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Pflegebedürftigkeit und individuelle Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung in der Pflege

Empfehlungen für ein pflegerisches Konzept am Beispiel der Zieglerschen Anstalten

©2009 Bachelorarbeit 87 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Gesellschaftliche und professionelle Relevanz:
Menschen mit geistiger Behinderung, die in Institutionen der Behindertenhilfe leben, sind häufig auf pflegerische Unterstützung angewiesen. Die Relevanz pflegerischer Versorgung in diesem Bereich wird in Zukunft weiterhin zunehmen. Die Entwicklungen im Gesundheitssektor, höhere Lebensqualität und ein besseres Bildungssystem haben zur Folge, dass die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich steigt. Der demografische Wandel macht sich nun, etwas verspätet, auch im Bereich der Behindertenhilfe bemerkbar. Der Grund ist im Euthanasieprogramm des Dritten Reiches zu finden. In den Jahren 1941 bis 1945 fielen die meisten Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung dem Nazi-Regime zum Opfer.
Ein weiterer Grund ist in den strukturellen Versorgungsbedingungen zu finden. In Zukunft werden neben älteren Menschen vor allem Menschen mit schweren Behinderungen und erhöhtem pflegerischem Bedarf in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe versorgt.
Zuletzt gilt es noch, die organisatorischen Veränderungen in der Krankenhausversorgung zu erwähnen, die mit der Einführung der G-DRGs unter anderem auch frühere Entlassungen mit sich brachten und eine entsprechende pflegerische Versorgung ‘zu Hause’ notwendig machten.
In der Behindertenhilfe der Zieglerschen Anstalten werden in Rotachheim, Haslachmühle und den Offenen Hilfen rund 450 Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen – vor allem mit geistiger und Hör-Sprach-Behinderung begleitet. Angehörige unterschiedlicher Berufsgruppen stehen hier vor der Aufgabe, die betroffene Personengruppe nicht nur aufgrund der Pflegebedürftigkeit, sondern ebenso unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und der entsprechenden Lebenssituation zu pflegen.
Dabei werden die Pflegenden mit speziellen Herausforderungen konfrontiert, denn die Lebensbegleitung von Menschen mit geistiger Behinderung beinhaltet pflegerische Problemstellungen, die in besonderer Weise berücksichtigt werden müssen. In der Praxis stellt sich täglich die Frage: ‘Welche Pflege brauchen Menschen mit geistiger Behinderung’?
Gang der Untersuchung:
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, das Spezifische der pflegerischen Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen. Es wird durchleuchtet, welche Formen der Pflegebedürftigkeit und welche individuellen Bedürfnisse die Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung umfasst. Die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Patricia Huß
Pflegebedürftigkeit und individuelle Bedürfnisse von Menschen mit geistiger
Behinderung in der Pflege
Empfehlungen für ein pflegerisches Konzept am Beispiel der Zieglerschen Anstalten
ISBN: 978-3-8366-4256-9
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Fachhochschule Ravensburg-Weingarten, Weingarten, Deutschland, Bachelorarbeit,
2009
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Danksagung:
Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Studiengangs Pflegepädagogik
an der Hochschule in Ravensburg-Weingarten. Ich bedanke mich bei allen, die
mich bei ihrer Entstehung unterstützt haben.
Prof. Dr. Birgit Vosseler danke ich dafür, dass sie mit ihren Ideen und
unermüdlichem Einsatz meine Bachelorarbeit betreut hat und mir dennoch die
Freiheit gelassen hat, sie nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln.
Prof. Dr. Axel Olaf Kern danke ich für die konstruktive Kritik und seine Tätigkeit
als Zweitkorrektor.
Ich möchte mich ganz herzlich bei Herrn Ludger Baum für die freundliche
Unterstützung bedanken.
Ich danke Herrn Manfred Blank, der mich ermutigt hat, mich diesem Thema zu
widmen.
Bei Herrn Werner Dudichum möchte ich mich für die gute Zusammenarbeit
bedanken.
Mein Dank gilt ferner der Geschäftsführung der Behindertenhilfe der
Zieglerschen, deren Büroräume ich für die Anfertigung dieser Arbeit nutzen
durfte.
Bedanken möchte ich mich auch bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Einrichtungen Haslachmühle und Rotachheim, die sich an der Untersuchung
beteiligt haben, besonders beim Herrn Clemens Graf.
Ich danke Hans-Joachim Huß für den Crashkurs in Excel. Stefan Huß danke ich
für die Lösung mancher technischer Probleme.
Großer Dank gebührt auch meinem Mann, Torsten Huß, der mich unermüdlich
darin unterstützte, Studium und Familie erfolgreich zu kombinieren.
Mein besonderer Dank gilt den Menschen mit geistiger Behinderung, ohne die
es diese Arbeit gar nicht gäbe.
Patricia Huß
Ravensburg, im April 2009

Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung: gesellschaftliche und professionelle Relevanz ... 1
2
Theoretischer und konzeptioneller Rahmen... 3
2.1
Maslowsche Bedürfnispyramide ... 3
2.2
Definition der Schlüsselbegriffe ... 5
2.3
Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung... 12
3
Empirische Studie: Pflegebedarf und individuelle Bedürfnisse in der Pflege
von Menschen mit geistiger Behinderung ... 20
3.1
Zentrale Fragestellung ... 20
3.2
Ziele der empirischen Untersuchung ... 21
3.3
Forschungsdesign ­ Grounded Theory... 21
3.4
Untersuchungsfeld und Feldzugang ... 26
3.5
Auswahl der Untersuchungseinheit und Population... 26
3.6
Datenerhebung: methodisches Vorgehen... 28
3.7
Durchführung der empirischen Studie... 33
4
Untersuchungsergebnisse ... 36
4.1
Der Beobachtungsbogen ... 36
4.2
Die Experteninterviews ... 41
5
Interpretation der Ergebnisse... 53
5.1
Information: Probleme, Ressourcen und individuelle Bedürfnisse ... 53
5.2
Ziele ... 56
5.3
Planung und Durchführung ... 57
5.4
Evaluation ... 58
6
Literaturverzeichnis ... 60
7
Anhang... 66

