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Identität Europa

Wie europäisch ist die Türkei?

©2009 Bachelorarbeit 46 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Bereits seit 1963 hat die Türkei den Status eines assoziierten Mitglieds der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Seither klopft die Türkei an die Türen der Europäischen Union (EU) und bittet um Mitgliedschaft. Die Frage besteht, warum die Türkei noch kein Mitglied der Europäischen Union ist, besonders im Hinblick auf die EU-Osterweiterungen in den Jahren 2004 und 2007. Diese Frage wurde vor allem auch in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit spätestens seit 2002 sehr brisant und kontrovers diskutiert. Im Zentrum der politischen Debatte über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei stehen dabei nicht so sehr die ökonomischen Unterschiede zwischen der EU und der Türkei, sondern mögliche kulturelle Differenzen.
Das Ziel meiner Arbeit ist zu klären, ob die Türkei europäisch ist und, was eigentlich das ‚Europäischsein’ ausmacht. Im ersten Teil werde ich auf die Wurzeln der modernen europäischer Identität eingehen. Dafür definiere ich zunächst ‚Europa’ und untersuche anschließend, was Europa charakterisiert und wo seine Grenzen liegen. Ich werde zeigen, dass Europa eine Kulturgemeinschaft ist, dessen Werte und Normen im Vordergrund stehen.
Im darauffolgenden Teil meiner Arbeit möchte ich verdeutlichen, dass es darauf ankommt, wie ein Staat wahrgenommen wird. Diese konstruktivistische Perspektive hebt die Rolle von Ideen und Identitäten hervor. Wichtig hierbei ist die Annahme, dass Interessen und Identitäten nicht exogen gegeben sind, sondern sozial konstruiert durch die intersubjektiven kommunikativen Prozeduren und Verständnisse, die wiederum in den sozialhistorischen Kontext eingebetet sind.
Bei einer positiven Identifikation stellt die Türkei eine Brücke dar, weil das Selbst (=Europa) den Anderen (=Türkei) als ähnlich und nicht bedrohlich ansieht. Allerdings ist ebenfalls eine negative Identifikation denkbar. Das Selbst nimmt dann den Anderen als gefährlich und moralisch unterlegen wahr. In diesem Fall bildet die Türkei eine Grenze zu Europa und demzufolge auch zur EU.
Im dritten Teil meiner Arbeit werde ich den Weg der Türkei zu einer europäischen Nation analysieren. Dabei gehe ich vor allem auf historische Wendepunkte und Schritte in Richtung Europa ein. Eine der bedeutendsten Zäsuren bildet die Regierungszeit von Mustafa Kemal Pascha, der 1934 den ehrenden Beinamen Atatürk, ‚Vater der Türken’, erhielt. Er ist der Begründer der Republik Türkei und somit auch dem ersten säkularen muslimischen Staat […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Anja Kleine
Identität Europa
Wie europäisch ist die Türkei?
ISBN: 978-3-8366-4274-3
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland, Bachelorarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

2
Gliederung
1.
Einleitung
Seite 3-4
2.
Identität Europa
Seite 5
2.1
Europabegriff ­ Was ist Europa?
Seite 5-7
2.2
Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft
Seite 7-13
3.
Konstruktivistischer Ansatz: Wie wird die Türkei wahrgenommen? Seite 13-15
3.1 Türkei als Brücke
Seite 15
3.1.1 Pragmatischer Okzidentalismus
Seite 15-16
3.1.2 Inklusiver Orientalismus
Seite 16-17
3.2 Türkei als Grenze
Seite 17
3.2.1 Exklusiver Orientalismus
Seite 17-18
3.2.2 Nationalistischer Okzidentalismus
Seite 18-19
4.
Weg der Türkei zur europäischen Nation
Seite 20
4.1
Atatürk: Anpassung an den Westen
Seite 20-24
4.2
Ankara-Abkommen
Seite 25-26
4.3
Zollunion
Seite 26-27
4.4
Der EU-Gipfel in Helsinki
Seite 27-29
4.5
Karikatur ,,Brücke EU-Türkei"
Seite 29-30
5.
