geprägten und somit traditionell antirussischen, zum anderen aus einer katholischen, im
polnischen Traditionalismus stehenden.
3.2.1 Katholizismus und Traditionalismus
Auch die katholische Strömung beinhaltete eine nationale Komponente: Die Kirche wurde als
wesentlicher Faktor der Freiheitsbestrebungen Polens, als einzige Institution moralischer Kraft
117 Kersten, Krystyna (1991), S. 171.
118 Ebenda, S. 210.
119 Hirsch, Helga (1998): Bewältigen oder verdrängen? Der deutsche und der polnische Umgang mit der jüngsten Geschichte,
S. 78 ­ 86. In: Kobyliska, Ewa; Lawaty, Andreas (Hg.): Erinnern, Vergessen, Verdrängen. Polnische und deutsche Erfahrungen.
Wiesbaden, S. 82.
120 Ebenda, S. 83.
121 In Polen konnte die kommunistischen Partei in der Vorkriegsgezeit kaum Einfluss erlangen, 1938 war sie zur Selbstauflösung
gezwungen; ihre Nachfolgeorganisation, die PPR, wurde massiv von der Roter Armee unterstützt, vgl. hierzu Alexander, Man-
fred (2005), S. 323.
122 Maków, Jerzy (2008), S. 17 f.
123 Juchler, Jakob (1986), S. 195.
124 Ebenda.
125 Ebenda, S. 230.
126 Ebenda.

3. Wie Feuer und Wasser: Nationale Propaganda und Kommunismus
0
und als Repräsentantin des echten Interesses des polnischen Volkes wahrgenommen.
127
Polen war
als ein Land, in dem die Kirche auf eine jahrhunderterlange Tradition als Fundament des Staates
zurückblicken konnte und fest mit dem Nationalgefühl der Polen verwoben war, mit der parado-
xen Situation konfrontiert, dass ihm bei der Wiederentstehung als Nationalstaat eine atheistische
Ideologie übergestülpt werden sollte.
128
Nach Martin Schulze Wessel diente die Religion bereits während der Teilungszeit als Legitimati-
onsressource ­ zur Kompensation der fehlenden staatlichen Souveränität.
129
Der ,,für Polen so typi-
sche konfessionelle Integralismus"
130
wurde ausgeprägt. Diese hohe Stellung der Kirche innerhalb der
polnischen Gesellschaft sowie die Transformation Polens zu einem religiös homogenen Staat
131
in
der Nachkriegszeit konnte sowohl die hohen Verluste unter den Klerikern während des Zweiten
Weltkriegs
132
als auch Einschränkungen von Seiten des politischen Systems kompensieren.
133
Zudem war die polnische Gesellschaft der Nachkriegszeit agrarisch geprägt, 68 % der Bevölke-
rung lebte auf dem Land.
134
Die Mehrheit der Polen war so vom kommunistischen Versuch der
Kollektivierung der Landwirtschaft betroffen ­ der Widerstand dagegen wurde massiv durch die
katholische Kirche unterstützt.
135
Auch die Arbeiter der ersten Generation waren stärker in Na-
tion und Religion als in ihrer sozialen Zugehörigkeit verankert.
136
Der Katholizismus konnte sich
so zu einem wichtigen Hort des Widerstands gegen den Sozialismus entwickeln. Aufgrund der
Sozialstruktur sowie der dominanten Stellung der Kirche und der Verbindung zwischen Religion
und Nation soll Stalin den Ausspruch geäußert haben, dass ,,für die Polen (...) der Kommunismus
[passe] wie der Sattel für die Kuh".
