Depression bei türkischen Frauen in Deutschland
Unterschiede zwischen Heiratsmigrantinnen und Arbeitsmigrantinnen
©2009
Masterarbeit
123 Seiten
Zusammenfassung
Inhaltsangabe:Einleitung:
Mit dem Anwerbeabkommen kamen die ersten türkischen Migranten in den 50´er Jahren nach Deutschland. Von diesen Migranten, auch Arbeitsmigranten oder erste Migrantengeneration genannt, ist ein Teil inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Einige leben jedoch bereits in dritter Generation in Deutschland. Viele der ersten Arbeitsmigranten waren verheiratet, als sie Frau und Kinder in der Heimat zurück ließen und nach Deutschland kamen. Diejenigen, die nicht verheiratet waren, heirateten später einen Ehepartner aus dem Herkunftsland. Bei den Nachkommen der ersten Generation, der zweiten Migrantengeneration, ist das gleiche Verhalten zu beobachten. Insbesondere Männer der zweiten Generation tendieren zur Heirat mit Partnerinnen aus der Türkei. Im Jahre 2005 stammte ein großer Teil des Ehegatten- und Familiennachzuges aller Ausländer mit 15.162 Personen aus der Türkei. Dies entspricht einem Anteil von 28,5%.
Ehefrauen der zweiten Migratengeneration werden nicht immer in den Eingliederungsprozess im Gastland umfassend einbezogen. Oft ist ihre Handlungskompetenz nur auf den innerfamiliären Bereich, wie Kinder und Haushalt, begrenzt. Entscheidungskompetenzen liegen beim erst eingewanderten Ehemann und /oder bei den Schwiegereltern. Oft werden auch Töchter von Verwandten in der Türkei angeheiratet. Psychische Erkrankungen bei Arbeitsmigrantinnen in Deutschland wurden immer wieder in unterschiedlichen Studien behandelt. Zu der Gruppe der Heiratsmigrantinnen gibt es jedoch in Bezug auf psychische Erkrankungen relativ wenig Untersuchungen. Die Beobachtungen der Autorin aus der eigenen Tätigkeit im Bereich der Sozialpsychiatrie zeigen jedoch, dass die Heiratsmigrantinnen nach wenigen Jahren Aufenthalt in Deutschland häufig depressive Symptome zeigen. Die vorliegende Studie befasst sich daher mit der Fragestellung, weshalb junge Heiratsmigrantinnen relativ schnell erkranken, während Arbeitsmigrantinnen relativ lange gesund bleiben. Ziel dieser Arbeit ist es zu untersuchen, welche soziokulturellen Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen bestehen und ob die Depression von der Akkulturation, von Partnerschaftsproblemen und/oder Heimweh beeinflusst wird. Anschließend soll gezeigt werden, welche präventiven Maßnahmen für Heiratsmigrantinnen gegen eine frühzeitige depressive Erkrankung möglich sind.
Der erste Teil dieser Arbeit befasst sich mit dem Thema der depressiven Störungen. Anschließend werden im zweiten Teil die Stadien und […]
Mit dem Anwerbeabkommen kamen die ersten türkischen Migranten in den 50´er Jahren nach Deutschland. Von diesen Migranten, auch Arbeitsmigranten oder erste Migrantengeneration genannt, ist ein Teil inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Einige leben jedoch bereits in dritter Generation in Deutschland. Viele der ersten Arbeitsmigranten waren verheiratet, als sie Frau und Kinder in der Heimat zurück ließen und nach Deutschland kamen. Diejenigen, die nicht verheiratet waren, heirateten später einen Ehepartner aus dem Herkunftsland. Bei den Nachkommen der ersten Generation, der zweiten Migrantengeneration, ist das gleiche Verhalten zu beobachten. Insbesondere Männer der zweiten Generation tendieren zur Heirat mit Partnerinnen aus der Türkei. Im Jahre 2005 stammte ein großer Teil des Ehegatten- und Familiennachzuges aller Ausländer mit 15.162 Personen aus der Türkei. Dies entspricht einem Anteil von 28,5%.
Ehefrauen der zweiten Migratengeneration werden nicht immer in den Eingliederungsprozess im Gastland umfassend einbezogen. Oft ist ihre Handlungskompetenz nur auf den innerfamiliären Bereich, wie Kinder und Haushalt, begrenzt. Entscheidungskompetenzen liegen beim erst eingewanderten Ehemann und /oder bei den Schwiegereltern. Oft werden auch Töchter von Verwandten in der Türkei angeheiratet. Psychische Erkrankungen bei Arbeitsmigrantinnen in Deutschland wurden immer wieder in unterschiedlichen Studien behandelt. Zu der Gruppe der Heiratsmigrantinnen gibt es jedoch in Bezug auf psychische Erkrankungen relativ wenig Untersuchungen. Die Beobachtungen der Autorin aus der eigenen Tätigkeit im Bereich der Sozialpsychiatrie zeigen jedoch, dass die Heiratsmigrantinnen nach wenigen Jahren Aufenthalt in Deutschland häufig depressive Symptome zeigen. Die vorliegende Studie befasst sich daher mit der Fragestellung, weshalb junge Heiratsmigrantinnen relativ schnell erkranken, während Arbeitsmigrantinnen relativ lange gesund bleiben. Ziel dieser Arbeit ist es zu untersuchen, welche soziokulturellen Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen bestehen und ob die Depression von der Akkulturation, von Partnerschaftsproblemen und/oder Heimweh beeinflusst wird. Anschließend soll gezeigt werden, welche präventiven Maßnahmen für Heiratsmigrantinnen gegen eine frühzeitige depressive Erkrankung möglich sind.
Der erste Teil dieser Arbeit befasst sich mit dem Thema der depressiven Störungen. Anschließend werden im zweiten Teil die Stadien und […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Meryem Reiter
Depression bei türkischen Frauen in Deutschland
Unterschiede zwischen Heiratsmigrantinnen und Arbeitsmigrantinnen
ISBN: 978-3-8366-4506-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Fachhochschule München, München, Deutschland, MA-Thesis / Master, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
3
1. Depressive Störungen
4
1.1
Klassifikation
5
1.2
Epidemiologie
6
1.3
Morbidität
6
1.4
Äthiologie
7
1.4.1
Genetische
Faktoren
8
1.4.2
Neurobiologische
Faktoren
8
1.4.3
Psychologische
Faktoren
9
1.4.4
Psychoanalytische Modellvorstellung
9
1.4.5
Kognitions- und lerntheoretische Modellvorstellungen
10
1.5
Symptomatik
und
klinische
Subtypen
13
1.6
Diagnostik
und
Differenzialdiagnose
15
1.7
Therapieformen
16
1.7.1
Medikamentöse
Therapie
17
1.7.2
Kognitive
Verhaltenstherapie
18
1.7.3
Psychoanalytische
Therapie
18
1.8
Verlauf
19
2. Migration und Milieus und Akkulturation
20
2.1
Stadien
der
Migration
20
2.1.1
Die
Vorbereitungsphase
21
2.1.2
Der
Migrationsakt
22
2.1.3
Die
Phase
der
Überkompensierung
22
2.1.4.