Folgen eines Beitrittes der Türkei zur Europäischen Union
Seite 31
5.1
Argumente gegen einen Beitritt der Türkei zur EU
Seite 31-34
5.2
Argumente für einen Beitritt der Türkei zur EU
Seite 34-37
6.
Fazit
Seite 38-39
7.
Literaturverzeichnis
Seite 40-44

3
1. Einleitung
Bereits seit 1963 hat die Türkei den Status eines assoziierten Mitglieds der damaligen
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Seither klopft die Türkei an die Türen
der Europäischen Union (EU) und bittet um Mitgliedschaft. Die Frage besteht, warum
die Türkei noch kein Mitglied der Europäischen Union ist, besonders im Hinblick auf
die EU-Osterweiterungen in den Jahren 2004 und 2007. Diese Frage wurde vor allem
auch in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit spätestens seit 2002 sehr brisant
und kontrovers diskutiert. Im Zentrum der politischen Debatte über eine EU-
Mitgliedschaft der Türkei stehen dabei nicht so sehr die ökonomischen Unterschiede
zwischen der EU und der Türkei, sondern mögliche kulturelle
Differenzen.
Das Ziel meiner Arbeit ist zu klären, ob die Türkei europäisch ist und, was eigentlich
das ,Europäischsein' ausmacht. Im ersten Teil werde ich auf die Wurzeln der modernen
europäischer Identität eingehen. Dafür definiere ich zunächst ,Europa' und untersuche
anschließend, was Europa charakterisiert und wo seine Grenzen liegen. Ich werde zei-
gen, dass Europa eine Kulturgemeinschaft ist, dessen Werte und Normen im Vorder-
grund stehen.
Im darauffolgenden Teil meiner Arbeit möchte ich verdeutlichen, dass es darauf an-
kommt, wie ein Staat wahrgenommen wird. Diese konstruktivistische Perspektive hebt
die Rolle von Ideen und Identitäten hervor. Wichtig hierbei ist die Annahme, dass Inte-
ressen und Identitäten nicht exogen gegeben sind, sondern sozial konstruiert durch die
intersubjektiven kommunikativen Prozeduren und Verständnisse, die wiederum in den
sozialhistorischen Kontext eingebetet sind.
1
Bei einer positiven Identifikation stellt die Türkei eine Brücke dar, weil das Selbst
(=Europa) den Anderen (=Türkei) als ähnlich und nicht bedrohlich ansieht. Allerdings
ist ebenfalls eine negative Identifikation denkbar. Das Selbst nimmt dann den Anderen
als gefährlich und moralisch unterlegen wahr. In diesem Fall bildet die Türkei eine
Grenze zu Europa und demzufolge auch zur EU.
Im dritten Teil meiner Arbeit werde ich den Weg der Türkei zu einer europäischen Na-
tion analysieren. Dabei gehe ich vor allem auf historische Wendepunkte und Schritte in
Richtung Europa ein. Eine der bedeutendsten Zäsuren bildet die Regierungszeit von
Mustafa Kemal Pascha, der 1934 den ehrenden Beinamen Atatürk, ,Vater der Türken',
erhielt. Er ist der Begründer der Republik Türkei und somit auch dem ersten säkularen
1
Vgl. Wendt 1999, S. 393f.

4
muslimischen Staat weltweit. Im Mittelpunkt seiner Politik stand die Modernisierung
der Türkei nach westlichem Vorbild. Deshalb führte er unter anderem das laizistische
Staatswesen ein. Diese strikte Trennung von religiösen und politischen Institutionen war
zu dem Zeitpunkt ein enormer Einschnitt, weil mehr als sechshundert Jahre lang das
Osmanische Reich von einer sozialreligiösen Ordnung bestimmt war.