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Einleitung: gesellschaftliche und professionelle Relevanz
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Huß, Bachelorarbeit im WS 2008/2009
1
1 Einleitung: gesellschaftliche und
professionelle Relevanz
Menschen mit geistiger Behinderung, die in Institutionen der Behindertenhilfe
leben, sind häufig auf pflegerische Unterstützung angewiesen. Die Relevanz
pflegerischer Versorgung in diesem Bereich wird in Zukunft weiterhin
zunehmen. Die Entwicklungen im Gesundheitssektor, höhere Lebensqualität
und ein besseres Bildungssystem haben zur Folge, dass die Lebenserwartung
der Menschen kontinuierlich steigt. Der demografische Wandel macht sich nun,
etwas verspätet, auch im Bereich der Behindertenhilfe bemerkbar. Der Grund
ist im Euthanasieprogramm des Dritten Reiches zu finden. In den Jahren 1941
bis 1945 fielen die meisten Menschen mit geistiger Behinderung und
psychischer Erkrankung dem Nazi-Regime zum Opfer (vgl. Kreuzer, 1996).
Ein weiterer Grund ist in den strukturellen Versorgungsbedingungen zu finden.
In Zukunft werden neben älteren Menschen vor allem Menschen mit schweren
Behinderungen
und
erhöhtem
pflegerischem
Bedarf
in
stationären
Einrichtungen der Behindertenhilfe versorgt.
Zuletzt gilt es noch die organisatorischen Veränderungen in der
Krankenhausversorgung zu erwähnen, die mit der Einführung der G-DRGs
1
unter anderem auch frühere Entlassungen mit sich brachten und eine
entsprechende pflegerische Versorgung ,,zu Hause" notwendig machten (vgl.
BEB 2008).
In der Behindertenhilfe der Zieglerschen Anstalten werden in Rotachheim,
Haslachmühle und den Offenen Hilfen rund 450 Kinder, Jugendliche,
Erwachsene und ältere Menschen ­ vor allem mit geistiger und Hör-Sprach-
Behinderung begleitet. Angehörige unterschiedlicher Berufsgruppen stehen hier
vor der Aufgabe, die betroffene Personengruppe nicht nur aufgrund der
Pflegebedürftigkeit, sondern ebenso unter Berücksichtigung der individuellen
Bedürfnisse und der entsprechenden Lebenssituation zu pflegen.
1
G-DRGs (German Diagnosis Related Groups) sind ein Patientenklassifikationssystem, mit
dem einzelne stationäre Behandlungsfälle anhand bestimmter Kriterien (Diagnosen,
Schweregrad, Alter usw.) zu Fallgruppen zusammengefasst werden (Wienand, M. 2003).

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Einleitung: gesellschaftliche und professionelle Relevanz
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Dabei werden die Pflegenden mit speziellen Herausforderungen konfrontiert,
denn die Lebensbegleitung von Menschen mit geistiger Behinderung beinhaltet
pflegerische Problemstellungen, die in besonderer Weise berücksichtigt werden
müssen. In der Praxis stellt sich täglich die Frage: ,,Welche Pflege brauchen
Menschen mit geistiger Behinderung?"
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, das Spezifische der pflegerischen
Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen. Es wird
durchleuchtet, welche Formen der Pflegebedürftigkeit und welche individuellen
Bedürfnisse die Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung umfasst. Die
Ergebnisse der Untersuchung sollen als Ausgangslage für die Entwicklung
eines angemessenen Versorgungskonzeptes dienen, um die pflegerische
Begleitung dieser Personengruppe zu optimieren und somit ihre Lebensqualität
zu erhöhen. Angesichts der demografischen Entwicklung wird das Thema
Pflege häufig auf die alt werdenden Menschen mit geistiger Behinderung
eingegrenzt. In der Behindertenhilfe werden jedoch Menschen aller
Altersgruppen gepflegt. Die Fragen zur pflegerischen Versorgung müssen sich
deshalb auf die gesamte Lebensspanne beziehen.
Im ersten Teil der Arbeit wird der theoretische und konzeptionelle Rahmen
skizziert. Zunächst werden einige wesentliche Aspekte der Bedürfnistheorie
nach Maslow vorgestellt sowie die Grundlagen und Grundbegriffe der geistigen
Behinderung, der Pflegebedürftigkeit, des Pflegebedarfs und der individuellen
Bedürfnisse geklärt. Des Weiteren werden die wesentlichen Aspekte der Pflege
von Menschen mit geistiger Behinderung erläutert sowie das Verhältnis von
Pflege und Pädagogik näher beleuchtet.
Der zweite Teil widmet sich der Vorstellung der Studie ,,Pflegebedarf und
individuelle Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung".
Im dritten Teil schließt sich eine Darstellung der Ergebnisse der Arbeit sowie
eine Diskussion im Hinblick auf die Konsequenzen für die Praxis an.
Abschließend werden einige Empfehlungen für ein pflegerisches Konzept für
die Behindertenhilfe ausgesprochen.

