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Zur Frage geeigneter Leselernkonzepte für Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung

©2009 Examensarbeit 100 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Lesen ist in modernen Gesellschaften wesentlicher Bestandteil zur ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe und gilt daher seit Bestehen der Schulpflicht als elementarer Teilbereich der Bildungs- und Erziehungsarbeit an allgemeinen Grundschulen.
Die Fähigkeit zur Entschlüsselung von Mitteilungen schafft eine kommunikative Basis und erlaubt dem Einzelnen, sich Wissen selbstständig anzueignen. Dabei stehen uns die Informationen als ‘konserviertes Gedankengut’ zur Verfügung und unterstützen unser Erinnerungsvermögen. Lesenkönnen gilt in unserer Gesellschaft als essentielles Kulturgut und ist fundamentaler Ausweis der Partizipation, während Analphabetismus zu sozialen Stigmatisierungen führt.
In der Geistigbehindertenpädagogik wurde die Rolle des Leseerwerbs jedoch lange Zeit als ‘Gretchenfrage’ behandelt. Das Meinungsbild spannte sich in erster Linie zwischen Fachleuten und Eltern. Erstere stuften den Leselernprozess wegen seiner Komplexität und seiner vornehmlichen Anforderungen an Abstraktionsleistungen mehrheitlich für Schüler mit geistiger Behinderung als nicht zu bewältigen ein. Die Aberkennung des Lesens als Teil lebenspraktischer Förderung trug weiterhin dazu bei, dass die Leseförderung bei Schülern mit geistiger Behinderung in den Hintergrund schulischer Bemühungen trat.
Demgegenüber postulierten Eltern der Betroffenen den grundlegenden Leseerwerb als Aufgabenbereich dieser Schulen sicherzustellen. Ihre Forderung basierte vor allem auf dem Recht zur aktiven Partizipation am gesellschaftlichen Leben.
Der vehement geführte Diskurs um die Legitimation der Kulturtechnik Lesen als Bildungsinhalt für Schüler mit geistiger Behinderung wurde seit Mitte der 80er Jahre durch das erweiterte Leseverständnis weitgehend entschärft. Lesen bleibt demzufolge nicht mehr ausschließlich auf das sinnerfassende Entschlüsseln der Buchstabenschrift begrenzt. Seit der Entwicklung des Stufenmodells zur Leseförderung für Schüler mit geistiger Behinderung, das vor allem auf den Geistigbehindertenpädagogen Hublow zurückgeführt werden darf, wird Lesen in der Fachwissenschaft nunmehr verstanden als ‘Wahrnehmen und Deuten von Zeichen, die uns etwas sagen’.
Als Zeichen aufgefasst werden dabei Buchstaben ebenso wie die visuellen Informationsträger Bilder, Symbole, Signale und Piktogramme, die uns allerorts im alltäglichen Leben begegnen. Hinter jedem dieser Zeichen steckt eine Botschaft. Sie zu verstehen, ihrer Aufforderung, […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sabrina Gill
Zur Frage geeigneter Leselernkonzepte für Schülerinnen und Schüler mit geistiger
Behinderung
ISBN: 978-3-8366-4236-1
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland, Staatsexamensarbeit, 2009
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Inhaltsverzeichnis
Seite
Einleitung... 3
1
Schüler mit geistiger Behinderung ... 6
2
Grundlagen des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung 14
2.2.1
Lesen im engeren Sinn
... 16
2.2.2
Lesen im erweiterten Sinn
... 18
3
Kriterienkatalog zur Analyse und Bewertung von Leselernkonzepten . 25
4 Leselernkonzepte... 41
4.1.1
,,Bilderlesebuch" (Klein)
... 44
4.1.2
Signalunterricht (Kapitzke)
... 47
4.2.1
,,Geistigbehinderte lernen ihren Namen lesen und schreiben" (Dank)
... 52
4.2.2
,,Lesen und Schreiben an der Schule für Geistigbehinderte" (Günthner)
... 55
4.3.1
,,Geistigbehinderte lernen lesen und schreiben"
(Schmitz/Niederkrüger/Wrighton)
... 60
4.3.2
,,Lesen mit Lo" (Schultze/Hipp)
... 63
4.3.3
,,Lesenlernen mit Hand und Fuß" (Marx/Steffen)
... 66
5 Fazit ... 73
Quellennachweis... 78
Anhang ... 84
1.1
Zur Problematik des Begriffsfeldes ,,geistige Behinderung" ... 6
1.2
Annäherungsversuche an das Phänomen ,,geistige Behinderung"... 8
1.3
Zur Lernausgangslage ... 12
2.1
Bedeutung und Stellenwert der Kulturtechnik Lesen... 14
2.2
Der Lesebegriff ... 16
3.1
Das Kriterium der Entwicklungsorientierung... 25
3.2
Das Kriterium der Handlungsbezogenheit ... 31
3.3
Das Kriterium der Differenzierung ... 35
3.4
Das Kriterium der Materialgestaltung... 39
4.1
Konzepte zum Bilder-, Piktogramm- und Signalwortlesen ... 43
4.2
Konzepte zum Wortgestaltlesen... 50
4.3
Konzepte zum Schriftlesen ... 59

Einleitung
3
Einleitung
Lesen ist in modernen Gesellschaften wesentlicher Bestandteil zur ökonomischen, gesell-
schaftlichen und kulturellen Teilhabe und gilt daher seit Bestehen der Schulpflicht als
elementarer Teilbereich der Bildungs- und Erziehungsarbeit an allgemeinen Grundschu-
len.
Die Fähigkeit zur Entschlüsselung von Mitteilungen schafft eine kommunikative Basis
und erlaubt dem Einzelnen, sich Wissen selbstständig anzueignen. Dabei stehen uns die
Informationen als ,,konserviertes Gedankengut" zur Verfügung und unterstützen unser
Erinnerungsvermögen. Lesenkönnen gilt in unserer Gesellschaft als essentielles Kulturgut
und ist fundamentaler Ausweis der Partizipation, während Analphabetismus zu sozialen
Stigmatisierungen führt (vgl. Heuß 1993, 33; Schurad 2007, 35).
In der Geistigbehindertenpädagogik wurde die Rolle des Leseerwerbs jedoch lange Zeit
als ,,Gretchenfrage" behandelt (vgl. Speck 1999, 281). Das Meinungsbild spannte sich in
erster Linie zwischen Fachleuten und Eltern. Erstere stuften den Leselernprozess wegen
seiner Komplexität und seiner vornehmlichen Anforderungen an Abstraktionsleistungen
mehrheitlich für Schüler mit geistiger Behinderung als nicht zu bewältigen ein. Die Aber-
kennung des Lesens als Teil lebenspraktischer Förderung trug weiterhin dazu bei, dass
die Leseförderung bei Schülern
1
mit geistiger Behinderung in den Hintergrund schuli-
scher Bemühungen trat.
Demgegenüber postulierten Eltern der Betroffenen den grundlegenden Leseerwerb als
Aufgabenbereich dieser Schulen sicherzustellen. Ihre Forderung basierte vor allem auf
dem Recht zur aktiven Partizipation am gesellschaftlichen Leben (vgl. Günthner 2008,
10f.).
Der vehement geführte Diskurs um die Legitimation der Kulturtechnik Lesen als Bil-
dungsinhalt für Schüler mit geistiger Behinderung wurde seit Mitte der 80er Jahre durch
das erweiterte Leseverständnis weitgehend entschärft. Lesen bleibt demzufolge nicht
mehr ausschließlich auf das sinnerfassende Entschlüsseln der Buchstabenschrift begrenzt.
Seit der Entwicklung des Stufenmodells zur Leseförderung für Schüler mit geistiger Be-
hinderung, das vor allem auf den Geistigbehindertenpädagogen Hublow zurückgeführt
werden darf, wird Lesen in der Fachwissenschaft nunmehr verstanden als ,,Wahrnehmen
und Deuten von Zeichen, die uns etwas sagen" (vgl. Hublow 1985, 3).
Als Zeichen aufgefasst werden dabei Buchstaben ebenso wie die visuellen Informations-
träger Bilder, Symbole, Signale und Piktogramme, die uns allerorts im alltäglichen Leben
begegnen. Hinter jedem dieser Zeichen steckt eine Botschaft. Sie zu verstehen, ihrer Auf-
1
Des besseren Leseflusses halber wird bei der Verwendung von Personengruppen die maskuline Bezeich-
nung verwendet. Selbstverständlich schließt sie die feminine Entsprechung mit ein.