Die
Phase
der
Dekompensation
22
2.1.5 Die Phase der generationsübergreifenden
Anpassungsprozesse
23
2.2 Psychologische Auswirkungen der Migration
23
2.3
Milieus
von
Migranten
24
2.3.1
Traditionsverankerte
Migranten-Milieus
26
2.3.1.1 Religiös-verwurzeltes Milieu (Sinus A3)
26
2.3.1.2 Traditionelles Gastarbeitermilieu (Sinus A23)
27
2.3.2 Migranten-Milieus im Prozess der Modernisierung
28
2.3.2.1
Statusorientiertes
Milieu (Sinus B2)
28
2.3.2.2
Entwurzeltes
Milieu
(Sinus
B3)
29
2.3.2.3
Intellektuell-kosmopolitisches Milieu (Sinus B12) 30
2.3.2.4
Adaptives
Integrationsmilieu
(Sinus
B23)
31
2.3.3
Postmoderne
Migranten-Milieus
32
2.3.3.1
Multikulturelles
Performermilieu
(Sinus
BC2)
32
2.3.3.2 Hedonistisch-subkulturelles Milieu (Sinus BC3) 34
2.3.4
Ergebnisse
der
Studie
35
2.4
Akkulturation
37
2.4.1
Akkulturationsmodelle
37
2.4.1.1 Eindimensionale vs. Zweidimensionale
Akkulturationsmodelle
38
2.4.1.2
Verschmelzungsmodelle
39
2.4.1.3
Modelle
zur
Bereichspezifität
39
2.4.2
Akkulturationsmodell
von
Berry
40
2.4.3
Akkulturationsstress
41
3. Situation von türkischen Migrantinnen
45
3.1 Die Frau in der türkischen Gesellschaft
45
3.1.1
Der
Einfluss
des
Islam
45
3.1.2 Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft
47
3.2
Türkische
Frauen
in
der
Migration
49
3.2.1
Typologie
türkischer
Migrantinnen
50
3.2.2
Geschlechterrollen
und
Aufgabenverteilung
51
3.3
Erste
Migrantengeneration
(Arbeitsmigranten)
52
3.3.1
Wanderungsverhalten
52
3.3.2
Einkommen
53
3.3.3
Wohnsituation
54
3.3.4
Familienpotenziale
55
3.3.5
Gesundheit
56
3.3.5.1
Physische
Gesundheit
56
3.3.5.2
Psychische
Gesundheit
57
3.3.6
Sprachliche
Probleme
59
3.4
Die
Heiratsmigrantinnen
59
3.4.1
Motive
der
Heiratsmigrantinnen
60
3.4.2
Geschlechterrolle
der
Braut
61
3.4.3
Isolation
der
Braut
62
3.4.4
Finanzielle
Abhängigkeit
63
4. Zweite Migrantengeneration
65
4.1
Heiratsverhalten
66
4.1.1
Arrangierte
Ehen
67
4.1.2
Arrangierte
Eheschließungen
transnational
70
4.1.3 Unterschied zwischen arrangierter und selbst organisierter Ehe-
schließung
71
4.2 "Kiz kacirma" (Entführung der Braut)
72
4.3
Verwandtschaftsehen
74
5. Material und Methode
76
5.1
Befragungsinstrumente
77
5.1.1 Birtchnell Partnerschaftsinventar
77
5.1.2 Dundee Relocation Inventory (Heimwehinventar)
79
5.1.3 Beck Depressionsinventar (BDI)
79
5.1.4
Akkulturations-Stress-Index
(ASI)
80
5.1.5 General Health Questionnaire (GHQ)
80
5.1.6
Der
Fragebogen
81
5.2
Die
Auswertung
82
6. Darstellung der Ergebnisse
83
6.1
Ergebnisse
der
Inventare
83
6.2
Ergebnisse
des
Fragebogens
84
6.2.1
Ergebnisse
des
Fragebogens
Teil
I
85
6.2.2
Ergebnisse
des
Fragebogens
Teil
II
91
6.2.3
Ergebnisse
des
Fragebogens
Teil
III
92
6.2.4
Ergebnisse
des
Fragebogens
Teil
IV
92
6.2.5 Ergebnis des Fragebogens Teil V
93
6.3
Zusammenfassung
der
Ergebnisse
93
7. Diskussion
98
Literaturverzeichnis 102
Anhang
1. Depressive Störungen
Der Begriff Depression (lat. deprimere = herunter-, niederdrücken) wird als sym-
ptomorientierter Oberbegriff verwendet, der zur Bezeichnung eines Symptoms
(Merkmal) oder eines Syndroms (Krankheit) oder aber einer ganzen Krankheitsgrup-
pe dient (vgl. Möller et al. 2005, S. 75). Die Depression bezeichnet einen emotiona-
len Zustand, ,,...der durch große Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, Gefühle der
Wertlosigkeit und Schuld, sozialen Rückzug, Schlafstörungen, Verlust von Appetit
und sexuellem Verlangen sowie Verlust von Interesse und Freude an alltäglichen
Aktivitäten gekennzeichnet ist." (Davison et al. 2007, S. 307)
Manie ist der Gegenpol zur Depression. Sie bezeichnet einen emotionalen Zustand,
,,...von intensiver, aber unbegründeter gehobener Stimmung, der sich in Hyperaktivi-
tät, Geschwätzigkeit, Ideenflucht, Ablenkbarkeit oder nicht durchführbaren großarti-
gen Plänen ausdrückt." (ebd., S. 308)
Die Verlaufsformen einer Depression können unterschiedlich sein. Die meisten Men-
schen mit einer affektiven Störung leiden hauptsächlich an einer Depression. Nach
einer depressiven Phase normalisiert sich der Zustand. Diese Form nennt man unipo-
lare Depression. Falls jedoch depressive Phasen sich mit Phasen von Manie abwech-
seln, nennt man diese Form bipolare Störung (auch Bipolar I) oder manisch-
depressive Störung (vgl. Comer 2001, S. 174).
Im 20. Jahrhundert setzte sich die Bezeichnung ,,manisch-depressive Psychose" bzw.
,,manisch-depressive Krankheit" durch. In neuerer Zeit wird für die ganze Gruppe
der manisch-depressiven Psychosen die Bezeichnung ,,affektive Psychosen" verwen-
det (vgl. Möller et al. 2005, S. 75).