137
3.2.2 Nationaler und antirussischer Widerstand
Die ,,schwache Basis der Kommunisten"
138
in Polen ist neben den atheistischen Elementen der Ideo-
logie auf die Tatsache zurückzuführen, dass Russland als Träger des Systems galt. Die traditionell
antirussische Einstellung der polnischen Gesellschaft war zwar regional unterschiedlich ausge-
prägt,
139
der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung aber überall in Polen präsent, so dass
die Übernahme der Macht durch die Moskauorientierten Sozialisten polenweit Unzufriedenheit
127 Siedlarz, Jan (1996), S. 37.
128 Castellan, Georges (1983), S. 213.
129 Schulze Wessel, Martin (Hg.) (2006): Die Nationalisierung der Religion und die Sakralisierung der Nation im östlichen Europa.
Stuttgart, S. 12.
130 Laube, Stefan (2006): Nationaler Heiligenkult in Polen und Deutschland. Ein erinnerungspolitischer Vergleich aus dem 19.
Jahrhundert, S. 32 - 49. In: Schulze Wessel, Martin (Hg.): Die Nationalisierung der Religion und die Sakralisierung der Nation
im östlichen Europa. Stuttgart, S. 32.
131 Nach dem Zweiten Weltkrieg bekannten sich 98 % der Einwohner Polens zum römisch-katholischen Glaube, vgl. Hierzu:
Castellan, Georges (1983), S. 213.
132 Den Zweiten Weltkrieg überlebte nur etwa zwei Drittel der katholischen Kleriker Polens (von den 51 Bischöfe 1939 lebten 1945
nur noch 33; von 12.940 Priester überlebten 8.624 den Zweiten Weltkrieg), vgl. Hierzu Castellan, Georges (1983), S. 216.
133 Juchler, Jakob (1986), S. 232.
134 Alexander, Manfred (2005), S. 323.
135 Juchler, Jakob (1986), S. 232.
136 Holzer, Jerzy (2008): Kommunismus und polnischer Traditionalismus, S. 63 - 68. In: Rill, Bernd (Hg.): Vergangenheitsbewälti-
gung im Osten. Russland, Polen, Rumänien. München, S. 67.
137 Holzer, Jerzy (2008), S. 68.
138 Juchler, Jakob (1986), S. 195.
139 Wenn die betreffende Region im 19. Jahrhundert in das russische Teilungsgebiet eingegliedert war oder im von der SU 1939
besetzten Teil Polens lag, war die antirussische Haltung aufgrund des erlebten Terrors umso massiver, vgl. hierzu Holzer, Jerzy
(2008), S. 63. Unter anderem aufgrund des Nichteingreifens der Roten Armee in den Warschauer Aufstand 1944 war das Bild
der Sowjetunion aber Polenweit negativ geprägt, vgl. hierzu: Thum, Georg (2006), S. 76.

3. Wie Feuer und Wasser: Nationale Propaganda und Kommunismus
hervorrief.
140
Der Kampf der sozialistischen Partei gegen die Opposition wurde mit massiver Un-
terstützung der Sowjetunion geführt. Es kam zu Angriffen sowohl gegen die Exilregierung als
auch gegen den nationalen Untergrund.
141
Erst 1949 kann von einem Ende des bewaffneten Widerstands gegen die Einführung des Sozia-
lismus gesprochen werden. Es kam zu zahlreichen Verurteilungen der antideutschen und antiso-
wjetischen Untergrundaktivisten. Bis 1954 wurden 81.500 Personen als Staatsfeinde angezeigt,
142
es wurden 1.100 Todesurteile und mehrere 10.000 Gefängnisstrafen verhängt
143
­ Zahlen, die
noch einmal die Größe des nationalen Widerstands vor Augen führen.
3.3 ,Kommunismus mit nationalem Gesicht'
Da die fehlende Machtbasis der Sozialisten zum großen Teil aus der sowjetischen Ausrichtung
des Systems erklärbar war, reagierten die polnischen Kommunisten mit einer Vereinnahmung na-
tionaler Belange für ihre Politik. In ihrer Propaganda griffen sie weniger auf Thematiken aus der
klassisch sozialistischen Arbeiterkampf-Rhetorik zurück, sondern nutzten verstärkt populistische
Mittel. Patriotisch-nationale Inhalte wurden zum wichtigsten Thema der kommunistischen Pro-
paganda. Dies wirkte zum einen unglaubwürdig aufgrund der Abhängigkeit von Moskau,
144
zum
anderen stand dies konträr zu den eigentlichen Schwerpunkten der marxistisch - leninistischen
Ideologie. Lenin selbst betonte, ,,die nationale Kultur, das ist die Kultur der Großgrundbesitzer, Pfaf-
fen und der Bourgeoise."
