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"man wusste ja, man muss sich erstmal marktwirtschaftlich orientieren"

Fallstudie zum erwerbsbiographischen Wandel von ostdeutschen Ingenieurinnen

©2008 Diplomarbeit 117 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‘man wusste ja, man muss sich erstmal marktwirtschaftlich orientieren’ – dieses Zitat drückt den Veränderungsdruck aus, dem die Ostdeutschen mit der Wende von 1989 ausgesetzt waren. Es ist einem von vier qualitativen Interviews entnommen, die mit zwei ehemaligen Ingenieurinnen des Halbleiterwerks Frankfurt (Oder) in den Jahren 1997 und 2008 geführt wurden. Anhand dieser Interviews soll in der vorliegenden Arbeit empirisch der Frage nachgegangen werden, wie sich die Systemtransformation auf die Erwerbsbiographien dieser zwei Frauen ausgewirkt hat.
Dabei hat die Untersuchung von Erwerbsbiographien eine doppelte Natur: sie gibt Auskunft über die Gesellschaftlichkeit, da sich individuelle Biographien innerhalb eines strukturellen Handlungsrahmens bewegen. Gleichzeitig erschließt sich in ihnen die Subjektivität in Form der individuellen Orientierungen bei der Nutzung eben dieses Handlungsrahmens. Dabei hat der Handlungsrahmen der beiden interviewten Frauen im Zuge der Systemtransformation von einem planwirtschaftlichen Einparteiensystem hin zu einer marktwirtschaftlich organisierten Demokratie eine drastische Veränderung erfahren.
Beide interviewten Frauen haben ihre Ausbildung, das ingenieurwissenschaftliche Studium und mehr als das erste Jahrzehnt ihrer Erwerbstätigkeit in der DDR durchlaufen. Das Studium der Ingenieurwissenschaften wurde in der DDR stark gefördert, da man sich von dieser Berufsgruppe positive Effekte auf die Wirtschaftsleistung erwartete. Das Erwerbsleben war von großer Sicherheit geprägt, konfrontierte aber gerade die IngenieurInnen mit den systemischen Ineffizienzen. Im Alter von Mitte Dreißig erlebten beide Frauen die Systemtransformation, die mit einer drastischen Umwälzung und Verengung des ostdeutschen Arbeitsmarktes einherging. Die Interviewpartnerinnen gehören dabei in einem doppelten Sinne zu der Gruppe der Ostdeutschen, die von diesen Prozessen besonders betroffen waren: zum einen waren es im besonderen Maße die ostdeutschen Frauen, die von den Erschütterungen des Erwerbsmarktes betroffen waren. Zum anderen erlebte besonders die Berufsgruppe der IngenieurInnen eine drastische Umwälzung ihres Beschäftigungsfeldes.
Somit stellt sich die Frage, wie sich diese Veränderungen auf der Ebene der Gesellschaftlichkeit auf die Subjektivität, die Biographien niederschlagen. Die sozialwissenschaftliche Literatur die sich mit den Folgen des ostdeutschen Transformationsprozesses auf die individuellen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Charlotte Woldt
"man wusste ja, man muss sich erstmal marktwirtschaftlich orientieren"
Fallstudie zum erwerbsbiographischen Wandel von ostdeutschen Ingenieurinnen
ISBN: 978-3-8366-4504-1
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Frankfurt (Oder), Deutschland,
Diplomarbeit, 2008
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Abstract
This paper is designed as a case study based on four qualitative interviews held with two
Eastern German female engineers in 1997 and 2008. Both women completed their
education and their first professional decade while the GDR was still existent and faced the
German Reunification in their mid-thirties. This paper poses the question, in which way
the drastic changes and discontinuities on the systemic level affected the employment
biographies of the two interviewed women and their coping strategies.
The paper consists of a background analysis and an empirical survey. The first part
discusses the historical background as well as theoretical approaches that deal with the
effects of the systemic transformation on Eastern Germans` biographies. Stress is laid on
the approach that acts on the assumption of a breakdown-individualization
(Zusammenbruchs-Individualisierung) and thus a strong discontinuity in East German
biographies. This is to be contrasted with other approaches stressing continuities on the
individual level. The empirical part covers the analysis of the four interviews, first each
case in a chronological order, in a final step as a comparison
It is argued that the changes on the systemic level cannot directly be equated on the
individual pattern of a "Zusammenbruchs-Individualisierung". Despite the dramatic
changes due to the transformation, both women show a specific continuity on the level of
their respective orientations.
2

Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG ... 5
I. ZWISCHEN LENKUNG UND VERDRÄNGUNG:
EINE BERUFSGRUPPE IM WANDEL DER ERWERBSSYSTEME ... 9
1.
I
NGENIEUR
I
NNEN IN DER
DDR ... 10
1.1 Ausbildungssystem... 10
1.2 Erwerbssystem ... 13
1.3 Das Halbleiterwerk Frankfurt (Oder)... 17
2.
D
ER WIRTSCHAFTLICHE
U
MBRUCH IN
O
STDEUTSCHLAND
... 18
2.1 Das ostdeutsche Erwerbssystem nach der Wiedervereinigung ... 19
2.2 Das Halbleiterwerk nach 1989 ... 23
2.3 Verbleib der IngenieurInnen des Halbleiterwerks ... 24
3.
Z
USAMMENFASSUNG
... 25
II. THEORIEN ZUM BIOGRAPHISCHEN WANDEL IN OSTDEUTSCHLAND.. 27
1.
A
NSÄTZE BIOGRAPHISCHER
D
ISKONTINUITÄT
... 28
2.
A
NSÄTZE BIOGRAPHISCHER
K
ONTINUITÄT
... 34
3.
Z
USAMMENFASSUNG
... 36
III. METHODOLOGIE UND UNTERSUCHUNGSDESIGN ... 39
1.
M
ETHODOLOGIE
... 39
1.1 Die Grounded Theory... 40
1.2 Das ARB-Modell... 41
2.
U
NTERSUCHUNGSDESIGN
... 43
2.1 Datenbasis ... 43
2.2 Auswertung ... 45
IV. AUSWERTUNG ... 47
1.
D
ER
F
ALL
F
RAU
K
LEYDERMANN
­
ZWISCHEN
T
RAUM UND
P
RAGMATISMUS
... 48
1.1 Falldarstellung... 48
1.2 Interview von 1997... 50
Erwerbsbiographische Stationen 1997 ... 51
1. ,,für mich war die Post Familie": Ausbildung und Berufseinstieg... 51
2. ,,man hat och viel für`n Papierkorb jemacht": Arbeit im Halbleiterwerk ... 53
3. ,,Das war `ne schlimme Zeit": Entlassung und Neuorientierung ... 56
4. ,,Eigentlich macht det Spaß": Selbständigkeit nach der Entlassung ... 58
3

1.3 Interview von 2008... 60
Erwerbsbiographische Stationen ... 61
1. ,,ich hab gedacht, ick mach es richtig":
Erste Station nach 1997: Selbständigkeit... 62
2. ,,also habe ich mich in das erste Beste gestürzt":
Erneute Arbeitslosigkeit und wechselnde Stellen ... 65
3. ,,also im Prinzip mach ick nischt wirklichet": Situation 2008 ... 67
1.4 Vergleich der beiden Interviews ... 71
2.
D
ER
F
ALL
F
RAU
W
OHIN
­
H
ELFEN ALS
B
ERUFUNG
... 74
2.1 Falldarstellung... 74
2.2 Interview von 1997... 76
Erwerbsbiographische Stationen ... 76
1. ,,irgendwo hatt ich noch nicht das Gespür dafür":
Ausbildung und Berufseinstieg ... 77
2. ,,das kannst du machen bis zur Rente": Arbeit im Halbleiterwerk ... 78
3. ,,das war ein Zustand, der eigentlich unerträglich war":
Entlassung und Neuorientierung ... 80
4. ,,was soll's, probierst' es": Feste Stelle nach der Entlassung... 82
5. ,,ich steh' denn eigentlich erst mal wieder bei Null":
Erneute Arbeitslosigkeit... 84
2.3 Interview von 2008... 86
Erwerbsbiographische Stationen 2008 ... 86
1. ,,dann musst ich mich da erstma reinfinden":
Erste Station nach 1997: Arbeitslosigkeit ... 87
2. ,,war schon, ne Bereicherung": Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ... 90
3 ,,so mach ick meine Arbeit hier und mach se gern.": Situation 2008 ... 93
2.4 Vergleich der beiden Interviews ... 96
3.
F
ALLVERGLEICH
... 99
SCHLUSSFOLGERUNGEN ... 105
LITERATURVERZEICHNIS ... 110
4

