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Die Botschaft zwischen den Zeilen

Staats- und Ideologiekritik in Genredialektik und Themendiskurs des argentinischen Kinos während des 'Proceso de Reorganización Nacional' (1976-83)

©2001 Diplomarbeit 124 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Recht auf freie Meinungsäußerung, das im Artikel 19 der UNO-Menschenrechtserklärung jeder Person zugesichert wird, erfährt vor allem in diktatorischen Staatsordnungen eine empfindliche Einschränkung. Diese totalitären Systeme versuchen durch das Auferlegen repressiver Zensur sich öffentlicher Diskurse zu bemächtigen und einen freien Gedankenaustausch innerhalb ihrer Gesellschaft zu unterbinden. Die Implementierung solcher kontrollierender Maßnahmen muss aber nicht immer die alleinige Behinderung oder Unterdrückung kreativer Freiheit zur Folge haben, sondern kann auch dazu führen, dass sich neue Ausdrucksformen zur Äußerung nonkonformistischer Gedanken entwickeln.
Dieses Phänomen haben u.a. verschiedene Untersuchungen zur systemkritischen Literatur- und Filmproduktion während des Franco-Regimes in Spanien nachgewiesen. Dort wird ein dialektisches Verhältnis zwischen Zensur und Kreativität erörtert. Die unter Aufsicht der Zensur entstandenen Werke rekurrieren demzufolge auf die unterschiedlichsten Umgehungsstrategien des uneigentlichen Erzählens und der indirekten Rede, um ihre kritischen Botschaften an den Adressaten zu vermitteln. An diesem Punkt stellt sich die Frage, inwiefern ähnliche Mechanismen auch in anderen despotisch geführten Staaten greifen.
Unter diesem Aspekt ist die Filmproduktion in der Frühphase der letzten argentinischen Militärdiktatur ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Mit dem Staatsstreich vom 24. März 1976 erreichte die Geschichte der Diktaturen und nationalistischen Ideologien in Argentinien ihren traurigen Höhepunkt und im Zeichen des anschließenden, acht Jahre dauernden ‘Proceso de Reorganización Nacional’ (‘Prozess der nationalen Reorganisation’) wurde eine strenge Zensurpolitik ausgeübt. Die brutalen paramilitärischen Praktiken und der konservative Kurs der Zensurbehörde sorgten ab 1976 scheinbar für eine vorübergehende Auslöschung jeglicher oppositioneller Bewegung oder Gegenöffentlichkeit in allen Bereichen der Massenmedien.
In diesem Zusammenhang steht die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit, denn die Entwicklung der zensur- und soziopolitischen Verhältnisse wirkte sich sowohl quantitativ – durch den wirtschaftlichen Einbruch der einheimischen Filmindustrie – sowie qualitativ – durch die Desaparición oder das Exil vieler linksideologischer Filmemacher – auf die argentinische Filmproduktion aus.
Die moralische und ideologische Kontrolle der Kinofilme oblag der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Rouven Rech
Die Botschaft zwischen den Zeilen
Staats- und Ideologiekritik in Genredialektik und Themendiskurs des argentinischen
Kinos während des 'Proceso de Reorganización Nacional' (1976-83)
ISBN: 978-3-8366-4451-8
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg, Potsdam,
Deutschland, Diplomarbeit, 2001
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Die Botschaft zwischen den Zeilen
­
Staats- und Ideologiekritik in Genredialektik und
Themendiskurs des argentinischen Kinos während
des ,,Proceso de Reorganización Nacional" (1976-83)
Rouven Rech

Inhalt
I. Einleitung
3
II. Ausführungen zur methodisch-thematischen Vorgehensweise
7
1. Gliederung der Arbeit
7
2. Methodik
7
2.1. Analytische Recherche und Rahmenbedingungen
7
2.2. Theoretische Ansätze
9
3. Medienzensur ­ ein Definitionsansatz
13
III. Sozio- und zensurpolitische Entwicklung Argentiniens
17
1. Politische Vorläufer des Militärputsches von 1976
18
1.1. Perón zum Ersten ­ Staatlicher Protektionismus und Institutionalisierung der Zensur
18
1.2. Die Militärs an der Macht ­ Politischer Kurs und nationale Filmzensur ab 1955
20
1.3. Die Diktatur Onganías und die ,,Ente de Calificación Cinematográfica"
22
1.3.1. Das Gesetzesdekret 18.019 zum Einsatz der Zensurbehörde
25
1.4. Politische Aufbruchsstimmung und kurzer ,,Boom" des argentinischen Kinos
27
2. Der ,,Proceso de Reorganización Nacional" ­ Die Militärdiktatur von 1976-83
30
2.1. ,,La guerra sucia" ­ Der Krieg gegen das eigene Volk
30
2.2. Institutionelle Festigung der diktatorischen Ideale in der Filmpolitik
33
2.3. Das ,,äußere" und das ,,innere" Exil ­ Selbstzensur als letzter Ausweg
37
2.4. Die Filmwirtschaft ab 1976 in Zahlen
39
IV. Film als Ideologieträger ­ Die Botschaft zwischen den Zeilen
42
1. Unterhaltung zwischen Mord und Desaparición ­ Panorama des systemtreuen Kinos
42
2. Das Genre ­ stummer Mittler sozialer Realitäten
49
2.1. Das Verlachen der Realität ­ grotesk-satirische Komik als sozialkritischer Beitrag
51
2.1.1. ,,La nona" (1979) ­ Soziopolitisches Versagen als ,genetisches` Erbgut
54
2.2. Die langen Schatten der Wirklichkeit ­ Der Film Noir 59
2.2.1. ,,La parte del león" (1978) ­ die entseelte Großstadtwelt als Assoziationsraum
verlorengegangener Werte
63
2.2.2. ,,Tiempo de Revancha" (1981) ­ das Schweigen einer ganzen Nation
71
2.2.3. ,,El poder de las tinieblas" (1979) ­ Alptraum von der Macht der
Dunkelheit
79
2.3. Die Tragödie ­ Abbildung und Abstraktion der Realität
86
2.3.1. ,,La isla" (1979) ­ Die verwundeten Seelen der argentinischen Nation
90
2.3.2. ,,Los miedos" (1980) ­ Vorgriff auf die läuternde Wirkung der Tragödie
96
2.3.3. ,,Crecer de golpe" (1977) ­ Schmerzhafte Erfahrung des Erwachsenseins
103
V. Resümee ­ Eine alternative Sprache?
110
VI. Bibliographie
114

3
Artikel 19 aus der allgemeinen
Menschenrechtserklärung von 1948:
Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie
Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein,
Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art
und ohne Rücksicht auf Grenze Informationen und Gedankengut
zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.
I. Einleitung
Das Recht auf freie Meinungsäußerung, das im Artikel 19 der UNO-
Menschenrechtserklärung jeder Person zugesichert wird, erfährt vor allem in diktatorischen
Staatsordnungen eine empfindliche Einschränkung. Diese totalitären Systeme versuchen
durch das Auferlegen repressiver Zensur sich öffentlicher Diskurse zu bemächtigen und einen
freien Gedankenaustausch innerhalb ihrer Gesellschaft zu unterbinden. Die Implementierung
solcher kontrollierender Maßnahmen muß aber nicht immer die alleinige Behinderung oder
Unterdrückung kreativer Freiheit zur Folge haben, sondern kann auch dazu führen, daß sich
neue Ausdrucksformen zur Äußerung nonkonformistischer Gedanken entwickeln.
Dieses Phänomen haben u.a. verschiedene Untersuchungen zur systemkritischen
Literatur- und Filmproduktion während des Franco-Regimes in Spanien nachgewiesen. Dort
wird ein dialektisches Verhältnis zwischen Zensur und Kreativität erörtert.
1
Die unter
Aufsicht der Zensur entstandenen Werke rekurrieren demzufolge auf die unterschiedlichsten
Umgehungsstrategien des uneigentlichen Erzählens und der indirekten Rede, um ihre
kritischen Botschaften an den Adressaten zu vermitteln. An diesem Punkt stellt sich die
Frage, inwiefern ähnliche Mechanismen auch in anderen despotisch geführten Staaten greifen.
Unter diesem Aspekt ist die Filmproduktion in der Frühphase der letzten
argentinischen Militärdiktatur ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Mit dem
Staatsstreich vom 24. März 1976 erreichte die Geschichte der Diktaturen und
nationalistischen Ideologien in Argentinien ihren traurigen Höhepunkt und im Zeichen des
anschließenden, acht Jahre dauernden ,,Proceso de Reorganización Nacional" (,,Prozeß der
nationalen Reorganisation") wurde eine strenge Zensurpolitik ausgeübt. Die brutalen
paramilitärischen Praktiken und der konservative Kurs der Zensurbehörde sorgten ab 1976
scheinbar für eine vorübergehende Auslöschung jeglicher oppositioneller Bewegung oder
Gegenöffentlichkeit in allen Bereichen der Massenmedien.
2
1
Vgl. u.a. Hans-Jörg Neuschäfer: Macht und Ohnmacht der Zensur, Gabriele Knetsch: Die Waffen der
Kreativen und Elke Rudolph: Im Auftrag Francos.
2
Vgl. Barbara Klimmeck: Argentinien 1983: Militärherrschaft, Medienzensur, Menschenrechtsverletzungen.
Theater und Musik waren aufgrund ihrer schlichteren Produktionsmöglichkeit und der simpleren Distribution