Einleitung
4
forderung, ihrem Hinweis, ihrem Verbot oder ihrer Warnung folgen zu können, ist keine
Selbstverständlichkeit, sondern eine Form des Lesens, die es zu erlernen gilt.
Gegenwärtig ist es unumstritten, dass Schülern mit geistiger Behinderung auf ihrem Weg
in ein möglichst selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Leben in sozialer Integration
die Kommunikations- und Orientierungshilfe ,,Lesen" nicht vorenthalten werden darf
(vgl. Schurad 2007, 35). Mit der Etablierung des erweiterten Lesebegriffs wird dem An-
spruch eines individualisierten für alle Schüler bildungsrelevanten Leseunterrichts auf
theoretischer Ebene Rechnung getragen. Er fordert Leseangebote, die weit vor dem Erler-
nen der Buchstabenschrift ansetzen, um den heterogenen Lernbedürfnissen der Schüler-
schaft gerecht zu werden.
Allerdings sind Fachwissenschaft und Fachdidaktik des Schriftspracherwerbs innerhalb
der Geistigbehindertenpädagogik bislang unzureichend fundiert. So bestehen in der
Schulpraxis immer noch Unklarheiten bezüglich der methodisch-didaktischen Realisation
des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung (vgl. Thamm 2007, 72). Der
vorherrschende Mangel an Leselernkonzepten für diese Schülerschaft führt bei den Leh-
rern zu unterschiedlichen Reaktionen. Einige Lehrer neigen dazu, diesen Lernbereich
gänzlich zu meiden, da nicht genügend strukturiertes Material zur Verfügung steht. Ande-
re hingegen stellen auf der Grundlage ihrer Erfahrungswerte in zeit- und kraftaufwendi-
gen Alleingängen selbstständig Materialien zur Leseförderung her oder übernehmen -oft
experimentierend- Leselernkonzepte aus dem Grundschulbereich, die den besonderen
Ansprüchen von Schülern mit geistiger Behinderung nur bedingt Rechnung tragen kön-
nen (vgl. Hauck-von den Driesch 2003, 10f.; Thümmel 2002, 26).
Sowohl die Unsicherheiten bezüglich der Inhalte und Methoden zur Leseförderung bei
Schülern mit geistiger Behinderung als auch die Unzulänglichkeiten, was klassen- oder
gar schulübergreifenden Absprachen bezüglich der Leseförderung betrifft, erhärteten
zunehmend den Wunsch der Lehrer nach strukturierenden Rahmenbedingungen (vgl.
Thamm 2007, 72).
Mit diesem Anliegen eng verbunden ist die Frage nach geeigneten Leselernkonzepten für
diese Schülerschaft. Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser Fragestellung, indem sie
einige in der aktuellen Unterrichtspraxis eingesetzte Leselernkonzepte analysiert und
daraufhin untersucht, inwiefern sie sich für den Einsatz im Leseunterricht bei Schülern
mit geistiger Behinderung eignen. Dabei gibt sie einen Überblick über die Anforderun-
gen, die Leselernkonzepte erfüllen müssen, um Schülern mit geistiger Behinderung indi-
viduumzentriertes Lesenlernen zu ermöglichen.
Ziel der Arbeit ist es, Lehrern Richtlinien für die Auswahl und Entwicklung eines Lese-
lernkonzepts für Schüler mit geistiger Behinderung zu liefern, die ihnen eine Grundlage

Einleitung
5
für ihr methodisch-didaktisches Handeln im Leseunterricht schafft und sie ermutigt, die-
sen Lernbereich gemeinschaftlich stärker zu forcieren.
Die Arbeit diskutiert in Kapitel 1 zunächst den Begriff ,,geistige Behinderung" und wen-
det sich dann Ergebnissen aus Medizin, Psychologie und Soziologie zu, die Ursachen,
Klassifizierungen und gesellschaftliche Einflüsse umreißen und bei der pädagogischen
Arbeit mit Schülern mit geistiger Behinderung Beachtung finden müssen.
Um die Legitimation des Leseunterrichts für Schüler mit geistiger Behinderung zu be-
kräftigen, beschreibt das zweite Kapitel zunächst den Rang des Lesens als Kulturgut. Im
Mittelpunkt des Kapitels steht der Lesebegriff in seinem engeren und weiteren Verständ-
nis. Lesevorgänge werden erklärt und Lernvoraussetzungen beschrieben. Dem Leser wird
das Lesenlernen als vielschichtiger komplexer Prozess deutlich, dem ein individueller
Entwicklungsprozess zugrunde liegt. Die Beschreibung der Leseentwicklung unterstützt
und erleichtert dem Pädagogen die Deutung kindlicher Zugriffsweisen, aus denen sich
konkrete Hilfen zur Weiterentwicklung der individuellen Lesekompetenzen des Einzel-
nen ableiten lassen.
In Kapitel 3 wird ausführlich auf vier Kriterien eingegangen, mit deren Hilfe Leselern-
konzepte für Schüler mit geistiger Behinderung beurteilt und bewertet werden können:
Entwicklungsorientierung, Handlungsbezogenheit, Differenzierung und Materialgestal-
tung. Anschließend werden ausgewählte Leselernkonzepte zum Bilder-, Piktogramm- und
Signalwortlesen, zum Wortgestaltlesen und zum Schriftlesen vorgestellt. Es erfolgt eine
Beschreibung des Materials, der theoretischen und konzeptionellen Grundlegung, des
Aufbaus und der methodisch-didaktischen Umsetzung. Schließlich werden die Konzepte
anhand der eingeführten Kriterien beurteilt.
Die Ergebnisse werden im Fazit zusammengefasst. Dort findet der Leser auch weitere
Empfehlungen für den Leseunterricht mit Schülern mit geistiger Behinderung.