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Theoretischer und konzeptioneller Rahmen
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2 Theoretischer und konzeptioneller Rahmen
2.1 Maslowsche Bedürfnispyramide
In der vorliegenden Arbeit geht es primär darum, die individuellen Bedürfnisse
der Menschen mit geistiger Behinderung zu erfassen. Als konzeptioneller
Bezugsrahmen wurde hier die Motivationstheorie gewählt, die 1954 von
Abraham
Maslow
entwickelt
wurde.
Die
Grundlage
für
Maslows
Motivationstheorie
bildet
eine
in
fünf
Bedürfnisklassen
unterteilte
Bedürfnispyramide. ,,Maslow geht von einer Hierarchie der Bedürfnisse aus.
Zuerst müssen die Grundbedürfnisse (Hunger, Durst) erfüllt werden, bevor
andere Bedürfnisse befriedigt werden können" (Arets & Obex & Vaessen &
Wagner 2000).
Die unterste Stufe gilt als Ausgangspunkt der Motivationstheorie. Sie beinhaltet
die grundlegenden Bedürfnisse, welche das physiologische Gleichgewicht, die
sogenannte Homöostase, erhalten sollen. Dies sind unter anderem das
Bedürfnis nach Nahrung, das Bedürfnis nach Kleidung, das Bedürfnis nach
Schlaf und das Bedürfnis nach Sexualität. ,,Ohne Zweifel sind diese
physiologischen Bedürfnisse die mächtigsten unter allen (...) Jemand, dem es
an Nahrung, Sicherheit, Liebe und Wertschätzung mangelt, würde
wahrscheinlich nach Nahrung mehr als nach etwas anderem hungern" (Maslow
2008, S. 63).
Sobald die physiologischen Bedürfnisse im Wesentlichen befriedigt sind, kommt
die nächste Stufe, die grob als Sicherheitsbedürfnisse des Menschen
bezeichnet werden kann. Diese umfasst unter anderem ,,Sicherheit; Stabilität;
Geborgenheit; Schutz; Angstfreiheit; Bedürfnis nach Struktur; Ordnung; Gesetz;
Grenzen; Schutzkraft; und so fort" (Maslow 2008, S. 66).
Die dritte Stufe bildet die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe. Sie
werden im Allgemeinen auch als die sozialen Bedürfnisse bezeichnet. Der
Mensch strebt danach, in einer Gemeinschaft zu leben und soziale
Beziehungen aufzubauen. ,,Jede gute Gesellschaft muß dieses Bedürfnis
befriedigen, auf die eine oder andere Art und Weise, wenn sie überleben und
gesund bleiben will" (Maslow 2008, S. 72).

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Auf der vierten Stufe befinden sich die Bedürfnisse nach Achtung. ,,Alle
Menschen in unserer Gesellschaft (mit einigen pathologischen Ausnahmen)
haben das Bedürfnis oder den Wunsch nach einer festen, gewöhnlich recht
hohen Wertschätzung ihrer Person, nach Selbstachtung und der Achtung
seitens anderer" (Maslow 2008, S. 72).
Selbst wenn alle bereits genannten Bedürfnisse befriedigt sind, wird der
Mensch vermutlich noch nicht zufrieden sein. Es ist eher wahrscheinlich, dass
eine ,,neue Unzufriedenheit und Unruhe entsteht, wenn der einzelne nicht das
tut, wofür er, als Individuum, geeignet ist (vgl. Maslow 2008, S. 73). Somit
finden sich auf der fünften Stufe der Pyramide die Bedürfnisse nach
Selbstverwirklichung. Jeder Mensch versucht demnach die eigenen
Möglichkeiten zu realisieren. So strebt er nach Unabhängigkeit und nach
Entfaltung seiner Persönlichkeit.
Die hierarchische Darstellung der Bedürfnispyramide zeigt in den ersten vier
Stufen die sogenannten Defizit- bzw. Mangelbedürfnisse. Die fünfte Stufe, das
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, wird auch Wachstumsbedürfnis genannt.
Nach Maslow entsteht ein Mangelbedürfnis nur aus einem Mangelzustand
heraus. Erst wenn die Mangelbedürfnisse befriedigt sind, tritt das
Wachstumsbedürfnis auf. Demnach liegen der Theorie von Maslow zwei
Prinzipien zugrunde: das Defizit-Prinzip und das Progressions-Prinzip. Das
Defizit-Prinzip beschreibt das Streben des Menschen nach der Befriedigung
seiner bis dato unbefriedigten Bedürfnisse. Das heißt der Mensch hat die
Motivation nur beim Vorhandensein eines unbefriedigten Bedürfnisses. Hat er
dieses Bedürfnis befriedigt, wird es bei ihm zu keiner Motivationskraft mehr
führen. Das Progressions-Prinzip meint die Motivation des Menschen durch das
hierarchisch niedrigste unbefriedigte Bedürfnis (vgl. Schreyögg 2007). Somit ist
er zunächst um die Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse bestrebt.
,,Und wenn diese ihrerseits befriedigt sind, kommen neue (und wiederum
höhere) Bedürfnisse zum Vorschein, und so weiter" (Maslow 2008, S. 65).
Die Bedürfnisse treten bei allen Menschen, unabhängig von ihrer Kultur, auf.
Unterschiede gibt es nur in der Art, wie sie befriedigt werden: ,,Sicherlich wird in
jeder gegebenen Kultur die bewusste Motivation einer Person extrem vom
bewussten Motivationsinhalt einer Person in einer anderen Gesellschaft
verschieden sein" (Maslow 2008, S. 82).