4
In diesem Zusammenhang steht die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes dieser
Arbeit, denn die Entwicklung der zensur- und soziopolitischen Verhältnisse wirkte sich
sowohl quantitativ
3
­ durch den wirtschaftlichen Einbruch der einheimischen Filmindustrie ­
sowie qualitativ
4
­ durch die Desaparición
5
oder das Exil vieler linksideologischer
Filmemacher ­ auf die argentinische Filmproduktion aus.
Die moralische und ideologische Kontrolle der Kinofilme oblag der ,,Ente de
Calificación Cinematográfica" (,,Behörde zur Filmbeurteilung") und führte in den ersten
Jahren des Regimes zu einer vollständigen Verbannung aller konkret systemkritischen und
politisierenden Werke aus den argentinischen Lichtspielhäusern. Erst einige Jahre später
erfolgte mit der ökonomischen Schwächung des Regimes wieder eine zunehmende
Politisierung der Inhalte.
6
Die Niederlage Argentiniens im Falklandkrieg (1982) bedeutete das
politische Ende des ,,Proceso de Reorganización Nacional" und infolge der Demokratisierung
des Landes Ende 1983 kam es zur Auflösung bzw. Substitution der ,,Ente de Calificación
Cinematográfica" durch eine Behörde mit der ausschließlichen Befugnis zur Einstufung der
Filme nach Altersgruppen.
7
Wie funktionierte die Filmzensur während der letzten Militärdiktatur? Auf welche Art
beeinflußte die Zensur die Arbeitsweise der Filmemacher? War es möglich, Strategien gegen
diese Zensur zu entwickeln? Und wenn ja, um welche handelte es sich?
Antworten auf diese Fragen soll die vorliegende Arbeit liefern. Ausgewählte Filme
werden über der Folie eines genretheoretischen Hintergrundes erläutert und in Verbindung
bzw. Exhibition eher als Systemkritik einsetzbar. Allerdings hatten sie auch eine geringere Reichweite als die
Massenmedien. Im Theater entstand 1981 die oppositionelle Bewegung des ,,teatro abierto" (,,offenes Theater"),
das auf verschiedenen Bühnen beheimatet war und oftmals Vorstellungen mitten in der Nacht gab. Die
systemkritischen Musiker gaben hingegen keine großen Konzerte, sondern traten in Bars auf. Ihre Songs wurden
auf Kassetten unter der Hand weiter gereicht. Vgl.: Francine Masiello: La Argentina durante el Proceso. S. 17.
3
,,La cifratope de 40 largometrajes realizados en 1974 descendió a 32 en 1975, cayendo abruptamente a 16 en
1976 y a 16 en 1977 [...]." (,,Die Höchstzahl von 40 realisierten Filmen im Jahr 1974 verminderte sich auf 32 im
Jahr 1975, um dann abrupt auf 16 im Jahr 1976 zu fallen und 1977 auf 16 zu verweilen [...]"). Aus Octavio
Getino: Cine argentino: entre lo posible y lo deseable. 1998. S. 71.
4
,,Entre 1976 y 1978 el cine argentino no pudo concretar ningún proyecto culturamente importante. Dominó la
producción de ,,comedias ligeras", filmes con cantantes de moda y otros de humor grueso que exhibían lo más
deplorable del país." (,,Zwischen 1976 und 1978 konnte das argentinische Kino kein kulturell wichtiges Projekt
realisieren. Es dominierte die Produktion der ,,seichten Komödien", mit ,,In"-Sängern und albernem Humor, die
das Jämmerlichste des Landes zur Schau stellten.") Ebd. S. 71.
5
Anm.: Desaparición (spanisch für ,,Verschwinden") oder Desaparecido (sp. f. ,,Verschwundener") steht für die
Entführung und Eliminierung ideologischer Gegner während des Militärregimes von 1976.
6
,,Durante los últimos años del Proceso, el número de películas de tono político aumentó en forma progresiva
desde 1981." (,,In den letzten Jahre des ,Proceso` erhöhte sich ab 1981 die Anzahl der Filme mit politischem
Unterton in progressiver Form.") Maria Elena de Carreras de Kuntz: El cine político durante el Proceso. S. 32.
7
Am 21. März 1984 verfügte das Gesetz 23.052 über die Aussetzung des Gesetzesdekrets 18.019, was
gleichbedeutend mit dem Verbot jeglicher staatlicher Filmzensur war. Vgl.: Boletin Oficial. Buenes Aires:
Secretaria de Información pública, 21. März 1984. S. 1.

5
zum soziokulturellen Kontext der Militärdiktatur untersucht. Diese Annäherung basiert auf
der Hypothese, daß die genrezitären Besonderheiten der zu analysierenden Filme eine
interpretatorische Offenheit der Werke bedingen. Es wird angenommen, daß die in dieser
Arbeit durchzuführenden, semiotisch-orientierten Filmanalysen eine Technik des
uneigentlichen Erzählens offenbaren. Im Rahmen dieser Überlegungen würde eine
sozialkritische Botschaft erst durch eine zeitgenössische Kontextualisierung verständlich.
Ein Vorwissen über den soziologischen Hintergrund und die Institutionsgeschichte des
Landes ist somit für die Beurteilung einer ambivalenten Deutungsmöglichkeit ,visueller
Texte` unabdingbar. Aus diesem Grund macht es sich die Arbeit zur Aufgabe, einen
Überblick über die gesellschafts- und zensurpolitische Entwicklung Argentiniens zu geben.
Die Filme sind alle aus der ersten Phase des ,,Proceso de Reorganización Nacional"
gewählt, die als die ,härtere` Periode der Militärdiktatur angesehen wird und in den
filmwissenschaftlichen Untersuchungen argentinischer Experten wenig, bisweilen lediglich
negative Beachtung findet.
8
Der allgemeinen Behauptung, die den Produktionen jener Zeit
eine Abwesenheit jeglichen kritischen Potentials nachsagt, wird in dieser Arbeit
widersprochen. Da es sich bei dem gewählten Ausschnitt um einen verhältnismäßig kurzen
Zeitraum handelt und nicht auf eine entwicklungsreiche Zensurgeschichte wie etwa im
Franquismus zurückgeblickt werden kann, ist aufgrund der relativ geringen Anzahl von
Produktionen eine exemplifizierende Auswahl nicht möglich. Vielmehr soll anhand von den
sieben Filmen, denen in dieser Arbeit eine subtile und nonkonformistische
Botschaftsvermittlung zugeschrieben wird, die These einer genretheoretisch faßbaren
Systematik von Tarnmechanismen aufgezeigt werden. Bei den Filmen handelt es sich
ausschließlich um Produktionen von bedeutenden Regisseuren der argentinischen
Filmindustrie: ,,Crecer de golpe" (1977) von Sergio Renán, ,,La parte de león" (1978) und
,,Tiempo de Revancha" (1981) von Adolfo Aristarain, ,,La isla" (1979) und ,,Los miedos"
(1980) von Alejandro Doria, ,,El poder de las tinieblas" (1979) von Mario Sábato und ,,La
nona" (1979) von Héctor Olivera.
Eine Anregung für die Themenwahl dieser Studie war die filmwissenschaftliche
Annäherung an das südamerikanische Kino, die infolge eines Studienjahrs an der
,,Universidad del Cine" (FUC) in Buenos Aires möglich wurde. Dieser Aufenthalt gestattete
einen ersten Einblick in die zensur- und filmpolitische Geschichte Argentiniens und bot eine
Perspektive über die soziokulturelle Entwicklung des Landes im 20. Jahrhundert. Diese
8
Vgl. Sergio Wolff: El cine del Proceso und Maria de las Carreras de Kuntz: El cine político durante el Proceso.

6
Eindrücke führten zu der Produktion einer Videodokumentation über die Funktionsweise der
Filmzensur während des ,,Proceso de Reorganización Nacional".
9
Die in den Interviews mit
argentinischen Filmschaffenden neu aufgeworfenen Fragen und die bis heute grundsätzlich
sehr geringe wissenschaftliche Beachtung des argentinischen Kinos in Deutschland gaben den
Anstoß für die theoretische Analyse dieses spezifischen Phänomens.
10
Im Gegensatz zu der
filmischen Auseinandersetzung, die ihr Hauptaugenmerk auf die vermeintliche
Aussageintention des Filmemachers richtet, fundiert die wissenschaftliche Hypothese auf der
autorenunabhängigen Interpretierbarkeit des fertigen Werks.
Die Macher bestreiten, eine politische Kritik oder die offene Anklage der geschehenen
Verbrechen in ihren Werken intentional verarbeitet zu haben. Sie geben zu verstehen, daß ihr
Interesse lediglich darin bestand, eine Geschichte zu erzählen und die Geschehnisse ihrer
privaten Umwelt in Bilder umzusetzen.
11
In diesem Verhältnis berichtet Umberto Eco von
einer interessanten Erfahrung hinsichtlich der Psychologie der Kreativität: ,,Den kreativen
Prozeß verstehen heißt auch verstehen, wie bestimmte Lösungen des Textes durch serendipity
oder als Resultat unterbewußter Mechanismen zustande kommen."
12
Am eigenen Beispiel
berichtet er, woher die Detailbeschreibung des todbringenden Buches in ,,Der Name der
Rose" stammt. Es begann damit, daß er in seiner Hausbibliothek eine antike Schrift
wiederfand:
Ich inspizierte das Buch und fertigte meine Beschreibung an ­ und plötzlich wurde mir
klar, daß ich von neuem den Namen der Rose schrieb, nämlich die Beschreibung des
Buches, das William durchblättert. [...] Ich hatte das Buch vor mir, das ich in meinem
Roman beschrieben hatte. Es hatte viele Jahre in meinem Regal gestanden.
13
Den Regisseuren der kritischen Filmwerke kann man eine ähnlich ,,unerwartete
Entdeckung"
14
unterstellen, woraufhin eine ausschließliche Beschäftigung mit dem fertigen
Werk legitimiert erscheint. Der Unterschied besteht darin, daß es sich bei dem beschriebenen
Gegenstand in den Filmen nicht um ein vergessenes Buch im Bücherregal handelte, sondern
um die verdrängte Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in Argentinien.
9
,,Entrelineas ­ Die Botschaft zwischen den Zeilen", Regie: Rouven Rech, Buenos Aires, 2000.
10
Einige der wenigen interessanten filmhistorischen Auseinandersetzungen mit dem argentinischen Kino findet
man u.a. bei Peter B. Schumann: Handbuch des Lateinamerikanischen Films, Thomas Kirsch: Die Entwicklung
der argentischen Filmindustrie und Bettina Bremme: Movie-mientos.
11
In den Interviews mit dem Autor bestritten alle Regisseure eine direkte Referenz ihrer Werke auf die
psychischen und physischen Gewalttaten der Militärdiktatur.
12
Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. S. 164. (sic.)
13
Ebd. S. 165.
14
Deutsche Übersetzung für ,,serendipity".