Einleitung
,,man wusste ja, man muss sich erstmal marktwirtschaftlich orientieren" ­ dieses Zitat
drückt den Veränderungsdruck aus, dem die Ostdeutschen mit der Wende von 1989
ausgesetzt waren. Es ist einem von vier qualitativen Interviews entnommen, die mit zwei
ehemaligen Ingenieurinnen des Halbleiterwerks Frankfurt (Oder) in den Jahren 1997 und
2008 geführt wurden. Anhand dieser Interviews soll in der vorliegenden Arbeit empirisch
der Frage nachgegangen werden, wie sich die Systemtransformation auf die
Erwerbsbiographien dieser zwei Frauen ausgewirkt hat.
Dabei hat die Untersuchung von Erwerbsbiographien eine doppelte Natur: sie gibt
Auskunft über die Gesellschaftlichkeit, da sich individuelle Biographien innerhalb eines
strukturellen Handlungsrahmens bewegen. Gleichzeitig erschließt sich in ihnen die
Subjektivität in Form der individuellen Orientierungen bei der Nutzung eben dieses
Handlungsrahmens. Dabei hat der Handlungsrahmen der beiden interviewten Frauen im
Zuge der Systemtransformation von einem planwirtschaftlichen Einparteiensystem hin zu
einer marktwirtschaftlich organisierten Demokratie eine drastische Veränderung erfahren.
Beide interviewten Frauen haben ihre Ausbildung, das ingenieurwissenschaftliche
Studium und mehr als das erste Jahrzehnt ihrer Erwerbstätigkeit in der DDR durchlaufen.
Das Studium der Ingenieurwissenschaften wurde in der DDR stark gefördert, da man sich
von dieser Berufsgruppe positive Effekte auf die Wirtschaftsleistung erwartete. Das
Erwerbsleben war von großer Sicherheit geprägt, konfrontierte aber gerade die
IngenieurInnen mit den systemischen Ineffizienzen. Im Alter von Mitte Dreißig erlebten
beide Frauen die Systemtransformation, die mit einer drastischen Umwälzung und
Verengung des ostdeutschen Arbeitsmarktes einherging. Die Interviewpartnerinnen
gehören dabei in einem doppelten Sinne zu der Gruppe der Ostdeutschen, die von diesen
Prozessen besonders betroffen waren: zum einen waren es im besonderen Maße die
ostdeutschen Frauen, die von den Erschütterungen des Erwerbsmarktes betroffen waren.
Zum anderen erlebte besonders die Berufsgruppe der IngenieurInnen eine drastische
Umwälzung ihres Beschäftigungsfeldes.
Somit stellt sich die Frage, wie sich diese Veränderungen auf der Ebene der
Gesellschaftlichkeit auf die Subjektivität, die Biographien niederschlagen. Die
sozialwissenschaftliche Literatur die sich mit den Folgen des ostdeutschen
5

Transformationsprozesses auf die individuellen Biographien beschäftigt, unterscheidet
sich dabei in ihrer Einschätzung, wie unmittelbar sich die Veränderungen des
gesellschaftlichen Kontextes auf die individuelle Ebene überträgt.
In Becks These einer ,,Zusammenbruchs-Individualisierung" (1994: 28) in Ostdeutschland
wird der Bruch der Systeme auf die individuellen Orientierungsmuster übertragen. Beck
geht von der schlagartigen Umstellung der Ostdeutschen von einer kollektiven
Lebensführung auf eine individualisierte Lebensweise aus. Die Dynamiken des
biographischen Wandels im Zuge der Systemtransformation integriert Beck so in seine
Theorie eines breiten gesellschaftlichen Wandels, der Individualisierung. Diese zeichnet
sich aus durch eine zunehmende Herauslösung des Einzelnen aus kollektiven Bezügen auf
der Wahrnehmungsebene, bei gleichzeitig zunehmender Arbeitsmarktabhängigkeit.
Konsequenz dieser Entwicklung ist die wachsende Anforderung zur Selbststeuerung: das
Individuum muss zum ,,Planungsbüro" (Beck 1986: 217) seiner eigenen Biographie
werden. Dieser Ansatz konstruiert einen starken Unterschied zwischen der
Herkunftsgesellschaft DDR und der Ankunftsgesellschaft des wiedervereinigten
Deutschland, der sich auch auf der Ebene der Biographien in Form eines Bruchs zeigt.
Dieser Sichtweise eines Bruches stehen Ansätze gegenüber, die auf die Kontinuitäten der
ostdeutschen Biographien verweisen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit sich in den
Erwerbsbiographien der beiden Frauen Kontinuitäten und Brüche im Zuge der
Systemtransformation nachweisen lassen.
Da die Interviews im Abstand von elf Jahren geführt wurden, lassen sich zudem
Rückschlüsse auf die Langfristigkeit und Dauer der Umbruchprozesse in Ostdeutschland
ziehen. Gleichzeitig musste eine Vergleichbarkeit zwischen den beiden Fällen erreicht
werden. Um diesen beiden Kriterien gerecht zu werden, wurden die Interviews zuerst nach
parallelen erwerbsbiographischen Stationen der beiden Frauen untersucht. Innerhalb
dieser Stationen wurden die Äußerungen dann mittels des von Witzel und Kühn
entwickelten ARB-Modells nach Aspiration, Realisation und Bilanzierung codiert (Witzel
/ Kühn 1999). Das aus der Grounded Theory entwickelte ARB-Modell ermöglicht die
Rekonstruktion von erwerbsbiographischen Orientierungsmustern über einen längeren
Zeitraum, da es die Vermittlung zwischen den individuellen Zielen und dem objektiven
Handlungsrahmen wiedergibt. Gleichzeitig ermöglicht die Auswertung mittels seiner drei
empirisch gehaltlosen Kategorien eine große Authentizität gegenüber den untersuchten
Fällen.
6

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Teile: im ersten Teil (die Kapitel I - III) soll
der geschichtliche, theoretische, sowie der methodische Rahmen dargestellt werden. Im
zweiten Teil dieser Arbeit, dem Kapitel IV, folgt dann mit der Auswertung der Interviews
die empirische Fallstudie.
Im Kapitel I wird der sozial-historische Kontext vorgestellt, und damit der
Handlungsrahmen, in dem die Erwerbsbiographien der beiden Frauen verlaufen sind.
Dabei wird zuerst eine Schilderung der Lage ihrer Berufsgruppe der Ingenieure im
Ausbildungs- und Erwerbssystem in der DDR erfolgen. Zudem wird in beiden Bereichen
ein besonderer Fokus auf die Situation der Frauen liegen. Im zweiten Teil dieses Kapitels
wird dann die Darstellung der Umwälzungen des ostdeutschen Arbeitsmarktes im Zuge
der Wiedervereinigung erfolgen. Dies wird wiederum mit besonderem Schwerpunkt auf
die zwei ,Fokusgruppen', Frauen und IngenieurInnen geschehen. In beiden Teilen wird
zudem auf den ehemalige Arbeitgeber der beiden Frauen eingegangen, das Halbleiterwerk
Frankfurt (Oder). Dies ist somit ein konkreter Bezugspunkt zu den Erwerbsbiographien
der beiden Frauen, gleichzeitig aber auch die Illustration der beschriebenen Prozesse in
Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft mit einem konkreten Beispiel.
Im Kapitel II wird die Literatur zum biographischen Wandel in Ostdeutschland diskutiert.
Wie gezeigt wird, lässt sich diese nach Ansätzen unterscheiden, die von einer
,,Zusammenbruchs-Individualisierung" (Beck 1994: 28) in Ostdeutschland und damit von
einem biographischen Bruch ausgehen und anderen, die eher auf Kontinuitäten verweisen.
Im Kapitel III wird Methodologie und Untersuchungsdesign vorgestellt. Für die
Auswertung der vier Interviews wurden erwerbsbiographische Stationen definiert, die bei
beiden Frauen parallel verlaufen sind. Die jeweilige Station wird dann mittels des ARB-
Modell von Witzel und Kühn analysiert, um sowohl die erwerbsbiographische
Handlungsstrategien, als auch langfristige Orientierungs- und Handlungsmuster zu
rekonstruieren.
Die Umsetzung erfolgt dann im empirischen Teil dieser Arbeit, Kapitel IV. Die
Auswertung erfolgt dabei schrittweise von der Auswertung des konkreten Interviews hin
zum Fallvergleich. Zuerst wird zum Zwecke eines besseren Überblicks ein kurzer
chronologischer Abriss der Erwerbsbiographien der beiden Frauen gegeben. Danach wird
der jeweilige Kontext des Interviews vorgestellt, um dann zu der Analyse der
erwerbsbiographischen Stationen anhand des ARB-Modells überzugehen. Erst nachdem
diese Analyseschritte innerhalb des Interviews und des Falles vollzogen wurden, werden
die Erwerbsbiographien der beiden Frauen in einem Fallvergleich gegenübergestellt. In
7

der Schlussfolgerung werden dann die Thesen aus dem ersten Teil dieser Arbeit mit den
empirischen Erkenntnissen des zweiten Teiles zusammengebracht und diskutiert.
8

