Lade Inhalt...

Neue Netzwerkstrukturen und neue Sozialkapital-Möglichkeiten am Beispiel von Internetplattformen

©2009 Diplomarbeit 120 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Sozialkapital, Social Networking und moderne Netzwerkstrukturen- jeder dieser Begriffe wird gerne in Zeiten des Umbruchs, der sich in der modernen Gesellschaft geradezu als Dauerzustand zu manifestieren scheint, von zahlreichen Personen wie Politikern und Experten als ‘Wunderwaffe’ im Hinblick auf die Herausforderungen der Zukunft angeführt. Auch Bettina Westle und Oscar W. Gabriel halten fest:
‘Die Debatte um Sozialkapital hat in der aktuellen Politikwissenschaft vor allem deshalb einen so hohen Stellenwert erreicht, weil der Fundus an Sozialkapital mit der Überlebensfähigkeit moderner Demokratien, der Funktionsfähigkeit sozialstaatlicher Institutionen, aber auch allgemeinen pathologischen Erscheinungen moderner Gesellschaften wie Kriminalität, Drogenmissbrauch und Selbstmordraten in Beziehung gesetzt wird’.
Doch was steckt genau hinter den eingangs erwähnten, durchaus bedeutungsschwangeren Wörtern, die zudem auf unterschiedlichste Art und Weise in verschiedenen Theorieansätzen verwendet und interpretiert werden? Welche Zusammenhänge werden bei genauerer Analyse zwischen Sozialkapital, Netzwerken und gesellschaftlicher Interaktion deutlich? Besonders interessant gestaltet sich die Beantwortung dieser Fragestellung, wenn man zusätzlich die größer werdende Anzahl an Internetplattformen mit einbezieht, die ganz eigene, neue Möglichkeiten zum Erhalt, Aufbau und zur Akkumulation von Sozialkapital bieten. Daran lassen sich vor allem die neu entstandenen Netzwerkstrukturen der heutigen Zeit anschaulich erläutern.
Dies führt auch schon zum Aufbau und der Absicht der vorliegenden Diplomarbeit mit dem Titel ‘Neue Netzwerkstrukturen und neue Sozialkapital-Möglichkeiten am Beispiel von Internetplattformen’: Mit dieser Arbeit verfolge ich allgemein zunächst einmal die Absicht, herauszufinden, welche neuen Netzwerkstrukturen sich in unserer modernen Gesellschaft herausgebildet haben und welche (neuen) Möglichkeiten zur Sozialkapitalbildung sich daraus ergeben können. Dabei werde ich versuchen, dies am Beispiel von Internetplattformen wie beispielsweise der Online-Jobbörse Xing praxisbezogen zu verdeutlichen. Somit soll erörtert werden, ob und wie die modernen Sozialkapital- und Netzwerktheorien dafür geeignet sind, aktuelle Phänomene des Internets wie Onlineplattformen zu beschreiben und mit ihren Konzepten hinreichend abzubilden.
Um dieses Ziel zu erreichen, werde ich folgendermaßen vorgehen: Zunächst werde ich mich den Theorien […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Andrea Walser
Neue Netzwerkstrukturen und neue Sozialkapital-Möglichkeiten am Beispiel von
Internetplattformen
ISBN: 978-3-8366-4212-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Universität der Bundeswehr München, München-Neubiberg, Deutschland,
Diplomarbeit, 2009
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und der Verlag, die Autoren oder
Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl.
verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

- I -
Gliederung:
1. Einleitung...1
2. Hauptteil
2.1 Sozialkapital
2.1.1 Klassische Sozialkapitaltheorien...5
2.1.1.1 Der Sozialkapitalbegriff nach Pierre Bourdieu...8
2.1.1.2 Der Sozialkapitalbegriff nach James S. Coleman...12
2.1.1.3 Der Sozialkapitalbegriff nach Robert D. Putnam...19
2.1.2 Entstehungsbedingungen und auftretende Formen von Sozialkapital...28
2.1.3 Weiterentwicklung in der Sozialkapitaltheorie: Ronald S. Burt...31
2.1.4 Kritische Reflexion der neueren Theorie über Sozialkapital von Burt...37
2.2 Netzwerktheorie und Netzwerkanalyse
2.2.1 Der Netzwerkbegriff...41
2.2.2 Eine grundlegende Netzwerktheorie: der Ansatz von Granovetter...44
2.2.3 Die ,,Network Society"...51
2.2.4 Kritische Würdigung der vorgestellten Netzwerktheorie Granovetters...56
2.3 Internetplattformen
2.3.1 Internetplattformen als moderne Austauschmedien...62
2.3.2 Charakteristika von Social-Software-Plattformen und gängige
Anbietertypen...67
2.3.3 Die Internetplattform Xing: ein globales Netzwerk für
Geschäftskontakte...72
2.4 Neue Netzwerkstrukturen und daraus resultierende neue Möglichkeiten zur
Sozialkapitalbildung
2.4.1 Auswirkungen des Internets auf soziale Netzwerkstrukturen...78
2.4.2 Die neue Zusammensetzung sozialer Beziehungen: neue Möglichkeiten zur
Sozialkapitalbildung ...88