7
II.
Ausführungen zur methodisch-thematischen Vorgehensweise
1.
Gliederung der Arbeit
Die Arbeit ist in zwei große Abschnitte gegliedert, wobei sich der erste mit der sozial-
und zensurpolitischen Entwicklung Argentiniens befaßt. Der zweite beinhaltet die
semiotischen Filmanalysen unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Genremerkmale.
Der erste Teil besteht sowohl aus einer kurzen historischen Erläuterung der
gesellschaftspolitischen Ereignisse als auch aus einer Darstellung des formalen
Enstehungsprozesses der Zensur. Zunächst erklärt sich aus den geschichtlichen Vorläufern
das Zustandekommen der staatlichen Feindbilder und der Ursprung der institutionalisierten
Normen im ,,Proceso de Reorganización Nacional". Im weiteren Verlauf dieses Kapitels
erfolgen eine genaue Situationsbeschreibung der gesellschaftlichen Vorgänge nach dem
Staatsstreich von 1976, eine Skizzierung der ­ offiziellen und inoffiziellen ­ staatlichen
Restriktionsmaßnahmen und eine Schilderung der Konsequenzen für die argentinische
Filmbranche.
Der zweite Teil ist einer formanalytischen Untersuchung der Filmbeispiele gewidmet,
wobei den detaillierten Filmbesprechungen eine Einführung in das Genre, dem sie zugehörig
sind, vorangestellt wird. Darin werden im Einzelnen die kanonisierten Merkmale sowie das
vermeintlich kritikübende Potential der Genretypen ausgestellt. Die Zuordnung der
unterschiedlichen Filme in ein Genre basiert auf ihrer Übereinstimmung mit den jeweiligen
genrezitären Konventionen: ,,La nona" als satirisches Komödienformat ­ ,,La parte del león",
,,Tiempo de Revancha" und ,,El poder de las tinieblas" als Beispiele des Film Noir ­ ,,La
isla", ,,Los miedos" und ,,Crecer de golpe" als dem klassischen Drama zugehörig.
In den einzelnen Formanalysen soll schließlich erörtert werden, welche
erzählästhetischen Besonderheiten sich die Filme zu eigen machen, um innerhalb der Grenzen
des herkömmlichen Genrefilms eine interpretative Offenheit anzubieten. Ziel dieser
Arbeitsweise ist es, spezifische Aspekte des Phänomens der Umgehungsstrategien in einen
Sinnzusammenhang mit genretheoretischen Überlegungen zu bringen.
2.
Methodik
2.1.
Analytische Recherche und Rahmenbedingungen
Die historischen Fakten und literarischen Quellen wurden zum einen mittels intensiver
Recherchearbeit in den argentinischen Staatsarchiven des ,,Instituto Nacional del Cine"
(INCCA) und der ,,Biblioteca Nacional" sowie aus den Bibliotheken des ,,Museo de Cine",

8
der ,,Universidad del Cine" (FUC) und der ,,Universidad de Buenos Aires" (UBA)
zusammengetragen. Die relevanten Gesetzestexte können in den Veröffentlichungen des
,,Boletin Oficial de la República Argentina" im ,,Sede Central" des Staatsarchivs in Buenos
Aires nachgelesen werden. Ergänzende Informationen über Repressionsmaßnahmen und
Arbeitsbedingungen wurden in Videointerviews
15
mit Beteiligten und Betroffenen des
Zensurprozesses erarbeitet. Bei den Zeitzeugen handelt es sich um namhafte Persönlichkeiten
aus der argentinischen Filmlandschaft: Aída Bortnik (Drebuchautorin), Manuel Antín
(Regisseur, ehemaliger Leiter des Filminstituts von 1983-1989), Adolfo Aristarain (Regisseur
und Drehbuchautor), Héctor Olivera (Produzent und Regisseur), Sergio Rénan (Regisseur und
Darsteller), Alejandro Doria (Regisseur), Octavio Getino (Film- u. Fernsehwissenschaftler,
Drehbuchautor, Leiter des Zensurinstituts im Jahr 1974) und Mario Sábato (Regisseur).
Diese Gespräche waren notwendig, um die empirische Grundlage der Arbeit zu
festigen, denn nur wenige Dokumente der Zensurbehörde entgingen nach Beendigung der
Militärdiktatur im Jahre 1983 dem Reißwolf und fanden im Zuge der Auflösung der ,,Ente de
Calificación Cinematográfica" den Weg in die zuständigen demokratischen Behörden. Weder
Staatsarchiv, Filminstitut oder Filmmuseum, noch die zahlreichen Filmbibliotheken konnten
erschöpfend Auskunft über den Verbleib der offiziellen Akten geben. Alle verbliebenen
Dokumente scheinen letztendlich mit der Neustrukturierung und Umbenennung des ,,Instituto
Nacional de Cine" (INC, heute INCAA) im Jahre 1990 abhanden gekommen zu sein.
16
Dementsprechend gibt es weder Informationen aus Sitzungsprotokollen der
Zensurkommission, noch liegen zensierte Drehbücher vor, die einen Vergleich mit dem
Original des Autors zulassen würden. Eine Rekonstruktion der staatlichen
Zensurmechanismen anhand historischer Schriftstücke ist deshalb undenkbar.
17
Ein weiteres
Hindernis für die wissenschaftliche Bearbeitung ergab sich bei der Zusammenstellung des
zugrundeliegenden Filmkorpus. Einige Produktionen liegen nicht als offizielle Videoedition
15
Anmerkung: Die Transkription der Interviews sowie alle Übersetzungen spanischsprachiger Quellen stammen
vom Autor dieser Arbeit. Den Originalzitaten sind die Übersetzungen direkt nachgestellt.
16
Diese Vermutung äußerte Octavio Getino, der in den ersten zwei Jahren der peronistischen Regierung unter
Menem (1989-1999) auch Direktor des Filminstituts gewesen ist und einige Dokumente in Form von Fotokopien
erhalten konnte.
17
Eine Anekdote am Rande: Im INCAA wurde zwar eingeräumt, daß ,,irgendwo" ein Mikrofilm mit
entsprechenden Informationen existiere, zur Zeit aber kein funktionsfähiger Sichtungsapparat vorhanden sei und
die Mikrofiches nicht außer Haus gegeben werden dürften. Der Apparat wurde auch nach mehrfacher Anfrage
während des gesamten Studienjahrs nicht instant gesetzt.

9
vor, weshalb teilweise die Regisseure zur Sichtung des Materials die letzte VHS-Abtastung
aus ihrem eigenen Privatbestand zur Verfügung stellten.
18
2.2. Theoretische
Ansätze
Die empirischen Erkenntnisse bilden im Verbund mit den folgenden theoretischen
Überlegungen eine Methodik zur Erörterung und Beschreibung des Phänomens filmischer
Umgehungsstrategien. In diesem Zusammenhang scheinen die Ergebnisse aus
literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, in denen bereits die Existenz und
Funktionsweisen von verborgenem Widerstand während des ,,Proceso de Reorganización
Nacional" aufgezeigt und erläutert wurden, von Bedeutung zu sein.
19
Die Einhaltung des
homogenen Diskurses bedeutete auch in diesem Medium die Begrenzung der kulturellen
Vielfalt, da die pluralistische Meinungsbildung in jedem Fall eine Gefahr für das traditionelle
Weltbild darstellte.
Die Untersuchungen basieren vornehmlich auf der Tatsache, daß sich die Kritik am
politischen Diskurs nicht in polemischer oder agitatorischer Weise darstellen darf. Die in
einer derart offenen Form geäußerte Meinung ist zumeist wirkungslos, denn sie entspricht
nicht der vorgegebenen, linientreuen Erwartungshaltung. Ein Zugang zum hegemonial
bestimmten Diskurs bleibt einem solchen Werk verwehrt und die Ausgrenzung erfolgt durch
ein vollständiges oder partielles Verbot. Eine nonkonforme Position muß erst Einlaß in die
staatlich diktierte Umgebung finden, um von innen heraus auf die Mißstände hinzuweisen,
ohne diese jedoch konkret zu benennen. Nach Auffassung der Politologin und Journalistin
Beatriz Sarlo bestand deshalb die Aufgabe der nonkonformen Schriftsteller in Argentinien in
einer Perspektivierung des oktroyierten Diskurses, dessen vereinheitlichende Botschaft in den
literarischen Erzählungen aus verschiedenen Blickrichtungen dargelegt und somit in seiner
Absolutheit relativiert werden sollte.
20
Ideologische Diskurse (und Diskurse im Allgemeinen)
bestünden demzufolge nicht ausschließlich aus dem durch das Regelwerk erlaubten, offen
Artikulierten, sondern zugleich aus den Leerstellen, die die Exklusion von Begriffen, die
Tabuisierung von Handlungen und das Vorenthalten von Information mit sich bringen.
21
Der
diskursive Begriffskorpus sei keinesfalls geschlossen und unverletzlich, sondern innerhalb
18
Anmerkung: Von jedem offiziell produzierten Film muß eine 35mm oder 16mm Kopie in der Cinemathek des
Filminstituts in Buenos Aires hinterlassen werden.
19
Vgl. u.a. in José Javier Maristany: Narraciones peligrosas, Jorgelina Corbatta: Narrativas de la guerra sucia en
Argentina, und Ficcion y política.
20
Vgl. Beatriz Sarlo: Política, ideología y figuración literaria. S. 43.
21
Ebd. S. 35.