Einen Meilenstein stellt auch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei dar. Interessanterweise erhob damals
kein Mitglied der EWG Einwände unter Bezug auf die Römischen Verträge von 1948,
die ausdrücklich bestimmen, dass nur europäische Staaten Mitglied werden können. Zu
diesem Zeitpunkt wurde die Türkei von der EWG Kommission als Teil von Europa an-
gesehen. Dieses Assoziierungsabkommen, auch Ankaraabkommen genannt, legte die
grundsätzlichen Ziele fest, wie die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen intensiviert
und die Zollunion in drei Stufen eingeführt werden sollen. Der Zollunion wurde dann
im Jahr 1995 durch das Europäische Parlament zugestimmt. Als nächsten wegweisen-
den Schritt erklärte der Europäische Rat von Helsinki im Dezember 1999, dass die Tür-
kei ein beitrittswilliges Land ist, das auf der Grundlage der gültigen Kriterien Mitglied
der Union werden soll. Konkrete Beitrittsverhandlungen wurden der Türkei in Aussicht
gestellt, wenn sie bis Ende 2004 die erforderlichen Voraussetzungen, die Kopenhager
Kriterien, erfüllt. Im Dezember 2004 beschloss daraufhin der Europäische Rat die Auf-
nahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zum 3. Oktober 2005.
Im letzten Teil meiner Arbeit möchte ich die Vor- und Nachteile eines Beitritts der Tür-
kei zur EU diskutieren. Dabei werden die Größe der Türkei, die Menschenrechtssituati-
on und die Dominanz des türkischen Militärs, sowohl die geostrategische Lage als auch
die Wirtschaftsbedingungen in der Türkei im Mittelpunkt stehen.
Abschließen möchte ich meine Arbeit mit einem Fazit, dass die gewonnenen Ergebnisse
noch einmal pointiert zusammenfasst.

5
2. Identität Europa
2.1 Europabegriff ­ Was ist Europa?
Europa hat im Osten gegenüber Asien keine eindeutige geographische oder geologische
Grenze, deshalb sind die ,Grenzen Europas` eine Frage gesellschaftlicher Übereinkunft.
Konventionell werden als geografische Grenzen Europas der Bosporus sowie Uralge-
birge und ­fluss angesehen.
Mit Europa wird seit der Teilung des Römischen Reiches der westliche Teil des Rei-
ches, der Okzident, assoziiert. Der östliche Teil wird als Orient bezeichnet. Europa
wurde mit dem westlichen Christentum gleichgesetzt, das sich vor allem vom orthodo-
xen Christentum und zum Islam abgrenzte.
2
Die Frage nach dem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union wirft immer wieder
auch die Frage nach Europa selbst auf. Wie und wo Grenzen gezogen werden, muss
immer anhand bestimmter Kriterien, die politischer, ökonomischer, kultureller, aber
auch religiöser Natur sein können, entschieden werden. Selbst diese Kriterien müssen
zuerst entwickelt werden und sind umstritten. Die Grenzziehung ist kontingent, weil sie
auch immer anders möglich wäre. Geografisch erstreckt sich die Türkei über zwei Kon-
tinente. Anatolien bildet mit etwa 97% der Fläche den asiatischen Teil des türkischen
Staatsgebietes. Die restlichen 3% der Landesfläche nimmt das östliche Thrakien ein, das
sich auf dem europäischen Kontinent befindet. Die Türkei bildet somit die ,,Landbrücke
zwischen Europa und Asien"
3
. Geografisch ist es sehr problematisch zu bestimmen, ob
die Türkei zu Europa dazugehört. Doch das alleine ist nicht die zu klärende Frage.
