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Migration und Behinderung

Heilpädagogik im interkulturellen Kontext

©2009 Wissenschaftliche Studie 98 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Migration und Behinderung sind Phänomene der menschlichen Natur, deren Begriffe vermutlich sehr unterschiedliche Assoziationen in der Gesellschaft wecken. Zwischen dem fremd aussehenden Migranten und dem körperlich beeinträchtigten Behinderten scheinen Welten zu liegen, die sich höchstens dann berühren mögen, wenn eine Person von beiden Erscheinungen betroffen ist. Als „doppelte Behinderung“ ließe sich dieser Umstand provokant bezeichnen. Doch tragen beide Phänomene keineswegs klare und trennscharfe Konturen. Vielmehr werfen ihre uneindeutigen Muster Fragen auf: Wann ist man eigentlich Migrant, Ausländer oder Mensch mit Migrationshintergrund? Wann ist man physisch oder psychisch geschädigt? Wann ist man Mensch mit Behinderung? Schließlich sind weder ein Migrationshintergrund noch eine Behinderung statische, mit dem Träger verankerte Eigenschaften, die per definitionem entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen. Wie sich einerseits ein migrierter Mensch in seiner Lebensgestaltung und gesellschaftlichen Partizipation behindert erleben kann, vermag sich andererseits eine körperlich beeinträchtigte Person unter Umständen vor allem als Fremder seiner kulturellen Umwelt empfinden. Die Relativität von Behinderung und die Diversität von Migration lassen schließlich beide Erscheinungen mitunter sehr nahe kommen. Denn: Auch Behinderung kann Kultur und Kultur eine Behinderung sein.
Die Bedeutungen von Kultur und Fremde für den Behinderungskontext stellen das zentrale Thema dieses Buches dar. Anhand der Betrachtung der Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund werden Zusammenhänge von Kultur und Behinderung erörtert und Konsequenzen für die Fachrichtung der Heilpädagogik analysiert. Der Anspruch dieser Untersuchung ist die umfassende und gerechte Beantwortung folgender Ausgangsfrage:
In welchem Maße werden Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland in ihrer personalen und sozialen Integration gestört und welche Folgen tragen die Erkenntnisse für das Verständnis von Behinderung und die Theorie und Praxis der Heilpädagogik?
Es wird hypothetisch angenommen, dass die ursprünglich nicht-deutsche Bevölkerung vor allen Dingen auf Grund soziokultureller Umstände in ihrer selbstbestimmten Lebensführung und gesellschaftlichen Partizipation eingeschränkt werden und somit Behinderungen erfahren. Kann diese Aussage belegt werden, ist Behinderung als ein Umstand zu begreifen, der nicht zwingend eine physische oder psychische […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Moritz Gomez Albornoz
Migration und Behinderung
Heilpädagogik im interkulturellen Kontext
ISBN: 978-3-8366-4436-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Diplomica Verlag GmbH, Hamburg, Deutschland, Fachstudie, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

2
Vorwort
Meine persönliche Verbindung zu der Migrationsthematik ist der Beweggrund, mich in
Form dieser Studie tiefgehender mit der Bedeutung von Migration und der Relativität
von Behinderung zu befassen. Als ich vor knapp fünf Jahren nach einem neunmonati-
gen Freiwilligendienst aus Santiago de Chile und mit einer gewissen Migrationserfah-
rung nach Deutschland zurückkehrte, hatte ich über einen längeren Zeitraum regelmäßig
die Münsteraner Ausländerbehörde aufzusuchen, um Formalitäten für die Einreise mei-
ner damaligen Freundin und heutigen Frau aus Chile zu klären. Von diesem subkulturel-
len Ort sind mir bis heute die Eindrücke in Erinnerung geblieben von den vielen ver-
schieden aussehenden und sprechenden Menschen, die in der stets angespannten Atmo-
sphäre der Wartesäle oft etwas nervös den Stapel an Dokumenten auf ihrem Schoss
durchblätterten, durch den Raum blickten und ihrem Aufruf entgegensahen. Auch die
vielen zähen Auseinandersetzungen zwischen den Mitarbeitern des Amts und den
Klienten an den Schaltern, die allseitig häufigen Gesten des Kopfschüttelns und Achsel-
zuckens, das Misstrauen, die gebrochenen Verständigungen und die emotionale wie
rechtsstaatliche Bedeutung von Herkunft und Nationalität sind mir fest im Gedächtnis
geblieben. Diese Begegnungen weckten in mir die Frage, die mich seitdem begleitete:
Was ist wirklich Behinderung? Diese Überlegung repräsentiert zugleich auch den Kern
dieser Studie.
Ich möchte den mir nahen Menschen danken, die mir mit geistigem Austausch und kon-
struktiven Diskussionen, Zuspruch und Kritik, Interesse und Ermutigung bei der Erar-
beitung dieses Buches beistanden. Besonderer Dank gilt Frau Schäper, Frau Hasenjür-
gen, Jan Keil, Niels Heimann, meiner Familie und vor allem Fernanda Gómez für all die
freundschaftlichen wie fachlichen Impulse, die ich sehr zu schätzen weiß.
Münster, im April 2010
Moritz Gómez Albornoz

3
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
5
2. Grundlagen
8
2.1 Migration
8
2.2 Behinderung
13
2.3 Heilpädagogik
17
2.4 Kultur und Interkulturalität
20
3. Die Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland 22
3.1 Migrationsspezifische Aspekte
22
3.1.1 Migrationshintergrund
22
3.1.2 Migrationsphasen
23
3.1.3 Identität
24
3.2 Persönliche Aspekte
26
3.2.1 Der Charakter
26
3.2.2 Emotionales Befinden
27
3.2.3 Kultur
28
3.2.4 Sprache
29
3.2.5 Ökonomische Lage
30
3.2.6 Gesundheit
31
3.2.7 Die Diagnose ,,Behinderung"
34
3.3 Juristische Aspekte
36
3.4 Aspekte alltäglicher Lebensfelder
39
3.4.1 Bildung
39
3.4.2 Erwerbstätigkeit
41
3.4.3 Wohnsituation
42
3.5 Soziale Aspekte
43
3.5.1 Sozialleben
44
3.5.2 Fremdenfeindlichkeit
45
3.6 Die erschwerten Lebensbedingungen von Menschen mit Migrationshintergrund
­ ein erstes Fazit
46