10
seiner eigenen Normierung angreifbar.
Dadurch äußere sich eine Kritik nicht durch das
inhaltliche Füllen der Leerstellen, sondern durch den bloßen Verweis auf ihre Existenz. In
dieser Vorgehensweise sieht die Literaturwissenschaftlerin Francine Maciello die Möglichkeit
zur Fragmentierung des homogenen Diskurses:
A la luz de tal experiencia, la tarea de la crítica, entonces, era enseñar a los lectores a
descifrar mensajes sociales e identificar los discursos opuestos que estaban en
circulación en la Argentina.
22
(Im Licht dieser Erfahrung war also die Aufgabe der Kritik, dem Leser aufzuzeigen, wie
man gesellschaftliche Botschaften dechiffriert und oppositionelle Diskurse identifiziert,
die in Argentinien im Umlauf waren.)
Die Nutzung der marginalen Freiräume innerhalb des starren Ideologiekonstrukts
käme einem ,Fingerzeig` gleich, der auf die sozialen Mißstände deutet. Eine kritische
Botschaft vermittle sich hier weniger durch Handlung und Inhalt, sondern in erster Linie mit
Hilfe der Offenlegung jener restriktiven Modalitäten, die das Zustandekommen einer
begrenzten Kommunikation bedingen. Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, das
Phänomen der versteckten Ideolgiekritik auch für den Film beschreibbar zu machen. Die
Herangehensweise lehnt sich deshalb an den Foucaultschen Diskursbegriff an.
Der Mechanismus zur Auswahl von Diskursinhalten wird zunächst durch komplexe
Systeme der Einschränkungen bestimmt. Diese Einschränkungen finden ihren Ausdruck in
der Implementierung von Konventionen und Umgangsformen, die Foucault in seiner Rede zur
,,Ordnung des Diskurses" als Rituale bezeichnet:
Das Ritual definiert die Qualifikation, welche die sprechenden Individuen besitzen
müssen [...]; es definiert die Gesten, die Verhaltensweisen, die Umstände und alle
Zeichen, welche den Diskurs begleiten müssen; es fixiert schließlich die vorausgesetzte
oder erzwungene Wirksamkeit der Worte, ihre Wirkung auf den Adressaten und die
Grenzen ihrer zwingenden Kräfte.
23
Innerhalb dieser Qualifikationskriterien bewegen sich die geäußerten Gedanken und
verhandelten Gegenstände immer im Grenzbereich eines Diskurses. Die Aussage wird für den
analytischen Ansatz der Arbeit nutzbar, wenn man in diesem Zitat den Begriff ,,Ritual" durch
,,Genre" ersetzt. Auf diese Weise ergeben sich Möglichkeiten für eine Anwendung des
Diskursbegriffs auf die narrativen Muster, die am Verstehensprozeß von (visuellen) Texten
teilhaben. Dort kommt es gleichfalls zu einem Ausschlußverfahren, in dem auf bestimmte
Gestaltungsweisen und Thematiken zurückgegriffen wird. Im Rahmen eines filmtheoretischen
Ansatzes nennt der Filmwissenschaftler Peter Wuss diesen Vorgang der Genrebildung
22
Francine Masiello: La Argentina durante el Proceso. S. 21f.

11
,,Stereotype zweiter Ordnung", denen er als Merkmal vor allem die Schaffung von
,,spezifischen Formengut" und ,,unverwechselbaren Wirkungsstrategien" zuschreibt.
24
Diese je nach Genre divergierenden Ausdifferenzierungen tragen dazu bei, daß die
Aussage eines Textes mittels seiner charakteristischen Umgebung eindeutig rezipierbar und
verstehbar wird. Einige theoretische Ansätze sehen in dieser Genrebildung und ­nutzung eine
Plattform für die Ausstellung von ideologiekonformen und systemstützenden Idealen einer
Gesellschaft.
25
Im Verhältnis zum herrschenden Diskurs einer Staatsordnung bedeutet diese
These eine Bestätigung der vorhandenen Machtverhältnisse.
Dieser theoretische Ansatz verweilt jedoch nur an der genrezitären Oberfläche der
Filme, denn einerseits evoziert allein die Auswahl eines Genres ideologiekritische Tendenzen:
,,Genre is seen as a balancing act between alternate possibilities, rather than as the
construction of a logical syllogism."
26
Anderseits führt auch der flexible Umgang mit
Konventionen zu einer genreinternen Hinterfragung der bestehenden Normen, was sich im
unkonventionellen Gebrauch der gestalterischen und typologischen Mittel einer Filmart
ausdrückt.
Diesem narrativ-ästhetischen Vorgang liegt zugrunde, was Barry Keith Grant eine
,,ideological tension"
27
nennt. Eine Spannung, die aus dem Wechselspiel eines scheinbar
konformen Einfügens in den traditionellen Ritus und der Implementierung genrezitärer
Brüche herrührt:
It is these films are said to reveal ,,cracks" or ,,fissures" in their narrative and in their
articulation of what is normally presented as the seamless, calm surface of bourgeois
illusionism. The genre films that work in this manner gain considerably from their very
nature as generic instances, from their positions within clear traditions, for it is precisely
their conventionally conservative generic qualities that ,,anchor" the potentially
subversive elements.
28
Dieses Element der ,,ideologischen Spannung" soll in der vorliegenden Arbeit mittels
der Begrifflichkeit der ,,Genredialektik" gefaßt werden. Dieser Begriff umfaßt den Lern- und
Verstehensprozeß in bezug auf eine genrezitäre Variantenbildung, die im zu untersuchenden
Gegenstand eine ideologische Kritik offenkundig macht. In Verbindung mit dem
23
Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. S. 27.
24
Peter Wuss: Filmanalyse und Psychologie. S. 313ff. Die ,,Stereotype erster Ordnung" verortet Wuss in seinem
filmtheoretischen Konzept auf der Handlungsebene des Textes.
25
Vgl. u.a. in Jörg Schweinitz: `Genre´ und lebendiges Genrebewußtsein. Zu beobachten ist dies sicherlich am
prägnantesten anhand der ,,hollywoodschen" Produktionen. Die Mayor-Filmen, bei denen es sich fast
ausschließlich um Genrefilme handelt, sind immer um eine ,,political correctness" bemüht sind und stehen
thematisch ganz im Zeichen der amerikanischen Ideologie.
26
Thomas O. Beebee: The Ideology of Genre. S. 256.
27
Siehe Barry Keith Grant: Experience and meaning. S. 119

12
soziokulturellen Umfeld können sich die ,,Risse" und ,,Spalten" in der Narrativik zu
indirekten Verweisen auf die Fehlbarkeit des bestehenden gesellschaftlichen Diskurses
formieren. Dergestalt vermittelt sich die Kritik in der ambivalenten Charakterzeichnung von
Figuren oder den metaphorischen Konnotationen, die die realsozialen Ängste und Emotionen
umschreiben und dadurch in den oberflächlich genretreuen Werken eine semantische
Doppeldeutigkeit anlegen. Die Verstehbarkeit einer (verdeckten) Mitteilung ist dabei immer
abhängig von einer Kontextualisierung der Handlung.
Eine Einbindung der pragmasemiotischen Filmtheorie von Hans J. Wulff, die von der
sprachwissenschaftlichen Tradition Roman Jakobsons und dessen These eines notwendigen
Übersetzungsprozesses bei der Textbetrachtung ausgeht, erscheint in diesem Zusammenhang
als vielversprechend. Der Übersetzungsprozeß werde durch den streng strukturierenden
Charakter des Films hervorgerufen, der sich zwar nicht analog zum sprachlichen Formenbau
gestaltet, aber im Grunde auf die hermeneuthisch basierte Semiotiktheorie zurückgeführt
wird. In dieser Analyse greift Wulff auf den Begriff des ,,res intelligibilis"
29
der klassischen
Zeichenlehre zurück, der die strukturierte Beziehung zwischen dem Signifikant
(Bedeutungsgeber) und dem Signifikat (Bedeutungsträger) bzw. den daraus resultierenden
Verstehensprozeß bezeichnet: ,,Analysen in diesem Sinne sind Übersetzungen, die dem
nachspüren was das Intelligible an einem Film ist und was die Bedingungen der
Verstehbarkeit sind."
30
Diese grundsätzlichen Aussagen sind bedeutend für die Erläuterung
von Umgehungsstrategien in Filmwerken, denn bei diesen Techniken handelt es sich um
strukturierte Botschaften, die von einem bestimmten Zuschauerkreis entdeckt und übersetzt
werden können bzw. sollen. Die Grundvoraussetzung für das Gelingen eines solchen Aktes ist
in erster Linie die Existenz eines ,visuellen Textes`, den der Film mittels semantischer
Geschlossenheit und pragmatischen Situationsbindbarkeit kreiert und in einen sozialen
Kontext einbindet. Die Verstehbarkeit eines Textes kann nicht abgelöst vom
gesellschaftlichen Umfeld interpretiert werden, aus dem er Stoffe und Themen rekrutiert:
Mittel und Formen selbst lassen sich nicht festschreiben, ihre Leistung ist immer
gebunden an den Kontext und an die Aktivität des aussagenden oder aneignenden
Subjekts. Keinem filmischen Mittel und keiner filmischen Ausdrucksform wohnt eine
Bedeutung oder Funktion per se inne, es kann in anderer Umgebung in anderer Weise
oder auch gar nicht signifizieren.
31
28
Ebd. S. 120f.
29
Hans J. Wulff: Darstellen und Mitteilen. S. 14.
30
Ebd.
31
Ebd. S. 25