I. Zwischen Lenkung und Verdrängung:
Eine Berufsgruppe im Wandel der Erwerbssysteme
,,Biographie hat ein Janusgesicht: Sie verkörpert soziale Strukturen, die uns auferlegt sind und denen wir nur begrenzt
,entkommen' können, doch zugleich ist sie etwas, was wir selber gestalten, verändern, ,machen'. Biographie ist ganz
konkret Gesellschaftlichkeit und Subjektivität in einem." (Alheit 1995: 88).
Die Biographien der beiden interviewten Frauen sind in zwei sehr unterschiedlichen, oft
als gegensätzlich wahrgenommenen Systemen verlaufen: Kindheit und Jugend,
Ingenieurstudium und mehr als das erste Jahrzehnt ihres Erwerbslebens verbrachten sie in
der planwirtschaftlich organisierten DDR. Mit Mitte Dreißig erlebten sie die deutsche
Wiedervereinigung und die Einführung der Marktwirtschaft. Ziel dieses Kapitels ist es
daher, die in den Biographien enthaltene ,,Gesellschaftlichkeit" im Rahmen dieser beiden
Systeme darzustellen. Dabei wird in Hinblick auf die Erwerbsbiographien der beiden
interviewten Ingenieurinnen ein besonderer Fokus auf die Situation der Frauen und die
Lage ihrer Berufsgruppe in Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft gelegt. Zudem wird in
separaten Kapiteln auf das Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) eingegangen.
Das folgende Kapitel betrachtet daher das Ausbildung- und Beschäftigungssystem für
IngenieurInnen in der DDR, wobei parallel auf die spezifische Situation der Frauen
eingegangen wird. Den Abschluss bildet eine Schilderung der Entwicklung des
Halbleiterwerks Frankfurt (Oder). Dies ist zum einen ein konkreter Bezugspunkt zu den
Erwerbsbiographien der Frauen, gleichzeitig illustriert es die zuvor gemachten
allgemeineren Aussagen zum Wirtschaftssystem der DDR.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Ankunftsgesellschaft des wiedervereinigten
Deutschlands. Dabei steht der radikale Umbruch des ostdeutschen Erwerbssystems im
Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund wird dann auf die Entwicklung des Halbleiterwerks
im Zuge der Systemtransformation eingegangen. Noch spezifischer wird dann im dritten
Unterkapitel der berufliche Verbleib der Mitglieder einer Abteilung des Halbleiterwerks
geschildert, der auch die beiden interviewten Frauen angehörten. Auch in diesem Kapitel
hat die Betrachtung des Halbleiterwerks eine doppelte Natur: sie stellt den Bezug zu den
Erwerbsbiographien der beiden Frauen her, gleichzeitig illustriert sie die zuvor gemachten
allgemeinen Entwicklungen an einem konkreten Beispiel.
9

1. IngenieurInnen in der DDR
Die Berufsgruppe der IngenieurInnen befand sich in der DDR in einer ambivalenten
Situation: der ideologischen Hofierung als ,,Garanten des Fortschritts" (Wienke 1989: 60)
und der intensiven Förderung stand oft eine Arbeitsrealität gegenüber, die fern davon war,
einen geeigneten Rahmen für diesen Auftrag zu bieten. Daher können die Einschätzungen
ihrer Situation sehr unterschiedlich, fast widersprüchlich ausfallen: ,,Den im Verlauf des
Kalten Krieges entfachten Wettstreit der Systeme um die Anzahl technischer Experten
hatte die DDR um 1970 gewonnen", stellt Karin Zachmann fest (Zachmann 2004: 361).
1
Dem gegenüber äußert Valerius, IngenieurInnen seien in der DDR zu einer
,,Massenerscheinung" geworden (Valerius 1998: 13).
Tatsächlich genossen IngenieurInnen im Gesellschaftsentwurf der DDR höchste
Wertschätzung, da man sich von ihnen eine beschleunigte Entwicklung sowie mehr
Innovation und Effizienz erhoffte und damit die Möglichkeit, den immer größer werdenden
wirtschaftlichen Rückstand aufholen zu können: ,,Noch nie war das Gewicht der
ingenieurtechnischen Leistungen für den ökonomischen und sozialen Fortschritt in
unserem Lande so hoch wie in der gegenwärtigen Etappe der wissenschaftlich-technischen
Revolution" (Autorenkollektiv 1988: 168f.). Aufgrund dieser zentralen Rolle wurden
große Anstrengungen im Bildungssystem der DDR unternommen, eine möglichst hohe
Anzahl Studierender in die Ingenieurwissenschaften zu lenken.
1.1 Ausbildungssystem
In der DDR waren das Bildungs- und Beschäftigungssystem eng miteinander verzahnt:
Das Bildungssystem richtete sich nach der Planung des Arbeitskräftebedarfs der
Wirtschaft. Diese Konstellation machte eine Lenkung der SchülerInnen und
AbsolventInnen nötig (vgl. Wingens 1999: 260). Es gab zentrale Verzeichnisse mit
Lehrstellen, die Zulassung zu einem Studium erteilten Kommissionen, die neben der
fachlichen Eignung die BewerberInnen nach ideologischer Konformität und sozialen
1 In absoluten Zahlen drückt sich dieser Vorsprung so aus: Im Jahr 1970 gab es in der DDR 5 181
Diplom-IngenieurInnen und 15 263 Fachschul-IngenieurInnen gegenüber 3 820 Diplom-IngenieurInnen
und 13 749 Fachschul-IngenieurInnen in der BRD (vgl. Zachmann 2004: 361).
10

Gesichtspunkten einschätzten (vgl. Wienke 1989: 116).
2
Trotz Eignung konnte somit
Jugendlichen aus ideologisch oder sozial nicht opportunen Familien der Weg zum Studium
versperrt werden (vgl. ebd.: 113).
Die zwei gängigen Wege zum Studium in der DDR liefen entweder über das Abitur an
einer Erweiterten Oberschule (EOS) und einem einjährigen Vorpraktikum oder über eine
Berufsausbildung mit Abitur, die mit der künftigen Studienrichtung übereinstimmen
musste. Für beide Wege erfolgte eine Selektion in der 9. Klasse.
3
Der Zugang zur
Erweiterten Oberschule stand dabei nur einer Auswahl von SchülerInnen offen (vgl.
Wingens 1999: 262).
Die individuellen Spielräume der AbsolventInnen bei der Studien- und Berufswahl waren
also gering, sodass diese einen Kompromiss zwischen den eigenen Wünschen und
Fähigkeiten und den zentralen Vorgaben finden mussten.
4
Gleichzeitig bedeutete die
planwirtschaftliche Lenkung, dass der Wechsel von Ausbildung oder Studium ins
Erwerbsleben abgesichert war: ,,Der Übergang vom Bildungs- in das
Beschäftigungssystem vollzog sich in der DDR als risikolose Statuspassage; der
Berufseinstieg war staatlich garantiert" (Wingens 1999: 265).
Der Zugang zu einem Studium der Ingenieurwissenschaften war im Vergleich zu anderen
Studienrichtungen relativ mobilitätsoffen. So war ein ingenieurwissenschaftliches Studium
auch noch nach einer abgeschlossen Berufsausbildung möglich (vgl. Autorenkollektiv
1988: 59). Zudem bestand die Möglichkeit eines ingenieurwissenschaftlichen Studiums an
einer Fachschule, einer Besonderheit des Bildungssystems der DDR. Circa zwei Drittel
aller Studierenden wählten diesen Weg gegenüber dem universitären Studium (vgl.
2
Inhalt der Bildungspolitik der DDR war eine ,,Privilegierung der Unterprivilegierten". So wurden bis in
die 1960er Jahre hinein bevorzugt die Kinder von Arbeiter- und Bauernfamilien zum Studium
zugelassen, um die Selbstreproduktion der Intelligenz zu verhindern (Riege 1995: 19, siehe auch
Valerius 1998:13). Bis in die 1970er Jahre gab es daher eine große Bildungsmobilität. Ab diesen
Zeitpunkt musste man trotz gleich bleibender Anstrengung eine ,,Stabilisierung der Strukturen in den
herausgebildeten Proportionen", also die Reproduktion der Schichten feststellen (Autorenkollektiv
1988: 41). Geißler (2002: 352) begründet dies mit der Übertragung des bürgerlichen Bildungsprivilegs
in das der sozialistischen Intelligenz.
3
Theoretisch existierte zudem die Möglichkeit, nach Abschluss der allgemeinbildenden Polytechnischen
Oberschule (POS) und abgeschlossener Berufsaubildung berufsbegleitend die Hochschulreife an Kursen
der Volkshochschule zu erreichen. Da das so erlangte Abitur aber nicht als gleichwertig galt, war dieser
Weg nur wenig verbreitet (vgl. Autorenkollektiv 1988: 58).
4
Wingens weist zwar darauf hin, dass die offizielle Absolventenvermittlung eher als ein
,,Allokationsverfahren zweiter Wahl" (Wingens 1999: 269) genutzt wurde Dies sei besonders bei der
Facharbeiterausbildung der Fall gewesen, bei der die individuelle Umgehung der zentralen Vermittlung
Gang und Gebe gewesen sei. Einer informellen Direktbewerbung bei einem Betrieb nach Wahl wurde
dann im Nachhinein zur Legimitierung der Anschein des offiziellen Vermittlungsverfahrens gegeben
(vgl. Wingens 1999: 265ff.).
11