4
1.1 Klassifikation
Zu den affektiven Störungen zählen (vor allem die zu der Gruppe der endogenen
Psychosen gehörenden) affektive Psychosen (manisch-depressive Erkrankung, endo-
gene Depression, Manie) und die reaktiven und neurotischen (psychogenen) Depres-
sionen. Depressionen werden traditionell unterteilt in psychogene (reaktive, neuroti-
sche), endogene (anlagebedingte/seelische) und somatogene (organisch-körperlich
bedingte) Depressionen (vgl. Möller et al. 2005, S. 75).
Die Einteilung affektiver Störungen erfolgt heute meist anhand der beiden aktuell
gültigen Klassifikationssysteme ICD-10 (International Classification of Deaseases)
der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1992) und DSM-IV (Diagnostic and Sta-
tistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association (APA
1994), die in der folgenden Tabelle dargestellt ist.
Tab. 1: Internationale Klassifikation von affektiven Störungen
Quelle: Möller et al. 2005, S. 77
5
1.2 Epidemiologie
Depressive Erkrankungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Die
Häufigkeit der Erkrankung ist in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen unter-
schiedlich. Unter der deutschen Bevölkerung leiden etwa 5-10% ( ca. 4 Mio.) an be-
handlungsbedürftigen Depressionen (Punktprävalenz). Zwischen 10 und 20% er-
kranken im Laufe ihres Lebens an einer Depression: 8-12% der Männer, 10-25% der
Frauen. Das Lebenszeitrisiko an einer Depression zu erkranken liegt nach einer gro-
ßen deutschen Studie bei Männern bei 10,4% und bei Frauen bei 20,4%. 10% der
Patienten einer Allgemeinarztpraxis leiden an einer Depression. Jedoch ist auch be-
merkenswert, dass 50% der Depressiven keinen Arzt aufsuchen und 50% der De-
pressionen vom Allgemeinarzt nicht erkannt werden (vgl. Möller et al. 2005, S. 77).
1.3 Morbidität
Die Erkrankungswahrscheinlichkeit für eine Person Zeit ihres Lebens auf bipolarer
affektiver Psychosen (Bipolar I) wird auf 1% und das bipolare Spektrum (Bipolar II
u.a.) neuerdings auf 2-10% geschätzt. 65% der affektiven Psychosen verlaufen uni-
polar (d.h. nur depressive Phasen), in ca. 30% der Fälle bipolar (d.h. depressive und
manische Phasen). Bei ca. 5% kommt es zu rein manischen Episoden (vgl. Möller et
al. 2005, S. 77).
Die Häufigkeit von Depressionen ist bei Frauen, Kultur unabhängig, doppelt so hoch,
wie bei Männern. Bei bipolaren Erkrankungen gibt es jedoch im Hinblick auf Häu-
figkeit keine Geschlechtsunterschiede. Bei unipolaren Depressionen liegt das Er-
krankungsalter zwischen 30 und 45 Jahren und bei bipolaren bei 20-35 Jahren (ebd.,
S. 78).
Die Häufigkeit der Dysthymia (leichte chronische depressive Verstimmung) wird mit
2-10% (dabei überwiegen wieder die Frauen) angegeben. Der Beginn liegt in der
Hälfte der Fälle vor dem 25. Lebensjahr. Die Altersdepression ist die häufigste psy-
6
chische Erkrankung im Alter bei über 65-Jährigen. Ihre Prävalenz (Vorkommen)
wird auf mindestes 10% geschätzt. Neben Herz- und Kreislauferkrankungen sind
Depressionen die häufigsten Erkrankungsformen im Alter (ebd., S. 78).
1.4 Ätiologie
Die Entstehung affektiver Erkrankungen ist im Sinne des Vulnerabilitätskonzepts
(anlagebedingte Verletzlichkeit) der endogenen Psychosen als multifaktoriell bedingt
anzusehen. Die individuelle Veranlagung bestimmt, ob Lebensereignisse depressiv
einwirken oder nicht. In empirischen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden,
dass genetische, neurobiologische und psychologische Faktoren auf die Erkrankung
Einfluss haben (vgl. Möller et al. 2005, S. 78).
Entstehungsmodell depressiver Erkrankungen
Genetische Prädisposition
Persönlichkeitsfaktoren
Depressive Symptomatik
Körperliche
Erkrankungen
Neurobiologische
Veränderungen
Psychosoziale
Belastung
Abb.1: Entstehungsmodell depressiver Erkrankungen
Quelle: www.kompetenznetz-depression.de
7
1.4.1 Genetische Faktoren
Anhand von Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien konnte vor allem bei der
bipolaren Form der affektiven Psychosen eine genetische Disposition (Veranlagung)
nachgewiesen werden. Das Erkrankungsrisiko der Kinder liegt bei einem kranken
Elternteil für unipolare Depressionen bei ca. 10%, bei bipolaren Psychosen bei ca.
20%. Wenn beide Eltern an einer bipolaren affektiven Psychose leiden, liegt die Er-
krankungswahrscheinlichkeit der Kinder bei 50-60%. Die Konkordanzrate (Überein-
stimmung) affektiver Psychosen für eineiige Zwillinge liegt bei ca. 65%, für zweieii-
ge Zwillinge bei ca. 20%. Adoptionsstudien belegten die Bedeutung genetischer Fak-
toren (vgl. Möller et al. 2005, S. 78).
1.4.2 Neurobiologische Faktoren
Seit über 20 Jahren existiert die Amindefizit-Hypothese, wonach eine Verminderung
der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin für die depressive Erkrankung ver-
antwortlich gemacht werden. Inzwischen haben jedoch die Amin-Hypothesen eine
Veränderung erhalten. Heute steht das Konzept der Dysbalance verschiedener Neu-
rotransmitter im Vordergrund. Dabei sind auch die Veränderungen der Dichte und
Empfindlichkeit von Rezeptoren wichtig. Untersuchungen zur neurobiochemischen
Wirkung der Antidepressiva zeigen, dass es nach der akuten Wirkung auf die Neuro-
transmission vor allem zu Empfindlichkeitsveränderungen der Rezeptoren kommt.
Bei Manien findet sich eine Dopamin- und Noradrenalinerhöhung. Bei Männern
wurden erhöhte Progesteronspiegel gemessen (vgl. Möller et al. 2005, S. 78 ff.).