13
Die fraglichen Filme aus der Zeit der Militärdiktatur folgen scheinbar den
traditionellen Form- und Stilmustern. Außerdem brechen sie nicht mit den konventionellen
Normen des herkömmlichen Erzählkinos und brillieren ebensowenig im Umgang mit
innovativen Repräsentations- oder Montageformen. Unter diesem Aspekt sind sie dem
Rezipienten auf den ersten Blick schnell zugänglich. Um einen vollkommen gelungenen
Kommunikationsprozeß herbeizuführen, ist es wichtig, daß ,Autor` und ,Leser` über den
selben sozialen Hintergrund verfügen, denn ,,der Film greift stofflich auf immer-schon
Interpretiertes zurück, auf kulturelle Gegenstände und Überzeugungssysteme."
32
Diese
Aussage bekräftigt die Notwendigkeit einer Darstellung der gesellschaftpolitischen
Entwicklung Argentiniens, denn das Einbringen von thematischen Anspielungen und
stofflichen Bezügen kann einen Ausschluß aus dem Verständnisprozeß des Textes bewirken.
Die Betrachtung spezifischer Themen und deren erzählerischen Gestaltung sollen Aufschluß
darüber bringen, welchen Einfluß und Verdienst die Kontextualisierung bei einer gelungenen
Zensurumgehung hat.
3.
Medienzensur ­ ein Definitionsansatz
,,Ein Schriftsteller lebt mit der Zensur wie ein
Kranker mit dem Krebs, ein Trinker mit dem Appetit
auf Alkohol, ein Reicher mit Geld und ein Armer
mit knurrendem Magen. Ohne Zensur wäre die Welt
in Unordnung."
Ota Filip, Schriftsteller
33
Das angeführte Zitat läßt die Zwiespältigkeit und Mannigfaltigkeit an Interpretationen
und Emotionen erahnen, die mit dem Begriff der Zensur behaftet sind. Seit
Menschengedenken wird versucht, auf Meinungen und Äußerungen, die den sozialen und
moralischen Gegebenheiten in einer festen Gesellschaftsordnung widersprechen, Einfluß zu
nehmen oder sie vollständig zu unterdrücken. Besonders im Zeitalter der Massenmedien
erlangte die Zensur einen prägenden und charaktergebenden Status ­ entwickelte sich ihre
Ausübung zu einer wichtigen Säule der Macht in totalitär geführten Staatssystemen.
34
Grundsätzlich ist zu sagen, daß Zensur immer die Aufgabe erfüllt, eine machtausübende
32
Ebd. S. 26
33
Zitiert nach Peter Dittmar: Lob der Zensur. S. 17
34
Auch in demokratischen Staaten trifft man bisweilen auf die Tendenzen einer institutionellen Selbstzensur der
Filmindustrie, wie beispielsweise der ,,Motion Picture Production Code" von 1922, der bis 1968 Gültigkeit
besaß. In der Zeit des kalten Krieges wandelte sich die zu angeblich pädagogischen Zwecken eingerichtete
Kontrolle gegen die marxistischen Tendenzen in der ,,Hollywood"-Gesellschaft und es kursierte sogar
Verbotslisten mit Namen von Schauspielern und Regisseuren.

14
Gewalt moralisch zu unterstützen und oppositionelle Ansichten zu verhindern oder zumindest
zu unterdrücken.
Etymologisch geht der Begriff auf die ,,Censores" zurück, bei denen es sich um
Staatsdiener des römischen Reiches handelte, die ab 366 v. Chr. Vermögensschätzungen und
die Musterung der Bürger, den sogenannten Census, durchführten. Im Laufe der Jahre
erweiterte sich jedoch ihr Aufgabengebiet, so daß sie auch Verstöße gegen die nicht
schriftlich fixierten Normen der antiken Gesellschaft ahndeten.
35
Die Geschichte ist gespickt mit unzähligen Berichten über Zensurfälle: Von Galileo
Galilei, als Beispiel kirchlicher Zensur, bis hin zur staatlich verordneten Bücherverbrennung
der deutschen Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert. Eine Aufzählung aller Beispiele einer
engstirnigen Geisteshaltung würde an dieser Stelle zu weit führen. Augenfällig ist allein die
Tatsache, daß moralisierende und konservative Sittenwächter sich schon immer jener
Techniken zur Wahrung ihres eigenen Ordnungssystems bemächtigt haben. An dieser Stelle
ist es jedoch angebracht, den Begriff der Zensur genauer einzugrenzen, da in manchen
wissenschaftlichen Untersuchungen der Umgang mit der Begrifflichkeit die nötige
Trennschärfe vermissen läßt und leichthin jede Art von Meinungseinschränkung als
Zensurmaßnahme eingeordnet wird.
36
Ein unbestreitbarer Ansatzpunkt ist, daß man
Auswirkungen jeglicher Zensur in bezug auf ihre ideologische, religiöse wie auch
wirtschaftliche Tragweite kaum unabhängig voneinander beurteilen kann. Anders verhält es
sich jedoch mit den Dispositiven, die diese zensierenden Praktiken ausüben. Allzu häufig
wird institutionelle und vom Staatsapparat auferlegte Zensur mit einer durch ökonomische
Faktoren eingeschränkten oder nicht ausführbaren Meinungsfreiheit gleichgesetzt.
37
Es ist
jedoch unumgänglich, die informellen von formellen Zensurmaßnahmen
38
zu unterscheiden
und in ihren Auswirkungen zu trennen.
Eine durch wirtschaftliche und distributive Faktoren gelenkte Zensur ist
selbstverständlich nicht zu verharmlosen, denn auch sie kann zur totalen Verstummung
oppositioneller und marginaler Ideologien in einem Gesellschaftssystem führen. Jedoch sind
die Mittel zur Veröffentlichung von Meinungen breiter gefächert und die rechtlichen
Möglichkeiten zur Durchsetzung von differierenden Grundhaltungen in einem zwar
kapitalistischen, aber dennoch rechtsstaatlichem System eher gegeben als in einer totalitären
35
Peter Dittmar: Lob der Zensur. S. 32.
36
Vgl. Gabrielle Knetsch: Die Waffen der Kreativen. S. 23f.
37
Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Macht und Ohnmacht der Zensur.
38
Vgl. Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. S. 118.

15
Ordnung, in der eine formelle Staatszensur in der Regel konstitutionell verankert ist. In einem
solchen System wird ein Künstler, bzw. jeder Bürger, schon in seinen Grundrechten auf eine
freie Meinungsäußerung beschnitten oder, um es deutlicher auszudrücken: Der Mensch als
solcher wird in seinem Tun und Denken begrenzt und nimmt oft, wenn er sich dieser
staatlichen Eingrenzung widersetzt, die Gefährdung seines Lebens in Kauf. Eine informelle
Zensur in der Demokratie wird dahingegen von ökonomisch einflußreichen Gruppierungen
mittels juristisch legaler Maßnahmen ausgeübt, die im Normalfall nicht die Beschneidung der
individuellen Menschenrechte des Einzelnen beeinträchtigt ­ wobei jedoch von einer
genaueren, moralischen Wertung jenes Umstandes in dieser Arbeit Abstand genommen
werden soll.
39
Die Definition des Zensurbegriffs, der dieser Untersuchung als Arbeitsvorlage
zugrunde liegt, lautet wie folgt:
Unter Zensur ist der Eingriff des Staates oder einer in seinem Auftrag handelnden
Behörde zu verstehen, die entweder das Recht beansprucht, jede Veröffentlichung
vorher zu prüfen (Präventiv- oder Vorzensur), oder die nach der Publikation
Verbreitungsverbote oder die Beschlagnahme des ganzen Werkes oder Teile
(Repressiv- oder Nachzensur) anordnen kann.
40
Eine weitere Schwierigkeit erfährt die Definition des Zensurbegriffs durch die Frage
nach den zu zensierenden Werten, die innerhalb moralischer, religiöser oder ideologischer
Aspekte liegen können. Jedoch vereinfacht sich dieser Umstand wesentlich, betrachtet man es
als vorausgesetzt, daß eine Änderung in nur einem der herausgestellten Punkte gleichzeitig
einen Wechsel in den beiden übrigen Sozialfeldern beinhaltet. Hierin wird die von Diktaturen
angesehene Notwendigkeit erkenntlich, eine Zensur ausüben zu wollen. Da es sich meist um
konformistische und konservative Staatsordnungen handelt, die keinerlei Wert auf
Änderungen in ihrem nationalen Gefüge legen, müssen sie sich gegen von ,,außen"
hereingetragene Ideen mittels eines konstitutionellen Apparates zur Wehr setzen. Erklärbar
wird daher die oftmals sehr arbiträre Vorgehensweise innerhalb des Systems, da sich mit
dieser Willkür ein enormer Handlungsspielraum für die ausübende Gewalt ergibt.
Gleichzeitig werden die Verunsicherung und die Tendenz zur Selbstzensur bei den
schaffenden Künstlern gefördert.
39
Man beachte nur die Chancen und Problematiken, die sich aus der scheinbaren outlaw-zone Internet ergeben.
Hier ist es möglich, seine Meinung einer riesigen Öffentlichkeit publik zu machen, natürlich nur unter der
Voraussetzung, daß sowohl der Kommuniziernde als auch der Rezipient einen Zugriff auf die entsprechenden
technischen Mittel haben. Doch in einem totalitären System kann auch den mündigen Bürgern ein freier Zugang
diesen Foren verwehrt werden, wie beispielsweise durch die Sperre des Worldwideweb und der Kontrolle
eingehender bzw. ausgehender Emails in einigen Staaten geschieht.
40
Peter Dittmar: Lob der Zensur. S. 32.

16
Nachdem ersichtlich ist, welches die ideologischen Grundtendenzen einer offiziellen
Zensur sind, müssen nunmehr ihre strategischen Angriffsziele definiert werden, d.h. die Frage
geklärt sein, gegen welche Bedeutungsträger sich die Zensur richtet.
Hier läßt sich mittels der Erfindung Gutenbergs
41
und dem Aufkommen der
Massenmedien ein zeitlicher Schnitt für den Begriff der Zensur vollziehen, denn erst zu
diesem Zeitpunkt wird der Zugriff auf Informationsmittel auch für einen größeren
Bevölkerungsanteil möglich. Grundvoraussetzung war in diesem Fall noch das Erlernen eines
alphabetischen Zeichensatzes, was zunächst eine Hürde in der universellen Verbreitung von
Botschaften war. Der immer schnellere und einfachere Informationszugang im Zuge der
Entwicklung von Film und Fernsehen verstärkte jedoch zunehmend den Drang zur
Auferlegung von einschränkenden Maßnahmen in autoritären Staatssystemen, damit ein
Diskurs gesteuert und als machterhaltendes Element genutzt werden kann.
41
Vgl. In: Werner Faustich: Grundwissen Medien. S. 31f.