145
Den Zweifel, inwiefern die Kommunisten Vertreter von polnischen Interessen wären, versuchte
man mit einer ,,Propagandalawine von allen Seiten",
146
vor allem im ,,kreativen Bereich der Sym-
bolproduktion"
147
wie den Künsten, der Architektur, der Wissenschaft und Literatur zu kompen-
sieren.
148
Rudolf Jaworski beschreibt diesen Prozess der Aneignung nationaler Inhalte durch die
polnischen Kommunisten wie folgt:
,,Die polnische Staats- und Parteiführung sah sich im Laufe der Jahre genötigt, der traditionellen na-
tionalpolnischen Geschichtsauffassung sukzessive nachzugeben und sie schließlich selbst zu beanspruchen,
wollte sie diese wichtige und in vieler Hinsicht einzige geistige Verbindungsschiene zur Bevölkerungs-
mehrheit nicht verlieren."
149
Die Kommunisten passten sich somit inhaltlich und propagandistisch an die gesellschaftliche
Stimmung an, um ihre Macht zu festigen. Aus Pragmatismus und Opportunismus übernahmen
sie fremde Konzeptionen sowie bestimmte Phrasen und Symbole, mit denen sie an polnische
Traditionen anknüpfen konnten.
150
Elemente der Nationalgeschichte und eine Verherrlichung der
140 Holzer, Jerzy (2007): Polen und Europa. Land, Geschichte, Identität. Bonn, S. 58.
141 Dmitrów, Edmund (2000, B): Vergangenheitspolitik in Polen. 1945 - 89, S. 235 - 264. In: Borodziej, Wlodzimierz; Ziemer, Klaus
(Hg.): Deutsch-polnische Beziehungen. 1939 - 1945 - 1949. Eine Einführung. Osnabrück, S. 243.
142 Hirsch, Helga (1998), S. 83.
143 Wóycicki, Kazimierz (1998), S. 295.
144 Juchler, Jakob (1986), S. 228.
145 Prusyzski, Jan (1989), S. 125.
146 Juchler, Jakob (1986), S. 229.
147 Ebenda.
148 Ebenda.
149 Jaworski, Rudolf (2003): Leben mit Geschichte, S. 110 - 117. In: Lawaty, Andreas; Orlowski, Hubert (Hg.): Deutsche und Polen.
Geschichte, Kultur, Politik. München, S. 113.
150 Dmitrów, Edmund (2000, B), S. 242.

3. Wie Feuer und Wasser: Nationale Propaganda und Kommunismus
verfälschten Tradition der Arbeiterbewegung
151
wurden ebenso zur kommunistischen Machtlegi-
timation herangezogen wie eine gedankliche Fortführung des Westbundes.
152
Mit der Nutzung
von Architektur in Gestalt von Gebäuden und Denkmälern als Machtstütze wollten sich die
Kommunisten aus der polnischen Geschichte heraus legitimieren.
153
So vereinte sich die eigent-
lich contranational ausgerichtete marxistische Utopie mit dem Rückgriff auf nationale Inhalte
­ was, Joanna Wawrzyniak als das ,,Feuer und das Wasser der großen Täuschungen des 20. Jahrhun-
derts"
154
bezeichnet.
Besondern die Politik gegenüber den Deutschen schien für die Kommunisten geeignet, ihre natio-
nale Positionierung zu verdeutlichen. In diesem Bereich deckten sich kommunistische Interessen
mit den Einstellungen der Bevölkerung, so dass eine Integration unter patriotischem Vorzeichen
möglich werden konnte.