Giessmann 1994: 203).
5
Für die Betriebe bot ein Fachschulstudium den Vorteil einer
praxisnahen, flexiblen und aktuellen Ausbildung. Für die Studierenden bedeutete der
dreijährige Besuch einer Fachschule einen geringeren zeitlichen und finanziellen Aufwand,
da es ein breites Netz an Außenstellen in Betrieben und Kombinaten gab und zudem die
Möglichkeit eines Fern- bzw. Abendstudiums bestand. (vgl. Giessmann 1994: 203f.).
Aufgrund des großen Bedarfs an AbsolventInnen konnte zudem die ideologische Prüfung
durch die Universitätskommission umgangen werden, weshalb von einer relativ schwachen
Indoktrination dieser Gruppe ausgegangen werden kann (vgl. Wienke 1989: 116).
Besondere Anstrengungen wurden unternommen, Frauen den Weg in ein
ingenieurwissenschaftliches Studium zu ebnen. Dies stellte sowohl eine Bemühung um die
Gleichstellung der Frau als auch eine ökonomische Notwendigkeit dar, da der
Bevölkerungsrückgang in der DDR sowie der chronische Arbeitskräftemangel in den
Betrieben eine Mobilisierung des weiblichen Arbeitskräftepotenzials in den technischen
Berufen unumgänglich machte.
6
Zu den konkreten Maßnahmen zur Förderung von Frauen
in technischen Berufen zählte bspw. die Einrichtung von Frauensonderklassen oder
Maßnahmen zur Vereinbarung von Studium und Mutterschaft (vgl. Zachmann 2004:
254ff.). Im Jahr 1984 stellten Frauen somit mit 52,5 % die Mehrheit unter den
Studierenden. In den naturwissenschaftlichen Fächern lag ihr Anteil mit 54,1 % sogar über
dem Durchschnitt, wogegen sich mit 26,8 % deutlich weniger Mädchen für ein Studium
der Ingenieurwissenschaften entschieden.
7
Dennoch hatte auch in dieser Fachrichtung ein
starkes Wachstum stattgefunden, war ihr Anteil im Jahr 1965 nur 6,5 % gewesen (vgl.
Wienke 1989: 145f.).
Kehrseite der starken Förderung der Ingenieurwissenschaften war der Verlust der Qualität
sowohl des Studiums als auch der Eignung der Studierenden. Riege spricht daher auch von
einer ,,Tonnenideologie" (Riege 1995: 7). Die verglichen mit anderen Studiengängen
leichteren Zugangsbedingungen ließen die Ingenieurwissenschaften oft zu einem Studium
,,Zweiter Wahl" werden:
,,Um den Plan an Ingenieurstudenten zu erfüllen, werden die in anderen Fächern abgewiesenen Studenten
in die Ingenieurwissenschaften umgelenkt mit der Folge, dass sich Ingenieure von den Studenten anderer
5 Dieser Anteil bezieht sich auf die 520.000 IngenieurInnen, die im Jahr 1989 berufstätig waren
(Giessmann 1994: 203)
6
Zwischen 1949 und 1986 ging die Wohnbevölkerung der DDR von 18,8 Millionen auf 16,6 Millionen
zurück, während sich dank der Mobilisierung der Frauen die Zahl der Erwerbstätigen von 7,3 auf 8,5
Millionen erhöhte (vgl. Autorenkollektiv 1988: 38).
7 In der BRD lag zu diesem Zeitpunkt der Anteil der Studentinnen der Ingenieurwissenschaften bei
10,4 % (vgl. Wienke 1989: 145f.).
12

Studienrichtungen in Bezug auf soziale Zusammensetzung, Studentenmotivation und Leistungsfähigkeit
unterscheiden." (Wienke 1989: 123).
8
So zeichneten sich die Studierenden der Ingenieurwissenschaften laut Wienke (1989: 121)
durch ein geringes Interesse am Studium und an wissenschaftlicher Arbeit sowie durch
größere Studienschwierigkeiten und eine geringere Verbundenheit mit dem zukünftigen
Beruf aus.
1.2 Erwerbssystem
Schon die Selbstdefinition als ,,Arbeiter- und Bauernstaat" weist auf die zentrale Rolle der
Erwerbsarbeit in der DDR hin. Erwerbsarbeit galt als wichtigste Sphäre des
gesellschaftlichen Lebens und auf der individuellen Ebene als Mittel der
Persönlichkeitsentfaltung und der gesellschaftlichen Integration. Während die BRD eine
Entwicklung hin zu einer sich differenzierenden ,,Freizeitgesellschaft" (Geißler 2002: 240)
nahm, stand die gesellschaftliche Entwicklung der DDR unter dem Zeichen einer staatlich
gelenkten Nivellierung, der postulierten Herrschaft der Arbeiterklasse und einer
umfassenden, über den Arbeitsplatz vermittelten sozialen Absicherung.
9
Der
Herrschaftsanspruch der Einheitspartei SED maß sich an ihrer Fähigkeit zur Bereitstellung
des planwirtschaftlichen Ideals von Vollbeschäftigung, Krisenfreiheit und
Bedürfnisbefriedigung (vgl. Steiner 2007: 136).
Wie schon das Ausbildungssystem zeichneten sich auch die Erwerbsverhältnisse in der
DDR durch große Sicherheit aus, allein schon durch das in der Verfassung fixierte Recht
auf Arbeit. Bei einer im internationalen Vergleich sehr hohen Erwerbsquote von Frauen
und Männern, längeren Arbeitszeiten im Vergleich zur BRD und einer fast universellen
Gültigkeit des Normalarbeitsverhältnisses existierte das Phänomen der Arbeitslosigkeit
nicht. Vielmehr litt die Wirtschaft unter einer chronischen personellen Überbesetzung, die
so genannte ,,verdeckte Arbeitslosigkeit" (Geißler 2002: 270). Es wurde eine möglichst
starke Betriebsbindung und damit eine geringe Arbeitsmobilität angestrebt.
10
Da kein
Arbeitsmarkt existierte, der transparent über vakante Stellen hätte informieren können und
zudem die Einkommensunterschiede gering waren, war Mobilität nur erschwert möglich
8 Laut Wienke (1989: 121) betrug der Anteil der Studierenden der Ingenieurwissenschaften mit einem
ursprünglich anderen Studienwunsch im Jahr 1980 52 %.
9 So waren nicht-erwerbstätige Gruppen in der DDR, beispielsweise die Rentner, gegenüber den
Erwerbstätigen im Beziehen von Sozialleistungen benachteiligt (vgl. Scheller 2005: 68).
10 Siehe dazu Wingens 1999: 264.
13

und oft wenig sinnvoll.
11
Dem stand der permanente ,Arbeitskräftehunger' der Betriebe im
Rahmen der personellen Überbesetzung gegenüber, der einen Wechsel erleichterte.
12
Zentrale Instanz im Erwerbssystem der DDR war der Betrieb, der eine Art Dreh- und
Angelpunkt des wirtschaftlichen und sozialen Lebens bildete. In den Betrieben waren die
Belegschaften in Arbeitskollektiven organisiert. Als betriebsinterne
,,Vergemeinschaftungsinstanz" (Vogel 1999: 26) hatten sie eine Funktion, die weit über die
gemeinsame Organisation des Arbeitsalltags unter KollegInnen hinausging. Vielmehr
herrschte dank der weitgehenden Konkurrenzlosigkeit eine gemeinschaftliche Atmosphäre
(vgl. Schwarz / Valerius 2000: 26). In den Kollektiven verwob sich Arbeits- und
Privatleben: So tauschte man sich über private Probleme aus und unterstützte sich
gegenseitig (vgl. Scheller 2005: 73f.).
Die betriebliche Sozialpolitik als eine Hauptsäule der staatlichen Sozialpolitik bot den
Belegschaften eine Vielfalt von Leistungen, die von der medizinischen Versorgung über
Wohnraum und Kinderbetreuung über sportliche und kulturelle Angebote bis zum Urlaub
in betriebseigenen Ferienanlagen reichte (vgl. Roesler 2003: 22f.). Es ist diese
Vielseitigkeit der Betriebe in der DDR, die Scheller diese als ,,ganzheitlich"
charakterisieren lässt (Scheller 2005: 76).
Ein zentrales Element der betrieblichen Sozialpolitik war dabei die Unterstützung der
Frauen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (vgl. Roesler 2003: 24). Das in der
BRD übliche Modell eines phasenweisen Ausstiegs der Mütter aus dem Erwerbsleben und
Teilzeitarbeit war in der DDR nicht verbreitet. Vielmehr war die DDR die ,,weiblichste
Arbeitsgesellschaft Europas" (Vogel 1999: 33). So lag im Jahr 1990 die Erwerbsquote der
ostdeutschen Frauen bei 81,7 % (verglichen mit 90,2 % der ostdeutschen Männer) (Vogel
1999: 35).
13
Zwischen den Altersgruppen gab es kaum Unterschiede: ,,Frauen zwischen 25
und 50 Jahren waren nahezu vollständig erwerbstätig" (Scheller 2005: 70). Dass dies in
diesem Umfang möglich war, war Resultat großer gesellschaftlicher Anstrengungen: ,,Der
Sozialismus hat die Gleichstellung der Frau nicht nur ideologisch und politisch stärker
gesteuert, sondern er hat sie sich auch mehr kosten lassen" (Geißler 2002: 393).
11 Betriebswechsel waren daher eher privat motiviert, Gründe waren bspw. die Nähe zum Herkunftsort
oder zum Partner (Wingens 1999: 275­276).
12 Während Wingens daher einen Rückgang der Fluktuation seit der Gründung der DDR von 30 % auf 6
bis 8 % in den 1980er Jahren konstatiert, spricht Roesler in den 1980ern von einer Zunahme als Zeichen
der wachsenden Unzufriedenheit der Belegschaften (vgl. Wingens 1999: 270 und Roesler 2003: 49).
Fest steht, dass es Arbeitsplatzmobilität gab, diese aber unter erschwerten Bedingungen unter Nutzung
persönlicher Netzwerke stattfand und starke Eigeninitiative forderte (vgl. Wingens 1999: 273).
13 Im Vergleich dazu waren in der BRD im Jahre 1990 55,9 % der Frauen (bei einer weitaus höheren
Teilzeitquote) und 82,2 % der Männer erwerbstätig (Vogel 1999: 35).
14