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Alle Menschen haben also Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen. Die
Voraussetzungen dafür sind ,,Selbständigkeit" und ,,Kommunikation" (Kane &
Klauß 2003, S. 28). Menschen mit geistiger Behinderung benötigen bei der
Befriedigung ihrer Bedürfnisse häufig Unterstützung. Insbesondere diejenigen
mit eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit können ihren Bedürfnissen nicht
in geeigneter Weise Ausdruck verleihen. Sie sind auf die Interpretationen
anderer Personen angewiesen. Auch bei ihrer Erfüllung benötigen sie Hilfe und
Assistenz. Dabei besteht stets die Gefahr, dass Bedürfnisse nicht erkannt,
gedeutet und dementsprechend befriedigt werden. ,,Sie haben wenig Einfluss
darauf, welche ihrer Bedürfnisse befriedigt werden und ob ihnen von denen, die
Pflege finanzieren oder ausführen, das zugestanden wird, was sie im
Zusammenhang mit ihren körperlichen Bedürfnissen benötigen" (Kane & Klauß
2003).
Unabhängig davon, ob ein Mensch seine Bedürfnisse selbständig oder mit
Unterstützung anderer befriedigt, sollte er die Möglichkeit haben, dies
selbstbestimmt zu tun. Das Recht auf Selbstbestimmung wird im Artikel 1 des
Grundgesetzes festgehalten: ,,Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung
seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht
gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt"
(Grundgesetz, Art. 2, Abs. 1). Demnach sollte sich pflegerisches Handeln nach
den Wünschen und Bedürfnissen des Empfängers richten. Sie ,,hat
partnerschaftlichen Charakter, der vom Respekt gegenüber dem Patienten und
letztendlich von dessen Selbstbestimmungsrecht ausgeht" (Arets & Obex &
Vaessen & Wagner 2000, S. 157).
2.2 Definition der Schlüsselbegriffe
Um eine gemeinsame Ausgangsbasis zum besseren Verständnis der
vorliegenden Arbeit zu schaffen, werden im Folgenden die Begriffe der
geistigen Behinderung, der Pflegebedürftigkeit und der individuellen
Bedürfnisse geklärt.
Geistige Behinderung
Der Begriff ,,Geistige Behinderung" lehnt sich an das englische Wort ,,mental
retardation" an. Er wurde in Deutschland 1958 durch eine Elterninitiative der
Lebenshilfe eingeführt.

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Im Bemühen um mehr Integration sollte von bis dato etablierten
diskriminierenden Bezeichnungen wie ,,Schwachsinn", ,,Idiotie" und ,,Blödsinn"
Abstand genommen werden.
Der Versuch, den Begriff geistige Behinderung zu erklären, gestaltet sich
schwierig, denn es existiert keine einheitliche, allgemein gültige Definition. Die
einzelnen Wissenschaften, die sich mit dem Thema befassen, haben basierend
auf eigenem Begriffsverständnis ihre speziellen Theorien entwickelt. Diese
werden im erheblichen Maße vom historischen und kulturellen Hintergrund
beeinflusst. ,,Was als geistige Behinderung heute gilt, hatte vor 150 Jahren ein
erheblich anderes Bild" (Speck 1993, S. 39). Der Begriff steht ebenso mit den
gesellschaftlichen Werten und Normen in Verbindung wie mit der persönlichen
Sichtweise des Betrachters. So werden ,,Eltern ihr eigenes geistig behindertes
Kind anders sehen, als Fachleute" (Speck 1993, S. 39).
Beim Versuch der unterschiedlichen Disziplinen, den Begriff der geistigen
Behinderung zu beschreiben, wird deutlich, dass keine der Definitionen alleine
der Komplexität des Phänomens gerecht werden kann (vgl. Speck 2005). Auch
der Terminus an sich erscheint unzulänglich, um das Wesen eines Menschen
gänzlich zu erfassen. ,,Niemand ist ausschließlich behindert oder nichtbehindert,
wie auch niemand nur krank oder völlig gesund ist. So gesehen kann die
Bezeichnung ,,geistig behindert" nie dem eigentlichen Wesen eines Menschen
gerecht werden" (Grundsatzprogramm der Lebenshilfe e.V. 1990).
Aus medizinischer Sicht handelt es sich bei der geistigen Behinderung um eine
Minderung bzw. Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz, welche
meist aus einem angeborenen oder früh erworbenen organischen Defekt
resultiert.
Die
geistige
Behinderung ist also auf eine körperliche
Beeinträchtigung zurückzuführen. Im Mittelpunkt steht die Schädigung des
Gehirns, welche sich auch auf andere Körperfunktionen auswirken kann (vgl.
Speck 1993). Dabei ist die individuelle Form einer geistigen Behinderung nicht
als Folge einer bestimmten körperlichen Schädigung zu sehen, ,,sondern aus
einem
komplexen
Wirkzusammenhang
,endogener'
und
,exogener',
somatischer und sozialer Faktoren" (Speck 1993).
Die pädagogische Betrachtungsweise ergänzt die reine Beschreibung der
,,geistigen Behinderung" um die Tatsache, welche pädagogischen Erfordernisse
damit verbunden sind.