17
III. Sozio- und zensurpolitische Entwicklung Argentiniens
In den folgenden Kapiteln werden die soziopolitischen Faktoren und entscheidenden
Prozesse in der staatlichen Zensurpolitik Argentiniens mit einem Fokus auf die einheimische
Kinoproduktion beleuchtet. Diese Erläuterungen geben Aufschluß über den gesellschaftlichen
Kontext und die zensurpolitische Entwicklung, die zum Staatsstreich von 1976 und dessen
unnachgiebigen Vorgehensweise gegen bestimmte ideologische wie auch kulturelle Sektoren
führten. Der ausgewählte Zeitraum umfaßt die Jahre von 1943 bis 1983. Dieser historische
Ausschnitt, der durch häufige militärische Interventionen in die Staatsführung geprägt ist,
beginnt mit dem Aufkommen der Peronistischen Bewegung und endet in der
Demokratisierung des Landes.
Die Staaten Südamerikas charakterisiert aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit die
Suche nach einer gesellschaftseinenden Identität und das Streben nach einem Gefühl
originärer Zusammengehörigkeit, was oft durch ein nationalistisches Denken geschaffen
wurde. Das Militär ist in diesem politischen Entwicklungsprozeß ein entscheidener
Bestimmungsfaktor, denn es verstand sich seit jeher als ,,Wächter des Patriotismus" und als
,,Garant der inneren Ordnung".
42
Zur Bildung dieses sozialen Artefaktes trug u.a. auch der
Einsatz der verschiedenen Kommunikationsmittel bei. Die stete Urbanisierung der
Gesellschaft und eine voranschreitende ,,Massensozialisation" führten dazu, daß eine
soziologische Identitätsfindung mittels der jeweils zugänglichen Medien stattfand.
43
Anhand dieser Feststellung soll nachgezeichnet werden, mit welchen Mitteln in den
einzelnen Epochen eine Einflußnahme auf das Filmschaffen erreicht wurde. Im Zentrum
dieses geschichtlichen Überblicks steht die politische Zensurentwicklung im argentinischen
Kino beginnend mit dem Militärputsch von 1943.
44
Der Einschnitt erscheint sinnvoll, da mit
diesem Ereignis eine neue soziopolitische Zeitrechnung in Argentinien beginnt ­ eine
nationale Veränderung, deren Auswirkungen im gesellschaftspolitischen Gefüge bis zum
letzten Militärputsch in den siebziger Jahren und noch weit darüber hinaus zu verspüren sind.
42
Vgl. Barbara Klimmek: Argentinien 1976-1983. S. 15.
43
Rodolfo César Maranghello: Narrativas peligrosas. S. 28.
44
Der erste Militärputsch, den die argentinische Nation über sich ergehen lassen mußte, fand im Jahre 1930 statt.
Die zweite Amtsperiode des demokratisch gewählten Präsidenten Yrigoyen wurde gewaltsam von General
Uriburu beendet, dessen Regierung Argentinien in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis mit dem
wirtschaftlich starken England brachte. Die sogenannte Zeit der ,,Década Infame" (,,ehrloses Jahrzehnt)
verursachte den ersten tiefen Bruch zwischen Arm und Reich im demokratischen Argentinien. Diese Periode war
zudem von Korruption und Wahlskandalen überschattet. Verschiedene militärische und demokratische

18
1.
Politische Vorläufer der Militärdiktatur von 1976
1.1.
Perón zum Ersten ­ Institutionalisierung der Zensur
Ein Staatsstreich beendete am 4. Juni 1943 die ,,Década infame". Die nachfolgende
Militärdiktatur hatte sich zum Ziel gesetzt, ihre ökonomische Abhängigkeit vom Ausland zu
beenden. Strikte Importbeschränkungen und hohe Einfuhrzölle sollten die
Binnenmarktproduktion stärken, wovon auch die einheimische Filmindustrie profitieren
sollte. Einer der eifrigsten Verfechter dieses staatlichen Protektionismus war Arbeitsminister
General Juan Domingo Perón, dem es gelang, um seine Person eine starke politische
Bewegung aufzubauen. Die sogenannten Peronisten gingen aus den Wahlen 1946 als
eindeutige Sieger hervor, doch der demokratisch errungene Wahlsieg konnte die
faschistischen Ansätze der peronistischen Politik nicht verdecken. Ein Hinweis auf diese
ideologische Tendenz waren u.a. die pompösen Massenkundgebungen auf dem Balkon des
Regierungsgebäudes ,,Casa Rosada" vor dem ,,Plaza de Mayo" ­ zugeschnitten auf nur eine
Person:
Todo preparaba el momento privilegiado de la recepción del discurso del líder que, al
apelar desde el ,,balcón" a sus ,,compañeros", incluía tanto una definición de su lugar,
más allá de las pasiones y de los conflictos, como del de quienes apoyaban y aceptaban
su dirección ­ la patria, el pueblo, los trabajadores ­ y de los enemigos, clasificados
como la antipatria y, como tales, excluidos del sistema de la convivencia, pues ,,a los
enemigos, ni justicia".
45
(Alles bereitete den privilegierten Moment für die Rezeption der Rede des Führers vor,
was, wenn er vom ,,Balkon" zu seinen ,,Kameraden" sprach, sowohl eine Definition
seiner Stellung einschloß, weit über Passionen und Konflikte hinausgehend, sowie die
Stellung derjenigen, die seine Führung unterstützten und akzeptierten ­ das Vaterland,
das Volk, die Arbeiter. Die Feinde wurden als Anti-Vaterländer abqualifiziert und als
solche, vom System des Zusammenlebens ausgeschlossen, denn ,,für die Feinde sollte es
nicht einmal Gerechtigkeit geben".)
In der systematischen Verfolgung antiperonistischer Intellektueller und
regimekritischer Künstler mittels inoffizieller Indexe offenbarte sich ebenso das repressive
Wesen der Regierung Peróns.
Die Berufung von Raúl Alejandro Apold als Leiter des
Staatsministeriums für das nationale Presse- und Informationswesen war zugleich der erste
Schritt zur Schaffung eines staatlich institutionalisierten Zensurapparates in Argentinien.
46
Apold, der als ,,Goebbels del peronismo"
47
oder ,,Zar" der argentinischen Kinoindustrie
bezeichnet wurde, achtete darauf, daß ,,[...] ni una sola línea en los diarios, ni una sola frase en
Regierungen lösten sich innerhalb kürzester Zeit ab. Vgl. Luis Alberto Romero: Breve historia
Contemporánea
de la Argentina.Vgl. Luis Alberto Romero: Breve Historia Contemporánea de la Argentina. S. 89ff.
45
Ebd. S. 155.
46
Vgl. Di Nublia: Historia del Cine Argentino II. S. 91.
47
Fernando Ferreira: Una historia de la censura. S. 126.

19
las radios, ni una imagen en la pantalla escapaba al atento control del Subsectretaría".
48
(,,[...]
nicht eine einzige Linie in den Tageszeitungen, nicht ein einziger Satz im Radio, nicht ein
einziges Fernsehbild der aufmerksamen Kontrolle des Staatsekretariats entging.") Alle
Massenmedien wurden auf Regierungskurs getrimmt, und auch Kundgebungen oder
Versammlungen konnten nur mit pro-peronistischen Inhalten gefüllt werden. Jegliche Art
Gegenöffentlichkeit oder Subkultur war aus dem argentinischen Alltag verbannt.
Die Filmbranche war einer persönlichen Zensur ausgeliefert, denn Apold verfügte
über die kompletten Rohfilmbestände und bestimmte als einziger die Zuteilung dieses
Materials an laufende Filmproduktionen.
49
Geschicktes logistisches Handeln ersetzte auf
diese Weise eine offizielle Zensurtätigkeit, wenngleich man offiziell lediglich die qualitative
Verbesserung der Produktionen als Motiv dieses Handelns vorgab. Diese Aussage wurde
gestützt von Protektionsmaßnahmen, wie Leinwandquoten, Bestimmungen für die
Vorführungsdauer und niedrige Mindestzuschauerzahlen, die die Kinotheater dazu
verpflichteten, mehr argentinische Filme ins Programm aufzunehmen.
50
Als sich 1951 kein
Erfolg dieser Maßnahmen einstellte, nutzte man die Gelegenheit zur Festigung des im Jahr
1937 ins Leben gerufenen ersten national gültigen Kontrollgesetzes.
51
Trotz dieser strikten Medienkontrolle und einer peronistischen Ideologisierung durch
Printmedien und Radio wurden Kinofilme nie als offensichtliche Propagandamittel eingesetzt:
[L]os propios productores alardearían en 1955, tras el golpe militar que derribó a Perón,
de no haber realizado jamás una sola película favorable al peronismo, hecho que ­a
excepción de la propaganda gubernamental efectuada en los noticiario­ era totalmente
cierto.
52
([D]ie Produzenten rühmten sich nach dem Staatsstreich gegen Perón im Jahr 1955
damit, nicht einen einzigen pro-peronistischen Film realisiert zu haben. Eine Tatsache,
die mit Ausnahme der Regierungspropaganda in den Nachrichtensendungen,
vollkommen der Wahrheit entsprach.)
48
Ebd. S. 145.
49
Der Engpaß in der Filmbeschaffung ergab sich aus dem Rohfilm-Embargo der USA nach dem Militärpusch
von ´43. Die neuen Machthaber verkündeten ihre Neutralität im Kriegsgeschehen und erst als letzte Nation
erklärte Argentinien Deutschland den Krieg.
50
Thomas Kirsch: Die Entwicklung der argentinischen Filmindustrie. S. 59.
51
,,[...]estableció que la filmación de obras editadas en el país que interpretaran ,,total o parcialmente asuntos
relacionados con la historia, las instituciones o la defensa nacional", debían someterse previamente a la
aprobación de una comisión formada por el Presidente de la Comisión Nacional de Cultura y el director técnico
del Instituto Cinematográfico Argentino." (,,[...] man veranlaßte, daß die im Land gefilmten oder montierten
Filme, die Themen behandelten, die ,,total oder teilweise mit der Geschichte, den Institutionen oder der
nationalen Verteidigung in Verbindung standen", durch eine Kommission geprüft würde, die aus dem
Präsidenten des Kultursekretariats und dem Direktor des Filminstituts bestand.") In: Carols E. Colautti: Libertad
de Expresión y Censura Cinematográfica. S. 16.
52
Octavio Getino: Cine Argentino. S. 38. Vgl. auch Di Nublia, Domingo: Historia del Cine Argentino II. S. 79.