Schüler mit geistiger Behinderung
6
1
Schüler mit geistiger Behinderung
Vor der Suche nach geeigneten Leselernkonzepten für Schüler mit geistiger Behinderung
bedarf es zunächst einer Erläuterung des Personenkreises.
Einem Einblick in die Diskussion zur Terminologie folgt ein Abriss über Erklärungen
und Beschreibungen des Phänomens der geistigen Behinderung aus unterschiedlichen
Fachgebieten. Überlegungen zur Lernausgangslage der Schüler mit geistiger Behinderung
schließen sich an und führen zu Ansatzpunkten für pädagogisches Handeln, das auch im
Leseunterricht für Schüler mit geistiger Behinderung Anwendung finden sollte.
1.1
Zur Problematik des Begriffsfeldes ,,geistige Behinderung"
Der Begriff der geistigen Behinderung wurde 1958 von der Elternvereinigung ,,Lebens-
hilfe für das geistig behinderte Kind" in Anlehnung an das englische ,,mental retardation"
geprägt, um abwertende Formulierungen wie ,,Schwachsinn", ,,Idiotie" und ,,Blödsinn"
abzulösen sowie Stigmatisierungen und Etikettierungen zu überwinden (vgl. Fornefeld
2000, 44f.; Mühl 2000, 45). Seither hat diese Bezeichnung Eingang in die Umgangsspra-
che und in die fachbezogene Literatur gefunden.
In der aktuellen Fachdiskussion wird die Bezeichnung ,,geistige Behinderung" jedoch als
zu einseitig kritisiert und hinterfragt, da der Fokus auf der intellektuellen Beeinträchti-
gung liegt (vgl. ebd., 45; Greving/Gröschke 2000, 7). Gleichzeitig forcieren Stigmatisie-
rungsprozesse, die durch ein Festschreiben von Defiziten entstehen und soziale Ausgren-
zungsprozesse weiterhin unterstützen, die Forderung eines neuen ,,angemessenen" Begrif-
fes. Dieser sollte dem Normalisierungsgedanken
2
Rechnung tragen und möglichst nicht
mit eingrenzenden Assoziationen belegt sein.
Dennoch sind Versuche einer Bezeichnung der Schüler beispielsweise durch die positive
Kennzeichnung von Zugangswegen zum Lernen wie ,,motorisch bildbar" oder ,,praktisch
bildbar" als ebenso einseitig betrachtet worden, da sie nur ,,basale Bereiche der Bildbar-
keit" abdecken und weiterführende Lernmöglichkeiten der betroffenen Menschen weitge-
hend ausblenden (vgl. Mühl 2000, 45).
So favorisiert Feuser einen völligen Verzicht auf eine spezielle Bezeichnung. Mit der
provokanten These ,,Geistigbehinderte gibt es nicht" fordert er die Gesellschaft auf, die
Betroffenen vorurteilsfrei und als Gleichberechtigte aufzunehmen (Feuser 1996, 18ff.).
Speck hingegen sieht das Vermeiden eines kennzeichnenden Namens als ,,Verschleie-
rungsversuch" und weist darauf hin, dass ,,die Akzeptanz des Andersseins nicht [einzig]
von Namen abhängig" ist, sondern stets nur ein Teilaspekt eines Menschen bezeichnet,
und nicht das, was sein Menschsein und seine Individualität ausmacht (vgl. Speck 1999,
2
Das Normalisierungsprinzip zielt darauf, Menschen mit Behinderungen, Lebensmuster und alltägliche
Situationen zu schaffen, die den üblichen Verhältnissen und Lebensarten der Gesellschaft entsprechen, so
dass die Betroffenen ein Leben so normal wie möglich führen können (vgl. Fornefeld 2000, 136ff.).

Schüler mit geistiger Behinderung
7
40ff.; Buschlinger 2000, 19). Demzufolge ist der Umgang mit den Begrifflichkeiten in
der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung, da Einstellungen und geltende Normen
letztlich den Stigmatisierungseffekt bestimmen.
Die Schwierigkeit einer Benennung erhält eine weitere Brisanz dadurch, dass für verwal-
tungstechnische und wirtschaftliche Abläufe, die auf Hilfestellung und Förderung abzie-
len, eine möglichst eindeutige Definition und allgemeine Beschreibung des Personenkrei-
ses, der als ,,geistigbehindert" bezeichnet wird, erforderlich ist. Zudem bedarf es eines
einheitlichen Begriffsverständnisses, um in diagnostischer, prognostischer, therapeuti-
scher oder pädagogischer Hinsicht Untersuchungsergebnisse auswerten und vergleichen
zu können (vgl. Speck 1999, 42). Doch ein solches ,,Definieren bedeutet immer festlegen
und zwar (definitiv)" und muss von individuellen Besonderheiten absehen (vgl. ebd., 40).
Maßgeblich an diesem Wandel des Verständnisses von Behinderung
3
beteiligt war auf
internationaler Ebene die WHO mit ihrem 1999 revidierten Klassifikationsschema ,,Inter-
nationale Klassifikation der Schäden, Aktivitäten und Partizipation" (ICIDH-2). Dieses
Handbuch der Dimensionen von gesundheitlicher Integrität und Behinderung stellt eine
standardisierte Sprache zur Verfügung und ermöglicht in Form eines Kriterienkataloges
die Einordnung individueller Gesundheitsprobleme einer Person im Kontext ihrer Le-
benssituation. Der neu eingeführte Aspekt der Partizipation im Sinne des Einbezogen-
seins in eine Lebenssituation und deren Beeinträchtigung wurde in der 2001 weiterentwi-
ckelten Version mit der deutschen Bezeichnung ,,Internationale Klassifikation der Funk-
tionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF) neu definiert als Wechselwirkung
zwischen dem gesundheitlichen Problem einer Person und ihren personen- und umwelt-
bezogenen Kontextfaktoren
4
(vgl. Anhang: 1). Die ICF versteht Behinderung nicht nur als
persönliches, sondern als ein gesellschaftlich verursachtes Problem und im Wesentlichen
als eine Frage der Integration betroffener Menschen in die Gesellschaft (vgl. ICF 2005,
23). Demnach stellt die erschwerte Teilhabe am Leben der Gesellschaft die ,,eigentliche"
Behinderung dar und muss zum Ausgangspunkt der Hilfen werden. Dieser Ansatz kor-
respondiert mit den Grundaussagen des Neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX), das eine
selbstbestimmte Lebensführung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesell-
schaft als Zielsetzung der Rehabilitation proklamiert (vgl. SGB IX 2001).
Zum Problemfeld der Terminologie gehört auch die seit Mitte der 90er Jahre im Sonder-
schulwesen fortschreitende Bezeichnung der verschiedenen Behinderungsarten als För-
derschwerpunkte. So besuchen Schüler mit geistiger Behinderung Schulen mit dem son-
3
Der Wandel des Verständnisses von Behinderung meint die Abwendung einer defizitären Sichtweise hin zur
Anerkennung eines komplexen beeinflussbaren Bedingungsgefüges von Entwicklung. Das richtet den Blick
mehr auf die Fähigkeiten sowie Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten der Menschen mit geistiger Be-
hinderung.
4
Der Partizipationsbegriff wird sehr weit gefasst. Das Spektrum reicht von der Partizipation an der persönli-
chen Selbstversorgung, an sozialen Beziehungen, am häuslichen Leben und an der Gemeinschaft bis hin zur
Partizipation am sozialen und staatsbürgerlichen Leben.

Schüler mit geistiger Behinderung
8
derpädagogischen Förderschwerpunkt ,,Geistige Entwicklung" (vgl. KMK-Empfehlungen
1994).
5
Trotz der positiven Formulierung und Betonung eines Förderbedarfs, der gleichzeitig den
pädagogischen Auftrag hervorhebt, bleiben die Interdependenz vieler Faktoren auf die
Gesamtentwicklung eines Menschen und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen weitge-
hend unberücksichtigt (vgl. Kap. 1.2).
Geistige Behinderung ist wie jede andere Behinderung ein individuelles Phänomen. Es
gibt nicht den geistig behinderten Menschen, da sich sowohl die organische Funktionsbe-
einträchtigung als auch die seelischen und sozialen Folgen bei jedem der betroffenen
Menschen individuell verschieden darstellen (vgl. Fornefeld 2000, 45f.):
- Der geistigen Behinderung liegt eine organische Besonderheit zu Grunde.
- Für das konkrete Leben des Menschen sind die ihm möglichen Aktivitäten bedeutsam.
- Die Möglichkeit der Partizipation und der damit verbundene Grad an gesellschaftli-
cher Akzeptanz bestimmt seinen Entwicklungs-, Bildungs- und Mitgliedsgrad wesentlich
mit (vgl. Klauß 2006, 4).
In der vorliegenden Arbeit wird die von der ,,Internationalen Liga von Vereinigungen für
Menschen mit geistiger Behinderung" vorgeschlagene Formulierung ,,mit geistiger Be-
hinderung" verwendet. Menschlicher Individualität und Heterogenität wird mit dieser
Bezeichnung besser Rechnung getragen als mit dem eher vereinheitlichenden Etikett
,,geistig behindert". Zum anderen wird eine ontologisierende Form von den ,,Geistigbe-
hinderten" vermieden, die in erster Linie eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkei-
ten in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Der Zusatz ,,mit geistiger Behinderung"
verweist auf ein für die Lebenssituation des betroffenen Menschen zwar entscheidendes
Merkmal, das den Menschen in seiner Gesamtheit jedoch nicht von vornherein verabsolu-
tiert (vgl. Mühl 2000, 45f.). Er rückt in den Vordergrund, dass ,,geistige Behinderung" als
,,normale (übliche) Variante menschlicher Daseinformen" gilt (vgl. Speck 1999, 61). Da
sich das Thema der vorliegenden Arbeit auf den Schulbereich bezieht, wird in den fol-
genden Kapiteln der Terminus ,,Schüler mit geistiger Behinderung" verwendet.
1.2
Annäherungsversuche an das Phänomen ,,geistige Behinderung"
Medizin, Psychologie, Soziologie und Pädagogik wenden sich Menschen mit geistiger
Behinderung mit ihren fachspezifischen Sichtweisen zu und füllen den Begriff ,,geistige
Behinderung" mit verschiedenen Inhalten. Allen Fachgebieten gemeinsam ist, dass Aus-
sagen über Menschen mit geistiger Behinderung im Vordergrund stehen und daher nicht
adäquat sein müssen (vgl. Speck 1999, 43).
5
Diese Umbenennung in Förderschwerpunkte fand im Rahmen der Debatte um integrative Beschulungsmaß-
nahmen statt. Die Dominanz der Institution Sonderschule wurde zugunsten einer Vielzahl möglicher Förder-
orte verschoben (SopädVO 2005, 5).