-
II
-
2.4.3 Das Phänomen ,,Online-Networking": Die neuen Sozialkapital- und
Netzwerktheorien als geeignete oder ungeeignete Erklärungsformen für
neue Sozialkapitalmöglichkeiten in Internetplattformen?...94
3. Resümee...104

- 1 -
1. Einleitung
Sozialkapital, Social Networking und moderne Netzwerkstrukturen- jeder dieser
Begriffe wird gerne in Zeiten des Umbruchs, der sich in der modernen Gesellschaft
geradezu als Dauerzustand zu manifestieren scheint, von zahlreichen Personen wie
Politikern und Experten als ,,Wunderwaffe" im Hinblick auf die Herausforderungen der
Zukunft angeführt. Auch Bettina Westle und Oscar W. Gabriel halten fest:
,,Die Debatte um Sozialkapital hat in der aktuellen Politikwissenschaft vor
allem deshalb einen so hohen Stellenwert erreicht, weil der Fundus an
Sozialkapital mit der Überlebensfähigkeit moderner Demokratien, der
Funktionsfähigkeit sozialstaatlicher Institutionen, aber auch allgemeinen
pathologischen Erscheinungen moderner Gesellschaften wie Kriminalität,
Drogenmissbrauch und Selbstmordraten in Beziehung gesetzt wird." (Westle
und Gabriel: 2008, S. 5).
Doch was steckt genau hinter den eingangs erwähnten, durchaus
bedeutungsschwangeren Wörtern, die zudem auf unterschiedlichste Art und Weise in
verschiedenen Theorieansätzen verwendet und interpretiert werden? Welche
Zusammenhänge werden bei genauerer Analyse zwischen Sozialkapital, Netzwerken
und gesellschaftlicher Interaktion deutlich? Besonders interessant gestaltet sich die
Beantwortung dieser Fragestellung, wenn man zusätzlich die größer werdende Anzahl
an Internetplattformen mit einbezieht, die ganz eigene, neue Möglichkeiten zum Erhalt,
Aufbau und zur Akkumulation von Sozialkapital bieten. Daran lassen sich vor allem die
neu entstandenen Netzwerkstrukturen der heutigen Zeit anschaulich erläutern.
Dies führt auch schon zum Aufbau und der Absicht der vorliegenden Diplomarbeit mit
dem Titel ,,Neue Netzwerkstrukturen und neue Sozialkapital-Möglichkeiten am Beispiel
von Internetplattformen": Mit dieser Arbeit verfolge ich allgemein zunächst einmal die
Absicht, herauszufinden, welche neuen Netzwerkstrukturen sich in unserer modernen
Gesellschaft herausgebildet haben und welche (neuen) Möglichkeiten zur
Sozialkapitalbildung sich daraus ergeben können. Dabei werde ich versuchen, dies am
Beispiel von Internetplattformen wie beispielsweise der Online-Jobbörse Xing
praxisbezogen zu verdeutlichen. Somit soll erörtert werden, ob und wie die modernen
Sozialkapital- und Netzwerktheorien dafür geeignet sind, aktuelle Phänomene des
Internets wie Onlineplattformen zu beschreiben und mit ihren Konzepten hinreichend
abzubilden.