4
4. Wer ist behindert, wer wird behindert? ­ ein bio-sozio-kulturelles
Konzept von Behinderung
49
4.1 Die Behinderung des Anderen
49
4.2 Das bio-sozio-kulturelle Behinderungsmodell
54
4.2.1 Das Fundament des Modells
54
4.2.2 Definition von Behinderung und dem behinderten Menschen
56
4.2.3 Klassifizierung von Behinderung
57
4.2.4 Der ätiologische Hintergrund
58
4.2.5 Die Grenzen des Modells
61
4.2.6 Zusammenfassung
63
4.3 Wer ist wirklich behindert? ­ ein zweites Fazit
64
5. Heilpädagogik im interkulturellen Kontext
67
5.1 Die Barrieren der Heilpädagogik
67
5.1.1 Das Behinderungsverständnis
67
5.1.2 Die Individuumszentrierung
68
5.1.3 Das Erziehungsparadigma
69
5.1.4 Die Einzigartigkeit
70
5.2 Die interkulturelle Heilpädagogik
72
5.2.1 Grundlagen des Konzepts
72
5.2.2 Die Wesensbegründung
74
5.2.3 Der Auftrag
75
5.2.4 Das Nutzerprofil
76
5.2.5 Der Handlungsansatz
76
5.2.6 Zusammenfassung
80
5.3 Heilpädagogik für Menschen mit Migrationshintergrund ­ ein drittes Fazit
82
6. Schlussfolgerungen
86
Literaturverzeichnis
88

5
1. Einleitung
Migration und Behinderung sind Phänomene der menschlichen Natur, deren Begriffe
vermutlich sehr unterschiedliche Assoziationen in der Gesellschaft wecken. Zwischen
dem fremd aussehenden Migranten
1
und dem körperlich beeinträchtigten Behinderten
scheinen Welten zu liegen, die sich höchstens dann berühren mögen, wenn eine Person
von beiden Erscheinungen betroffen ist. Als ,,doppelte Behinderung" ließe sich dieser
Umstand provokant bezeichnen (vgl. Hohmeier 2003, S.24). Doch tragen beide Phäno-
mene keineswegs klare und trennscharfe Konturen. Vielmehr werfen ihre uneindeutigen
Muster Fragen auf: Wann ist man eigentlich Migrant, Ausländer oder Mensch mit
Migrationshintergrund? Wann ist man physisch oder psychisch geschädigt? Wann ist
man Mensch mit Behinderung? Schließlich sind weder ein Migrationshintergrund noch
eine Behinderung statische, mit dem Träger verankerte Eigenschaften, die per definitio-
nem entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen. Wie sich einerseits ein migrierter
Mensch in seiner Lebensgestaltung und gesellschaftlichen Partizipation behindert erle-
ben kann, vermag sich andererseits eine körperlich beeinträchtigte Person unter Um-
ständen vor allem als Fremder seiner kulturellen Umwelt empfinden. Die Relativität
von Behinderung und die Diversität von Migration lassen schließlich beide Erscheinun-
gen mitunter sehr nahe kommen. Denn: Auch Behinderung kann Kultur und Kultur eine
Behinderung sein.
Die Bedeutungen von Kultur und Fremde für den Behinderungskontext stellen das zent-
rale Thema dieses Buches dar. Anhand der Betrachtung der Lebenswelten von Men-
schen mit Migrationshintergrund werden Zusammenhänge von Kultur und Behinderung
erörtert und Konsequenzen für die Fachrichtung der Heilpädagogik analysiert. Der An-
spruch dieser Untersuchung ist die umfassende und gerechte Beantwortung folgender
Ausgangsfrage:
1
Im Sinne einer unkomplizierten Lesbarkeit des vorliegenden Buches werden in der Schreibweise nicht
immer männliche und weibliche Formen explizit genannt. Beide Geschlechter sind selbstverständlich
stets gemeint.