Diese Arrangements zielten eher darauf, Frauen von den familiären Aufgaben zu entlasten,
als die Beteiligung der Männer einzufordern. Dieser ,,Emanzipation von oben" folgte keine
Emanzipation ,,von unten" in Gestalt einer Auseinandersetzung mit den traditionellen
Geschlechterrollen (Scheller 2005: 259). So waren Frauen in der DDR in vielen Bereichen
benachteiligt: Sie erhielten nur 76 % des Einkommens der Männer, wurden häufiger
unterhalb ihres Qualifikationsniveaus eingesetzt und fanden sich mehrheitlich in den
schlechter bezahlten Berufsgruppen (vgl. Geißler 2002: 373f.). Dennoch gelang ihnen im
Vergleich zu ihren westdeutschen Geschlechtgenossinnen vermehrt das Erringen höherer
Positionen und das Eindringen in klassische ,Männerberufe' (vgl. Spellerberg 1997: 99).
Trotz bestehender Ungleichheiten gehörte es für Frauen in der DDR zum
Selbstverständnis, voll erwerbstätig zu sein. Auch gelang es, mehr Frauen in männlich
dominierte Beschäftigungsfelder zu integrieren. Der Anteil weiblicher Ingenieurinnen war
in der DDR über 30 % höher als in der BRD (vgl. Neef et al. 2002: 20).
Wie gezeigt wurde, unterlag des Ausbildungssystem der DDR einer zentralen Lenkung, die
sich nach dem geplanten Bedarf der Wirtschaft richtete. Dennoch konnten einer
zunehmenden Anzahl von qualifizierten Fachkräften keine bildungsadäquaten
Arbeitsplätze geboten werden. Ein hoher Anteil von AkademikerInnen war an Stellen
beschäftigt, die unterhalb ihres Qualifikationsniveaus lagen. Dies traf besonders auf Frauen
zu, die selbst an qualifikationsgerechten Stellen weniger anspruchsvolle Aufgaben
zugewiesen bekamen (vgl. Zachmann 2004: 332f.). Diese Verhältnisse illustriert Riege mit
Zahlen aus dem Jahr 1973, nach denen 56 % der HochschulabsolventInnen Stellen inne
hatten, für die ein Fachschulabschluss genügte (vgl. Riege 1995: 9).
14
Das Problem des nicht fachgerechten Einsatzes traf insbesondere auf die Berufsgruppe der
IngenieurInnen zu. Die Ausweitung der Ingenieurstudiengänge führte also zu einer
zweischneidigen Entwicklung: Eine erhöhte soziale Mobilität ging mit einer Entwertung
des Berufsbildes einher (vgl. Valerius 1998: 15). Tatsächlich gelang es nicht, der
wachsenden Anzahl qualifizierter Fachkräfte entsprechend viele angemessene neue Stellen
zu schaffen.
Nur ein geringer Teil der Studierenden blieb im Hochschulwesen oder in Forschung und
Entwicklung, darunter besonders wenig Frauen (vgl. Autorenkollektiv 1988: 122). Die
Mehrzahl der AbsolventInnen der Ingenieurwissenschaften ging in die Industrie, deren
Stellen, verglichen mit dem Hochschulwesen und der Forschung, das geringste Prestige
14 Hinzu kam ein sehr hoher Anteil an ungelernten Arbeitskräften: 37 % der Arbeiterinnen sowie 15 % der
Arbeiten besaßen keine abgeschlossene Berufsausbildung (Geißler 2002: 242).
15

hatten. Dies lag vor allem in den Arbeitsbedingungen und -inhalten begründet, die sich
kaum von denen geringer Qualifizierter unterschieden und damit in eklatantem
Missverhältnis zur gesellschaftlich propagierten Rolle der IngenieurInnen standen.
15
Nicht nur im Einsatz, sondern auch in der Entlohnung zeigte sich die Widersprüchlichkeit
zwischen der propagierten Rolle der IngenieurInnen als ,,Garanten des Fortschritts"
(Wienke 1989: 60) und ihrer tatsächlichen Situation. Aufgrund der nivellierenden
Entlohnungspolitik der DDR erhielten IngenieurInnen nur 15 % mehr Gehalt als
FacharbeiterInnen (vgl. Valerius 1998: 17). Gegenüber SchichtarbeiterInnen konnte die
Differenz sogar noch geringer ausfallen (vgl. Autorenkollektiv 1988: 172).
Riege geht zudem davon aus, dass die IngenieurInnen die Diskrepanz zwischen der
offiziellen Erfolgspropaganda und dem Rückstand und der Ineffizienz der Wirtschaft in
ihrem Arbeitsalltag besonders zu spüren bekamen. Daher hätten sie die Haltung einer
,,Emigration nach innen" als Überlebensstrategie angelegt und jeglichen Ehrgeiz oder
Selbstverwirklichungsambitionen abgelegt (Riege 1995: 5f.).
16
Valerius dagegen betont,
dass der Berufsalltag individuell durchaus als erfüllend empfunden werden konnte:
,,Ingenieurtätigkeit war auch unter den Bedingungen der DDR eine höherqualifizierte
Tätigkeit (im Vergleich zur Produktion), eine abwechslungsreiche Arbeit mit gewissen
Freiräumen, Entscheidungsspielräumen und einer Herausforderung an Wissen und
Können" (Valerius 1998: 16).
Wie dem auch sei, fest steht, dass die IngenieurInnen die durch das System an sie
gerichteten Erwartungen als ,,Garanten des Fortschritts" (Wienke 1989: 60) nicht erfüllen
konnten. Die Gründe hierfür sind jedoch weniger in der Berufsgruppe, als im System selbst
zu finden:
,,Die politische Klasse überforderte die Technologen
17
, als sie ihnen die Hauptverantwortung für die Effizienz des
Wirtschaftssystems übertragen hatte. Denn mit technischem Wissen und ingenieurmäßigen Methoden waren die in die
ökonomischen Strukturen des Systems eingelassenen Innovationsblockaden nicht aufzulösen. Das aber machte den
Berufsalltag für viele Technologen zu einer frustrierenden Erfahrung, weil sie ihre Kreativität für die Erfüllung einer
unlösbaren Aufgabe verschwendeten." (Zachmann 2004: 369)
15 Dieser Misstand war aber auch schon zu DDR-Zeiten bekannt. Das Autorenkollektiv kritisierte noch
1988 den ineffizienten Umgang mit den Qualifikationen, zum einen in der Form des nicht fachgerechten
und damit objektiv abwertenden Einsatz, zum anderen im geringen Gewicht der IngenieurInnen
gegenüber der Produktion (Autorenkollektiv 1988: 172).
16 ,,Begrenzte soziale Aufstiegsmöglichkeiten und die reduzierte Gesellschaftsdynamik in der DDR
förderten den Selbstausschluß und die Selbstaufgabe der Intelligenz. Konformität, Konventionalität und
die Suche nach dem Schutz der anonymen Mitte kennzeichneten ihren beruflichen Alltag. Ihre soziale
Energie, Kraft und Zeit versanken im Bermudadreieck zwischen Auto, Wohnung und Garten" (Riege
1995: 14)
17 Zachmann bezieht sich hier auf die Untergruppe der Technologen - IngenieurInnen, die in der
industriellen Produktion eingesetzt wurden. Ihre Einschätzung kann jedoch auf die gesamte
Berufsgruppe übertragen werden.
16