Schüler mit geistiger Behinderung
9
Die medizinisch orientierte Sichtweise zielt auf die Klärung der Ursachen und der Entste-
hungsgeschichte der vorhandenen Funktionsstörungen (vgl. Fornefeld 2000, 51). Sie hebt
die körperliche bzw. organische Basis der geistigen Behinderung hervor, die Funktions-
beeinträchtigungen des Gehirns ­die vor allem das Zentralnervensystem betreffen­ und
die Auswirkungen auf die Gesamtpersönlichkeit des Menschen, auf sein Denken, Emp-
finden, Wahrnehmen, Handeln und Verhalten. Auf die Vielfalt der klinischen Syndrome
kann in dieser Arbeit nur hingewiesen werden. Sie können prä-, peri- oder postnatal ent-
stehen und reichen von Fehlbildungen des Gehirns, über Genmutationen, Chromosomen-
anomalien, Geburtstraumen, entzündlichen Erkrankungen des Zentralnervensystems bis
hin zu Gehirntumoren und Demenz.
6
Zusätzlich können Epilepsien und psychische
Krankheitsbilder wie Autismus, Psychosen und Stereotypien auftreten (vgl. ebd., 54f.;
Speck 1999, 46f.). Diese defektorientierte Haltung sieht ,,geistige Behinderung" als Zu-
stand und Eigenschaft, die weitere Einflussfaktoren und Entwicklungsprozesse weitge-
hend vernachlässigt.
Zum Verständnis des Phänomens ,,geistige Behinderung" ist es nötig, medizinisches Wis-
sen durch Ergebnisse aus anderen Disziplinen zu ergänzen, da jede geistige Behinderung
einem komplexen Bedingungsgefüge somatischer und sozialer Faktoren unterliegt (vgl.
Mühl 2000, 48).
Die psychologische Sichtweise stellt Verhaltensabweichungen und Intelligenzentwick-
lung in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Vor dem Hintergrund, dass Funktionsbeein-
trächtigungen des Gehirns vor allem Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung des
Menschen haben, wird ,,geistige Behinderung" als intellektuelle Retardierung definiert,
die über Intelligenz-Test-Verfahren gemessen wird (vgl. Speck 1999, 48ff.).
7
Ungeachtet
der inhaltlichen Unklarheit des Begriffs ,,Intelligenz" und der Kritik an der Verwendung
von Intelligenztests, werden von der theoretischen Basis einer allgemeinen Intelligenz als
konstante Größe ausgehend, generalisierende Kategorisierungen abgeleitet. So wird
,,geistige Behinderung" bei einem Intelligenzquotienten (IQ) unterhalb eines Messwerter-
gebnisses von 70 festgelegt (vgl. ebd., 48).
8
Im psychometrischen Sinn liegt demzufolge
eine geistige Behinderung vor, wenn die getestete Person mit ihren Leistungen zwei
Standartabweichungen vom Mittelwert abweicht. Abweichend davon sehen die Empfeh-
lungen des Deutschen Bildungsrates von 1973 eine geistige Behinderung bei mindestens
drei Standartabweichungen vom Mittelwert angegeben, was einem IQ unterhalb 55 ent-
spricht (vgl. ebd., 50). Darüber hinaus führte die große Streubreite der Lernniveaus und
6
Einen Überblick über die verschiedenen klinischen Syndrome liefert Fornefeld 2000, 52ff.. Für ausführliche
Darstellungen der Grundlagen und klinischen Syndrome, deren Behandlung und Rehabilitation vgl. Neuhäu-
ser/Steinhausen 1999.
7
Der Einfluss neuronaler Funktionsmechanismen auf die motorische, emotionale und soziale Entwicklung
und auf das Lernverhalten wird in Abhängigkeit zur kognitiven Entwicklung gesehen.
8
Als Bezugsgröße wurde eine Durchschnittsintelligenz mit einem IQ von 100 festgesetzt. Dieser errechnet
sich klassisch aus dem Verhältnis von Intelligenzalter und Lebensalter der getesteten Person.

Schüler mit geistiger Behinderung
10
Leistungsverhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung zu weiteren Kategorisierun-
gen. Ein solches Klassifikationssystem findet sich bei der ICD-10 (International Classifi-
cation of Diseases, 10th Revision) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die eine
Einteilung der ,,Intelligenzminderung" in Schweregrade vornimmt (vgl. Anhang: 2). Ähn-
lich verhält es sich bei der Definition und Klassifikation von ,,mental retardation" bei der
AAMD (American Association on Mental Deficiency), die die ,,unterdurchschnittliche
Allgemeinintelligenz" jedoch deutlich tiefer ansetzt und bei der der Intelligenzfaktor mit
sozialer Anpassung gekoppelt ist (vgl. Anhang: 3).
Aus den Ausführungen wird deutlich, dass eine Definition der geistigen Behinderung
anhand von Intelligenzquotienten nur wenig praktikabel ist, da die Unzulänglichkeiten in
der begrifflichen Klärung und verschiedenartige Durchführungen der Testverfahren zu
unterschiedlichen Grenzwerten führen (Fornefeld 2000, 58f.; Mühl 2000, 50ff.). Soziale
und kulturelle Einflussfaktoren werden oft nicht berücksichtigt.
Zwar können Einteilungen anhand des Intelligenzquotienten als schulische ,,Objektivie-
rungserfordernisse" wie zur Unterscheidung von ,,Lernbehinderung" und ,,geistiger Be-
hinderung" innerhalb schulorganisatorischer Maßnahmen ihre Berechtigung haben, für
pädagogische Belange ist ihre Notwendigkeit jedoch anzuzweifeln (vgl. Speck 1999, 50).
Das Aufdecken und Formulieren spezifischer pädagogischer Ansprüche ist durch derarti-
ge Einteilungsversuche nicht möglich. Vielmehr besteht die Gefahr, dass durch die Zu-
ordnung zu einer Gruppe Festschreibungen entstehen, die eine angemessene Förderung
der Schüler beeinträchtigen (vgl. Mühl 2000, 54).
Die soziologische Sichtweise widmet sich den gesellschaftlichen Bedingungssystemen
und untersucht, inwieweit Entstehung und Ausprägung geistiger Behinderung mit dem
sozialen und kulturellen Umfeld von Familien zusammenhängen. Unterschiedliche For-
schungsschwerpunkte und Datenausgangslagen der Untersuchungen verhindern eine ein-
heitliche Beurteilung. Deutlich wird aber, dass ein komplexes Bedingungsgefüge von
Einflussfaktoren aus dem Lebensumfeld die Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen
mit geistiger Behinderung prägt (vgl. Fornefeld 2000, 77ff.; Speck 1999, 60ff.).
Dabei spielen auch soziale Zuschreibungsprozesse eine wichtige Rolle:
,,Es gibt Menschen, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im
Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den wir als geistigbe-
hindert bezeichnen" (Feuser 1996, 18).
Geistige Behinderung ist nach diesem Verständnis nicht eine primär dem Individuum
innewohnende Eigenart, sondern entsteht erst in der Interaktion mit dem Individuum, in
seiner umgebenden Umwelt und ihren Ansprüchen (vgl. Theunissen 2005, 12ff.). Die
gesellschaftlich verursachte Zuschreibung einer Andersartigkeit beeinträchtigt den so
bezeichneten Menschen in seiner Entwicklung, die als ,,dialektischer Wechselwir-