6
In welchem Maße werden Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland in ihrer
personalen und sozialen Integration
2
gestört und welche Folgen tragen die Erkenntnisse
für das Verständnis von Behinderung und die Theorie und Praxis der Heilpädagogik?
Es wird hypothetisch angenommen, dass die ursprünglich nicht-deutsche Bevölkerung
vor allen Dingen auf Grund soziokultureller Umstände in ihrer selbstbestimmten Le-
bensführung und gesellschaftlichen Partizipation eingeschränkt werden und somit Be-
hinderungen erfahren. Kann diese Aussage belegt werden, ist Behinderung als ein Um-
stand zu begreifen, der nicht zwingend eine physische oder psychische Schädigung des
betroffenen Individuums bedingt. Überdies träge die Heilpädagogik damit eine Verant-
wortung gegenüber Menschen mit Wanderungsgeschichte.
Um für die Auseinandersetzung mit der Fragestellung und den Behauptungen eine
transparente Basis herzustellen, werden eingangs die Grundbegriffe Migration, Behin-
derung, Heilpädagogik sowie Kultur und Interkulturalität definiert und erläutert (Kapitel
2). Die Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik
Deutschland stellen den Mittelpunkt des folgenden Kapitels dar. Untergliedert in fünf
Gesichtspunkte werden ihre subjektiven Lebenswirklichkeiten untersucht und hinter-
fragt, in welchem Maße Personen mit Wanderungsgeschichte behindert werden (Kapitel
3). Die Feststellungen dieser Erörterung zeigen auf, dass Desintegration, Einschränkung
und Benachteiligung nicht grundsätzlich in Verbindung mit körperlichen
3
Bedingungen
eines Menschen stehen. Behinderung wird gemeinhin jedoch an physische und psychi-
sche Beeinträchtigungen des Individuums geknüpft. Aus diesem Grund werden in Kapi-
tel 4 das traditionelle Behinderungsverständnis kritisch analysiert und Überlegungen für
eine differente, an biologischen als auch sozialen und kulturellen Aspekten ausgerichte-
te Betrachtung des Behinderungsphänomens dargelegt. Die Konzeption jenes Behinde-
rungsmodells löst zugleich kritische Überlegungen bezüglich der Strukturen der Heilpä-
dagogik als Institution der Behindertenhilfe aus und legt Barrieren der heilpädagogi-
schen Wissenschaft und Praxis offen. Auf dieser Grundlage basierend wird ein alterna-
tives Konzept einer interkulturell ausgerichteten und an Integration orientierten Heilpä-
2
Es werden die Begriffe der Integration und Desintegration für die Beschreibung der Zustände persona-
ler Einheit und sozialer Teilhabe eines Menschen verwendet. Auf eine Auseinandersetzung mit der Be-
zeichnung der Inklusion, ihrem Gehalt und dem Unterschied zu Integration wird in diesem Rahmen ver-
zichtet.
3
Der Begriff ,,körperlich" wird in dieser Studie nicht für die ausschließliche Bezeichnung der Physis des
Menschen verwendet sondern meint dessen gesamte Körperstruktur und -funktion und demzufolge Physis
und Psyche.

7
dagogik skizziert und schließlich seine Eignung für den Personenkreis der Menschen
mit Migrationshintergrund überprüft (Kapitel 5). Der Rahmen dieser Studie schließt
sich mit Schlussfolgerungen der gewonnenen Erkenntnisse in einem letzten Schritt (Ka-
pitel 6.)
Die Frage, wer wirklich behindert ist, stellt nicht nur in der hier geführten Auseinander-
setzung den zentralen Untersuchungsgegenstand dar sondern ist auch Schwerpunkt vie-
ler anderer Analysen und Diskurse innerhalb wie mitunter auch außerhalb der Heilpä-
dagogik. Dem Anspruch einer allgemeingültigen Beantwortung der Frage kann dieses
Buch selbstverständlich nicht gerecht werden. Jedoch ergeben sich aus der Untersu-
chung der Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund aufschlussreiche
Hinweise und praxisnahe Erkenntnisse für die genannte Fragestellung, die wiederum
der Wissenschaft und Praxis der Heilpädagogik zu Gute kommen.

8
2. Grundlagen
Die Begriffe der Migration, Behinderung, Heilpädagogik, Kultur und Interkulturalität
und deren Inhalte stellen das grundlegende Fundament einer tiefgründigen Auseinan-
dersetzung mit der Thematik dieser Studie dar und werden in diesem Abschnitt einfüh-
rend erörtert.
2.1 Migration
Wie der Handel, Kommunikation oder Fortpflanzung ist Migration als ein universales,
globales Phänomen zu verstehen, das zur Menschheitsgeschichte und zum Repertoire
des Menschseins gehört (vgl. Deutscher Bundestag 2000, S.18). Migration bzw. Wande-
rung ist der ,,Prozess der räumlichen Versetzung des Lebensmittelpunkts" (Oswald
2007, S.13) und somit eine physische aber immer auch psychische Grenzüberquerung
(ebd., S.14). Eine Wanderung hat ,,ökonomische, politische, soziale und persönliche
Gründe und Folgen" (Treibel 1999, S.225) und setzt sich nach Anette Treibel (1999,
S.20) aus den nachstehenden Aspekten zusammen:
1. Räumliche Aspekte (Binnenwanderung oder internationale Migration)
2. Zeitliche Aspekte (temporäre oder permanente Migration)
3. Ursache ( freiwillige oder erzwungene Migration)
4. Umfang (individuelle, kollektive oder Massenmigration)
Triebkräfte, die den Ausschlag für einen Ortswechsel geben, können unterteilt werden
in so genannte ,,push-factors", den Druckfaktoren, die vom Abwanderungsland ausge-
hen, und den ,,pull-factors", den anziehenden Faktoren des Aufnahmelands. Sie realisie-
ren sich vor allem in folgenden fünf Ebenen und ihrem Zusammenspiel:
1. Ökonomische Wanderungsfaktoren (z.B. individuelle wirtschaftliche Notlage)
2. Politische Wanderungsfaktoren (z.B. Bürgerkriege)
3. Gesellschaftliche Wanderungsfaktoren (z.B. eingeschränkte Religionsfreiheit)