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Im Mittelpunkt steht also der Bedarf nach pädagogischer Unterstützung. Nach
einer Definition des deutschen Bildungsrates gilt als geistig behindert, ,,... wer
infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner
psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt
ist, daß er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen
bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen,
sozialen, emotionalen und der motorischen Entwicklung einher. Eine ,,untere
Grenze" sollte weder durch Angabe von IQ-Werten, noch durch Aussprechen
einer Bildungsunfähigkeit festgelegt werden, da grundsätzlich bei allen
Menschen die Bildungsfähigkeit angenommen werden muß" (Deutscher
Bildungsrat 1973). Somit resultieren aus einer geistigen Behinderung ,,spezielle
Erziehungsbedürfnisse, die bestimmt werden durch eine derart beeinträchtigte
intellektuelle und gefährdete soziale Entwicklung, dass lebenslange
pädagogisch-soziale Hilfen zu einer humanen Lebensverwirklichung nötig
werden" (Speck, 1993, S. 62).
Zusammenfassend betrachtet muten die aufgeführten Definitionen eher defizitär
an. Sie gehen stets von einem Defekt aus. Der Begriff ,,Behinderung" selbst
meint die Beeinträchtigung eines Menschen. Somit kann die Definition an sich
stigmatisieren und zur sozialen Ausgrenzung führen. Vor diesem Hintergrund
wird der Begriff ,,geistige Behinderung" immer wieder kontrovers diskutiert.
Feuser stellt ihn gänzlich infrage, indem er behauptet, ,,Geistigbehinderte gibt
es nicht" (Feuser 2000, S. 149). Fest steht, dass geistige Behinderung nicht
ausschließlich mit einem Defekt oder einer Krankheit gleichzusetzen ist. ,,Sie ist
weder eine gesundheitliche Störung, noch eine psychische Krankheit. Sie ist
vielmehr ein spezieller Zustand der Funktionsfähigkeit, der in der Kindheit
beginnt und durch eine Begrenzung der Intelligenzfunktionen und der Fähigkeit
zur Anpassung an die Umgebung gekennzeichnet ist" (Lindmeier 1993).
Dennoch spielen psychische und körperliche Beeinträchtigungen in dem
betroffenen Personenkreis eine große Rolle (vgl. Kane & Klauß 2003). Um die
entsprechende Hilfe und Assistenz planen und durchführen zu können, müssen
diese auch berücksichtigt werden. Dabei dürfen jedoch die individuellen Stärken
nicht vergessen werden. Die Aufgabe der Pflege ist es, im Sinne des
Pflegeprozesses sowohl Probleme als auch Ressourcen zu erkennen und zu
beschreiben, um daraus entsprechende Maßnahmen zu planen.

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Für diese Arbeit gilt, dass keine einheitliche Definition von geistiger
Behinderung existiert. Es gibt unterschiedliche Betrachtungsweisen der
einzelnen Disziplinen, die sich mit dem Phänomen befassen. Dabei stehen bei
den meisten Defizite im Vordergrund. Andere gehen wiederum davon aus, dass
es den geistig behinderten Menschen gar nicht gibt. Die Pflege betrachtet den
Menschen mit geistiger Behinderung ganzheitlich und berücksichtigt im Sinne
des Pflegeprozesses ebenso seine Probleme wie auch die vorhandenen
Ressourcen.
Pflegebedürftigkeit
In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe ,,Pflegebedürftigkeit" und
,,Pflegebedarf" verwendet. In der Literatur finden sich diese häufig synonym
wieder. Deshalb erscheint es an der Stelle sinnvoll, auf beide Begriffe näher
einzugehen und sie voneinander abzugrenzen.
Laut § 14 SGB XI sind Personen pflegebedürftig, wenn sie ,,wegen einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die
gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des
täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in
erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen" (SGB XI §
14/SGBXI 2000). Im § 15 werden die einzelnen Pflegestufen beschrieben sowie
der Zeitaufwand an pflegerischer Betreuung festgelegt. Seit Einführung der
Pflegeversicherung wird diese Definition aus pflegewissenschaftlicher Sicht
infrage gestellt, denn sie bezieht sich fast ausschließlich auf körperbezogene
Verrichtungen und lässt die ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen
missen. So werden wesentliche Aspekte wie Teilhabe oder Kommunikation gar
nicht bedacht (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2009). Demenziell
Erkrankte oder Menschen mit geistiger Behinderung werden hier nicht in
ausreichendem Maße berücksichtigt.
Vor diesem Hintergrund entwickelte das Institut für Pflegewissenschaft an der
Universität Bielefeld (IPW) gemeinsam mit dem Medizinischen Dienst ein neues
Begutachtungsverfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit, welches auf
einem umfangreichen pflegewissenschaftlichen Verständnis basiert.
Pflegebedürftigkeit ist ein ,,personales Merkmal", das heißt eine Eigenschaft
einer Person (vgl. Wingenfeld 2000). Sie bezieht sich auf die reine
Einschränkung von Fähigkeiten sowie die vorhandenen Ressourcen.

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Dagegen entspricht der Begriff Pflegebedarf der Einschätzung der ,,als
erforderlich angesehenen Handlungen, Maßnahmen und Leistungen" der
Pflegebedürftigen (Wingenfeld 2000). Eine Erhebung des Pflegebedarfs ist also
notwendig, um den Bedarf zunächst einmal sichtbar zu machen und daraus die
entsprechenden Interventionen abzuleiten. Während die Pflegebedürftigkeit
sozusagen das Merkmal des Pflegebedürftigen darstellt, bezeichnet der
Pflegebedarf ,,Art und Umfang der Maßnahmen, die als geeignet und
erforderlich gelten, um pflegerisch relevante Problemlagen zu bewältigen"
(Wingenfeld & Schnabel 2002).
Im Zusammenhang mit dem Begriff Pflegebedürftigkeit stellt sich immer die
Frage nach deren Entstehung. Was führt dazu, dass ein Mensch
pflegebedürftig
wird?
Eine
Krankheit
führt
nicht
zwangsweise
zur
Pflegebedürftigkeit (vgl. Wingenfeld & Büscher 2009). So ist jemand, der an der
Krankheit Diabetes Mellitus Typ II leidet, nicht zwangsweise pflegebedürftig.
Wenn er über seine Krankheit informiert ist, die Blutzuckerkontrolle selbst
übernehmen kann und alles weitere, was erforderlich ist, benötigt er keine
pflegerische Unterstützung. Er ist also in dieser Hinsicht nicht abhängig von der
pflegerischen Hilfe. Wenn er dagegen das Blutzuckermessen und die
Insulingabe nicht selbst beherrscht, wird er an der Stelle pflegerische Hilfe
benötigen. Er ist in diesem Fall ,,pflegebedürftig". Das Beispiel soll deutlich
machen, dass nicht die Erkrankung, sondern ein Mangel an Ressourcen zur
Bewältigung des Problems ausschlaggebend für die Abhängigkeit von
pflegerischer Hilfe ist (vgl. Wingenfeld & Büscher 2009). Auch die geistige
Behinderung ist nicht zwangsweise mit Pflegebedürftigkeit gleichzusetzen. Ihre
Komplexität wurde bereits im Punkt 2.3.1 benannt. Die Formen geistiger
Behinderung sind ebenso vielfältig wie die Fähigkeiten und Ressourcen des
einzelnen Individuums.
Zusammenfassend betrachtet ist Pflegebedürftigkeit eine ,,Beeinträchtigung der
Selbstständigkeit bei der Durchführung bestimmter Aktivitäten und bei der
Gestaltung von Lebensbereichen - als Beeinträchtigung, die pflegerische
Unterstützung erforderlich macht" (Wingenfeld & Büscher 2009).
Für die Planung und Durchführung entsprechender pflegerischer Maßnahmen
ist somit beim Einschätzen der Pflegebedürftigkeit ein besonderes Augenmerk
auf die Ressourcen zu richten.