Schüler mit geistiger Behinderung
11
kungsprozeß zwischen Individuum und Umwelt [verstanden wird], dessen Nahtstelle der
Wahrnehmungsprozeß ist" (vgl. Seifert 1997b, 15).
Die pädagogische Sichtweise versucht, medizinische, psychologische und soziologische
Erkenntnisse beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinde-
rung zu berücksichtigen.
Der deutsche Bildungsrat legte dazu 1974 in seinen Empfehlungen zur pädagogischen
Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher folgende
Definition als Beschreibungsversuch von geistiger Behinderung vor:
,,Als geistig behindert gilt, wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädi-
gung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist,
daß er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven
Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen
Entwicklung einher" (Deutscher Bildungsrat
1974, 37).
Geistige Behinderung wird demnach zwar als ein komplexes Phänomen verstanden, das
Beeinträchtigungen in verschiedenen Bereichen und einen lebenslangen Hilfebedarf mit
sich bringt, doch hebt diese Definition die ,,vermeintliche Inkompetenz des Lernenden"
grundsätzlich nicht auf (vgl. Theunissen 2005, 29).
Notwendig wäre es dagegen, die defizitäre Sichtweise abzulegen und Ressourcen bzw.
Kompetenzen der Betroffenen in den Vordergrund der Betrachtungsweisen zu rücken, die
in den verschiedenen Entwicklungsbereichen individuell ausgeprägt sind. Da Entwick-
lung durch Erziehung und Unterricht beeinflussbar ist und da sie bei jedem Einzelnen
individuell verschieden verläuft, bedarf es der Berücksichtigung der persönlichen Be-
dürfnisse und Besonderheiten der einzelnen Schüler sowie der Anknüpfung an ihre indi-
viduelle Lernausgangslage (vgl. KMK-Empfehlungen 1998, 4; Fornefeld 2000, 47).
Gegenwärtig berücksichtigt die pädagogische Sichtweise von geistiger Behinderung die
individuelle Lern- und Lebenssituation des Einzelnen und setzt diese in Relation zu gel-
tenden kulturellen und gesellschaftlichen Erziehungserwartungen und -normen. Daraus
werden Erziehungsmaßnahmen entworfen, die für die Betroffenen eine ,,Hilfe zur Selbst-
hilfe" bzw. ,,Selbstverwirklichung" darstellen (vgl. Speck 1999, 57).
Dass sich geistige Behinderung stets in einem Wirkungsgeflecht verschiedener Bedin-
gungsfaktoren vollzieht und interaktionales Ergebnis und Prozess zugleich ist, veran-
schaulicht Speck treffend in seinem interaktionalen Modell der Genese und des Prozesses
geistiger Behinderung (vgl. Anhang: 4).
Die pädagogische Sichtweise von geistiger Behinderung kann mit den Worten Specks wie
folgt zusammengefasst werden:
,,Abschließend läßt sich sagen, dass sich der Begriff geistige Behinderung aus pädagogischer Sicht
nicht auf etwas bezieht, was psycho-physisch so oder so ist, quasi objektiv als distanter Sachver-
halt für sich, sondern als ein Phänomen, das eingegliedert bzw. einzugliedern ist in die Zusam-
menhänge menschlichen Lebens und Zusammenlebens unter einer besonderen Maßgabe stützender
Begleitung, damit Bildung gelinge. Demnach bezieht sich geistige Behinderung auf spezielle Er-
ziehungsbedürfnisse, die bestimmt werden durch eine derart beeinträchtigte intellektuelle und

Schüler mit geistiger Behinderung
12
gefährdete soziale Entwicklung, daß lebenslange pädagogisch-soziale Hilfen zu einer humanen
Lebensverwirklichung nötig werden" (ebd., 63).
1.3
Zur Lernausgangslage
Die kognitiven, sozialen und emotionalen Startbedingungen, mit denen Schüler mit geis-
tiger Behinderung in die Schule kommen, unterscheiden sich in erheblichem Maße von-
einander. Pädagogisches Handeln ist demnach primär auf den individuellen Entwick-
lungsstand des Einzelnen auszurichten. Es soll den Schülern zum Erkennen eigener
Handlungsmöglichkeiten und zur Erweiterung der Fähigkeit zum Handeln verhelfen.
Diese Förderung soll, ,,je nach den individuellen Voraussetzungen, zu einer selbstbe-
stimmten Gestaltung des Lebens und zur Wahrnehmung von Rechten und Pflichten in der
Gesellschaft beitragen" und demzufolge der ,,Selbstverwirklichung in sozialer Integrati-
on" dienen (vgl. KMK-Empfehlungen 1998, 1).
Folglich gibt es nicht die eine Lernausgangslage, die für jeden Schüler mit geistiger Be-
hinderung zutrifft. Die gemeinsame Basis dieser heterogenen Schülerschaft besteht je-
doch darin, dass sie ,,besondere Hilfen bei der Entwicklung von Wahrnehmung, Sprache,
Denken und Handeln sowie Unterstützung zur selbständigen Lebensführung und bei der
Findung und Entfaltung von Persönlichkeit" benötigen (vgl. ebd., 4f.).
Die Verzögerungen der geistigen Entwicklung betreffen
,,- das situations-, sach- und sinnbezogene Lernen,
- die selbständige Aufgabengliederung, die Planungsfähigkeit und den Handlungsvollzug,
- das persönliche Lerntempo sowie die Durchhaltefähigkeit im Lernprozeß,
- die individuelle Gedächtnisleistung,
- die kommunikative Aufnahme-, Verarbeitungs- und Darstellungsfähigkeit,
- die Fähigkeit, sich auf wechselnde Anforderungen einzustellen,
- die Übernahme von Handlungsmustern,
- die Selbstbehauptung und die Selbstkontrolle,
- die Selbsteinschätzung und das Zutrauen" (ebd., 4).
Pädagogisches Handeln muss daher die weitgehende Gebundenheit des Lernens in Sinn-
zusammenhängen, das Bedürfnis nach überschaubaren Aufgabengliederungen, das indi-
viduelle Lerntempo sowie die begrenzte und schwankende Konzentrations- und Durch-
haltefähigkeit bei der Strukturierung des Lernprozesses berücksichtigen (vgl. Schurad et
al. 2007, 103ff.). Es soll den Schülern Hilfestellungen zur Ausbildung von senso- und
psychomotorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten geben, sie zur Erweiterung der Körper-
erfahrungen und zur Beherrschung von Körperfunktionen befähigen. Für den Leselern-
prozess von besonderer Bedeutung sind darüber hinaus die Förderung der Wahrnehmung,
der Konzentration und der Merkfähigkeit, die der Begriffsbildung und der Vorstellungs-
kraft sowie die Förderung zur Erweiterung der Denkfähigkeit und Denkflexibilität
9
(vgl.
Kap. 2.2.1).
9
Die Förderung der Denkfähigkeit und Denkflexibilität umfasst beispielsweise den Aufbau von Denkstrate-
gien und die Fähigkeit zu Hypothesenbildungen.

Schüler mit geistiger Behinderung
13
Auf der Basis eines pädagogischen Bemühens, das Hilfen zur Entwicklung individuell
erreichbarer Fähigkeiten und Fertigkeiten gewährleistet, geht es im Folgenden um Grund-
lagen zum Lesenlernen bei Schülern mit geistiger Behinderung.