Vielmehr im Vordergrund steht die Frage, ob die Türkei europäisch ist. Doch was be-
deutet eigentlich ,Europäisch-Sein'? In Artikel 49 des EU-Vertrages findet sich für eine
Erweiterung die zentrale Bestimmung, dass jeder europäische Staat, der die Grundsätze
achtet, auf denen die EU beruht, beantragen kann, Mitglied der Union zu werden. Es
wird jedoch nicht näher erläutert, was ,europäisch' ist. Das ist zugleich der Grund, wa-
rum es so viele verschiedene Definitionsversuche gibt, die zeigen wollen, was denn nun
das spezifisch Europäische sei beziehungsweise sein solle.
4
2
Vgl. Wagner 2005, S. 499f.
3
Walter 2008, S. 17.
4
Vgl. ebd., S. 20ff.

6
Im folgenden werde ich versuchen, die europäische Identität und deren Besonderheiten
genauer zu bestimmen. Dafür werde ich zunächst ,Identität' definieren. Identität kann
vorerst über den Begriff der Selbstidentifikation beziehungsweise der Selbstbezeich-
nung verstanden werden, als ein Vorgang in dessen Zuge jemand sich selbst bestimmte
Charakteristika, Einstellungen oder Errungenschaften als spezifisch eigen zuschreibt.
Identität bedeutet wörtlich ,völlige Gleichheit'. Wenn man davon ausgeht, dass Identität
Gleichheit oder zumindest Ähnlichkeit beinhaltet, dann ist die Annahme einer europäi-
schen Identität nicht nur zweifelhaft, sondern auch problematisch. Zu keiner Epoche ist
Europa unter das Prinzip der Einheit zu subsumieren. Die Europäer sind keineswegs
untereinander ähnlich oder gar gleich. Sie haben nie eine gemeinsame Sprache gespro-
chen oder zur gleichen Zeit unter einheitlichen Bedingungen gelebt.
5
Die Diskussion über die europäische Einigung wird eher mit den Leitworten ,,Einheit in
der Vielfalt"
6
bestimmt. Des Weiteren würde Identität auch bedeuten, dass Europa sich
im Laufe der Zeit gleich bleibt. Doch in der Geschichte Europas spielt die Vielfalt eine
tragende Rolle. Es wird häufig vom europäischen Sonderweg gesprochen, was kein
Indiz für die Beständigkeit der europäischen Geschichte ist. Mit Europa assoziiert man
viel mehr Veränderung und Dynamik. Beispiele hierfür sind die wissenschaftliche Re-
volution im 16. und 17. Jahrhundert, die industrielle Revolution im 18. und 19. Jahr-
hundert, aber vor allem die demokratischen Revolutionen vom Ende des 18. Jahrhun-
derts an, die Europa zu einem Pol der Veränderung in der Welt gemacht haben.
Wenn man Identität nicht mit Gleichheit und Beständigkeit im Verlauf der Zeit gleich-
setzten kann, was kann man dann unter einer europäischen Identität verstehen? Die Fra-
ge nach Identität ist gleichzeitig eine Frage nach dem Gemeinsamen, das unser Handeln
leiten kann. Identität, im Sinne von Werteorientierungen, die das gemeinsame Handeln
anleiten können, basiert auf Erfahrungen und aus deren Deutungen. Wichtig für eine
Identitätsbildung sind die Kriterien, die wir einerseits gemeinsam haben und anderer-
seits, die uns von anderen unterscheidet. Die handlungsleitende Wirkung der europäi-
schen Identität wird zum Beispiel an der Verpflichtung auf Menschenrechte und Demo-
kratie ersichtlich. Die europäische Identität unterscheidet sich vor allem von der ameri-
kanischen Identität durch das Solidaritätsprinzip. Trotz der starken Kritik am Sozialstaat
und der Betonung der Reformnotwendigkeit gibt es in Europa keine Abkehr von dem
Prinzip der gegenseitigen Unterstützung.
7
5
Vgl. Meyer 2004, S.37f.
6
Weidenfeld 1999, S. 22.
7
Vgl. Wagner 2005, S. 494ff.