155
Über eine bewusst eingesetzte antideutsche Propaganda sollte eine
Überwindung der antirussischen Vorbehalte und somit eine Entschärfung der ,Theorie der zwei
Feinde Polens' ­ Russland und Deutschland ­ erreicht werden.
156
Zusammenfassend lässt sich der Prozess, der in Polen nach 1945 ablief, mit der Sowjetunion der
1920er und 1930er Jahre vergleichen. Auch hier kam es zu einer Inbesitznahme des historischen
Erbes des Zarenreichs, um eine Verankerung des neuen Systems in der Bevölkerung zu ermögli-
chen.
157
Die Nationalisierung der sozialistischen Propaganda fand nicht nur in der Rhetorik ihren
Ausdruck, sondern hatte konkrete Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung und -inszenie-
rung sowie auf die Denkmalpflegekonzeption in der
PRL
. Deutlich wird das an der Tatsache, dass
auf jede Krise innerhalb des polnischen Staats ein Zugeständnis hinsichtlich einer nationalen
Tradition folgte: Ein Denkmal wurde gesetzt, eine Person wieder zur nationalen Verehrung ,frei-
gegeben'.
158
Inwiefern die Nationalisierung der Geschichte auch im Wiederaufbau der zerstörten
Städte sichtbar wird, wird im Laufe der Arbeit anhand der Beispiele Stettin und Lublin heraus-
gearbeitet.
151 Ebenda.
152 Dieser fungierte bereits in der Zwischenkriegszeit als Gegenstück zum deutschen Ostmarkverein. Er forderte eine polnische
Grenze entlang der Oder und sah darüber hinaus Sachsen und Teile Brandenburgs als traditionelles Siedlungsgebiet der West-
slawen an. Vgl. hierzu Urban, Thomas (2005), S. 38 f.
153 Wawrzyniak, Joanna (2006): Die Westgebiete in der Ideologie der polnischen Kommunisten. Symbolik und Alltag am Beispiel
von Soldatensiedler, S. 298 - 319. In: Loew, Peter Oliver; Pletzing, Christian; Serrier, Thomas (Hg.): Wiedergewonnene Ge-
schichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas. Wiesbaden, S. 300.
154 Ebenda, S. 300 f.
155 Dmitrów, Edmund (2000, B), S. 241 f.
156 Die antirussische Tradition Polens kam jedoch immer wieder, beispielsweise 1975, als die außenpolitische Bindung an die
Sowjetunion in der polnischen Verfassung verankert werden sollte, zum Ausdruck: Der Zusatz wurde aufgrund innenpolitischer
Unruhen nicht in der Verfassung festgeschrieben. Vgl. hierzu Holzer, Jerzy (2008), S. 64.
157 uchowski, Tadeusz J. (2004): Der Wiederaufbau der Städte in Polen nach 1945. Denkmalpflege, Wiederherstellung oder Neu-
bau? S. 448 - 470. In: Born, Robert; Janatková, Alena; Labuda, Adam S. (Hg.): Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa
und der nationale Diskurs. Berlin, S. 451.
158 Krasnodbski, Zdzislaw (1998): Generationenwandel und kollektives Gedächtnis in Polen, S. 145 - 163. In: Kobyliska, Ewa;
Lawaty, Andreas (Hg.): Erinnern, Vergessen, Verdrängen. Polnische und deutsche Erfahrungen. Wiesbaden, S. 152.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836648158
DOI
10.3239/9783836648158
Dateigröße
9.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg – Geschichte
Erscheinungsdatum
2010 (Juni)
Note
1,0
Schlagworte
nachkriegszeit denkmalpflege wiederaufbau stadtstruktur polen
Zurück

Titel: Das multikulturelle bauliche Erbe, Denkmalpflege und Wiederaufbau in Polen von 1944 bis 1956.
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