Grundlagen des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung
14
2
Grundlagen des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung
Zur Legitimation einer Analyse und Bewertung von Leselernkonzepten für Schüler mit
geistiger Behinderung bedarf es zunächst der grundlegenden Klärung der Bedeutung und
des Stellenwertes der Kulturtechnik Lesen für diese Schülerschaft.
Anschließend wird der Begriff ,,Lesen" für die pädagogische Arbeit mit Schülern mit
geistiger Behinderung definiert. Dies impliziert sowohl die Beschreibung des Lesevor-
gangs als auch die Herausstellung von Bedingungsfaktoren, die den komplexen Vorgän-
gen des Lesens zugrunde liegen. Damit wird zugleich die Grundlage für die Bewertung
der Leselernkonzepte geschaffen.
2.1
Bedeutung und Stellenwert der Kulturtechnik Lesen
Lesen als Kulturfertigkeit und Teil der Beherrschung der Schriftsprache ist aus unserem
täglichen Leben nicht wegzudenken. Es trägt in hohem Maße zur Informationserschlie-
ßung, kulturellen Teilhabe und Selbstständigkeit bei. Beinahe jederorts werden wir mit
Schriftsprache konfrontiert und gleichzeitig herausgefordert, uns dieser zu bemächtigen.
Von einer mehrheitlich visuell geprägten Lebenswelt umgeben, begegnen wir Ortstafeln,
Wegweisern, Verkehrsschildern, Verhaltensgeboten, müssen Beipackzettel von Medika-
menten oder Bedienungsanleitungen von Geräten entschlüsseln können, um uns in der
Lebenswelt orientieren und Alltagsanforderungen bewältigen zu können. Lesen bedeutet
Lebenserleichterung und Lebensbewahrung zugleich, wenn man in der Lage ist, nach
Gebrauchsanweisung, nach Vorschriften, Ge- und Verboten zu handeln und Informatio-
nen zu beachten (vgl. Heuß 1993, 33f.). Diese informative Funktion des Lesens erweitert
die Handlungskompetenzen des Einzelnen, da die Möglichkeit, Handlungsanweisungen
und Handlungshilfen zu entnehmen und auf diese adäquat reagieren zu können, das
selbstständige Zurechtfinden und Orientieren in der Öffentlichkeit fördert.
Zudem hat Lesen positiven Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Günthner
2008, 10). Lesen wirkt sich auf den Denkstil des Einzelnen aus: es informiert, erweitert
und beeinflusst den Gedankengang, vergrößert das Handlungsrepertoire in der Realität
und bereichert den Wortschatz. Es kann ebenso wie das Schreiben zur Klärung und Struk-
turierung eines persönlichen Sachverhaltes beitragen. Der Gedankenfluss kommt in Gang
und eröffnet neue Sichtweisen oder Problemlösungen. Die mit der Fähigkeit zum Lesen
verbundene Möglichkeit zur Steigerung der kulturellen Teilhabe fördert das Selbstbe-
wusstsein. Zudem wird der Erwerb der Kulturtechnik Lesen vom familiären Umfeld ho-
noriert und verstärkt (vgl. ebd.).
Lesen erweitert die kommunikativen Möglichkeiten, da der Einzelne nicht mehr nur auf
die mündliche Rede, das primäre Kommunikationssystem, begrenzt bleibt. Günthner
zufolge nimmt der sekundäre Bereich der Kommunikation in der Öffentlichkeit stetig zu,

Grundlagen des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung
15
so dass die Kenntnis von visuellen Informationszeichen wie Bildern, Bildzeichen und
Buchstaben für den lebenspraktischen Bereich von größter Bedeutung ist (vgl. ebd., 8f.).
Lesen unterstützt das Erinnerungsvermögen und dient der Anlage, der Sicherung und der
Handhabung kultureller Bestandteile. So sind in unserer Umwelt die visuell aufbereiteten
Informationen in Form von Zeichen verschiedener Abstraktionsgrade
10
vorhanden, die
von größter Bedeutung sind. Sie transportieren und bewahren Regeln, Werte und Nor-
men, Erinnern an die Einhaltung sozial erwünschter Verhaltensweisen und unterstützen
das persönliche Erinnerungsvermögen.
Lesen als ,,Entziffern und Entschlüsseln von Nachrichten" leistet einen bedeutsamen Bei-
trag zur Selbstbestimmung für alle Menschen und eröffnet Zugänge zur Welt (vgl. Platte
2007, 2). Es darf daher auch Menschen mit geistiger Behinderung nicht vorenthalten
werden.
Kaum ein Thema in der Geistigbehindertenpädagogik ist jedoch so kontrovers diskutiert
worden wie die Frage nach dem Stellenwert der Leseförderung dieser Schülerschaft (vgl.
Rittmeyer 2006, 53).
Noch Bach hielt den formalen Wert des Lesens bei Schülern mit geistiger Behinderung
für gering und zum Teil sogar für fragwürdig. Er warnte vor falschen Zielsetzungen, vor
der Vermittlung eines ,,Abglanzes der konventionellen Bildung", die dem Schüler mit
geistiger Behinderung nicht diene. Der hoch komplexe Lesevorgang wäre erst auf der
Grundlage einer notwendigen basalen Erziehung zur Selbstständigkeit, Wahrnehmungs-
tüchtigkeit, Handgeschicklichkeit und Sprachtüchtigkeit möglich (vgl. Bach 1977, 37ff.).
Lesenlernen sollte vielmehr als zweitrangiges Ziel angebahnt werden. Als Voraussetzung
zum Beginn eines möglichen und sinnvollen Lesenlernens legte Bach eine vorhandene
,,Lesereife" zugrunde. Vom Erkennen und
Wiedererkennen von Gegenständen über Re-
gelbewusstsein bis hin zu
emotionaler Aufgeschlossenheit fasste er die Voraussetzungen
zum Lesenlernen in einem Katalog zusammen.
11
Demgegenüber hält Hublow Lesen bei Menschen mit geistiger Behinderung bereits in
einer Publikation aus dem Jahre 1985 für ,,möglich, sinnvoll, berechtigt und notwendig"
(Hublow 1985, 3). Thümmel weist darauf hin, dass Erziehung und Bildung von Schülern
stets auf die gegenwärtige und künftige Optimierung ihrer Lebenschancen auszurichten
ist und Lesenlernen für Schüler mit geistiger Behinderung als grundlegende Bildungsauf-
gabe anerkannt werden muss (Thümmel 2002, 25f). Günthner beruft sich auf den Wandel
der Interaktions- und Kommunikationsformen der Menschen. Ihm zufolge führt die Ver-
lagerung zum Sekundärsystem der Kommunikation -zu visuellen Informationszeichen-
10
Unterschieden werden kann hier beispielsweise zwischen Bildern, Bildzeichen bzw. Piktogrammen, Sig-
nalwörtern und Schriftzeichen, die sich in ihrem Abstraktionsgrad wesentlich voneinander unterschieden (vgl.
Thamm 2007, 52ff.)
11
Katalog der Voraussetzungen zum Lesen vgl. Bach 1971, 151.