7
Doch jede Ansammlung von Selbstbeschreibungen beziehungsweise Identifikationen,
die etwas für sich bestimmt, schließt damit gleichzeitig auch etwas aus, das nicht zu der
jeweiligen Ordnung gehört: das Andere der Selbstbestimmung. Denn ,,etwas zu sein,
heißt immer, etwas anderes nicht zu sein"
8
. Identität wird sehr häufig mit Hilfe von Ge-
genidentitäten definiert. Die eigene Identität konstituiert sich somit durch die Negation.
9
Der oder das Andere ist für die Rekonstruktion einer Identitätskonstruktion in mehrfa-
cher Hinsicht wichtig. Europäische Selbstbestimmungen werden dann angefertigt, wenn
man sich seiner selbst vergewissern will oder man von einem Anderen dazu veranlasst
wird. Identifikation dient somit der Eigenpositionierung und Selbstvergewisserung ge-
genüber einem Anderen.
10
Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich noch etwas genauer auf die Beziehung zwi-
schen dem Selbst, der Wir-Gruppe, und dem Anderen eingehen. Besonders im Vorder-
grund wird das Verhältnis der EU zur Türkei stehen. Doch zunächst einmal werde ich
die Charakteristika Europas erläutern. Ich werde also erst definieren, was Europa aus-
macht und anschließend klären wovon es sich abgrenzen will.
2.2. Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft
Grundlegend kann man sagen, dass Europa eine Kulturgemeinschaft ist. Der in diesem
Zusammenhang verwendete Kulturbegriff geht davon aus, dass wir unserem Handeln
bestimmte Werte zuschreiben und sowohl unsere Welt als auch Mitmenschen interpre-
tieren erfahren. Der Mensch ist somit ein selbstdeutendes Wesen. Die Ressourcen, die
er zur Deutung einsetzt, bestimmen seine Kultur. Schlussfolgernd daraus kann man sa-
gen, dass unser Denken nicht von geschlossenen kulturellen Gemeinschaften ausgehen
darf, denn kulturelle Interaktion geschieht hauptsächlich zwischen Menschen und nicht
zwischen ganzen Gruppen.
11
Es gibt drei Möglichkeiten die inhaltlichen Merkmale der kulturellen Besonderheiten
Europas zu definieren und daraus Beitrittskriterien zu formulieren. Die erste Grundposi-
tion nimmt Bezug auf die Geschichte, um die kulturelle Identität Europas zu bestim-
men. Wenn man dieser Auffassung folgt, liegen die Wurzeln moderner europäischer
Identität in der griechisch-römischen Antike, in der jüdisch-christlichen Tradition, aber
8
Laclau/ Mouffe 2000, S.169.
9
Vgl. Schneider 1999, S.75f.
10
Vgl. Walter 2008, S. 39f.
11
Vgl. Wagner 2005, S. 496ff.

8
auch in der Renaissance und im Zeitalter der Aufklärung. Für die kulturelle und religiö-
se Prägung Europas sind im besonderen Maße Athen, Rom und Jerusalem kennzeich-
nend. Den Griechen verdankt Europa vor allem den Geist der Philosophie und die Of-
fenheit für die Künste, den Römern die Stiftung einer Rechtsordnung und den Sinn für
die politische Einheit und Jerusalem hauptsächlich die Bibel und damit die prägende
Religion, sowie das bestimmende Bild vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch. An-
tike Traditionen hatten starke und prägende Auswirkungen auf die Entwicklung der
westlichen Welt. Neuzeitliche Aufklärer, Philosophen und Staatstheoretiker, aber auch
Wissenschaftler knüpften immer wieder an die attische Demokratie, das römische
Recht, den religiösen Pluralismus, das antike Schönheitsideal und andere Hinterlassen-
schaften der Antike an.