Auch dem neuroendokrinen (hormonellen) System wird eine Rolle bei der Depressi-
on zugeschrieben. Hormondrüsen sondern Hormone ab, die die Aktivität von Kör-
perorganen beeinflussen. Bei unipolarer Depression ist ein hoher Kortisolspiegel zu
verzeichnen. Kortisol ist das Hormon, das bei Stress von der Nebenrinde abgegeben
wird, daher vermutet man, dass die Hypothalamus-Hypophysen-Nebenrinden-Achse
bei Depression überaktiv ist. Hohe Kortisolspiegel können die Dichte der Serotonin-
8
rezeptoren vermindern und die Funktion der noradrenergen Rezeptoren beeinträchti-
gen. Man vermutet, dass die Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse mögli-
cherweise für bipolare Störung von Bedeutung ist. Bei Patienten mit bipolarer Stö-
rung kommen Erkrankungen der Schilddrüse häufig vor. Bei diesen Patienten können
Schilddrüsenhormone Manien auslösen (vgl. Davison et al. 2007, S. 331).
1.4.3 Psychologische Faktoren
Zu den psychologischen Faktoren zählen sog. psychoreaktive Auslöser, wie kritische
Lebensereignisse (,,Life events"), und Stressreaktionen. Diese können unterschiedli-
che Ursachen haben, wie z.B. der Verlust von oder Probleme mit Bezugspersonen,
Entwurzelung, Scheidung, Wochenbett oder aber auch Entlastung und Veränderun-
gen der gewohnten Lebensweise (sog. Entlastungs- bzw. Umzugsdepressionen). Es
handelt sich eher um eine unspezifische Stressreaktion. Traumatisierungen wie beim
sexuellen Missbrauch, gehen mit einem erhöhten Depressionsrisiko einher, kommen
aber als Auslöser weniger in Frage. Länger dauernde Überlastungen können zu ei-
nem Rückzugssyndrom mit Erschöpfung, ,,gelernter Hilflosigkeit" und Selbstaufgabe
führen. Auch Konflikte in der Paarbeziehung können ein wichtiger Auslöser für De-
pressionen sein (vgl. Möller et al. 2005, S. 80 ff.).
1.4.4 Psychoanalytische Modellvorstellung
Sigmund Freud und sein Schüler Karl Abraham entwickelten die erste psychoanaly-
tische Theorie der Depression. Ausgangspunkt war dabei die Ähnlichkeit zwischen
der klinischen Depression und der Trauerreaktion bei Menschen bei Verlust eines
Nahestehenden. Merkmale dafür waren ständiges Weinen, Appetitmangel, Schlafstö-
rungen, die Unfähigkeit zur Lebensfreude und allgemeiner Rückzug (vgl. Comer
2001, S. 183).
9
Neuere psychoanalytische Konzepte gehen von einer früh entstandenen Störung, mit
dem Schwerpunkt der Selbstwertproblematik aus. Länger dauernde, versagende oder
aber auch verwöhnende Erziehungsmuster, die das Loslösen des Kindes und die
Entwicklung eines gesunden Selbstwertes behindern, werden als Ursachen angese-
hen. Im Erwachsenenalter werden dann Schwellensituationen (Übernahme größerer
Verantwortung oder Selbständigkeit) als Überforderung erlebt und führen zur De-
kompensation. Es kommt zu einer Regression, die die Betroffenen überfordert und
sie matt, antriebs- und lustlos sich fühlen lässt. Schuldgefühle, Selbstanklagen und
Suizidversuche entstehen aus den Aggressionsgefühlen gegen das verlorengegangene
Liebesobjekt und werden durch ein strenges Über-Ich gefördert (vgl. Möller et al.
2005, S. 81 f.).
1.4.5 Kognitions- und lerntheoretische Modellvorstellungen
Die psychologische Stress- und Depressionsforschung hat sich mit verschiedenen
Aspekten der kognitiven und lerntheoretischen Prozesse befasst. Wie Stress (eine
unspezifische Reaktion eines Organismus auf jede übermäßige Belastung) und Stres-
soren (interne oder externe Ereignisse, die Stress erzeugen) in den Modellvorstellun-
gen vorkommen, soll im folgenden näher dargestellt werden.
Anfang der 50´er Jahre entwickelte Selye (1952) anhand von Tierexperimenten das
sogenannte ,,Allgemeine Adaptationssyndrom" (AAS), auch Generalisierte Anpas-
sungssyndrom (GAS) genannt. Seine Annahme war, dass bei starken, langandauern-
den Stressoren der Organismus automatisch immer die gleiche Reaktion zeigt. Diese
besteht aus drei Phasen: der Alarmreaktion, der Widerstandsphase und der Erschöp-
fungsphase. Nach Selye tritt diese Art der Reaktion dann auf, wenn das Ereignis als
wenig vorhersehbar und kaum kontrollierbar erscheint (vgl. Krones 2001, S. 77).
Seligmann machte Ende der 70´er Jahre bei Tierversuchen ähnliche Beobachtungen
wie Selye. Die Reaktion der Tiere, die mehrmaligen, unvorhersehbaren und unkon-
trollierbaren Ereignissen (Elektroschocks) ausgesetzt waren und infolge dessen Er-
10
schöpfungssymptome zeigten, bezeichnete Seligmann als ,,gelernte Hilflosigkeit".
Laut Seligmann (1992) liegt die Ursache für die Depression in der Überzeugung,
dass Reagieren zwecklos ist (vgl. Seligmann 1999, S. 89). Eine Konfrontation mit
einem nicht veränderbaren, negativ belastenden Ereignis kann zur Hilflosigkeit füh-
ren, die sich u.a. in Passivität, verlangsamten Denkprozessen und verminderter sozia-
ler Ansprechbarkeit, und bei schwerer Depression sogar im stuporösen Verhalten
zeigen (vgl. Seligmann 1999, S. 80).
Lazarus und Folkmann (1984) ergänzten das Stressmodell von Selye durch die Hin-
zunahme kognitiver Bewertungs- und Bewältigungsprozesse. Die Wahrnehmung des
Stressors, der sogenannte Bewertungsprozess, erfolgt nach Lazarus und Folkmann in
drei Schritten. Bei der Situationseinschätzung wird zwischen den drei Formen irrele-
vant, angenehm-positiv und stressbezogen unterschieden. Wenn ein Stressor als be-
lastend eingestuft wird, erfolgt die sekundäre Bewertung unter der Berücksichtigung
der zur Verfügung stehenden individuellen und sozialen Ressourcen. Je nachdem,
wie belastend der Stressor im Vergleich zu früheren Erfahrungen erscheint, werden
sogenannte Copingmechanismen (Bewältigungsmechanismen) aktiviert. Die Aus-
wirkungen der ausgewählten Bewältigungsstrategie bedingt die tertiäre Bewertung,
wonach die Bewältigungsstrategien angepasst werden (vgl. Krones 2001, S. 82).