Grundlagen des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung
16
zur Notwendigkeit, diese zu unerlässlichen Lern- und Bildungsinhalten für Schüler mit
geistiger Behinderung zu machen (vgl. Günthner 2008, 8).
Um in der Diskussion des Stellenwerts der Leseförderung bei Schülern mit geistiger Be-
hinderung einen Standpunkt beziehen zu können, ist zunächst der Lesebegriff selbst zu
klären, dem in der Literatur unterschiedliche Inhalte gegeben werden.
2.2 Der
Lesebegriff
Lesen ist ein facettenreicher Begriff: wir können Fährten und Spuren lesen, in einem Ge-
sicht lesen, Sterne, Karten, Pläne oder auch Bücher lesen. Die im Zusammenhang mit
dem Begriff Lesen vorherrschende Assoziation der Bevölkerung in Deutschland bezieht
sich jedoch auf die Fähigkeit des Schriftlesens. Umfragen in Fußgängerzonen zur Frage:
,,Woran denken Sie bei dem Begriff Lesen?" ergeben beispielsweise, dass Menschen
zunächst an Wörter, Schrift und Texte denken und dass sein Erwerb dem Aufgabenbe-
reich der Schule zugeordnet wird (vgl. Info Brief 2003, 1).
Die Unterschiedlichkeit des Lesebegriffs manifestiert sich grundsätzlich in zwei Definiti-
onsansätzen: dem Lesen im engeren Sinn und dem Lesen im erweiterten Sinn.
2.2.1 Lesen im engeren Sinn
Eine bis heute rezipierte und umfassende Definition des Lesens im engeren Sinn liefert
der Sprachwissenschaftler Kainz, der Lesen umschreibt als
,,[...] das verstehende Aufnehmen von schriftlich fixierten Sprachgefügen, somit die auf Grund der
erworbenen Kenntnis der Schriftzeichen vollzogene Tätigkeit des Sinnerfassens graphisch nieder-
gelegter Gedankengänge" (Kainz 1956, 162).
Lesen im engeren Sinn beinhaltet demzufolge neben dem technischen Zusammenfügen
von Buchstabengebilden, stets eine Sinnkomponente. Deutlich wird dies, wenn der Ver-
such unternommen wird, den folgenden Text zu lesen:
,,
Non scholae, sed vitae discimus"
(Seneca o.J.). Leser, die das Rekodieren, das heißt, den technischen Vorgang des Zu-
sammenschleifens von Buchstaben und Wortbausteinen sowie das Umsetzten von Buch-
staben in Laute bzw. Buchstabenverbindungen beherrschen, werden in der Lage sein, den
Satz vorzulesen. Für diejenigen, die der lateinischen Sprache nicht mächtig sind, bleibt
aber der Inhalt des Textes (,,Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir")
verborgen. Der Verstehensvorgang ist für das Lesen unerlässlich (vgl. Dathe 1981, 10).
Ohne Sinnerfassung und Sinnentnahme wird die situative Bedeutung des Lesens nicht
zugänglich: dem Leser fehlen Gebrauchswert und Interaktionsfunktion.
Das Verstehen vollzieht sich im Rahmen von Antizipation und Hypothesenbildung. Beim
ersten Blick auf den Satz entwickelt der Leser eine Idee des Gemeinten (Antizipation),
die während des Lesenvorgangs überprüft wird (Hypothesenbildung). Durch Sinnerwar-
tungen werden charakteristische Wörter nicht mit allen Schriftzeichen wahrgenommen,

Grundlagen des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung
17
sondern Einzelwörter werden aus dem Kontext, dem Textzusammenhang, entschlüsselt.
Da Antizipieren nur aus jeweils vertrauten Situationen und Sinnzusammenhängen mög-
lich ist, spricht Brügelmann von Wörtern, die über den ,,sozial-gegenständlichen Kon-
text" erschlossen und behalten werden (vgl. Brügelmann 1987, 137).
Die Verwobenheit beider Komponenten des Lesens, der Technik des Lesens mit der Sinn-
entnahme, ist aktuell unumstritten. Schenk beschreibt Lesen als ,,Lesefertigkeit mit Sinn-
entnahme" und meint damit ,,die Technik des Umsetzens graphischer Zeichen in sprachli-
che Information" (vgl. Schenk 2001, 15). Lesen ist stets in seinem Ablauf ein einheitli-
cher und ganzheitlicher Prozess, in dem beide Aktivitäten zusammenspielen. Eine korrek-
te Intonation eines Wortes oder Satzes ist daher nur möglich, wenn der Sinn verstanden
wurde.
Auch Bleidick schildert Lesen als komplexen Vorgang, bei dem einerseits Informations-
entnahme, denkendes Verarbeiten und aktives sprachliches Handeln, andererseits ein
technisches Zusammenfügen aufgrund der Buchstabenkenntnis und der Fähigkeit ihrer
Synthese zu Silben und Wörtern zusammenwirken (vgl. Bleidick 1966, 13 ff.).
Es kann festgehalten werden, dass Lesen ein vielschichtiger und komplexer Vorgang ist,
dem zahlreiche Bedingungsfaktoren zugrunde liegen. Die Fülle an Anforderungen und
Voraussetzungen an das Schriftlesen fasst Böhm in Form eines Kataloges zusammen
(vgl. Anhang: 5). Neben Voraussetzungen für die Bewältigung der technischen Seite, sind
bei der Sinnerfassung und -verarbeitung vor allem Denkprozesse der ,,Sinnfindung" und
,,Sinngestaltung" beteiligt, wobei individuelle Sinnerwartungen auf die Wahrnehmung
Einfluss nehmen und die Sinnerfassung erleichtern (vgl. Bleidick 1981, 20).
Was die Voraussetzungen des Lesenlernens betrifft, so fasst Schwartz zusammen:
,,Hinsichtlich der Leistungsfunktion ist deutlich geworden, dass jeder einseitige Erklärversuch
dieses komplexen Leistungsgefüges unzureichend ist: Weder die optische Wahrnehmung und
Reproduktion von Wortbildern noch die Kenntnis der einzelnen Buchstaben- Lautverbindungen;
weder die vorwegnehmende Sinnerwartung noch die synthetische Summierung von Lauten alleine
ermöglicht den Leseakt, sondern erst das Zusammenspiel von geistiger Motivation, vorhandenem
sprachlichem Wissen und dem Erkennen optischer Zeichen, führt zu seinem erfolgreichen Ab-
schluss"
(Schwartz 1981, 9).
Dieses Zitat unterstreicht, dass sich der Leselernprozess stets in einem Bedingungsgefüge
sprachlich-kommunikativer, kognitiver und motorischer Kompetenzen sowie visueller
und auditiver Wahrnehmungsleistungen vollzieht (vgl. Schäfer/Leis 2007, 17ff.). Da
Schüler mit geistiger Behinderung in allen Bereichen unzureichende Voraussetzungen
mitbringen, wird offensichtlich, dass Lesen im engeren Sinn nur für einen geringen Teil
dieser Schülerschaft erreichbar ist (vgl. Speck 1999, 282). Die Sinnerfassung beim Lesen-
lernen ist bei diesen Schülern erheblich erschwert (vgl. Valtin 1981, 202). Die Übertra-
gung von sozial-kommunikativen Erfahrungen und Fähigkeiten, Werten, Regeln und
gesellschaftlichen Umgangsformen erfordert ein hohes Maß an sprachlicher Kompetenz