1.3 Das Halbleiterwerk Frankfurt (Oder)
In diesem Kapitel wird nun der Betrieb vorgestellt, in dem beide Interviewpartnerinnen zu
Zeiten der DDR tätig waren. Dies stellt somit einen konkreten Bezugspunkt zu ihren
Erwerbsbiographien her, illustriert aber auch gleichzeitig die zuvor gemachten Aussagen
zum Wirtschaftssystem der DDR.
Die Gründung des Halbleiterwerks im Jahr 1959 erfolgte im Rahmen einer Strukturpolitik
zur Ansiedlung von Großindustrie im industriell schwach entwickelten Ostbrandenburg
(vgl. Schwarz / Valerius 2003: 263). Aufgabe des Halbleiterwerkes war die
flächendeckende Versorgung der DDR mit Mikroelektronik: 75 % aller in der DDR
benötigten mikroelektronischen Bauelemente wurden in Frankfurt produziert, hinzu kam
der Export (vgl. ebd.: 265). So werden sich die Produkte des Halbleiterwerkes in den
meisten Haushalten der DDR gefunden haben (vgl. Aldenhoff-Hübinger 1999: 39).
Das breite Sortiment war kennzeichnend für die Mikroelektronik der DDR, die als
,,Schlüsselindustrie" (Barkleit 2000: 7) seit Ende der 1970er massiv gefördert wurde, aber
ein hoch defizitärer Wirtschaftsbereich blieb. Verglichen mit der BRD deckte die DDR den
Großteil ihres Bedarfs mit eigenen Produktionen (vgl. Berkner 2005: 33).
18
Damit gingen
geringe Stückzahlen einher, so dass die Kosten der aufwändigen (Nach-)Entwicklung, die
über dem Fünfzehnfachen des internationalen Durchschnitts lagen (vgl. Roesler 2003: 33),
nicht amortisieren konnten.
19
Die milliardenschwere Förderung der Mikroelektronik machten das Halbleiterwerk und die
übrigen mikroelektronischen Betriebe jedoch zu attraktiven Arbeitgebern (vgl. Roesler
2003: 53). Seit seiner Gründung war das Halbleiterwerk auf die Anwerbung von
qualifizierten Arbeitskräften angewiesen, was aufgrund der geringen Lohnunterschiede in
der DDR in erster Linie über Anreize wie neuen Wohnraum und Kinderbetreuungsstätten
erreicht wurde (vgl. Schwarz / Valerius 2003: 265). So standen den Beschäftigten des
Halbleiterwerks eine Vielzahl von sozialen Einrichtungen zur Verfügung: eine
18 Bei den Entwicklungen handelte es sich in der Mehrzahl allerdings um ,,Nachentwicklungen" westlicher
Produktionen: ,,Die Nachentwicklung von Bauelementen, Geräten und Technologien, die anderswo in
der Welt entwickelt worden waren, aber aufgrund verfehlter Investitionsentscheidungen,
Embargobestimmungen sowie fehlender Devisen für den Kauf nicht zu beschaffen waren, ist aus
heutiger Sicht sicherlich völlig ineffizient. Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch die einzig mögliche
Variante, in ausreichender Zahl dem Binnenmarkt Bauelemente zur Verfügung zu stellen" (Valerius
1998: 16f.; siehe dazu auch Berkner 2005: 117ff. und Barkleit 2000: 25). Hinzu kam ein Rückstand
gegenüber dem Weltmarkt, den Berkner auf sieben bis zwei Jahre, Barkleit auf neun bis vier Jahre
beziffert (vgl. Berkner 2005: 26ff. und Barkleit 2000: 22).
19 ,,Für einen 1-Megabit-DRAM der DDR wurde 1989 ein planmäßiger Gewinn von 900 Mark
ausgewiesen, die staatlichen Stützungen betrugen aber 1200 Mark pro Bauelement. Der Weltmarktpreis
betrug zu dieserZeit 20 DM. Bei einem damals üblichen Umrechnungsfaktor von 4,5 entspricht dies
einem maximalen Aufwand von 90 DDR-Mark" (Berkner 2005: 30).
17

Betriebsklinik, Kinderkrippen und -gärten, eine Schule, Ferienanlagen und eine
Verkaufsstelle (vgl. Berkner 2005: 124f.). In den Anfangsjahren konnte die Belegschaft
sogar den Dienst eines Kosmetiksalons für sich nutzen (vgl. Aldenhoff-Hübinger 1999:
45).
In den Anfangsjahren des Halbleiterwerkes konzentrierte man sich auf die Anwerbung und
Mobilisierung von Erwerbstätigen im Umfeld, beispielsweise mit einem Programm zur
Anwerbung nicht-berufstätiger Frauen. Bald jedoch zog das Halbleiterwerk Arbeitskräfte
aus der gesamten Republik nach Frankfurt (Oder) (vgl. Berkner 2005: 122f.). Die Zahl der
Beschäftigten entwickelte sich rasant. 1960 hatte das Werk 1000 Beschäftigte, in den
1980er Jahren wuchs die Zahl noch einmal stark von 6100 auf 8200 (vgl. Valerius 1998: 5;
Berkner 2005: 76). Im Jahr 1968 waren 60 % der 3000 Beschäftigten Frauen (vgl. Schwarz
/ Valerius 2003: 265). In speziellen ,,Frauensonderstundenplänen" erhielten Frauen die
Möglichkeit zur berufsbegleitenden Weiterbildung (vgl. Schwarz / Valerius 2003: 266).
Für Berkner (2005: 126) war das Halbleiterwerk in Frankfurt daher ein ,,typischer
Frauenbetrieb". Auch die Stadt profitierte vom Boom des Halbleiterwerks: Im Zeitraum
zwischen 1960 bis 1989 vergrößerte sich die Einwohnerzahl Frankfurts um 15 000
Einwohner (vgl. Schwarz / Valerius 2003: 277).
2. Der wirtschaftliche Umbruch in Ostdeutschland
Die politischen Wende von 1989 ging mit einer radikalen Veränderungen der Wirtschaft
der DDR einher. Die frühe Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ab dem 1. Juli 1990
markierte den Beginn eines ,,beispiellose(n) Prozess(es) der Deindustrialisierung"
(Hofmann et al. 2005: 165). Die Produktion der Industrie brach um 60 % ein, das
Bruttoinlandsprodukt schrumpfte zwischen 1989 und 1991 um mehr als 40 % (vgl. Sinn
2000: 13f.). Ganze Industriezweige und Produktionsbereiche verschwanden (vgl. Vogel
1999: 41). Ursache war zum einen der Entwicklungsrückstand der DDR-Wirtschaft, zum
anderen die mit der Währungsunion einhergehende schlagartige Entwertung der Produkte
und Anlagen (vgl. Roesler 2003: 64).
Dieser ,Transformationsschock' galt ab 1994 als überwunden - dem Jahr, in dem das
Bruttoinlandsprodukt der Neuen Bundesländer das Niveau des Jahres 1989 wieder
erreichte. Ab 1997 setzte allerdings eine erneute Stagnation ein, die Wachstumsraten in
den neuen Bundesländern liegen seitdem unter denen der alten Bundesländer (vgl. Land
2003: 4). Sinn (2000: 17f.) sieht die Ursache in der Abhängigkeit von Transferzahlungen
18