9
4. Demografische Wanderungsfaktoren (z.B. Überangebot an Arbeitskräften)
5. Ökologische Wanderungsfaktoren (z.B. Naturkatastrophen) (vgl. Angenendt 2005,
,,Triebkräfte")
Migrationen treten in unterschiedlichen Formen auf. Die weltweit häufigste Wande-
rungserscheinung ist der Familiennachzug. Er realisiert sich v.a. im Nachzug der Ehe-
partner und Kinder der Migranten. Die zeitlich begrenzte, unbegrenzte oder saisonale
Wanderung zum Zwecke der Arbeit ist eine ebenfalls stark verbreitete Migrationsform.
In der Regel werden durch sie schlecht bezahlte und vom Aufnahmeland als unattraktiv
bewertete oder aber qualitativ besonders anspruchsvolle Arbeitsstellen gefüllt. Etwa
10% des globalen Wanderungssanteils stellt die Flüchtlingsmigration dar, bei der
Schutzsuchende binnen eines Landes oder in ein anderes Land migrieren. Eine vierte
Wanderungsform ist die nur schwer messbare irreguläre Migration in Form von gesetz-
widriger Einreise, illegaler Arbeit oder unrechtmäßigem Aufenthalt eines Migrierten.
Mit der zunehmenden Globalisierung von Markt und Kommunikation kann Migration
in der Gegenwart auch als ein Element der internationalen Arbeitsteilung verstanden
werden. Gleichzeitig verändern sich dadurch die traditionellen Formen der Migration.
Neben der üblichen Aus- und Einreisemigration vollziehen sich verstärkt Pendelwande-
rungen (vgl. Angenendt 2005, ,,Formen der Migration"; Weiss 2005, S.11-12).
In Anbetracht der Verschiedenheiten bezüglich ihrer Herkunft, dem Wanderungsanlass,
der Wertorientierung oder dem Lebensstil sind Menschen mit Migrationshintergrund
4
als eine sehr heterogene Gruppe zu bezeichnen (vgl. Belwe 2009, S.2).
Schätzungen zu Folge liegt der Anteil von Migranten an der Weltbevölkerung mit etwa
175 bis 185 Millionen Menschen bei zweieinhalb bis drei Prozent (vgl. Angenendt
2005, ,,Umfang der weltweiten Migration"). Doch wer über den Status eines Migranten
oder über einen Migrationshintergrund verfügt, ist international betrachtet nicht allge-
meingültig definiert. In Deutschland meint die Bezeichnung ,,Menschen mit Migrati-
onshintergrund" offiziell ,,
z
ugewanderte und in Deutschland geborene Ausländer, Spät-
aussiedler, eingebürgerte zugewanderte Ausländer sowie [...] Personen mit mindestens
einem zugewanderten Elternteil oder Elternteil mit ausländischer Staatsangehörigkeit"
(Belwe 2009, S.2). Der Begriff ,,Ausländer" meint nach deutschem Recht Personen, die
4
Die Bezeichnungen Migrationshintergrund, Migrationsgeschichte, Wanderungsgeschichte und Migrati-
onsbiografie werden in dieser Arbeit synonym verwendet.

10
keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die folgende Grafik verdeutlicht die Zu-
sammensetzung des Bevölkerungsanteils mit Migrationshintergrund in Deutschland:
Darstellung 1: Die Zusammensetzung von Menschen mit Migrationshintergrund (aus: Razum u.a. 2008
S.11)
Grob formuliert haben demnach Menschen mit Migrationshintergrund entweder persön-
liche Wanderungserfahrungen gemacht und gelten somit als Migranten oder sie sind
gewisse Nachkommen von Migranten. In Deutschland leben ca.15,3 Millionen Men-
schen mit Migrationsgeschichte bzw. knapp 19% der Bevölkerung (vgl. Destatis 2006a,
S.73-75). Etwa 16% der Menschen mit Migrationshintergrund sind in Deutschland ge-
boren und 84% (seit 1950) zugewandert. Der Anteil von Familien mit Migrationshin-
tergrund in Deutschland beträgt sogar 27,2%. ,,Jedes dritte Kind unter fünf Jahren
wächst heute in einer Familie mit Migrationshintergrund auf" (Wippermann/Flaig 2009,
S.3). Die räumliche Verteilung von Menschen mit Wanderungsgeschichte konzentriert
sich besonders auf die alten Bundesländer Deutschlands. So leben ca. 91% der Familien
mit Migrationshintergrund in Westdeutschland (vgl. Wippermann/Flaig 2009, S.3).

11
Die Geschlechterverteilung von Menschen mit Migrationsbiografie ist relativ ausgegli-
chen, entsprechend der Herkunftsländer fallen jedoch größere Unterschiede aus
5
.
Betrachtet man die Herkunft der zugewanderten Menschen und ihrer Nachkommen, so
stellt die Türkei mit 16,5% das häufigste Herkunftsland von Menschen mit Migrations-
hintergrund in Deutschland dar, gefolgt von Russland (6,2%), Polen (5,6%) und Italien
(5,0%) (vgl. BMI 2008, S.190-194). Folgende Grafik veranschaulicht die Verteilung
6
:
Darstellung 2: Herkunft von Menschen mit Migrationshintergrund 2006 (aus: BMI 2008, S.194)
Personen mit Migrationsgeschichte sind im Durchschnitt deutlich jünger als die in
Deutschland lebende Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Die nachstehenden
Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2006 belegen die
altersstrukturellen Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migrationshin-
tergrund in der Bundesrepublik:
5
So ist nach Angaben des BMI (2008, S.194) ein ,,überproportionaler Frauenanteil [.] bei Personen mit
ukrainischem, polnischem, rumänischem und russischem Hintergrund zu verzeichnen. Ein deutlich höhe-
rer Männeranteil zeigt sich dagegen bei der Bevölkerung afrikanischer, italienischer und griechischer
Herkunft."
6
Das Bundesministerium des Inneren differenziert in seinem Migrationsbericht aus technischen Gründen
der Datensammlung zwischen Menschen mit Migrationshintergrund im engeren und weiteren Sinn (vgl.
BMI 2008, S.188). Die dargestellte Grafik bezieht sich auf Menschen mit Migrationshintergrund im enge-
ren Sinn. Aus diesem Grund wird in der Statistik von 15,143 statt 15,3 Mio. Menschen mit Wanderungs-
geschichte ausgegangen.