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Das Erfassen der Ressourcen von Menschen mit geistiger Behinderung ist ein
wesentlicher Teilaspekt der vorliegenden Arbeit.
Individuelle Pflegebedürfnisse
,,Um im Zustand körperlichen, geistigen und sozialen Wohlseins und
Wohlbefindens leben zu können, müssen beim Menschen mehrere notwendige
Voraussetzungen erfüllt sein, die Bedürfnisse genannt werden" (Arets & Obex &
Vaessen & Wagner 2000, S. 5). Das Thema ,,Bedürfnisse" wurde bereits im
Punkt 2.2 vor dem Hintergrund der ,,Maslowschen Bedürfnispyramide"
behandelt.
Im
Folgenden
soll
eine
Annäherung
aus
der
pflegewissenschaftlichen Betrachtungsweise stattfinden.
Maslows Motivationstheorie bildet die Grundlage für die Entwicklung der
Bedürfnismodelle in der Pflege. Diese basieren auf dem Defizitmodell: Pflege ist
notwendig, wenn ein Defizit an Bedürfnisbefriedigung besteht (vgl. Arets &
Obex & Vaessen & Wagner 2000). So bilden zum Beispiel bei Virginia
Henderson vierzehn Bedürfnisse die Grundlage für ihr Pflegemodell. Das
Modell von Krohwinkel gliedert die ,,Bedürfnisse und Fähigkeiten" in dreizehn
Bereiche, wobei ein besonderer Fokus auf die Punkte ,,Soziale- Bereiche- des
Lebens sichern" und ,,Mit- existenziellen- Erfahrungen- des- Lebens- umgehen"
gelegt wird (vgl. Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000). Im Mittelpunkt der
Theorie von Dorothea Orem steht das Konzept der Selbstpflege und der damit
verbundene Begriff des Selbstpflegedefizits. Orem beschreibt in ihrem Buch
,,Nursing: concepts of practice" das Konzept der Selbstpflege und den damit
verbundenen
Begriff
des
Selbstpflegedefizits.
Angelehnt
an
die
Motivationstheorie mit der Hierarchie der Bedürfnisse von Maslow unterscheidet
sie zwischen universellen Bedürfnissen, entwicklungsgebundenen Bedürfnissen
und Bedürfnissen, die durch Gesundheitsstörungen bestimmt werden.
Universelle Bedürfnisse sind nach Orem diejenigen, die vom Menschen in
jedem Fall erfüllt werden müssen. Sie sind Voraussetzung für die weitere
Entwicklung. Dazu gehören:
·
,,Aufrechterhaltung der Sauerstoffaufnahme.
·
Aufrechterhaltung der Wasseraufnahme.
·
Aufrechterhaltung der Nahrungsaufnahme.
·
Aufrechterhaltung der Ausscheidung.
·
Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen Aktivität und Ruhe.

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·
Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen Individuum und
Sozialwesen.
·
Vermeidung von Gefahren für die menschliche Existenz, das
Funktionieren und das Wohlbefinden.
·
Förderung menschlichen Funktionierens und sozialer Entwicklung
innerhalb von Gruppen in Übereinstimmung mit den menschlichen
Möglichkeiten" (Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000, S. 10).
Der Mensch strebt während seines gesamten Lebens nach dem gesunden und
sinnvollen Dasein. Seine Entwicklung hängt von der Bedürfnisbefriedigung ab.
Orem unterscheidet hier die Entwicklungsgebundenen Bedürfnisse in zwei
Bedürfnisgruppen:
,,Das Schaffen oder Gewährleisten von Lebensbedingungen, die eine
unterstützende Funktion haben und die die menschliche Entwicklung in den
unterschiedlichen Lebensphasen fördern.
Pflege im Zusammenhang mit Bedingungen, die die menschliche Entwicklung
nachteilig beeinflussen können" (Arets & Obex & Vaessen & Wagner 2000, S.
11).
Bedürfnisse, die durch Gesundheitsstörungen bestimmt werden, umfassen
unter anderem die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe, Information über
die betreffende Störung sowie mit den Folgen der Erkrankung leben zu lernen
und sich dabei weiterzuentwickeln (vgl. Arets & Obex & Vaessen & Wagner
2000, S. 12).
Pflege setzt dort an, wo die Befriedigung dieser Bedürfnisse dem Einzelnen
nicht mehr selbständig möglich ist: ,,... Pflege ist eine Kunst, durch die der
Pflegende, als derjenige, der Pflege praktiziert, Personen mit Einschränkungen
spezielle Unterstützung gewährleistet, sofern mehr als eine gewöhnliche
Unterstützung notwendig ist ..." (Orem 1952). Henderson betont die
Notwendigkeit der Pflegenden, sich stets dessen bewusst zu sein, dass sie dem
Bedürfnismuster des zu Pflegenden entgegenkommen müssen. Daher müssen
sie in der Lage sein, sich in den Betroffenen hineinzuversetzen, mit ihm
gemeinsam seine Bedürfnisse einzuschätzen, um den entsprechenden Bedarf
an Hilfe und Assistenz festzulegen.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, das Spezifische der Pflege von Menschen mit
geistiger Behinderung zu erfassen.