- 2 -
Um dieses Ziel zu erreichen, werde ich folgendermaßen vorgehen: Zunächst werde ich
mich den Theorien über Sozialkapital zuwenden und den Sozialkapitalbegriff aus
mehreren Perspektiven beleuchten. Dazu beziehe ich mich insbesondere auf die
Konzepte von Pierre Bourdieu, James S. Coleman und Robert Putnam. Es sollen dann
also im Anschluss die Entstehungsbedingungen für Sozialkapital, dessen auftretende
Formen und die Investition in Sozialkapital beleuchtet werden. Danach möchte ich den
Fokus auf die Weiterentwicklung der Sozialkapitaltheorie legen und einen aktuellen,
neuere Ansatz von Ronald S. Burt vorstellen und zugleich kritisch diskutieren.
Anschließend werde ich zunächst allgemein auf die Netzwerkanalyse eingehen und
somit den klassischen Netzwerkbegriff erläutern, um dann eine der grundlegendsten
neueren Netzwerktheorien eingehender zu betrachten und typisch moderne
Netzwerkstrukturen herauszuarbeiten. Dabei wird der Fokus verstärkt auf die
Ausführungen von Mark S. Granovetter und seine Sichtweise auf
Arbeitsvermittlungsprozesse und Interaktionen bei der Arbeitsplatzsuche in Netzwerken
gelegt. Gerade seine Konzeption von Sozialkapital eignet sich in besonderem Maße
dazu, die Netzwerkaktivitäten, die bei der Arbeitsplatzsuche ­ sei es nun offline oder
möglicherweise online über Xing- in Gang gesetzt werden, zu erörtern. Eine
Bezugnahme auf die so genannte ,,Network Society" der Moderne mit den ihr
eigentümlichen Strukturen und Dynamiken reiht sich an dieser Stelle an. Auch eine
kritische Würdigung der vorgestellten Theorie, einschließlich dem Aufzeigen möglicher
Defizite ist hier enthalten.
Es folgt eine kurze Vorstellung und Erläuterung, was generell unter Internetplattformen
zu verstehen ist, welche Anbietertypen es gibt und welche Charakteristika ihnen zu
Eigen sind. Hier werde ich mich schwerpunktmäßig auf Xing konzentrieren.
Im weiteren Verlauf werde ich eine Verknüpfung der Netzwerktheorien und der
Sozialkapitaltheorien anstreben, indem ich die neuen Netzwerkstrukturen auf ihre
Möglichkeiten, die sie zur Sozialkapitalbildung bieten, überprüfe und untersuche. Dies
soll anhand von Internetplattformen als eigentlichem Untersuchungsgegenstand
konkretisiert werden. Hier bietet sich eine eingehendere Betrachtung des so genannten
,,Social Networking" an.
Abschließend werde ich Bilanz ziehen und die gefundenen Ergebnisse zur
Beantwortung der Frage, ob die neuen Netzwerktheorien zur Erklärung der
Sozialkapitalmöglichkeiten von Internetplattformen geeignet sind, heranziehen.

- 3 -
Ein kritisches Resümee mit Ausblick auf denkbare Zukunftstendenzen bezüglich
Netzwerkanalyse und bezüglich der Weiterentwicklung von Internetplattformen soll den
Abschluss meiner Arbeit bilden.
Die Zielsetzung der Arbeit ist es folglich, durch eine vergleichende Analyse
verschiedener Netzwerktheorien die damit zusammenhängenden Einflussfaktoren von
Beziehungsstrukturen auf Sozialkapital zu erfassen. Zudem sollen damit neue Online-
Netzwerkstrukturen anhand der Unterschiede zu traditionellen, vormodernen
Netzwerken erörtert werden. Hierzu stütze ich mich bei meinem methodischen
Vorgehen vor allem auf eine komparative Methode, die allgemeine Literatur- und
Dokumentenanalysen einschließt, um schließlich die Untersuchungsgegenstände aus
möglichst vielen, unterschiedlichen Blickwinkeln zu thematisieren.
Für eine systematische Theoriegewinnung scheint die komparative Methode besonders
geeignet, da so eine Überprüfung des Potentials neuer Netzwerktheorien, neue
Sozialkapitalmöglichkeiten im Internet abzubilden, möglich wird. Der Vergleich soll
also gegen Ende der Arbeit auch in einer Relativierung der theoretischen Aussagen der
behandelten Vertreter resultieren. Außerdem eignet sich dieser insbesondere für die
Illustration von unbekannten Erscheinungen und zur Verdeutlichung deren
Besonderheiten. Schon Emile Durkheim benennt die vergleichende Methode als ,,(...)
die einzige, welche der Soziologie entspricht." (Durkheim: 1995, S. 205). Somit dient
diese vergleichende Methode nicht nur der rein formalen Beschreibung von Strukturen
in Netzwerken und der Erklärung verschiedener kausaler Zusammenhänge, sondern
auch einer Interpretation der sich verändernden Netzwerkarbeit von Akteuren und einer
Prognose, die mögliche Zukunftsentwicklungen aufzeigen soll.
Die Relevanz dieser gesamten Thematik scheint gerade heute durchaus gegeben zu sein.
,,Eine Liste der Anforderungen, die an moderne Staaten gestellt werden, ist mittlerweile
kaum mehr zu überblicken. Sie reicht von der Sicherstellung wohlfahrtsstaatlicher
Leistungen bis zur Unterstützung lokaler Faschingsumzüge. Dabei werden die
Möglichkeiten, dass die Staaten den kollektiven Ansprüchen gerecht werden können,
zunehmend pessimistischer eingeschätzt." (Gabriel et al.: 2002, S: 19). Hinzu kommen
in vielen Staaten finanzielle Engpässe, die den Handlungsspielraum zur Erreichung
bestimmter Ziele des Weiteren einschränken. Aus diesem Grund wird eine
Beschäftigung mit alternativen, Kosten reduzierenden Möglichkeiten zur
Gewährleistung bestimmter gesellschaftlicher Standards zusehends unabdingbar. Ein
sehr beliebter Lösungsansatz ist mit dem Stichwort ,,Sozialkapital" verknüpft. Indem
sich die Menschen gegenseitig Hilfeleistungen erbringen, sich für gemeinsame Belange