20
Allerdings erreichte die Diktatur zumindest die Marginalisierung von
gesellschaftsnahen Konfliktthemen, denn ,,de los 32 estrenos nacionales de 1946, sólo 12
películas tuvieron algún punto de contacto temático con la Argentina."
53
(,,von den 32
einheimischen Premieren im Jahr 1946 besaßen nur 12 einen thematischen Berührungspunkt
mit Argentinien.")
1.2.
Die Militärs an der Macht ­ Politischer Kurs und nationale Filmzensur ab 1955
Die Zeit von 1955 bis 1966 war von schwer zu durchschauenden politischen
Verhältnissen gekennzeichnet, denn innerhalb weniger Jahre lösten sich mehrfach, in immer
kürzer werdenden Abständen, demokratische und militärische Regierungen ab.
54
Zunächst
kam es im November 1955 zum Sturz der wirtschaftlich und politisch unter Druck geratenen
peronistischen Regierung, woraufhin Präsident Juan Domingo Perón ins franquistische
Spanien flüchten mußte. Unter dem Namen der ,,Revolución Libertadora" initiierten die
Militärs die Wiederherstellung der orthodox-nationalen Identität und gingen mit extremer
Gewalt gegen den Peronismus und seine Anhänger vor.
Die Filmbranche traf die Rücknahme des staatlichen Protektionismus schwer, da dies
die Überflutung des Marktes mit nordamerikanischen Produktionen und eine Verdrängung
des argentinischen Films von den einheimischen Leinwänden mit sich brachte.
55
Außerdem
erließ man mit dem Verbot aller
[...] imágenes, símbolos, signos, expresiones significativas, doctrinas, artículos y obras
artísticas `que fueran o pudieran ser tenidas por lo que el decreto [Nummer 4.161 aus
dem Jahr 1956] llamaba ,afirmación ideológica peronista`[,]
56
([...] Bilder, Symbole, Zeichen, signifikanten Ausdrücke, Doktrinen, Artikel und
Kunstwerke`, die nach dem Dekret [Nummer 4.161 aus dem Jahr 1956] als ,Ausdruck
der peronistischen Ideologie` bezeichnet werden könnten[,])
erstmalig eine offizielle Verordnung zur ideologischen Kontrolle des Films seitens der
Staatsmacht. Nur zwischenzeitlich wurde mit der Neuformierung des ,,Instituto del Cine"
(INC) im Jahr 1957 auch eine uneingeschränkte Meinungsfreiheit garantiert. Doch schon bald
53
Fernando Ferreira: Una historia de la censura. S. 144
54
Eine detaillierte historische Darstellung der Ereignisse findet man bei Luis Alberto Romero: Breve Historia
Contemporánea de la Argentina. S. 179-231.
55
,,En 1956 se filmaron sólo 12 películas, frente a las 45 que se habían estrenado en 1954, y a las 43 de 1955.
Paralelamente aumentó la cantidad de filmes extranjeros, alcanzando éstos en 1957 el volumen más elevado
conocido hasta entonces [...]" (,,1956 wurden nur 12 Filme gedreht, gegenüber 45 im Jahr 1954 und 43 Filme im
Jahr 1955. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl der ausländischen Filme und erreichte 1957 die bis dahin höchste
Zahl überhaupt.") Octavio Getino: Cine argentino. Entre lo posible y lo deseable. 1998. S. 44.
56
Fernando Ferreira: Una historia de la censura. S. 181.

21
darauf wurde den internationalen und nationalen Produktionen erneut eine Prüfung ihres
Films durch das Filminstitut auferlegt.
Während der demokratischen Regierung Frondizis, die im Jahre 1958 der ,,Revolución
Libertadora" folgte, wurde dem ,,INC" eine Kommission aus Repräsentanten öffentlicher und
privater Einrichtungen ­ keiner von ihnen stammte aus dem kulturellen oder gar
kinematographischen Bereich ­ zur Seite gestellt. Erst zwei Jahre später wurden ungenaue
Normen formuliert, anhand derer die Kommission ihre Beurteilung ausrichten mußte. In
dieser Konstellation lag aber die ultimative Entscheidungsgewalt noch immer auf Seiten der
staatlichen Justiz.
57
Im Gegensatz zu diesen restriktiven Maßnahmen bedeutete der von der Regierung
Frondizis exerzierte, qualitativ wertende Protektionismus zu jener Zeit eine Stimulanz für die
einheimische Filmbranche.
58
Neben einer Verbesserung in Darstellung und Aufbereitung von
Inhalten, wie beispielsweise adäquaten Auseinandersetzungen mit dem Peronismus, die mit
den Polemiken kurz nach dem Sturz Peróns nicht zu vergleichen waren, wurde eine Reihe
junger Filmemacher zum experimentellen Umgang mit den ästhetischen Mitteln des Mediums
animiert.
59
Das daraus hervorgegangene ,,Nuevo Cine Argentino"
60
war in gewissem Maße
vergleichbar mit der Bewegung der ,,Novelle Vague" in Frankreich. Dieses ,,Neue
argentinische Kino" charakterisierte sich jener Zeit durch die abstrakte Zeichnung der
sozialen Umstände und durch eine experimentelle Handhabung der gestalterischen Mittel. Die
jungen Filmemacher gingen zumeist aus ,,Cineclubs" oder ,,Talleres de Cine" hervor,
sogenannten Kinowerkstätten, die schon seit Mitte der 50er Jahre hochwertige
dokumentarische Kurzfilme herstellten. Fernando Birri, Dokumentarfilmer und Gründer der
,,Escuela de Cine de la Universidad Nacional del Litoral, Santa Fe", war zu jener Zeit einer
der wenigen Regisseure, die diese Entwicklung in klare theoretische Gedanken faßte. Diese
Theorien wurden später von der Bewegung ,,Grupo Cine Liberación" aufgegriffen und
erweitert.
61
Erneute politische und wirtschaftliche Querelen, in deren Folge Frondizi zurücktreten
mußte und eine provisorische Übergangsregierung die Regierungsgeschäfte übernahm,
beendeten das Aufstreben der jungen Kinobewegung. In diesem Zeitraum wurde der Weg für
57
Vgl. Carlos E. Colautti: Libertad de Expresión y Censura Cinematográfica. S. 35ff.
58
Vgl. Domingo di Nublia: Historia del Cine Argentino II. S. 273ff.
59
Eine Information, die vor allem bei der Auseinandersetzung mit den Produktionen während des Militäregimes
an Bedeutung gewinnen wird.
60
Octavio Getino: Cine Argentino. S. 42.
61
Vgl. Peter B. Schumann: Handbuch des Lateinamerikanischen Films. S. 22ff. und Kapitel III.1.4 dieser Arbeit.

22
ein neues Zensurgesetz mit klarer ideologischer Ausrichtung geebnet.
62
Dieses Dekret wurde
noch vor der Amtsübergabe an den neuen Präsidenten Aturo Illia Ende 1963 ratifiziert. Es
bestimmte die Bildung des ,,Consejo Nacional Honrario de Calificación Cinematográfica"
(CNHCC) (,,Nationaler Ehrenrat zur Filmbeurteilung"), dem unter der Berücksichtigung von
,,la moral pública, de las buenas costumbres y la seguridad nacional"
63
(,,der öffentlichen
Moral, der guten Gewohnheiten und der nationalen Sicherheit") offiziell das Recht einzelner
Sequenzkürzungen zugesprochen wurde.
1.3.
Die Diktatur Onganías und die ,,Ente de Calificación Cinematográfica"
Im Jahr 1966 wurde die Regierung Aturo Illias durch General Onganía gestürzt und
die ,,Revolución Argentina" proklamiert, die sich vor allem das Zurückdrängen des in
Südamerika aufkeimenden sozialistischen Weltbildes zur Aufgabe machte. Hauptangriffsziel
waren die Universitäten, die seit dem Putsch von 1955 einziger Hort für einen alternativen
ideologischen Gedankenaustausch waren. Das Militär intervenierte in mehreren Fakultäten,
schloß Fachbereiche, kündigte den Dozenten sowie Professoren und forcierte eine strenge
soziale Kontrolle:
La censura se extendió a las manifestaciones más diversas de las nuevas costumbres,
como las minifaldas o el pelo largo, expresión de los males que, según la Iglesia, eran la
antesala del comunismo: el amor libre, la pornografía, el divorcio. Al igual que en el
caso de la Univesidad, venía a descubrirse que amplias capas de la sociedad coincidían
con el diagnóstico de los militares o de la Iglesia acerca de los peligros de la
modernización intelectual y con la necesidad de usar la autoridad para extripar los
males.
64
(Die Zensur verbreitete sich über die verschiedensten Äußerungen der neuen
Gewohnheiten wie Miniröcke oder langes Haar, die nach Ansicht der Kirche Ausdruck
des Bösen und Vorboten des Kommunismus waren: freie Liebe, Pornographie,
Scheidung. Genauso wie im Fall der Universität erkannte man, daß weite Teile der
Gesellschaft mit der Diagnose der Militärs oder der Kirche hinsichtlich der Gefahren
der intellektuellen Modernisierung übereinstimmten und die Notwendigkeit zum
Gebrauch der Autorität zum Herausschneiden des Übels erkannten.)
Diese Beobachtung könnte insofern aufschlußreich sein, als daß sie auf das
Einverständnis einer Mehrheit des argentinischen Volkes aufmerksam macht, mit dem später
auch die Desaparecidos während des ,,Proceso de Reorganización Nacional" hingenommen
wurden. Die Hörigkeit gegenüber der staatlichen Obrigkeit macht deutlich, wie tief im
62
In den Regionalwahlen von 1962 hatte die peronistische Partei einen fulminanten Sieg in den Provinzen feiern
können. Frondizi mußte unter dem Druck der Militärs aus dem Amt ausscheiden und es wurde ein neues
nationalistisches Kabinett eingesetzt. In den anschließenden demokratischen Wahlen, bei denen die peronistische
Partei jedoch wieder geächtet war, ging Aturo Illia als Präsident hervor
.
63
Carlos E. Colautti: Libertad de Expresión y Censura Cinematográfica. S. 41.