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Theoretischer und konzeptioneller Rahmen
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Huß, Bachelorarbeit im WS 2008/2009
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Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die individuellen Pflegebedürfnisse,
deren Befriedigung als Voraussetzung für den Zustand des körperlichen,
seelischen und sozialen Wohlbefindens betrachtet wird.
2.3 Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung
Situation der Pflege in der Behindertenhilfe
Ein großer Anteil der Menschen mit geistiger Behinderung lebt in stationären
Einrichtungen der Behindertenhilfe. Nach Angaben des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend ergab sich für das Jahr 2003 eine
Gesamtzahl von etwa 5.100 stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, ca.
60% davon sind Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung (vgl.
BMFSFJ 2006).
In den Institutionen der Behindertenhilfe werden Menschen mit geistiger
Behinderung
von
multidisziplinären
Teams
begleitet.
Mitarbeiter
unterschiedlicher Berufsgruppen sind an der direkten pflegerischen und
pädagogischen Betreuung dieser Personengruppe beteiligt. Es sind
Heilerziehungspfleger, Heilpädagogen, Sozialpädagogen sowie Gesundheits-
und Krankenpfleger, die in den Wohngruppen für Menschen mit geistiger
Behinderung arbeiten. In der Praxis umfasst der Verantwortungs- und
Aufgabenbereich aller im Team Arbeitenden sowohl pädagogische als auch
pflegerische Aspekte. Dabei ist es in der Praxis keine Seltenheit, dass
Mitarbeiter auch ohne eine entsprechende pflegefachliche Qualifizierung für
pflegerische
Maßnahmen
zuständig
sind.
Die
Ausbildung
zum
Heilerziehungspfleger hat einen deutlich pädagogischen Schwerpunkt, der
pflegerische Anteil wird mit 130 Stunden nur geringfügig berücksichtigt.
Umgekehrt räumt die Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger der
Thematik von Menschen mit geistiger Behinderung verhältnismäßig wenig
Umfang ein. Ohne eine entsprechende Ausbildung beschränkt sich das
Handeln auf Erfahrungs- und Alltagswissen, wobei wissenschaftliche Kriterien
kaum oder keine Beachtung finden (vgl. Kane & Klauß 2003). Im Sinne
professioneller Begleitung der Menschen mit geistiger Behinderung kann dieser
Mangel an wissenschaftlichem Wissen dazu führen, dass die Lebensqualität
nicht ausreichend berücksichtigt wird. "Pflegequalität hat einen großen Einfluss
auf die gesamte Lebensqualität" (Kane & Klauß 2003).

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Die historisch und politisch bedingte pädagogische Dominanz in der
Behindertenhilfe könnte eine mögliche Ursache dafür sein, dass pflegerische
und gesundheitsrelevante Themen im Zusammenhang mit dem Phänomen
geistige Behinderung bisher vernachlässigt wurden (vgl. Schnoor 2007). Dazu
gehören zum Beispiel Prävention und Gesundheitsförderung.
Daraus ergeben sich deutliche Auswirkungen auf die Lebensqualität.
,,Gesundheit ist für jeden Menschen ein wesentlicher Aspekt erfüllten Lebens
und eine grundlegende Voraussetzung für sinnvolle und erfolgreiche Teilhabe,
für Partizipation am Leben in der Gemeinschaft" (Bundesverband evangelische
Behindertenhilfe 2001).
Wie bereits im Vorfeld dargestellt, sind Menschen mit geistiger Behinderung
häufig auch von psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen betroffen,
die sie in ihren Lebensaktivitäten einschränken. Mit dem Ziel, die Lebensqualität
zu erhalten und zu erhöhen, gehört es zu den Aufgaben der Pflege, die
Versorgung des Einzelnen zu organisieren und durchzuführen. Dabei gilt es die
Pflegebedürftigkeit des Einzelnen einzuschätzen, wobei die Probleme und
Ressourcen gleichermaßen berücksichtigt werden müssen, ebenso die
individuellen Pflegebedürfnisse. Das Erstellen der Pflegeplanung umfasst die
Pflegediagnostik, die Festlegung pflegerischer Ziele, die Planung der
Maßnahmen, ihre Durchführung und die Evaluation. Dabei sollten die neuesten
wissenschaftlichen
Erkenntnisse
der
eigenen
Disziplin
sowie
der
Bezugsdisziplinen, zum Beispiel der Pädagogik, berücksichtigt werden. Bisher
wurde der Thematik der geistigen Behinderung in der pflegewissenschaftlichen
Diskussion jedoch verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit gewährt. Es gibt nur
einige
wenige
Untersuchungen,
die
beispielsweise
Aussagen
zur
Lebensqualität, zur Pflegebedürftigkeit und zu den individuellen Bedürfnissen
dieser Personengruppe treffen.
Zusammenfassend betrachtet gibt es aufgrund der multidisziplinären Begleitung
von Menschen mit geistiger Behinderung in Institutionen Unterschiede im
theoretischen und fachlichen Wissen der Mitarbeiter. Dennoch umfasst das
Aufgabenfeld in der Praxis häufig sowohl den pädagogischen als auch den
pflegerischen Verantwortungsbereich. Der Mangel an wissenschaftlichem
Wissen kann dazu führen, dass die Lebensqualität der Menschen mit geistiger
Behinderung nicht ausreichend berücksichtigt wird.