12
Bevölkerung ohne Migrationshin-
tergrund (von 100 %):
Bevölkerung mit Migrationshin-
tergrund (von 100%):
Unter 5 Jahre:
3,5 %
7,6 %
Unter 45 Jahre:
50,5 %
70,2 %
45 bis unter 64 Jahre:
27,3 %
21,6 %
Über 65 Jahre:
22,3 %
8,2 %
Durchschnittsalter:
44,6 Jahre
33,8 Jahre
Darstellung 3: Altersstruktur von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund (vgl.: BMI 2008,
S.190f.)
Migration ist neben Geburten und Todesfällen ein maßgeblicher Faktor für die Bevölke-
rungsstruktur. Beispielsweise betrug 2007 die Zahl der Geburten- und Sterbefälle in
Deutschland zusammengerechnet 1,51 Millionen im Vergleich zu 1,3 Millionen Men-
schen, die über die deutsche Staatsgrenze zu- bzw. fortgezogen sind (vgl. Destatis 2008,
S.28). Diese statistischen Werte verdeutlichen die Bedeutung der Migration für die Zu-
sammensetzung der Gesellschaft und ihre Entwicklung. Doch dass zwischen ,,natürli-
cher" und ,,unnatürlicher" Bevölkerungsentwicklung differenziert und letztere proble-
matisiert wird, liegt vor allem an der historischen Entstehung und Durchsetzung des
Nationalstaatsgedankens seit dem 18. Jahrhundert, womit die Idee der Homogenität
eines Staates und ihres Volkes, Territoriums und ihrer Kultur gebar. Diese Entwicklung
kreierte künstliche Nationalitäten, Grenzen, Minoritäten und Majoritäten, schuf ,,natür-
liche" und ,,unnatürliche" Bevölkerung sowie exklusive Rechte, Pflichten und Positio-
nen. Legitimation hierfür war und ist der Glauben einer schicksalhaften Zusammenge-
hörigkeit, die es nunmehr zu bewahren gilt. Der Nationalstaatsgedanke verursachte
schließlich das Streben nach Reglementierungen der Wanderungsbewegungen zum
Schutze der Homogenität eines Staates, was das an sich so natürliche Phänomen der
Migration in eine kritische Stellung gebracht hat (vgl. Oswald 2007, S.55-59; Deutscher
Bundestag 2000, S.18-19)
7
.
Deutschland bekennt sich seit dem Jahr 2000 auch offiziell zu seiner Identität als Ein-
wanderungsland (vgl. u.a. Tucci 2008, S.200). Eine andere Feststellung scheint in An-
betracht der genannten Fakten auch kaum realitätsnah sein zu können. Zudem nimmt
7
Eine vertiefte Betrachtung der geschichtlichen Hintergründe des Zuwanderungsgeschehens in Deutsch-
land erscheint nicht existenziell für die Thematik dieser Studie und wird aus diesem Grund vernachläs-
sigt.

13
der Bevölkerungsanteil an Menschen mit Migrationshintergrund weiter zu in Folge der
Veralterung der Gesellschaft, einer allgemein rückläufigen Bevölkerungsentwicklung,
wachsender Geburtenrate von Kindern mit Migrationsgeschichte sowie einer Zuwande-
rungsquote, die mit vornehmlich jungen ausländischen Einwanderern die Zahl der fort-
ziehenden Bürger übersteigt (vgl. BMI 2008, S.15-17,29; Destatis 2009b, S.7; Grob-
ecker/Krack-Rohberg 2008, S.13f.). Demnach gewinnt Migration für die Bundesrepu-
blik Deutschland weiter an Bedeutung. Und damit zweifelsohne auch für die Heilpäda-
gogik.
2.2 Behinderung
Der Begriff Behinderung wird gemeinhin als Eigenschafts- und Vorgangsbeschreibung
im Sinne von behindert sein und behindert werden verwendet und setzt sich nach kon-
ventionellem Verständnis aus einer individuellen und einer sozialen Kategorie zusam-
men (vgl. Gröschke 2007, S.100-102). Nach Ulrich Bleidick (1999, S.15) basiert eine
Behinderung auf einer organischen oder funktionellen Schädigung, die Auslöser für
eine Beeinträchtigung der unmittelbaren Lebenswelt und der Störung der Teilhabe an
der Gesellschaft eines Menschen ist. Dabei realisiert sich eine Behinderung Emil Kobi
zufolge auf folgenden drei Ebenen (2004, S.113-115):
·
Behinderung auf der Objektebene ­ eine objektiv feststellbare Schädigung
·
Behinderung auf der Normebene ­ normative Ausgrenzung
·
Behinderung auf der Subjektebene ­ eine subjektiv erlebte Isolation
Der Behinderungszustand ist nach Kobi als ein psychosoziales Feld zu verstehen, das
sich aus dem entsprechenden Fremdbild und Selbstbild, den Normen und Hilfefaktoren
zusammensetzt.
Auf ähnlicher Grundlage ist die ,,International Classification of functioning, disability
and health" (ICF) als aktuelles, international anerkanntes Behinderungsmodell der
World Health Organisation (WHO) konzipiert. Das Modell setzt sich aus den zwei
Grundkomponenten ,,Funktionsfähigkeit und Behinderung" und ,,Kontextfaktoren" zu-
sammen. Erstere Komponente untergliedert sich in die Elemente ,,Körperfunktionen

14
und -strukturen" sowie ,,Aktivitäten und Partizipation". Die zweite Komponente wird
von ,,Umweltfaktoren" und ,,Personenbezogene Faktoren" gebildet. Folgende Grafik
veranschaulicht die Konstellation der ersten Grundkomponente:
Darstellung 4: Modell der ICF (nach Leyendecker 2005, S.20 aus Gröschke 2007, S,105)
Eine Behinderung tritt entsprechend des Modells der ICF dann ein, wenn eine dauerhaf-
te Beeinträchtigung der Körperstrukturen und -funktionen stattfindet, bei der persönli-
che Aktivität und Teilhabe an der Gesellschaft gestört werden. Kontextfaktoren beein-
flussen maßgeblich das Ausmaß der Behinderung. Alle Komponenten können sich posi-
tiv wie negativ auf die Ausprägung einer Behinderung auswirken (vgl. WHO 2005,
S.16-22).
Mit dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF ist es ein grundlegendes Anliegen der
WHO gewesen, die medizinische wie soziale Komponente einer Behinderung zu verei-
nen (vgl. WHO 2005, S.24f.). Doch auch wenn Gesellschafts- und Kontextfaktoren ein
weitaus größerer Stellenwert zukommt als in den vorangegangenen Modellen der WHO,
gelten Funktionsminderung und -schädigung des betroffenen Menschen nach wie vor
als Ausgangspunkt für individuelle und soziale Beeinträchtigungen. Unklar bleibt dabei
unter anderem, woran Schädigungen gemessen werden können und wo sich die Grenze
zwischen Diversität und Insuffizienz von Personenmerkmalen befindet.