Die Bewältigungsstrategien werden im weiteren in günstige aktive (Suche nach sozi-
aler Unterstützung, Verbalisierung der Zustände oder Ausübung von sportlichen Ak-
tivitäten usw.) oder ungünstige passive (Rückzug, Suchtmittelgebrauch, Grübelnei-
gung usw.) differenziert. Welche Bewältigungsstrategie eine Person zur Verfügung
hat und welche Persönlichkeitsmerkmale diese kennzeichnen, ist abhängig von ange-
borenen Komponenten und den biografischen Ereignissen, die die Person im Soziali-
sationsprozess durchgemacht hat (vgl. Krones 2001, S. 82 f.).
Nach der kognitiven Theorie von A.T.Beck (1961) liegt das zentrale Problem depres-
siver Erkrankungen bei der Wahrnehmungs- und Interpretationseinseitigkeit. Diese
ist gekennzeichnet durch negative Wahrnehmung der eigenen Person, der Umwelt
11
und der Zukunft, der sogenannten ,,kognitiven Triade" (vgl. Möller et al. 2005, S.
82).
Die wichtigsten logischen Denkfehler von depressiven Menschen, die die kognitive
Triade aufbauen und verfestigen sind nach Beck wie folgt (vgl. Comer 2001, S. 191
f.):
-
Ziehung willkürlicher Schlüsse: Negative Schlussfolgerungen werden aus Er-
eignissen geschlossen, die nicht berechtigt sind.
-
Selektive Abstraktion: Negative Einzelheiten einer Situation werden überbe-
wertet, ohne den größeren Zusammenhang zu sehen.
-
Übergeneralisierung: Weitreichende Schlussfolgerungen werden aus einem
bedeutungslosen Ereignis gezogen.
-
Maximierung und Minimierung: Die Bedeutung von positiven Ereignissen
werden unterschätzt oder die von negativen Ereignissen übertrieben.
-
Personalisierung: Ursachen negativer Ereignisse werden bei sich selber ge-
sucht.
Die kognitive Triade wird in Form von automatischen Gedanken erlebt, d.h. die
Hoffnungslosigkeit der Lage wird von ununterbrochenen unangenehmen Gedanken
immer wieder durchdacht (vgl. Comer 2001, S. 192).
Das verhaltenstheoretische Modell zeigt, dass die Depression ein Hinweis auf eine
Störung der Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung und Selbstverstärkung ist. Die
Anzahl von positiven Verstärkern wird von Depressiven unterschätzt, sie sind sehr
selbstkritisch und neigen zu Selbstbestrafung (vgl. Möller et al. 2005, S. 82).
Lewinsohn (1974) zeigte die Wirkung depressiven Verhaltens auf die Sozialpartner
in seinem verhaltenstheoretischen Modell des Verstärkerverlusts. Er belegte, dass
depressive Menschen durch ihr Verhalten andere Menschen von sich abstoßen und
somit den Mangel an positiven Verstärkern aus ihrer Umgebung selber bewirken
(vgl. Davison et al. 2007, S. 323).
12
1.5 Symptomatik und klinische Subtypen
Das klinische Bild der Depression kann unterschiedlich sein. Als Leitsymptome gel-
ten depressive Verstimmung, Antriebshemmung, Denkhemmung und Schlafstörun-
gen. Je nach Ausmaß der Depression ist ein Zustand von gedrückter Stimmung bis
hin zum ausweglosen Nichts-mehr-fühlen-können (,,Gefühl der Gefühllosigkeit") zu
beobachten. Weitere Symptome können sein Interesse- und Initiativeverlust, Ent-
scheidungsunfähigkeit, Angst- und Hoffnungslosigkeit, innere Unruhe, Grübeln,
Schlafstörungen und Vitalstörungen (leibliche Missempfindungen und Befindlich-
keitsstörungen) (vgl. Möller et al. 2005, S. 82).
Die Depressiven sehen sich und ihre Umwelt negativ-,,grau". Sozialer Rückzug und
Entfremdungserleben sind die Folgen. Einige Depressive sind vom äußeren Erschei-
nungsbild (Phänomenologie) (ernster Gesichtsausdruck, erstarrte Mimik und Gestik,
gesenkter Blick, leiser und zögernder Stimme) leicht zu erkennen. Bei anderen kann
erst nach einem Gespräch die Depression festgestellt werden (vgl. Möller et al. 2005,
S. 83).
Für die unter den affektiven Psychosen vorkommende ,,endogene Depression" (Me-
lancholie) sind folgende Symptome typisch: ,,Gefühl der Gefühllosigkeit" (für nahe-
stehende Menschen kann nichts mehr empfunden werden), Tagesschwankungen mit
Morgentief, Durchschlafstörungen bzw. morgendliches Früherwachen, Denkhem-
mung, Vitalstörungen, ,,grundloses" Auftreten, Selbstbezichtigungen und
beschuldigungen (vgl. Möller et al. 2005, S. 85 f.).
Wenn Wahnideen auftreten, dann spricht man von der psychotischen Depression.
Wahnideen wie Verarmungs-, Versündigungs- und Schuldwahn oder hypochondri-
scher oder nihilistischer Wahn (Überzeugung an einer schweren, unheilbaren Krank-
heit zu leidern oder Verneinung der Funktionen und Organe des eigenen Körpers bis
zum Gefühl der Nicht-Existenz). Die häufigste Form des depressiven Wahns ist der
bei Altersdepression auftretende Verarmungswahn (vgl. Möller et al. 2005, S. 86).
13
Aufgrund des Erscheinungsbildes unterscheidet man folgende Subtypen der Depres-
sion (vgl. Möller et al. 2005, S. 84 f.):
1. Gehemmte Depression: Reduktion von Psychomotorik und Aktivität, im Extrem-
fall depressiver Stupor.
2. Agierte Depression: ängstliche Getriebenheit, Bewegungsunruhe, unproduktives-
hektisches Verhalten und Jammern
3. Larvierte (somatisierte) Depression: Im Vordergrund stehen vielfältige Organbe-
schwerden. Die Depression wird ,,vitalisiert" im oder am Körper erlebt. Beschrieben
werden Beschwerden wie Appetitlosigkeit mit Gewichtsverlust, Obstipation, Schlaf-
störungen, Libidomangel und andere Vitalstörungen wie Abgeschlagenheit, Enge-,
Druck- und Schweregefühl in Kopf, Brust und Extremitäten.
4. Anankastische Depression: im Vordergrund stehen Zwangssymptome. In ihrer
Primärpersönlichkeit zeichnen sich die Kranken durch besondere Gewissenhaftigkeit
und Ordentlichkeit aus.
5. ,,Sisi-Syndrom": Eine neuere Form der Depression, die nach der österreichischen
Kaiserin benannt ist. Bei dieser Form sind Unrast, Sprunghaftigkeit, körperliche Hy-
peraktivität, rasche Stimmungsschwankungen, Fasten, übertriebener Körperkult,
Selbstwertprobleme und zahlreiche Selbstbehandlungsversuche im Vordergrund.