12
Auf der Suche nach den Ursprüngen der europäischen Identität ist ebenfalls die jüdisch-
christliche Traditionslinie zu betonen. Manche Autoren gehen sogar soweit, dass sie
sagen, dass Europa nicht nur vom Christentum geprägt ist, sondern es erst durch das
Christentum entstanden ist. Nur die unermüdliche Missionierungsarbeit der Kirche habe
die europäische Kultur geschaffen und zur Blüte geführt. Die europäische Identität be-
ziehe somit ihren spezifischen Charakter zentral aus dem Christentum.
13
Jedoch ist zu bemerken, dass die kulturelle Gestalt Europas zu keiner Epoche seiner
Geschichte nur aus christlichen beziehungsweise jüdisch-christlichen Wurzeln erklärt
werden kann. Europa ist seit jeher im Vergleich zu anderen Kontinenten keine geografi-
sche, sondern eine kulturelle Größe, die nicht nur durch einen, sondern durch mehrere
prägende Faktoren bestimmt ist. Selbstverständlich ist Europa vom Christentum ge-
prägt, dennoch darf diese christliche Prägung niemals in einem ausschließenden, mit
einem Monopolanspruch versehenen Sinn gemeint sein.
14
In der Renaissance, die sich vom 14. bis zum 17. Jahrhundert erstreckte, lebte kulturell
die griechische und römische Antike noch einmal auf. Die Werte eines vergangenen
Zeitalters wurden ,wiedergeboren'. In dieser Epoche entwickelt sich in der Gesellschaft
das Bedürfnis nach individueller Freiheit und damit wohl der charakteristischste Werte-
komplex Europas.
15
Das Zeitalter der Aufklärung ist besonders prägend für die europäi-
sche Identität, weil sich die westliche Gesellschaft in dieser Zeit geistig entwickelt hat.
Das 17. und 18. Jahrhundert war vor allem von dem Bestreben geprägt das Denken mit
12
Vgl. Huber 2005, S.70f.
13
Vgl. Brague 1996, S. 45.
14
Vgl. Huber 2005, S.69.
15
Vgl. Joas 2005, S.17ff.

9
den Mitteln der Vernunft von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen,
Vorurteilen und Ideologien zu befreien und Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu
schaffen. Sowohl die Zeit der Renaissance als auch der Aufklärung sind konstitutiv für
das europäische Selbstverständnis, weil sie neue Akzente setzten, indem sie Toleranz,
die Achtung der Menschenrechte, sowie Gleichheit und Freiheit forderten.
16
Die zweite Grundposition, die zur Bestimmung der kulturellen Identität Europas heran-
gezogen werden kann, ist von konstruktivistischer Natur. Die Hauptannahme dieses
Ansatzes ist, dass alle Merkmale und Kriterien, die man zur inhaltlichen Bestimmung
der Kultur Europas einführt, historisch konstruierte sind. Aus dieser Argumentation
wird abgeleitet, dass die Identität Europas und damit die Kriterien für die Mitgliedschaft
in der EU kontingent und folglich voluntaristisch formulierbar sind.
17
Ein Beispiel für die historische Konstruktion sind die territorialen Grenzen Europas.
Worin Europa besteht und wo es endet wird als ein sich über die Jahrhunderte wandeln-
der kommunikativer Aushandlung- und Hervorbringungsprozess konzipiert. Europa
wird vielmehr als sozial konstruiertes Gebilde verstanden. Historisch betrachtet waren
die Grenzen Europas stets sehr flexibel, deshalb kann man auch kein Argument für eine
territoriale Grenze aus der Geschichte ableiten.
18
Die dritte vertretene Position kann man als verfassungspositivistisch bezeichnen. Diese
Sichtweise grenzt sich gegenüber der konstruktivistischen Position insoweit ab, da sie
davon ausgeht, dass es substanziell bestimmbare Werte gibt, die für Europa konstitutiv
sind, wie zum Beispiel Liberalismus, Partizipation und soziale Demokratie. Im Hinblick
auf eine gemeinsame Religion, Sprache, Ethnie, aber auch territorial festgelegter Gren-
zen versteht sich Europa eher als pluralistische Gemeinschaft.