15
Einen entsprechenden Gegenentwurf zu dem individuumszentrierten Konzept der WHO
stellt das soziale Behinderungsmodell der Disability Studies dar
8
, deren allgemeines
Motto lautet: ,,Behindert ist man nicht, behindert wird man" (Dannenbeck, 2007,
S.105). Der Fokus des Behinderungsdiskurses gilt dabei vordergründig den gesellschaft-
lichen Prozessen und weniger den gesundheitlichen Aspekten der Betroffenen. So wird
innerhalb der Disability Studies streng unterschieden zwischen der organischen Schädi-
gung (impairment) und einer Behinderung (disability). Während die gesundheitliche
Beeinträchtigung ein persönliches und gesellschaftsunabhängiges Problem darstellt, das
mitunter Schmerz, Frustration und Leid mit sich bringt, wird unter Behinderung das
Resultat negativer Zuschreibung von der Gesellschaft verstanden, das die Identität des
Betroffenen förmlich ,,kontaminiert" (vgl. Dederich 2007, S.46-47, 152-166). ,,Men-
schen werden nicht auf Grund gesundheitlicher Beeinträchtigungen behindert, sondern
durch das soziale System, das Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet"
(Waldschmidt 2005, S.18).
Doch auch das soziale Behinderungskonzept der Disability Studies scheint Einseitigkei-
ten aufzuweisen. So bleibt beispielsweise zu hinterfragen, inwiefern auch eine gesund-
heitliche Schädigung den Betroffenen unmittelbar behindert und weshalb trotz des Fo-
kus' auf gesellschaftliche Umstände überhaupt eine körperliche Beeinträchtigung der
Behinderung vorausgesetzt wird (vgl. u.a. Waldschmidt 2007, S.58).
Die Betrachtung der Modelle der WHO und der Disability Studies als Auszüge aus ei-
nem weiten Spektrum an Behinderungskonzepten verdeutlicht, dass sich das Phänomen
der Behinderung nicht universell und eindeutig begründen lässt sondern aus verschiede-
nen Blickwinkeln sehr unterschiedlich aufgefasst werden kann. Die verschiedenen An-
sätze zur Erklärung von Behinderung können verallgemeinernd fünf grundsätzlichen
Paradigmen zugeordnet werden:
1. Medizinisches Paradigma
Behinderung resultiert aus einer biologischen oder funktionellen Schädigung und liegt
dem Schicksal zugrunde. Die Schädigung, beispielsweise eine Gehörlosigkeit oder eine
Gehbeeinträchtigung, ist quasi die Behinderung.
8
Die Disability Studies verfügen über kein einheitliches Behinderungsmodell. Während in Großbritan-
nien die Betrachtung gesellschaftlicher Bedingungen für die Erklärung von Behinderung dominiert, diku-
tieren Vertreter in den USA stärker kulturelle Aspekte. Auch bestehen mitunter große Differenzen zwi-
schen den Auffassungen bezüglich der Bedeutung organischer Schädigungen (vgl. Thomas 2004, S.43-
47; Waldschmidt 2005, S.25). Nach Thomas (2004, S.33) kann jedoch der soziale Erklärungsansatz für
Behinderung als zentraler Gegenstand der Disability Studies verstanden werden.

16
2. Soziales Paradigma
Durch eine wahrgenommene Normalität entstehen Erwartungshaltungen. In Interaktio-
nen werden Personen, die von den Erwartungen im Bezug auf Norm, Leistung, Verhal-
ten, Aussehen etc. abweichen, stigmatisiert und diskriminiert. So kann zum Beispiel die
Sehschwäche eines Menschen die Kommunikation mit anderen Personen erheblich be-
einträchtigen, wodurch normentsprechende Erwartungen an das Verhalten des Betroffe-
nen unerfüllt bleiben, dieser Stigmatisierung erfährt, die er wiederum verinnerlicht und
in seine Identität integriert. Behinderungen resultieren folglich durch Störungen der
Interaktionen.
3. Kulturelles Paradigma
Durch kulturspezifische Deutungsmuster von Normalität und Abnormalität, Eigen und
Fremd wird Behinderung über Stigmatisierung konstruiert. Beispielsweise verleiht die
Deformation der rechten Hand im Volke der in den Anden lebenden Callahuaya-
Indianer dem Betroffenen eine positive Sonderrolle, während solch ein körperliches
Merkmal in westlichen Ländern als Schädigung, Defizit oder Behinderung gilt.
4. Systemtheoretisches Paradigma
Behinderung entsteht durch Differenzierungsprozesse zur Vereinfachung des Systems.
So werden z.B. als behindert geltende Kinder an Sonderschulen unterrichtet, um sie
zum einen besser und spezifischer fördern zu können, zum anderen um das Gesamtsys-
tem zu entlasten.
5. Übernatürliches Paradigma
Behinderung basiert auf religiösen Instanzen, ist Folge eines Fluchs oder der Besessen-
heit von Geistern und ist ein personenfremdes Etwas. In einigen afrikanischen Ländern
gelten beispielshalber Beeinträchtigungen wie die Unfruchtbarkeit der Frau als Behin-
derungen, die die Konsequenz übernatürlicher Mächte repräsentieren. (vgl. Bleidick
1999, S.28-36, 52-59; Al-Munaizel/Weigt 2003, S.121f.; Thomas 2004, S.34;
Waldschmidt 2005, S.25; Luig 2007, S.101-102)
Die jeweiligen Paradigmen bewerten Behinderungen verschieden und lokalisieren ihre
Ursachen unterschiedlich. Gleichzeitig bestimmen sie damit aber auch maßgeblich die
Art des Umgangs mit Behinderung und den Ansatz möglicher Interventionen. Während