Weitere Sonderformen der Depression sind (vgl. Möller et al. 2005, S. 86):
1. Involutions- bzw. Spätdepression: tritt nach dem 45. Lebensjahr auf
2. Altersdepression: tritt nach dem 60. Lebensjahr auf
3. Wochenbettdepression (postpartale Depression): tritt meist in den ersten ein bis
zwei Wochen nach der Entbindung auf
4. Erschöpfungsdepression (nach Kielholz): meist nach langjähriger affektiver Dau-
erbelastung bzw. wiederholten schweren Psychotraumen.
5. Raid-Cycling: mehr als vier depressive oder manische Phasen pro Jahr.
14
1.6 Diagnostik und Differenzialdiagnose
Die Diagnose affektiver Störungen erfolgt heute meist anhand der beiden aktuell
gültigen Klassifikationssysteme ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO,
1992) und DSM-IV der American Psychiatric Association (APA, 1994). Beide Klas-
sifikationssysteme basieren auf einer genauen Beschreibung der diagnostischen Ka-
tegorien im Sinne einer operationalen (standardisierten) Diagnostik. In Tabelle 2 ist
eine Gegenüberstellung der diagnostischen Kriterien der depressiven Episode nach
DSM-IV und ICD-10 dargestellt (vgl. Möller et al. 2005, S. 90).
Tab. 2.: Diagnostische Kriterien der depressiven Episode nach ICD-10 und DSM-IV
Quelle: Möller et al. 2005, S. 90
Nach der oben dargestellten Tabelle wird anhand der Diagnosekriterien der Schwe-
regrad (leicht, mittel, schwer) und der Verlauf (uni-, bipolar, rezidivierend ) der De-
pression entschieden. Dazu werden standardisierte Beurteilungsskalen, wie z.B. die
Hamilton-Depressionsskala, verwendet (vgl. Möller et al. 2005, S. 90).
15
1.7 Therapieformen
Aufgrund der unterschiedlichen Ursachen, wurden lange Zeit verschiedene bis ge-
gensätzliche Therapieformen (Pharmakotherapie vs. Psychotherapie) angewendet.
Heute geht man von einer multifaktoriellen Ursache und Bedingtheit psychischer
Störungen bei fast allen Depressionsformen aus. Die Einteilung erfolgt nach klini-
schen und psychosozialen Kriterien, je nach Schweregrad, Verlauf oder Auslöser
(vgl. Möller et al. 2005, S. 76).
Für die Behandlung der Depression sind verschiedene Möglichkeiten gegeben. An-
hand des verständnisvollen, stützenden Arztgesprächs (supportive Psychotherapie)
wird ein Gesamtbehandlungsplan erstellt. Das klinische Bild und die wahrscheinliche
Erkrankungsursache bestimmen den Schwerpunkt der Therapiemaßnahmen. Schwer-
punktmäßig wird entweder die alleinige medikamentöse Therapie mit Antidepressi-
va, die Psychotherapie oder andere Therapieformen zur Behandlung herangezogen
(vgl. Möller et al. 2005, S. 94).
Die Behandlungsstrategie gliedert sich in drei Phasen (vgl. Möller et al. 2005, S. 94):
1. Akutbehandlung
2. Erhaltungstherapie (6-12 Monate)
3. evtl. Rezidivprophylaxe (Jahre bis lebenslang)
Zuerst muss geklärt werden, ob eine ambulante oder stationäre Behandlung erfolgen
muss. Sehr wichtig ist dabei die Abschätzung der Suizidalität (Selbstmordgefahr). Je
nach Schweregrad der Depression können z.B. leichte depressive Episoden durch
unterstützende Psychotherapie behandelt werden. Schwerere Formen von Depressio-
nen werden dagegen mit spezifischen Therapieformen behandelt (vgl. Möller et al.
2005, S. 94 f.).
16
1.7.1 Medikamentöse Therapie
Bei leichten Depressionen ist eine Behandlung mit Johanniskraut schon erfolgreich
(Comer 2001, S. 221). Für schwerere Formen stehen Behandlungen mit Antidepres-
siva im Vordergrund. Es gibt drei Hauptkategorien von Antidepressiva für unipolare
Depressionen (vgl. Davison et al. 2007, S.343):
1. Trizyklika (z.B. Amiptriptylin oder Imipramin)
2. Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI) (z.B. Fluoxetin oder Sertra-
lin)
3. Monoaminoxidase-Hemmer (MAO-Hemmer) (z.B. Tranylcypromin und Moclo-
bemid)
Ein Nachteil der Antidepressiva sind ihre sogenannten anticholinergen Nebenwir-
kungen. Diese können je nach Antidepressivum unterschiedlich sein. Trizyklika kön-
nen Mundtrockenheit, Verdauungsstörungen, Gewichtszunahme und eine Blutdruck-
senkung verursachen. Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer haben keine
Nebenwirkungen, es können jedoch Unruhe und Übelkeit auftreten. Monoaminoxi-
dase-Hemmer können zu Unruhe und Schlafstörungen führen (vgl. Möller et al.
2005, S. 96).
Bei bipolaren Depressionen wird häufig Lithium eingesetzt, da es wirkungsvoller ist,
als bei unipolaren Depressionen. Es wird oft aufgrund ihrer langsamen Wirkung mit
einem Neuroleptikum (Psychopharmakum für psychotische Erkrankungen) oder ei-
nem Antidepressivum, das einen beruhigenden bzw. stimmungsaufhellenden Effekt
hat, zusammen verschrieben (vgl. Davison et al. 2007, S.344). Mögliche Nebenwir-
kung einer zu hohen Dosierung von Lithium kann zu einer Lithiumintoxikation
(Vergiftung) führen, die Übelkeit, Erbrechen, Schwerfälligkeit, Zittern, Störungen
des Natriumgleichgewichts, Nierenfunktionsstörungen und sogar den Tod verursa-
chen kann (vgl. Comer 2001, S. 222).
17
Weitere Formen, die, wie die medikamentöse Behandlung, ebenfalls zur biologi-
schen Behandlung zählen und sich bei der Behandlung von Depressionen erfolgreich
gezeigt haben, sind wie folgt (vgl. Möller et al. 2005, S. 98):
- Die Schlafentzugsbehandlung, insbesondere bei endogenen Depressionen.
- Die Elektrokrampftherapie, bei wahnhaften Depressionen.
- Die Lichttherapie, bei Herbst-Winter-Depressionen.
Als Begleittherapie haben sich ebenfalls Bewegungs- und Sporttherapie sowie Phy-
siotherapie sehr erfolgreich gezeigt.