sowie der Übernahme westdeutscher Sozialstandards. Außerdem unterstreicht Roesler
(2003: 107), dass sich in den Neuen Bundesländern statt ganzer Industriezweige lediglich
,,verlängerte Werkbänke", also Teile der Produktion angesiedelt haben.
2.1 Das ostdeutsche Erwerbssystem nach der Wiedervereinigung
Die Systemtransformation ging mit der drastischen Umwälzung des ostdeutschen
Erwerbsmarktes einher. Zwischen 1991 und 2002 verschwanden circa eine Million
Arbeitsplätze (vgl. Bothfeld 2004: 136). Allein in Brandenburg gingen zwischen 1990 und
1996 70 % der industriellen Arbeitsplätze verloren (vgl. Schwarz / Valerius 1998: 25).
20
Prägte Arbeitskräftemangel die Situation in der DDR, wurde nun die Erwerbsarbeit
schlagartig zum knappen Gut.
So teilt sich der ostdeutsche Arbeitsmarkt in ,,,Bleibende`, ,Wechsler` und
,Ausgeschiedene`" (Vogel 1999: 49) auf: Ein Viertel der 1989 Beschäftigten konnte den
Arbeitsplatz halten, ein Drittel verlor ihn, konnte aber eine neue Stelle finden, während ein
Drittel dauerhaft aus dem Erwerbsleben verdrängt wurde (vgl. Vogel 1999: 48). Über die
Hälfte der ostdeutschen Erwerbsbevölkerung machte in diesem Prozess die Erfahrung mit
Erwerbslosigkeit (vgl. Geißler 2002: 273).
Während der Beschäftigungsabbau einen egalitären Charakter hatte und alle Beschäftigten
in Ostdeutschland betraf, wurde die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu einer
selektiven Hürde:
,,Die [...] Segmentierung der ostdeutschen Erwerbsbevölkerung vollzog sich also allem Anschein nach
nicht entlang des Risikos, die Beschäftigung zu verlieren, sondern entlang der sehr unterschiedlichen
Wiederbeschäftigungs- und Neueingliederungschancen der verschiedenen, vom Arbeitsplatzverlust
betroffenen Erwerbspersonengruppen" (Vogel 1999: 49).
Eine zentrale Rolle bei diesem ,,historisch einmaliger(n) Verdrängungs- und
Ausschließungsprozess" (Vogel 1999: 16) spielte die Arbeitsmarktpolitik, in deren
Maßnahmen drei Viertel aller Ostdeutschen integriert waren (vgl. Hofmann et al. 2005:
165). Sie verstärkte die Chancenungleichheit der verschiedenen Gruppen: Einer Minderheit
mit guten Erwerbschancen verschaffte sie Zugang zum Arbeitsmarkt. Bei der Mehrheit der
ostdeutschen Erwerbsbevölkerung erfüllte sie dagegen die Funktion eines ,,cooling-out-
systems" (Vogel 1999: 58), indem sie den direkten Sturz in die Arbeitslosigkeit
verhinderte, aber keine Zugang zum Ersten Arbeitsmarkt eröffnete. So war ein Großteil der
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen eine ,,Symbolische Politik des ,Im-Spiel-
20 Hofmann et al. (2005: 165) beziffern das Ausmaß der Schrumpfung der Industriebeschäftigung für die
gesamten Neuen Bundesländer je nach Sektor auf ein Drittel bis ein Zehntel des Ausgangsniveaus.
19

Haltens`"(Vogel 1999: 68), die den Betroffenen keine dauerhafte Perspektive bieten
konnte (Vogel 1999: 48ff.). Es entstanden regelrechte ,,ABM-Karrieren", die durch geringe
Übergangsraten auf den ersten Arbeitsmarkt gekennzeichnet waren (Roesler 2003: 69).
Neben den Verschiebungen innerhalb der Zusammensetzung der Erwerbstätigen gab es
auch Veränderungen der Erwerbsarbeit. Zum einen bestanden diese im Bedeutungsverlust
des in der DDR dominierenden Normalarbeitsverhältnisses. Arbeitslosigkeit und neuartige
Beschäftigungsverhältnisse wie geringfügige oder befristete Beschäftigungen,
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie Kurz- und Heimarbeit bewirkten, dass der ,,Typus
von stabiler, sozial wie materiell dauerhaft gesicherter Beschäftigung zunehmend an
Bedeutung verliert" (Vogel 1999: 45). Hinzu kommt parallel zum Bedeutungsverlust der
Betriebe auch ein stärkere Trennung zwischen beruflicher und privater Sphäre (vgl.
Scheller 2005: 150ff.).
Ein großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung befand oder befindet sich in einer Situation
prekärer und instabiler Beschäftigung, während nur eine Minderheit sichere und stabile
Erwerbsverhältnisse erhalten oder neu erlangen konnte (vgl. Vogel 1999: 203).
Arbeitslosigkeit ist in Ostdeutland im Zuge der Systemtransformation kein Phänomen am
Rande der Gesellschaft geblieben, sondern hat diese im Zentrum erschüttert, sie schwebt
als permanente Bedrohung über dem Arbeits- und Wirtschaftsleben (ebd.: 211).
Arbeitslosigkeit wurde damit zu einer zentralen ,,Schlüsselerfahrung" der Wende (ebd.:
10).
Wie erläutert, fand eine Selektion der ostdeutschen Erwerbsbevölkerung beim Neueintritt
ins Erwerbsleben statt. Dies traf besonders auf Frauen zu, die zwar nicht öfter entlassen
wurden, aber schlechtere Chancen auf eine Wiedereingliederung hatten (vgl. Geißler 2002:
395). Das Geschlecht dominierte auch die beiden anderen diskriminierenden Faktoren
Alter und Qualifikation: ,,Denn für Frauen gilt in weit stärkerem Maße als für Männer,
dass eine berufliche Ausbildung nicht vor längerfristiger Arbeitslosigkeit schützt und dass
Verdrängungsprozesse am Arbeitsmarkt weitgehend altersunabhängig sind" (Vogel 1999:
85).
So wurden die ostdeutschen Frauen zu einer ,,Problemgruppe des Arbeitsmarkts"
(Puhlmann 1998: 13), Berger sieht sie gar als die ,,Verliererinnen des Einigungsprozesses"
(Berger 1996: 279). Folgende Benachteiligungen wurden für Frauen auf dem ostdeutschen
Arbeitsmarkt festgestellt:
20

·
Diskontinuität: Gegenüber den Männern konnten Frauen eine geringere Kontinuität
ihrer Erwerbsbiographien erreichen: Während 44 % der Männer 1991 ihre Tätigkeit
von 1989 hielten, traf das auf nur 29 % der Frauen zu (vgl. Berger 1996: 265ff.).
·
Selektion: Trotz hoher Erwerbsorientierung waren nur 59 % der im Jahr 1989
erwerbstätigen Frauen 1994 immer noch bzw. wieder erwerbstätig, verglichen mit 70 %
der Männer (vgl. Vogel 1999: 61).
·
Langzeitarbeitslosigkeit: 56 % aller Langzeitarbeitslosen sind weiblich. Mitte der
1990er lag ihr Anteil gar bei drei Vierteln. Auch sind 48 % aller arbeitslosen Frauen in
Ostdeutschland langzeitarbeitslos, verglichen mit 40 % der ostdeutschen Männer und
dem bundesdeutschen Durchschnitt von 33,1 % (vgl. Bothfeld 2004: 135).
·
Verdrängung: Das Geschlechterverhältnis der DDR in den einzelnen Branchen
verschiebt sich zu ungunsten der Frauen: der Männeranteil in männerdominierten
Branchen verstärkt sich, gemischte Branchen werden zu männlich dominierten und aus
weiblich dominierten Branchen werden gemischte Branchen (vgl. Vogel 1999: 64).
·
Verlust des Normalarbeitsverhältnisses: Frauen arbeiten besonders oft in prekären
und schlecht bezahlten Stellen und befinden sich auch öfter in unfreiwilliger
Teilzeitarbeit (vgl. Geißler 2002: 394).
Neben den Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt veränderte auch die Konfrontation mit
dem westdeutschen Rollenbild die Situation der ostdeutschen Frauen. Waren weibliche
Biographien in Ostdeutschland als ,,Parallelmodell" organisiert, in der Erwerbstätigkeit
und Kindererziehung gleichzeitig verliefen, wurde mit der Wiedervereinigung von einer
Anpassung an das westdeutsche ,,Sequenzmodell" ausgegangen, in dem dies nacheinander
erfolgt (Bothfeld 2004: 127). Zum einen wirkte dies in Form einer normativen Erwartung
einer ,,Interpretationsfolie wachsender Familienorientierung" (Puhlmann 1998: 13).
Gleichzeitig waren diese Erwartungen gestützt durch Institutionen des Sozialstaates, der
nach dem Leitbild eines männlichen Brotverdiener-Modells starke Anreize für
Teilzeittätigkeiten setzt (vgl. Bothfeld 2004: 127).
So waren ostdeutsche Frauen auf zwei Ebenen Veränderungen ausgesetzt: Auf der
normativen Ebene wurde von ihnen ein Rückzug vom Erwerbsleben gefordert, gleichzeitig
verringerte die Arbeitsdynamik ihre Partizipationsmöglichkeiten. Daher urteilt Geißler,
dass sich das ,,historische Rad der zunehmenden Gleichstellung" in Ostdeutschland wieder
zurück bewegt habe (Geißler 2002: 394).
21