Grundlagen des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung
18
auf grammatikalischer, artikulatorischer sowie lexikalischer Ebene und bezüglich des
Sprachverständnisses, welches bei Schülern mit geistiger Behinderung beeinträchtigt ist
(vgl. Kap. 1.3).
Oberacker stellt in seiner Erhebung über den Stand der Lesefertigkeit bei Schülern mit
geistiger Behinderung fest, dass zwar 50 Prozent der Schüler Teilfertigkeiten beim Lesen-
lernen wie die Analyse oder Synthese beherrschen, aber nur 15 Prozent von ihnen zum
Erlesen unbekannter Texte gelangen (vgl. Oberacker 1990, 76f.). Jüngere Umfragen von
Schurad konstatieren 21 Prozent an Lesern im engeren Sinn (vgl. Schurad 2007, 44).
Beide Untersuchungen bestätigen einen relativ geringen prozentualen Anteil an Schriftle-
sern.
Autoren der Geistigbehindertenpädagogik, die einer Leseförderung bei Schülern mit geis-
tiger Behinderung kritisch gegenüber stehen, beziehen sich auf den engeren Lesebegriff
(vgl. Rittmeyer 2006, 59). So sieht neben Bach auch Speck das Lesen im engeren Sinn
nicht als Hauptziel des Unterrichts, da das Erlernen anderer Fähigkeiten wichtiger sei. Er
betont jedoch die Notwendigkeit einer individualisierten Betrachtungsweise und räumt
dem Einüben der Kulturtechnik eine bildende Wirkung ein, wenn die Lernvorgänge im
Leseunterricht der Lernfähigkeit des einzelnen Schülers entsprechen (vgl. Speck 1999,
284).
Folgt man der individualisierten Sichtweise sowie dem Normalisierungsprinzip, wird die
Notwendigkeit deutlich, den ,,Nicht-Schriftlesern" einen anderen Zugang zur Kulturtech-
nik Lesen zu eröffnen. In unserem Alltag finden neben der Schrift auch andere Zeichen-
systeme als Informationsträger Verwendung, deren Entschlüsselung als Lesen in einem
erweiterten Sinn verstanden werden kann.
2.2.2 Lesen im erweiterten Sinn
Mit der Überzeugung, dass das Verständnis von Lesen nicht nur auf das Erkennen und
Deuten der Buchstabenschrift begrenzt bleiben darf, erweiterte Hublow den Lesebegriff
um die Entschlüsselung von ausnahmslos allen Zeichensystemen. Lesen im erweiterten
Sinn ist demnach ,,als Wahrnehmen, Deuten, Verstehen von konkreten, bildhaften, sym-
bolhaften oder abstrakten Zeichen und Signalen" zu verstehen (vgl. Hublow 1985, 3). Der
erweiterte Lesebegriff umfasst daher auch die Informationsentnahme aus Gegenständen,
Personen und Situationen, Bildern, Piktogrammen (Bildzeichen) sowie Signalwörtern und
Ganzwörtern (vgl. ebd.; Günthner 2008, 13).
Unterricht im Sinne des erweiterten Lesebegriffs ist für Schüler mit geistiger Behinde-
rung insofern von herausragender Bedeutung, als dass er lebenspraktisches Lernen mit
dem Erlernen der Kulturtechnik Lesen verbindet und die lange Zeit bestehende Kontro-
verse dieser beiden Bereiche überwinden konnte. Er

Grundlagen des Lesenlernens bei Schülern mit geistiger Behinderung
19
,,geschieht in Verbindung mit der schrittweisen Eroberung der Umwelt und hat auch eine Berech-
tigung für Schüler, die im Augenblick noch keinen Zugang zur Buchstabenschrift finden oder die
nicht sprechen können. Im Mittelpunkt dieses Leseunterrichts steht die Suche nach Sinngehalten in
allen Bereichen der menschlichen und gegenständlichen Umwelt" (Hublow 1985, 3).
Mittlerweile hat sich der erweiterte Lesebegriff
12
bewährt und ist in den Lehrplänen fast
aller Bundesländer etabliert (vgl. Dönges 2007, 338).
13
Zentrales Anliegen eines Leseunterrichts im erweiterten Verständnis ist die Sinnerfassung
und Sinnverarbeitung, so dass der Gefahr eines inhaltslosen, mechanischen Trainings
bloßer Lesefertigkeiten vorgebeugt wird. Ferner muss er dem jeweils erreichten individu-
ellen Leistungsstand der Schüler entsprechen.
Die von Hublow entwickelte Stufenfolge des Lesenlernens ist eine entwicklungsgemäße
Abfolge, in der die meisten Kinder unseres Kulturkreises zum Schriftlesen finden.
14
Sie
führt von der Informationsentnahme aus Situationen über das Lesen von Bildern und
Piktogrammen zum Signalwortlesen und Ganzwortlesen weiter zur Entschlüsselung von
Schrift zur Analyse und Synthese von Texten und der Entnahme ihres Sinns (vgl. Hublow
1985, 6ff.).
Die einzelnen Lesestufen gehen ohne ,,scharfe Abgrenzungen ineinander über. Die je-
weils höhere [Stufe] umfasst zugleich alle ihr zugrundeliegenden bezüglich der erworbe-
nen Fertigkeiten und Voraussetzungen" (vgl. ebd., 6).
Die folgende Tabelle verknüpft Lesestufen, Zeichen und Lesevorgänge mit den Voraus-
setzungen, die für eine Entschlüsselung gegeben sein müssen und mit der Bedeutung und
dem Nutzen der Informationsentnahme für den Lesenden.
12
Das gilt ebenso für den erweiterten Schreibbegriff (vgl. Günthner 2008, 83ff.).
13
In einigen Bundesländern, hierzu gehört auch Berlin, ist die Aktualisierung der Lehrpläne bzw. Rahmen-
lehrpläne für Schulen mit dem Förderschwerpunkt ,,Geistige Entwicklung" vorgesehen.
Bis zur Fertigstellung
bleibt für Berlin der ,,Rahmenplan für Unterricht und Erziehung in der Sonderschule für Geistigbehinderte" in
Kraft (vgl. Rahmenplan 1984).
14
Zur idealtypischen Entwicklung des Schriftspracherwerbs gibt es verschiedene Modelle. In den letzten 20
Jahren hat sich eine kognitiv-entwicklungspsychologische Sichtweise durchgesetzt. Die im deutschsprachigen
Raum aktuell diskutierten Entwicklungsmodelle von Brügelmann (1984), Günther (1986), Scheerer/Neumann
(1995), Thümmel (2002) und Valtin (1996) stimmen in den wesentlichen Strategien überein, sie unterschei-
den sich vielmehr in der Ausdifferenzierung und den Bezeichnungen der einzelnen Stufen (vgl. hierzu Sas-
senroth 1995, 338f.).
Auf das Stufenmodell von Günther wird in Kap. 3.1 näher eingegangen.

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Haustiere.
Personen und
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den in bestimmten Situationen oder
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lichen Deutungen, die auf
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gebunden,
inhaltlich klar und
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15
1. Schematisi
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2. Farb- und
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1. Die Bildzeichen (Piktogra
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werden als T
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als Orientieru
ngs- bzw. Handlun
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hilfen verstanden. Je nach Grad der
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sier
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tungen leicht
er oder schwerer er-
schließen.
2. Farb- und
Formzeichen
werden als
Signale erkannt, die in
verg
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ren Situatione
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d Zusammenhän-
gen immer wieder auftreten
und stets
das gleiche bedeuten. Sie bedürfen
der Dekodierung. Die erkannte Be-
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Die Fähigkeit zu differenziertem
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oder Vereinba-
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zuordnen.
Unser Alltag
ist geprägt
durch eine Vielzahl von Si
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nalen, S
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bolen und Bil
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zeichen, die e
ine Botschaft
enthalten.
Der Les
er ka
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meingültiger, sprachfreier
Bild-, Farb- und Form
zei-
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selbstständig orientieren un
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zurechtfinden. Diese H
and-
lungskom
petenz führt zu
einem
Gefühl der Sicherheit
und Selbstbes
timmtheit.
Signalwort-
lesen
Signalwörter sind abstrakte
graphische Gestalten ohne
Bildelem
ente,
die meist aus
Buchstabenre
ihen oder Zif-
fern bestehen.
Die Schrift st
eht für sprachli-
che Aussage
(Na
m
ensschil
-
der, Hinweiss
childer wie
Die Begegnung m
it Signalwort-
Tafeln initiiert die Suche nach Be-
deutungen
. Die Wortgestalten wer-
den wie Bildzeichen ganzheitlich
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r Sinn aus
de
m
Ge-
sa
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tzusa
mmenhang erschlossen (Das
Signalwort ,,Da
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en" als
Hinweis für
die richtige Toilettentür).
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15
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er 1996

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836642361
DOI
10.3239/9783836642361
Dateigröße
1.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Sonderpädagogik
Erscheinungsdatum
2010 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
schriftspracherwerb lesenlernen didaktik bilderlesen signalwortlesen
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Titel: Zur Frage geeigneter Leselernkonzepte für Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung
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