17
gemäß einer vorwiegend medizinischen Perspektive die Förderung, Therapie und An-
passung des Individuums den Handlungsschwerpunkt im Umgang mit dem behinderten
Menschen darstellt, gilt der Fokus einer eher sozialen Perspektive hingegen vielmehr
der Veränderung gesellschaftlicher Strukturen (Vgl. Waldschmidt 2005, S.26).
Wer letztendlich Mensch mit Behinderung ist, lässt sich entsprechend schwierig definie-
ren. Emil Kobi (2004, S.68f.) orientiert sich in seinem Begriffsverständnis hauptsäch-
lich an dem Erleben des Individuums. Er begreift das Wesen des behinderten Menschen
schließlich wie folgt:
,, Behindert in einem heilpädagogisch bedeutsamen Sinne ist ein Mensch,
­
der als auffällig gilt und sich als abgehoben erlebt,
­
der als nonkonform gilt und sich als unpassend erlebt,
­
dessen Entwicklungsgang als unzeitig gilt und der sich als unzeitgemäß erlebt,
­
der als abhängig gilt und sich als ausgeliefert erlebt,
­
der in einem als negativ erachteten Sinne als abnorm gilt und sich als minderwertig er-
lebt,
­
dessen Gestaltbarkeit reduziert erscheint und der sich in seinen Handlungsmöglichkeiten
als beschränkt erlebt,
­
der im partnerschaftlichen Bezug Distanzphänomene auslöst und sich als isoliert erlebt."
Doch ob, wie nach Kobi, das Empfinden des Betroffenen Behinderung bestimmt oder
eher der Besuch einer Sonderschule, der Besitz eines Behindertenausweises, die Bean-
spruchung entsprechender Hilfeleitungen oder das äußere Erscheinungsbild als Maßstab
für die Behinderungsklassifizierung herangezogen wird, ist abhängig von der Perspekti-
ve des Betrachters.
Damit zeichnet sich ab, dass das Phänomen der Behinderung über sehr relative Struktu-
ren verfügt und die Behinderungstitulierung eines Menschen stark von dem entspre-
chenden Blickpunkt und Interesse des Betrachters abhängt.
2.3 Heilpädagogik
Heilpädagogik ist eine spezielle Fachrichtung der Pädagogik und kann allgemein defi-
niert werden ,,als Theorie der Erziehung, Bildung und Förderung" (Gröschke 1997,
S.41) von Menschen unter ,,erschwerenden Bedingungen" (Moor 1974, S.15). Sie ist
eine Handlungswissenschaft, deren Aufgabe es ist, auf Grundlage allgemeinpädagogi-
scher, psychologischer, medizinischer, soziologischer, ethischer und rechtlicher Wis-

18
senschaftserkenntnisse Handlungskonzepte für die heilpädagogische Praxis zu entwer-
fen (vgl. Gröschke 1997, S.41; Greving/Ondracek 2005, S.236).
Die semantische Bedeutung des Wortes ,,heilen" weist auf das Leitmotiv der Heilpäda-
gogik hin. Ihr oberstes Anliegen ist dem von einer personalen und sozialen Desintegra-
tion bedrohten oder betroffenen Menschen Hilfe zum ,,Ganz-Werden" zu leisten und
Bedingungen (wieder-) herzustellen, die die Selbstverwirklichung und gesellschaftliche
Partizipation ermöglichen (vgl. Köhn 2003, S.56). Nach Wolfgang Köhn (ebd., S.21) ist
das Ziel demzufolge die ,,größtmögliche subjektive Erfahrung von Heil und Heilung im
Sinne existenzieller Erfüllung menschlichen Lebens" des Menschen.
Der heilpädagogische Arbeitsauftrag besteht nach Otto Speck (2008, S.363-366) aus
folgenden drei Elementen:
·
Personale Integration ­ Unterstützung des Menschen für die Selbstbestimmung
seines Lebens und die Vereinheitlichung seiner Identität
·
Soziale Integration ­ Unterstützung der soziokulturellen Teilhabe des Menschen
·
Kompetenzförderung ­ Vermittlung von Sach-, Sozial- und moralischen Fähig-
keiten
Dabei stellen nicht nur die interagierenden Subjekte den zentralen Arbeitsgegenstand
dar sondern vor allem auch ihre Beziehungen im gesellschaftlichen Kontext (vgl. ebd.,
S.22; Kobi 2004, S.146-147).
Als Zielgruppe der Heilpädagogik gelten nach Heinrich Greving und Petr Ondracek
(2005 S.236):
,,Menschen, die ­ bedingt durch ihre körperliche, geistige und seelische Beschaffenheit und
durch die Reaktion der sozialen Umwelt auf diese Beschaffenheit ­ in der subjektiv sinnvollen
Gestaltung des Alltags beeinträchtigt sind und nur eingeschränkt am Geschehen in der Gesell-
schaft teilhaben können".
Heilpädagogisches Handeln orientiert sich an dem Grad der Entwicklung, der persona-
len wie sozialen Integration des Menschen sowie seinem Hilfsbedarf. Das Phänomen
der Behinderung spielt dabei als eine Art Richtmaß eine zentrale Rolle. Heilpädagogi-
sche Arbeit setzt dort an, wo Entwicklung und Integration behindert werden und Unter-
stützung verlangen.