Generell bleiben Unterschiede der Erwerbssituation der Frauen zwischen Ost und West
bestehen. Diese Unterschiede liegen in der Weigerung der ostdeutschen Frauen begründet,
sich in die ,,Stille Reserve" (Bothfeld 2004: 136) verdrängen zu lassen. Somit ist die
Erwerbsquote, aber auch die Arbeitslosigkeit bei ostdeutschen Frauen circa 10 % höher als
im Westen. Zudem dominiert Vollzeit- gegenüber Teilzeitbeschäftigung (vgl. Geißler
2002: 274; Bothfeld 2004: 143).
21
Statt der Assimilation an das Brotverdiener-Modell
erweist sich das ostdeutsche ,,Doppelverdiener-Modell" als stabiles Muster (Geißler 2002:
396)
.
Auch die Berufsgruppe der IngenieurInnen blieb von den Umwälzungen von Wirtschaft
und Beschäftigungssystem nicht verschont. Als Hochqualifizierte besaßen sie in den neuen
Verhältnissen relativ gute Chancen. Gleichzeitig verschlechterte ihr ,,Überangebot"
gegenüber dem Mangel an möglichen Einsatzfeldern im Kontext der Deindustrialisierung
ihre Chancen (vgl. Valerius 1998: 19). Auch Lange geht von einer eher ungünstigen
Arbeitsmarktsituation dieser Berufsgruppe aus, sieht aber ebenfalls den Zuwachs an
Möglichkeiten und eine Befreiung von den Beschränkungen der DDR. Dies konnte jedoch
auch als Zwang zur Veränderung und Konfrontation mit dem ungewohnten System
empfunden werden (vgl. Lange 1995: 3f.). So kann man in dieser Gruppe starke
erwerbsbiographische Brüche feststellen, die oft in Kleinselbständigkeit oder fachfremde
Beschäftigungen geführt haben (vgl. Neef et al. 2002: 20f.).
Wie für den gesamten ostdeutschen Arbeitsmarkt lässt sich auch in dieser Berufgruppe die
Benachteiligung der Frauen feststellen: ,,Generell verschlechterten sich im technischen
Berufsfeld die Berufschancen für Frauen weit stärker als für Männer" (Zachmann 2004:
370). War der Anteil weiblicher Ingenieurinnen in der DDR über 30 % höher als in der
BRD, kam es im Laufe der Zeit zu einer Angleichung an die westdeutschen Verhältnisse
(vgl. Neef et al. 2002: 20).
22
Ingenieurinnen waren bedeutend mehr von Arbeitslosigkeit
betroffen (21 % gegenüber 4 % bei den Männern) (vgl. Bathke, Minks 1995: 103). Rund
ein Drittel konnte nach der Wiedervereinigung eine Beschäftigung nur unterhalb ihres
Qualifikationsniveaus finden (vgl. ebd. 104). Für Ingenieurinnen scheint also besonders
das von Schwarz und Valerius beschriebene Dilemma der Flexibilität zuzutreffen: ,,Auch
mehrfache Qualifikationen und Umschulungen verbesserten diese Chancen nicht
21 Während in Ostdeutschland 24,9 % der Frauen teilzeitbeschäftigt sind, sind es in Westdeutschland
40,2 %, bei den Männern sind es 4,8 % (Ostdeutschland) gegenüber 5,5 % (Westdeutschland) (Bothfeld
2004: 139).
22 Dieser Umstand betraf nicht nur Ingenieurinnen, sondern auch Studentinnen der
Ingenieurwissenschaften (vgl. Bathke, Minks 1995: 102f.).
22

signifikant; ein beruflicher Wechsel ­ die vielgeforderte Flexibilität zur Sicherung von
Erwerbschancen ­ wird vielfach mit Dequalifikation bzw. sozialem Abstieg bezahlt"
(Schwarz / Valerius 1998: 25).
2.2 Das Halbleiterwerk nach 1989
Mit der deutschen Wiedervereinigung änderte sich auch die Situation des Halbleiterwerks
radikal: Schockartig hatte sich der Betrieb an eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsweise
anzupassen. Das Halbleiterwerk hatte bei dieser Umstellung relativ schlechte
Ausgangsbedingungen, da schlagartig die Absatzmärkte in Ostdeutschland und in den
ehemaligen Ostblock-Ländern wegbrachen. Außerdem besetzte das Halbleiterwerk mit
seinem Profil der Massenproduktion eine Sparte, die in den marktwirtschaftlich
organisierten Ländern seit den 1970ern in Billiglohnländer ausgelagert worden war (vgl.
Valerius 1998: 8).
Im Juli 1990 wurde das Frankfurter Halbleiterwerk der Treuhand überantwortet und eine
radikale Umstrukturierung setzte ein, deren Folgen Schwarz und Valerius als ein
,,Extrembeispiel für die vereinigungsbedingte Deindustrialisierung in den östlichen
Bundesländern" (Schwarz / Valerius 2003: 273) bezeichnen. Der Umbau hatte in erster
Linie den Charakter eines radikalen Personalabbaus: Schon im September 1990 verließen
1500 Personen das Werk durch ,natürlichen Abbau', sei es durch die Entlassung von
Rentnern (die in der DDR oft auch nach der Pensionierung erwerbstätig waren),
Vorruhestandsregelungen oder durch Weggang von Beschäftigten, die in anderen Bereiche
oder Regionen neue Anstellungen fanden (vgl. Valerius 1998: 9). Der Rest der Belegschaft
ging in Kurzarbeit.
23
Am 30. Juni 1991 wurden in einer ersten Entlassungswelle 3320
Personen aus allen Bereichen des Halbleiterwerks entlassen, am 31. Dezember folgte die
zweite Entlassungswelle, in der 1810 Beschäftigte ihre Stellen verloren. Innerhalb von 15
Monaten fand damit ein Abbau von über 84 % der ursprünglichen Belegschaft statt (vgl.
Schwarz / Valerius 2003: 274). Mit 83,2
% der Entlassenen waren Frauen
überdurchschnittlich häufig betroffen (vgl. Valerius 1998: 10). Weitere, weniger starke
Entlassungswellen folgten, bis Ende der 1990er der Nachfolgebetrieb des Halbleiterwerks
121 Beschäftigte zählte (vgl. Schwarz / Valerius 2003: 274).
23 Um das wirtschaftliche Überleben kämpfende Betriebe in Ostdeutschland konnten für maximal ein Jahr
Kurzarbeit verhängen (Roesler 2003: 69).
23

So war der Niedergang des Halbleiterwerks laut Schwarz / Valerius (2003: 274) ,,ein
Kahlschlag", der bleibende Schäden in der Stadt Frankfurt (Oder) hinterließ. Trotz des
Verlusts von 19 000 Einwohnern in den Jahren von 1989 bis 2002 herrschte mit 18-20 %
eine sehr hohe Arbeitslosenquote in der Stadt (vgl. ebd.: 274). Noch heute liegt die
Arbeitslosenquote mit 15,6 % leicht über dem brandenburgischen Durchschnitt von 14,9 %
(vgl. Bundesagentur für Arbeit, Januar 2008). Beim Wirtschaftswachstum befindet sich
Frankfurt (Oder) mit dem drittletzten Platz aller kreisfreien Städte und Landkreise
Brandenburgs unter den Schlusslichtern (vgl. Ministerium für Wirtschaft des Landes
Brandenburg 2007: 22).
24
2.3 Verbleib der IngenieurInnen des Halbleiterwerks
Die Verwerfungen des ostdeutschen Arbeitsmarktes zeigen sich auch in der Studie von
Schwarz / Valerius ,,Berufliche Mobilität und erwerbsbiographische Deutungsmuster
Brandenburger Ingenieure" aus dem Jahr 1997, in der Schwarz und Valerius dem
beruflichen Verbleib der IngenieurInnen einer Abteilung des Halbleiterwerks
nachgegangen sind.
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Einerseits besaß die untersuchte Kohorte aufgrund ihres hohen
Qualifikationsniveaus relativ gute Chancen für eine erfolgreiche berufliche Neuverortung
(vgl. Schwarz / Valerius 2000: 83ff.), andererseits waren sie von drastischen
Veränderungen ihres Berufsumfeldes betroffen und somit unter ,,Handlungs- und
Erklärungsdruck" (Valerius 1998: 1).
So zeigen sich die Verwerfungen des ostdeutschen Arbeitsmarktes, die im vorigen Kapitel
für Gesamtostdeutschland dargestellt wurden, auch in dieser Untersuchungsgruppe: 10 %
der ehemaligen Beschäftigten der untersuchten Abteilung haben die Stadt und die Region
verlassen (vgl. Schwarz / Valerius 2003: 275). Mehr als drei Viertel der ehemaligen
Angehörigen des Halbleiterwerks sind erwerbstätig: 69
% in einer abhängigen
Beschäftigung, 8 % haben sich selbstständig gemacht. Der Rest ist zu annähernd gleichen
Anteilen in Rente oder Vorruhestand gegangen (8 %), arbeitslos geworden (7 %) oder
folgte zum Befragungszeitpunkt eine Fortbildungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
(7 %) (vgl. Valerius 1998: 26f.). 36 % der Befragten haben einen direkten Weg in eine
neue Beschäftigung gefunden (vgl. Valerius 1998: 40).
24 Große Hoffnungen werden mit der Ansiedlung von Solarenergieunternehmen verbunden, von denen
man sich 5 000 neue Arbeitsplätze in der Stadt verspricht (Ministerium für Wirtschaft des Landes
Brandenburg: 37).
25 Siehe dazu auch weitere Veröffentlichungen von Schwarz und Valerius: Schwarz / Valerius 1998;
Schwarz / Valerius 2000; Schwarz / Valerius 2003, Valerius 1998.
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2008
ISBN (eBook)
9783836645041
Dateigröße
691 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) – Kulturwissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
individualisierung interview ostdeutschland arbeitslosigkeit diskontinuität
Produktsicherheit
Diplom.de
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Titel: "man wusste ja, man muss sich erstmal marktwirtschaftlich orientieren"
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