19
Die Bezugnahme auf das europäische Recht und die Verfassungstexte zur Bestimmung
der Werte Europas ist ein gut begründbarer normativer Bezugspunkt, weil diese ausge-
arbeiteten Werte für sich selbst als bedeutsam erachtet von Europa werden. Andererseits
setzt sich das europäische Recht aus rechtsverbindlichen Verträgen zusammen, die ei-
nen hohen demokratischen Legitimitätsanspruch erheben können. Da die Regierungen
von den Bürgern gewählt werden, ist die im Recht verkörperte Werteordnung der EU
demokratisch legitimiert. Das im Recht zum Ausdruck kommende kulturelle Selbstver-
ständnis Europas kann somit auch als Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage dienen,
16
Vgl. Küük 2008, S.28f.
17
Vgl. Gerhards 2004, S.14f.
18
Vgl. Walter 2008, S.33ff.
19
Vgl. Meyer 2009, S.15f.

10
ob und inwieweit die Türkei als Beitrittskandidat zu Europa und somit auch zur EU
passt oder nicht.
20
Europa zeichnet sich durch ganz bestimmte Grundsätze aus, die in Artikel 6 des Vertra-
ges über die Europäische Union von 1993 fest verankert und allen Mitgliedsländern
gemein sind: ,,Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der
Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit"
21
.
Des Weiteren achtet die Europäische Union die Grundrechte, weil sie in der am ,,4. No-
vember 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Men-
schenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind"
22
. Diese Verpflichtung zur Ach-
tung der Menschenrechte beinhaltet unter anderem das Recht auf Leben (Artikel 2), das
Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5), sowie die Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit (Artikel 9).
23
Im Folgenden möchte ich auf die Kompatibilität dieser, auf das europäische Recht be-
ruhenden, Werteordnung mit den Wertvorstellungen der Türkei eingehen. Bei der Re-
konstruktion der Werteordnung Europas werde ich die Wertsphären Religion, Familie,
Ökonomie und Politik unterscheiden und jeweils bestimmen, welche Vorstellungen die
Europäische Union im Hinblick auf diese Wertsphären entwickelt hat und inwieweit
diese Ansichten mit denen der Türkei vereinbar sind.
Die Europäische Union, und somit Europa, versteht sich als eine säkulare Wertegemein-
schaft, die keinen konkreten Religionsbezug aufweist, aber dennoch die Religionsfrei-
heit des Individuums und von Religionsgemeinschaften schützt. Die Grenzen einer je-
den Religionsgemeinschaft werden klar durch die in den Verfassungstexten festgehal-
tenen Prinzipien, Toleranz und Nicht-Diskriminierung, klar definiert. Die Europäische
Union weist der Religion ihren ausdifferenzierten Platz in der Gesellschaft zu und
schützt diesen. Nichtsdestoweniger versteht sich die Europäische Union selbst als einen
säkularen Verband von Gesellschaften, der die Trennung von Politik, Gesellschaft und
Religion institutionalisiert hat. Der Modernisierungsgrad der Gesellschaft hat einen
zentralen Einfluss auf die Akzeptanz der Religionsvorstellungen der EU. Je stärker eine
Gesellschaft modernisiert ist, desto mehr unterstützen die Bürger eine Trennung von
religiöser und weltlicher Sphäre und sprechen sich für eine religiöse Toleranz aus. Der
Grad der Modernisierung einer Gesellschaft drückt sich in einer Vielzahl von Faktoren
20
Vgl. Gerhards 2004, S. 15f.
21
Europa-Recht 2006, S. 7 Art. 6 (1).
22
Ebd., S. 7 Art. 6 (2).
23
Vgl. Grundgesetz 2007, 87ff.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836642743
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Leipzig – Sozialwissenschaften und Philosophie, Politikwissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
2,0
Schlagworte
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