23
nationalen Bewußtsein der Drang verankert ist, sich einer autoritären Leitfigur unterzuordnen.
Der Film- und Fernsehwissenschaftler Octavio Getino erkennt: ,,El pueblo lo que quiere en
última instancia es a la gente que resuelva los problemas cotidianos y si ésto lo hace un
general, lo hace un demócrata o lo hace un corrúpto incluso, no importa [...]."
65
("Das Volk
will in letzter Instanz jemanden, der die alltäglichen Probleme löst und ob dies ein General,
ein Demokrat oder ein Korrupter macht, ist egal.")
In ihren Bemühungen um eine wirtschaftspolitische und soziale Stabilisierung des
Landes scheiterte das Regime jedoch ebenso wie seine demokratischen oder diktatorischen
Vorläufer. Die Hilflosigkeit der Regierung machte sich auch in der Filmpolitik bemerkbar, die
in der einheimischen Industrie keine entscheidenden Impulse zu setzen vermochte, sondern
auch hier ihren autoritären Kurs fortsetzte.
Ramiro de la Fuente, seit 1963 Direktor des ,,Consejo Nacional Honrario de
Calificación Cinematográfica", kämpfte im Namen der Kirche und der ihr nahestehenden
Einrichtungen für die Einhaltung aller moralischen und sittlichen Normen im argentinischen
Film. Dabei sah er sich im Konflikt mit einer Justiz, die immer noch die letzte Entscheidung
über die Rechtmäßigkeit einer Filmkürzung oder eines Verbotes fällte. Mit aller Macht setzte
sich de la Fuente dafür ein, daß die Zensur einen nahezu autonomen Status einnehmen
konnte:
La censura fue originada por [Ramiro de la Fuente, Anm. d. A.] un funcionario de un
gobierno militar. Se dedicaba a cortar en las peliculas todas las escenas relacionado al
sexo, que le parecía que podrían engañar la mente de los espectadores. Y él, para lograr
la ley que apoyara su trabajo, digamos, empezó a ordenar, a pegar todos los fragmentos
que había cortado. Entonces armó una película de aproximadamente una hora, en que se
solo veía escenas de sexo, pedazos de cuerpo y se la llevó al presidente de la República,
en ese momento Onganía y le dijo: "Mire, le quiero mostrar que es el cine argentino."
66
(Die Zensur wurde durch [Ramiro de la Fuente, Anm. d. A.] einen Funktionär der
Militärregierung eingeleitet. Er widmete sich dem Kürzen von erotischen Filmszenen,
die seiner Meinung nach den Verstand des Zuschauers verwirren könnten. Und um ein
Gesetz zu schaffen, das seine Arbeit unterstützen könnte, ordnete er die gekürzten
Fragmente. Daraus schnitt er einen etwa einstündigen Film, der nur Sexszenen und
entblößte Körperteile zeigte. Er brachte ihn zum Staatspräsidenten Onganía und sagte:
"Schauen sie, ich möchte ihnen zeigen, was das argentinische Kino ist.")
Die Präsentation dieser Aneinanderreihung von ,,entblößten Körperteilen" erfüllte
ihren Zweck. Die Zensurbehörde ,,Ente de Calificación Cinematográfica"
67
wurde geschaffen.
Ramiro de la Fuente stand ihr als Direktor vor. Diese Institution verfügte über die
64
Alberto Luis Romero: Breve historia contemporánea de la Argentina. S. 233.
65
Octavio Getino im Gespräch mit dem Autor.
66
Manuel Antín im Gespräch mit dem Autor.
67
Vgl. Kapitel III.1.3.1.

24
verfassungswidrige Befugnis
68
Filme zu kürzen und sogar zu verbieten, ohne eine zusätzliche
Prüfung durch eine rechtsstaatliche Instanz. Der Gesetzestext sah vor, moralische und
nationale Wertvorstellungen zu bewahren und jedes Werk auf seine weltanschauliche
Konzeption hin zu prüfen.
69
Colautti kommt in seiner rechtswissenschaftlichen Analyse zu
dem Schluß, daß die Normen ,,están deseñadas de modo tal, que permiten ejercer un control
ideológico sobre la producción y exhibición cinematográfica [...]".
70
(,,derart gestaltet sind,
daß sie eine ideologische Kontrolle über die Filmproduktion und ­exhibition ausüben.")
Die Schaffung eines so wirksamen Zensurapparates zu jenem Zeitpunkt war allerdings
auch auf die Entstehung einer Kinobewegung namens ,,Grupo Cine Liberación"
zurückzuführen.
Dieses Filmkollektiv verstand seine Arbeit primär als agitatorischen Beitrag
zur politischen Diskussion in Argentinien. Unter der Führung von Regisseur Fernando
Solanas und Co-Autor Octavio Getino begann die Bewegung 1966 mit den Dreharbeiten zum
Dokumentarfilmprojekt ,,La hora de los hornos", das 1968 fertiggestellt wurde.
71
Anknüpfend
an die Arbeiten und Theorien Fernando Birris (u.a. mit Filmzitaten aus ,,Tiré Dié") vertraten
die Macher eine anti-imperialistische, auf peronistischen Idealen
72
fußende Ideologie und
formulierten daraus das Dogma des ,,dritten Kinos". Das von ihnen propagierte Kino zielte
darauf ab, eine militante Bewegung auszulösen, um ein Kino der Revolution zu entfachen und
den Zuschauer vom passiven Betrachten zum aktiven Mitstreiten anzuregen. Um die
Zensurmaßnahmen umgehen zu können, erfolgte die Verbreitung daher nicht auf den
konventionellen Exhibitions- und Distributionswegen, sondern vollzog sich mittels privater
Kanäle. Auch die Vorführungen fanden nur im geheimen bei Gewerkschaftsversammlungen
und politischen Treffen statt.
73
Zum ersten Mal seit langer Zeit in der Geschichte Argentiniens
bildete sich auf diese Weise eine funktionierende Gegenöffentlichkeit.
74
68
Vgl. Carlos E. Colautti: Libertad de Expresión y Censura Cinematográfica. S. 60.
69
Einer der Hauptleidtragenden jener Tage war der Kult-Filmemacher Armando Bo, dessen kitschige
Erotikfilme, gespickt mit diversen Nacktszenen seiner Frau Isabel Sarli, ab Anfang der 60er immer auf ernsthafte
Probleme mit der moralisierenden Zensur stießen. Von der intellektuellen Kritik verlacht, von seinem Publikum
geliebt, nahm Armando Bo immer eine Ausnahmeposition in der argentinischen Filmindustrie ein. Vgl. Rodrigo
Fernandez u. Denise Nagy: La gran aventura de Armando Bo.
70
Vgl. Carlos E. Colautti: Libertad de Expresión y Censura Cinematográfica. S. 55.
71
Vgl. Informe por el Grupo Cine Liberación: La hora de los hornos.
72
Vgl. Juan Perón: Filosofía peronista.
73
Die Dezentralisation ging so weit, daß die Filmkopien von den einzelnen Organisatoren der Veranstaltung vor
Ort ,,zusammengestellt" wurden und daher unterschiedliche Versionen von ,,La hora de los hornos" in Umlauf
waren.
74
Nach Schätzungen sahen in dem besagten Zeitraum mehr als 100.000 Menschen ,,La hora de los hornos". Vgl.
Peter B. Schumann: Handbuch des lateinmerikanischen Films. S. 25.

25
Obwohl sich die Filme nicht in den üblichen Produktionsablauf einfügten und sich der
obligatorischen Sichtung durch das ,,INC" entzogen, kam es zu wiederholten Zwischenfällen
mit den ausführenden Organen der Zensurbehörde:
Cine Liberación experimentó en ese período repetidos secuestros de copias,
allanamientos de locales donde se exhibían sus películas, detenciones y prohibiciones.
La censura [...] no pudo sin embargo enfrentar el nuevo tipo de utilización que se estaba
dando al cine, en tanto aquélla se encuadraba en organizaciones relativamente
poderosas.
75
(Cine Liberación erfuhr in dieser Periode wiederholte Beschlagnahmungen von Kopien,
Hausfriedensbrüche in Orten, wo ihre Filme vorgeführt wurden, Festnahmen und
Verbote. Die Zensur [...] konnte jedoch nicht den neuen Gebrauch des Kinos aufhalten,
während dieser innerhalb der Körperschaft relativ mächtiger Organisationen stattfand.)
Das ,,dritte Kino" bzw. die ,,Grupo Cine Liberación" unterstützte auch die
peronistischen Bewegung, die sich seit Ende der 60er Jahre wieder auf dem Vormarsch
befand.
76
Es kam zu mehreren Arbeiteraufständen und studentischen Manifestationen, gegen
die die Militärs zwar mit Gewalt vorgingen. Sie konnten den politischen und ökonomischen
Umschwung jedoch nicht mehr aufhalten.
1.3.1. Das Gesetzesdekret 18.019 zum Einsatz der Zensurbehörde
Die ,,Ente de Calificación Cinematográfica" wurde am 25. März 1968 per
Gesetzesdekret Nummer 18.019 ins Leben gerufen und besitzt nach Andrés Avellaneda eine
hohe Ähnlichkeit mit den Bestimmungen zur Einrichtung der Zensurbehörde im
franquistischen Spanien.
77
Das Dekret behielt bis zur Demokratisierung des Landes im Jahre
1983 seine Gültigkeit bei und diente auch nach dem Putsch von 1976 als Fundament für die
Zensurentscheidungen während des ,,Proceso de Reorganización Nacional". Der Filmzensur
wurde erstmalig ein autarkes Entscheiden über mögliche Filmkürzungen oder Verbote
internationaler und nationaler Produktionen ermöglicht. Die Behörde bestand aus einem
Direktor ­ der über alleinige Entscheidungsgewalt verfügte ­ und zwei Co-Direktoren, die
jeweils von der Regierung ernannt wurden. Diesem dreiköpfigen Gremium wurde außerdem
eine Kommission mit beratender Funktion zur Seite gestellt, die aus folgenden 15
Repräsentanten bestand:
a) Un representante del Ministerio del Interior;
b) Un representante de Ministerio de la Defensa;
c) Dos representantes de la Secretaría de Cultura y Educación;
75
Octavio Getino: Cine argentino. S. 61
76
Es wurden u.a. Interviews mit Perón in seinem Madrider Exil gefilmt. Diese Aufnahmen dienten als
Grundlage für Dokumentarfilme, die in der politischen Arbeit zum Einsatz kamen. Vgl. Ebd.
77
Andrés Avellaneda: Censura, autoritarismo y cultura. S. 42.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783836644518
Dateigröße
978 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg – Medienwissenschaft, AV-Medienwissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
argentinien zensur diktatur film medienwissenschaft
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