1.7.2 Kognitive Verhaltenstherapie
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) geht zurück auf Arbeitsgruppen um Beck und
Lewinsohn. Laut Beck beeinflussen Gedanken, Vorstellungen, Erwartungen und
Wahrnehmungen das emotionale Befinden (vgl. Davison et al. 2007, S. 335). Mit der
kognitiven Verhaltenstherapie sollen vor allem negative Realitäts- und Selbstbewer-
tungen korrigiert und schrittweise Aktivitäten nach dem Verstärker-Prinzip aufge-
baut werden. Zudem sollen Selbstsicherheit und soziale Kompetenz und die thera-
peutische Beeinflussung der Interaktionen des Depressiven mit seinen nahen Be-
zugspersonen gefördert werden. Dafür werden in kleinen Schritten Alltagsprobleme
bearbeitet. Wichtig dabei ist es herauszufinden, wie der Depressive denkt, erlebt, mit
anderen Menschen und Problemen umgeht. Das allgemeine Ziel der kognitiven Ver-
haltenstherapie ist es, Fähigkeiten zu entwickeln mit Lebensproblemen fertig zu wer-
den (vgl. Möller et al. 2005, S. 98).
1.7.3 Psychoanalytische Therapie
Die Psychoanalyse geht davon aus, dass depressive Störungen auf unbewusster Trau-
er über Verlusterlebnisse basieren. Hinzu kommt die extreme Abhängigkeit von an-
deren Menschen. Bei der psychoanalytischen Therapie wird versucht, diese Prozesse
18
19
ins Bewusstsein zu heben und sie dadurch zu überwinden. Verfahren wie die freie
Assoziation, Deutung der Assoziationen, Träume Aufdeckung von Widerständen und
Übertragung sollen den Depressiven helfen, vergangene Ereignisse und Gefühle
wiederzuerleben und dadurch zu bearbeiten (vgl. Comer 2001, S. 202 f.).
1.8 Verlauf
Depressive Phasen können schleichend oder plötzlich beginnen. Manische Phasen
können dagegen innerhalb von Stunden oder Tagen einsetzen. Nur 25% der Depres-
sionen verlaufen einphasig, 75% der Erkrankungen rezidivieren (wiederholen sich).
Unipolar verlaufende Depressionen können vier, bipolare Depressionen dagegen
sechs Episoden im Laufe eines Lebens haben. Bipolare affektive Psychosen haben
eine höhere Phasenzahl mit kürzerer Phasendauer. Mit zunehmender Krankheitsdau-
er werden die gesunden Intervalle kürzer (Phasenakzeleration). Depressive Sympto-
me haben im Prinzip eine günstige Prognose. Jedoch verlaufen 15-30% der ,,Major
Depressionen" chronisch (vgl. Möller et al. 2005, S. 101).
Unbehandelte depressive und manische Episoden dauern im Durchschnitt sechs Mo-
nate (bei beiden Geschlechtern). Manische Phasen sind im Durchschnitt kürzer. Die
Länge des Intervalls zwischen zwei Phasen ist unterschiedlich und wird mit zuneh-
mender Phasenfrequenz kürzer. Die Zyklusdauer (die Zeitspanne zwischen Beginn
einer Phase und Beginn der nächstfolgenden Phase) beträgt bei unipolaren endoge-
nen Depressionen vier bis fünf Jahre, bei bipolaren affektiven Psychosen drei bis vier
Jahre. Im höheren Lebensalter dauern depressive Phasen länger und neigen dazu
chronisch (anhaltend) zu werden (vgl. Möller et al. 2005, S. 101 f.).
Eine besondere Form stellt das sogenannte Rapid-Cycling dar. Es kommt dabei zum
schnellen Wechsel zwischen Manie und Depression. Diese besondere Form tritt vor
allem bei Frauen auf. Selten kommen gemischte Formen von manischen und depres-
siven Symptomen vor (vgl. Möller et al. 2005, S. 102).
2. Migration, Migrantenmilieus und Akkulturation
In dem vorliegenden Kapitel wird zunächst die Migration mit ihren einzelnen Phasen
dargestellt. Diese einzelnen Phasen, die von den Migranten in der neuen Heimat
durchlaufen, lösen Konflikte, Krisen und Anpassungserfordernisse aus, auf die unten
näher eingegangen wird. Anschließend werden die einzelnen Milieus der Migranten
in Deutschland beschrieben. Zuletzt wird das Thema Akkulturation behandelt.
2.1 Stadien der Migration
Migration (lat. : migration = Wanderung) bedeutet im soziologischen Sinne einen
länderübergreifenden, längerfristigen Wohnortwechsel eines Menschen. Politisch
wird anstelle von Einwanderern auch von Migranten gesprochen (vgl. www.lexikon-
martinvogel).
Eine Migration kann aus unterschiedlichen Gründen entstehen und in verschiedenen
Formen ablaufen. Die verbreitetste Form ist die Arbeitsmigration, die aus wirtschaft-
lichen Gründen entsteht und ziemlich unspektakulär verläuft. Dagegen gibt es er-
zwungene dramatische Migrationsformen, wie z.B. Vertreibung und Flucht aus der
Heimat. So unterschiedlich sie auch sind, haben sie nach Sluzki (2001) eine Regel-
haftigkeit, die im weiteren dargestellt ist.
20
Abb. 2: Belastungen der Migration
Quelle: Sluzki 2001, S. 103
Der Migrationsprozess nach Sluzki (2001) erfolgt in 5 Stadien, auf die im folgenden
näher eingegangen wird.
2.1.1
Die Vorbereitungsphase
Der erste Abschnitt des Migrationsprozesses ist die Vorbereitungsphase. Erste
Schritte zur Migration werden unternommen. Die zeitliche Vorbereitung kann ganz
schnell oder ganz langsam ablaufen. Ein emotionaler Wechsel zwischen Euphorie
auf der einen und Angst, Enttäuschung und Überlastung auf der anderen Seite be-
lastet den Migranten. Innerhalb der Familie wird eine Neuverteilung der Rollen un-
vermeidlich. Die Benennung eines Migrationsgrundes, egal ob positiver oder negati-
ver Art, beleuchtet die Bewältigungsstile von Familien, einschließlich der Regeln,
nach denen Rollen eingenommen und gelebt werden (vgl. Sluzki 2001, S.103 ff.).
21
2.1.2
Der Migrationsakt
Der Migrationsakt als transitorischer Prozess, hat in den meisten Kulturen keine Ri-
tuale. Die Migranten sind sich selbst überlassen. Nur in Ausnahmefällen, wie z.B. in
Israel findet ein komplexes Begrüßungsritual, mit Aufnahme- und Sprachtrainings-
programm, statt. Auch Ablauf und Stil des Migrationsaktes können beträchtlich vari-
ieren: Je nachdem, ob die Migration als etwas Endgültiges (nach einer Flucht) oder
als etwas Widerrufliches (als vorübergehendes Erwerbsland) erlebt wird, oder ob
legal oder illegal in ein Land migriert wird (vgl. Sluzki 2001, S.105 f.).