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In dem pädagogisch dominierten Bereich der Behindertenhilfe wurden
pflegerische Themenbereiche bisher vernachlässigt. Umgekehrt findet die
Thematik ,,geistige Behinderung" in der pflegewissenschaftlichen Diskussion
ebenso wenig Beachtung. Vor diesem Hintergrund hat die vorliegende Arbeit
den Anspruch, sich dem Phänomen der geistigen Behinderung aus
pflegewissenschaftlicher Sicht zu nähern. Dabei wird der Versuch
unternommen, das Spezifische der pflegerischen Begleitung von Menschen mit
geistiger Behinderung zu erfassen.
Zum Verhältnis von Pflege und Pädagogik
Wie oben bereits erläutert, kann die Zusammenarbeit pädagogisch und
pflegerisch ausgebildeter Mitarbeiter in Institutionen der Behindertenhilfe einige
Problemstellungen beinhalten. Aus diesem Grund erscheint es hier sinnvoll, auf
das Verhältnis von Pflege und Pädagogik an sich einzugehen. Mit allen
Zusammenhängen und Abgrenzungen lässt sich das Thema im Rahmen dieser
Bachelorarbeit nicht ausführlich klären, dennoch wird im Folgenden der
Versuch unternommen, einige wichtige Aspekte zu beleuchten.
Die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung fand lange Zeit in
psychiatrischen Anstalten statt und gehörte somit in das medizinische und
krankenpflegerische Arbeitsfeld. Im September 1975 erschien ein Bericht über
die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, die sogenannte
Psychiatrie-Enquête. Darin wird unter anderem eine Trennung der Versorgung
psychisch Kranker und geistig Behinderter gefordert (vgl. Deutscher Bundestag
1975).
Der medizinische Ansatz wird zunehmend von der Pädagogik im Sinne
von Förderung und Integration abgelöst. Die Behindertenhilfe distanziert sich
von der medizinischen Versorgung und somit auch von der Pflege.
Das Streben nach Unabhängigkeit von der Pflege findet sich bis heute auch in
der Gesetzgebung wieder. Die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft scheint
nur mit größtmöglicher Unabhängigkeit von der Pflege vereinbar und gilt als
wichtiges Kriterium für den Erhalt von Leistungen der Eingliederungshilfe:
,,Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu
verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu
mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern.

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Hierzu gehört vor allem, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in
der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung
eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu
ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen" (§
39 Abs. 3 BSHG).
Das Verhältnis von Pflege und Pädagogik wird derzeit vor allem vor dem
Hintergrund der finanziellen Leistungen für Menschen mit geistiger Behinderung
diskutiert.
Menschen
mit
Behinderung
erhalten
Leistungen
der
Eingliederungshilfe nach SGB XII. Pflegebedürftige Menschen erhalten
Leistungen der Pflegeversicherung nach SGB XI. Die Ausgaben für die
Eingliederungshilfe sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Berichten des
Statistischen Bundesamtes zufolge beliefen sich die Ausgaben für
Eingliederungshilfe im Jahr 2007 in Institutionen pro Empfänger auf rund 20 080
Euro (vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Im Sinne finanzieller Einsparungen
sind somit die Kostenträger bestrebt, die Versorgung von Menschen mit
geistiger Behinderung, die auf pflegerische Unterstützung angewiesen sind, in
Pflegeeinrichtungen zu verlagern, wo ausschließlich Leistungen der
Pflegeversicherung in Anspruch genommen werden können. Die angespannte
finanzielle Lage der Sozialleistungsträger spiegelt sich in dem öffentlichen
Diskurs um die Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung wider.
Dabei wird die Trennung von Eingliederungsmaßnahmen und Leistungen der
Pflege fokussiert. Dies hat ebenfalls eine Spaltung der beiden an der Begleitung
des Menschen mit geistiger Behinderung beteiligten Disziplinen zur Folge:
Pflege und Pädagogik.
Wie bereits erörtert, stehen in der Begriffsdefinition von Pflege als Antwort auf
Pflegebedürftigkeit die körperbezogenen Aspekte im Vordergrund. Dies hat eine
Reduktion der Disziplin auf körperliche Verrichtungen zur Folge. Die Pädagogik
distanziert
sich
von
diesem
Aufgabenfeld.
Sie
sieht
,,spezielle
Erziehungsbedürfnisse" als ihren Auftrag (vgl. Speck 1993). Dabei wird
pädagogische Arbeit nur dort möglich sein, wo auch die körperlichen
Bedürfnisse befriedigt sind. So wird beispielsweise der Mensch mit einer Hör-
und Sprachbehinderung keine neue Gebärde lernen, wenn er gerade Hunger
hat oder zur Toilette muss. Somit kann ,,Pflege als Voraussetzung von
Pädagogik" gesehen werden (vgl. Kane & Klauß 2003, S. 49).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836642569
DOI
10.3239/9783836642569
Dateigröße
702 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Ravensburg-Weingarten – Soziale Arbeit, Pflegepädagogik
Erscheinungsdatum
2010 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
pflege maslow bedürfnispyramide behindertenhilfe lebensqualität
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Titel: Pflegebedürftigkeit und individuelle Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung in der Pflege
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