- 4 -
engagieren und ein weitreichendes, möglichst weitläufiges Beziehungsnetzwerk
ausbauen, sollen vorhandenen Ressourcen besser ausgeschöpft werden, um das
Wohlergehen aller zu sichern und zu steigern. Diese Vorstellung kommt vielen
Politikern äußerst gelegen, da auch sie längst erkannt haben, dass der Erfolg einer
modernen Demokratie von der Beteiligung und Kooperation aller Involvierten
entscheidend abhängt. Bereits ,,der neu gewählte deutsche Bundespräsident Köhler,
ehemals Chef des Internationalen Währungsfonds, sprach in seiner Antrittsrede davon,
dass es in Umbruchphasen wie der in der sich Deutschland und die Welt derzeit befinde
besonders auf Sozialkapital ankomme (...)." (Euler: 2006, S. 9).
Gerade jetzt, wo unsere Gesellschaft vor noch mehr neuen Problemen und
Herausforderungen steht, wie der Finanzkrise, der Übergang zur Wissensgesellschaft
und dem allgemeinen technologischen Wandel, scheint eine verstärkte Investition in
Netzwerkarbeit lohnenswert, um so wertvolles Sozialkapital anhäufen zu können. Dafür
muss jedoch vorher eine tiefer gehende Beschäftigung mit den Strukturen und
Dynamiken, die soziales Kapital und das so genannte ,,Netzwerken" auszeichnen - vor
allem in Hinsicht auf bisher noch nicht völlig ausgenutzte Potentiale des Internets-
erfolgen. Einen kleinen Beitrag dazu möchte ich mit meiner Diplomarbeit leisten, wobei
ich allerdings längst nicht alle Facetten dieser umfassenden Thematik beleuchten kann.
Um zunächst ein grundlegendes Verständnis von Sozialkapital zu erlangen, möchte ich
mit der Vorstellung klassischer Sozialkapitaldefinitionen und ­theorien beginnen.

- 5 -
2. Hauptteil
2.1 Sozialkapital
2.1.1 Klassische Sozialkapitaltheorien
,,Unter Sozialkapital ist ein Aspekt der Sozialstruktur zu verstehen, der individuellen
oder korporativen Akteuren Handlungsmöglichkeiten eröffnet, ihnen Gewinne
ermöglicht oder die Koordination ihrer Handlungsabsichten zu kollektiver Aktion
erleichtert." (Jansen: 2007, S. 3). Diese Definition von Sozialkapital soll vorerst einen
groben Rahmen bilden und einen ersten Eindruck vermitteln, was unter Sozialkapital
verstanden werden könnte. Gerade für die Sozialkapitaltheorie ist es typisch, dass es bis
heute kein einheitliches Verständnis von dem, was soziales Kapital darstellen soll, gibt.
Soziales Kapital scheint vielmehr eine Art Metapher für ein terminologisches
Durcheinander zu sein. Grund hierfür ist die Tatsache, dass beinahe jeder
Gesichtspunkt, der mit sozialen Strukturen verknüpft ist, als Sozialkapitalbildend
interpretiert werden kann. Dennoch erweist sich die Sozialkapitaltheorie als
verdienstvoll, da sie wesentliche Aspekte zum Verständnis menschlicher
Verhaltensweisen beisteuert. ,,Historisch gesehen trugen verschiedene Beiträge in
unterschiedlichen Kontexten und Dekaden mehr oder weniger unabhängig voneinander
zur Entwicklung des Konzeptes bei." (Franzen und Freitag: 2007, S.9). Deshalb scheint
es an dieser Stelle von Bedeutung zu sein, klar darzulegen, welche Auffassung dieser
Arbeit zugrunde liegt. So wird Sozialkapital zudem auch definiert als ,,(...) a set of
informal values or norms shared among members of a group that permits cooperation
among them." (Fukuyama in Franzen und Freitag: 2007, S. 10). Diese und die obige
Auslegung bringen meiner Meinung nach die wichtigsten Aspekte des Sozialkapitals
auf einen Punkt und sollen als Ausgangsgrundlage für die weiteren Überlegungen
dienen.
Allerdings können trotz der vorhandenen Vielfalt an Auffassungen von Sozialkapital
folgende Übereinstimmungen und Überschneidungen festgehalten werden.
,,Sozialkapital ist ein Konstrukt aus drei Elementen: 1) sozialen Beziehungen, wie sie
vor allem aus Aktivitäten in Vereinen und anderen Typen von Netzwerken entstehen, 2)
ein grundsätzliches Vertrauen in seine Mitmenschen und 3) bestimmten Werten und
Normen, die solidarisches auf die Gemeinschaft bezogenenes Denken und Handeln
unterstützen." (Westle und Gabriel: 2008, S. 5). Hinzu kommt, dass meiner Auffassung