2.1.3
Die Phase der Überkompensierung
In den ersten Wochen und Monaten nach Ankunft kann ein höchstmaß an Anpassung
bei den Migranten beobachtet werden. Eine "instrumentelle" und "affektive" Rollen-
verteilung, die zur Orientierung in der neuen fremden Welt dient, findet statt. Un-
stimmigkeiten zwischen den Erwartungen und der Realität werden von den Neuim-
migranten verdrängt. Die meisten Familien schaffen es über Monate einen gut funk-
tionierenden Anpassungs- und Akkulturationsprozess zu etablieren. Konflikte inner-
halb der Familie werden verdrängt. Familien, die schon immer sehr nah waren, rü-
cken noch näher zusammen. Dagegen verstärkt sich bei den Familien die Autonomie
der einzelnen Mitglieder, wenn sie schon immer etwas distanzierter waren. Eine der
Bewältigungsstrategien ist der feste Glaube an die Rückkehr in die Heimat. Dann
erhalten Normen und Werte des Heimatlandes besondere Wertschätzung. Jedoch
erlischt auch diese Bewältigungsstrategie mit der Zeit, dann wenn die Realität die
Träume einholt. Dann können Krisen entstehen (vgl. Sluzki 2001, S.106 f.).
2.1.4
Die Phase der Dekompensation
Diese Phase ist belastet mit Konflikten, Symptomen und Problemen. Beraterische
oder therapeutische Unterstützungen bei Migranten-Familien fallen in der Mehrheit
22
in diese Phase. Die Hauptanforderung dieser Phase liegt bei der neuen Realitätsges-
taltung. Die Kunst ist die Kontinuität der Familie und ihre Anpassungsfähigkeit an
die neue Umwelt zu erhalten, während sich die bisherigen Rollen innerhalb der Fa-
milien verändern. Durch die neue Kultur und die neue Sprache werden Familienwer-
te und regeln verändert. Die zu Beginn festgelegten Rollenaufteilungen können sich
als problematisch erweisen: Der außenorientierte Partner entwickelt immer größere
autonome Fähigkeiten, während der Innenorientierte eine größere Isolierung erlebt.
Diese Isolierung wird durch den Vergleich mit dem früheren Leben noch zusätzlich
gesteigert, Eheprobleme werden unausweichlich. Angestauter Stress, Anspannung,
Schmerz oder Konflikte werden in einer sozial akzeptablen Form zum Ausdruck ge-
bracht: Somatische Beschwerden oder psychische Probleme bei Männern und Frau-
en, Delinquenz bei Jugendlichen (vgl. Sluzki 2001, S.106 f.).
2.1.5
Die Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse
In dieser Phase sind Generationenkonflikte nicht vermeidbar. Was die erste Genera-
tion vermieden hat, wird von der nächsten angenommen. Insbesondere bei Familien,
die in Ghettos leben, kann es zu heftigen Konflikten zwischen Eltern und Kindern
beim Thema Werte, Normen und Haltungen kommen. Auslöser für diese Konflikte
kommen von außerhalb, durch äußeren Zwang, oder durch eigenen Entschluss. Häu-
fig enden die Widersprüche zwischen Bewältigungsstrategien aus der Herkunfts-
bzw. Familienkultur und denen der außerfamiliären Umwelt in delinquenten Verhal-
tensweisen (vgl. Sluzki 2001, S.110 ff.).
2.2 Psychologische Auswirkungen der Migration
Im Bereich der Psychiatrie sind die Belastungen der Migration von Bedeutung. Die
Migration stellt mit ihren Umstellungs- und Anpassungsforderungen auf die neue
Umwelt kognitive und emotionale Belastungen für die Person dar. Neuere gesicherte
Daten zu psychischen Erkrankungen von Migranten in Deutschland liegen nicht vor.
23
Ältere Untersuchungen zeigen jedoch niedrige Raten bei Schizophrenie und chroni-
schem Alkoholismus. Auffällig häufig wurden Neurosen und psychosomatische
Krankheitsbilder bei Migranten diagnostiziert. Bei Italienern und Griechen waren es
eher Neuroseerkrankungen, bei Jugoslawen oft Alkoholismus und bei türkischen
Migranten wurden häufiger psychosomatische Erkrankungen diagnostiziert (vgl.
Deutscher Bundestag 2000, S. 191).
Psychologische Erkrankungen äußern sich je nach Migrationsphase unterschiedlich.
In der Anfangszeit der Migration kommen eher depressive Symptome vor und gehen
dann in psychosomatische Beschwerdebilder über. Bei türkischen Migrantinnen wer-
den psychosomatische Beschwerden an erster Stelle genannt. Dafür werden unter-
schiedliche Begründungen genannt, wie z.B. Tendenzen zu Somatisierung bei Pati-
enten mit geringem formalen Bildungsniveau oder Besonderheiten einer traditiona-
listisch orientierten Auffassung von Krankheit (vgl. Deutscher Bundestag 2000, S.
191).
2.3. Migrantenmilieus
Mit dem Begriff ,,Milieu" (lat.-frz.: soziales Umfeld, Umgebung) werden Menschen
zusammengefasst, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Sie haben
ähnliche Grundorientierung und Werte, ähnlichen Lebensstil und Geschmack und
ähnliche soziale Lage (vgl. Sinus Sociovision (2) 2007, S.17).
Sinus-Sociovision führte im Jahre 2006/2007 eine qualitativ-psychologische Studie
zu den Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund, in Deutschland
durch. Einbezogen in die Untersuchung waren unterschiedliche Migrantengruppen,
so u.a. auch die erste Generation der Arbeitsmigranten und ihre Kinder (zweite Ge-
neration) (vgl. Sinus Sociovision (2) 2007, S.10). Gegenstand der Untersuchung wa-
ren die Lebenswelten und Lebensstile von diesen Menschen. Das Ziel der Untersu-
chung war es, den Alltag, die Wertorientierungen, Lebensziele, Wünsche und Zu-
24
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2009
- ISBN (eBook)
- 9783836645065
- DOI
- 10.3239/9783836645065
- Dateigröße
- 1.2 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Hochschule für angewandte Wissenschaften München – Angewandte Sozialwissenschaften, Master Mental Health
- Erscheinungsdatum
- 2010 (April)
- Note
- 1,0
- Schlagworte
- partnerschaftsproblem eheschließung milieu gastarbeiter islam
- Produktsicherheit
- Diplom.de