19
Grafisch veranschaulicht die folgende Darstellung den Aufgabenbereich der Heilpäda-
gogik und die Stellung ihrer Wissenschaft in Bezug auf die Ebenen menschlicher Ent-
wicklung:
Darstellung 5: Dimensionen menschlicher Entwicklung und die Stellung der Heilpädagogik (nach Stör-
mer / Jödecke 1996 aus Köhn 2003, S.19)
Für die Praxis der Heilpädagogik sind die nachstehenden Grundhaltungen eines Päda-
gogen von ganz entscheidender Bedeutung (vgl.: Greving/Ondracek 2005, S.147-178,
237):
·
Ressourcenorientierung
·
Herstellung größtmöglicher Normalität
·
Förderung der Selbstbestimmung
·
Assistenz
·
gesellschaftliche Integration und Inklusion
Die hier erläuterten Gesichtspunkte stellen die Grundlagen der allgemeinen Heilpäda-
gogik dar. Jedoch ist diese keine einheitliche Wissenschaft. Verschiedene Ausrichtun-
gen innerhalb der Fachrichtung unterscheiden sich mitunter stark in ihren Auffassungen
bezüglich der wissenschaftlichen Theorienbildung, ihres Aufgabenbereichs, des Men-
schenbilds oder Behinderungsverständnisses (vgl. Faust 2007)
9
.
9
Auf eine Aufgliederung der unterschiedlichen Ausrichtungen der heilpädagogischen Wissenschaft sowie
eine Vertiefung der geschichtlichen Hintergründe der Heilpädagogik wird in diesem Rahmen verzichtet.

20
2.4 Kultur und Interkulturalität
Kultur kann definiert werden als ,,Gesamtheit aller derjenigen Leistungen und Orientie-
rungen des Menschen, die seine ,bloße' Natur fortentwickeln und überschreiten"
(Schwemmer 2004, S. 508 zit. n. Dederich 2007, S.35). Sie durchfährt alle Bereiche des
menschlichen Lebens wie ,,alltägliches Handeln, Kunst, Religion, Wissenschaft, Hand-
werk und Technik, wirtschaftliches Handeln, die Ausübung von Macht und Herrschaft,
Erziehung" (Dederich 2007, S.35) und gestaltet somit spezifische Moral-, Wert- und
Ordnungsvorstellungen, Glauben und Wissen. Gemäß des Anthropologen Michael To-
masello (2002, S.249) ist in diesem Sinne die Kultur für den Menschen wie das Wasser
für den Fisch. Eine reine Naturerkenntnis kann es gar nicht geben, da alles von Kultur
geprägt ist (vgl. Dederich 2007, S.37-38).
Der Begriff Interkulturalität beschreibt das Verhältnis zwischen Kulturen und setzt sich
aus zwei Komponenten zusammen. Interkulturalität bezeichnet die ,,Austausch- und
Begegnungsprozesse zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, aber auch [.]
den Raum zwischen den Kulturen, in dem Kulturen miteinander in Kontakt treten" (A-
schenbrenner-Wellmann 2006, S.25).
Historisch betrachtet liegt der Ideologie von der Homogenität einer Kultur der Entste-
hung von Nationalstaaten zugrunde, worauf Kultur fortan als etwas kongruentes Eige-
nes oder Fremdes verstanden wurde, das wie die Sprache und Geschichte zum festen
Gefüge eines Nationalwesens gehöre (vgl. Gogolin/Krüger-Potratz 2006, S.72). Ihr
Begriff galt damit häufig der ,,Darstellung überindividueller Unterschiede in Erfahrun-
gen, Anschauungen, Lebenspraktiken" (Antor/Bleidick 2001, S.198). Tatsächlich je-
doch besitzt Kultur keinen statischen, einheitlichen Charakter sondern steht vielmehr in
einem ständigen Wandlungsprozess im Austausch mit ihren Trägern (vgl. Aschenbren-
ner-Wellmann 2006, S.25).
Nach Klaus P. Hansen (2003, S.42ff.; Dederich 2007, S.38) errichtet sich Kultur aus
folgenden drei Faktoren:
1. Standardisierung
Menschen orientieren sich an anderen Menschen und standardisieren ihr Verhalten,
Empfinden, Denken und ihre Kommunikation. Der Effekt ist eine Art Angleichung der
Individuen an die Gemeinschaft.

21
2. Kommunikation
Kommunikation in Form von Sprache, Symbolen, Verhaltenscodes etc. gilt als Medium
der Standardisierung, das Normen überliefert und zugleich untermauert.
3. Kollektivität
Es entstehen soziale Ordnungen und eine zeitliche Kontinuität. Die Strukturen prägen
gleichzeitig das Individuum und verfügen damit über starken Einfluss auf den Men-
schen.
Aus der Einheit dieser Faktoren bilden sich ,,Gewohnheiten, typisierte Verhaltenswei-
sen, Traditionen und Wissensbestände aus" (Dederich 2007, S.38). In Bezug auf Zyg-
munt Bauman (1984/2000, S.200) schafft Kultur damit eine neue, künstliche, geplante
Ordnung und ersetzt oder ergänzt damit die der Natur. So wird beispielshalber die äuße-
re Natur durch entsprechende Landwirtschaftsnutzung verändert und menschliche Trie-
be als Bestandteil der inneren Natur werden durch Erziehung und Sozialisation gelenkt.
Gleichzeitig spricht Kultur ihrer Struktur einen Wert zu, lässt sie bevorzugen und kon-
struiert so Kriterien für Abweichungen von ihren Normen. Was als normal oder richtig
gilt, ist also stark kulturabhängig. Durch gesetzliche und gesellschaftliche Regeln wer-
den diese Normen einerseits von außen gesteuert und abgesteckt. Andererseits verinner-
licht der Mensch jene Direktiven und orientiert sich in seiner Lebensweise an ihnen
(vgl. Dederich 2007, S.137-139). Kultur produziert damit ein ,,Eigen" und ,,Fremd",
eine Normalität und Abnormalität (vgl. ebd., S.36-38). Phänomene der Abgrenzung und
Ausgrenzung des vermeintlich Fremden können somit auf kulturelle Prozesse zurückge-
führt werden.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836644365
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
integration kultur fremdenfeindlichkeit interkulturalität sprache
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