- 6 -
nach fast alle Sozialkapitaltheorien von zwei Basisannahmen ausgehen. Zum einen wird
Sozialkapital als Ressource von Mitgliedern eines Netzwerks verstanden, zum anderen
wird die vorhandene soziale Struktur als ein Kapitaltyp angesehen, der zur
Interessenerreichung genutzt wird.
Bevor ich eine kurze Begriffsgeschichte des Sozialkapitalbegriffs nachzeichne, möchte
ich zunächst darauf verweisen, das die unterschiedlichen Konzepte zunächst einmal
anhand der betrachtete Ebene in zwei beziehungsweise drei große Gruppierungen
unterteilt werden können: Wird soziales Kapital auf der Ebene der Entwicklung der
Gesamtgesellschaft betrachtet, so handelt es sich um die Gruppe der Ansätze der
System- oder Makroebene. Aspekte sozialer Makrophänomene werden hier aus
holistischer Sicht betrachtet. Im Gegensatz dazu beschäftigen sich Ansätze der
Mikroebene mit dem individuellen Erwerb von Sozialkapital und dessen Wirkungen auf
Beziehungen zwischen einzelnen Personen (vgl. Westle und Gabriel: 2008, S. 18). Eine
dritte Möglichkeit der Untersuchung von Sozialkapital ergibt sich auf der Mesoebene,
also der Ebene zwischen der Mikro- und der Makroebene. Hier geht es vor allem um die
Untersuchung der Leistungen diverser Organisationen, die in vielfacher Hinsicht
sozusagen als Brücke zwischen Gesellschaft und Individuum fungieren. So können die
Theoretiker, die im Anschluss genauer auf ihre Sichtweise hinsichtlich sozialen Kapitals
untersucht werden, folgendermaßen eingeteilt werden: James S. Coleman und Pierre
Bourdieu legen eher Wert auf individuelle Vorteile, die sich aus Vertrauensbeziehungen
ergeben und argumentieren somit atomistisch auf der Mikroebene in Bezug auf
Sozialkapital als individuell nutzbare Ressource. Dagegen geht Putnam von
wechselseitigen Wirkungszusammenhängen auf Mikro- und Makroebene aus, wenn er
individuell erlebte Vertrauenserfahrungen von Personen auf die Systemebene überträgt
und dadurch einen Bezug zur Gesamtgesellschaft herstellt (vgl. Westle und Gabriel:
2007, S. 19f).
Bezüglich der wissenschaftshistorischen Entwicklung des Begriffes ,,Sozialkapital"
können seine konzeptionellen Anfänge etwa auf den Beginn des 20. Jahrhunderts
festgelegt werden.
,,Bereits vor nahezu einhundert Jahren prägte Lyda Judson Hanifan (1916) den
Begriff des Sozialkapitals, indem er auf die Bedeutung des gemeinschaftlichen
Engagements für den Erhalt der gesellschaftlichen Entwicklung hinwies.
Hanifan bezieht Sozialkapital dabei vor allem auf Eigenschaften wie
Gemeinschaftsgeist, Mitgefühl und den geselligen Austausch zwischen den
Akteuren einer sozialen Gemeinschaft." (Franzen und Freitag: 2007, S. 9f).

- 7 -
Der amerikanische Pädagoge Hanifan beschäftigte sich dabei vor allem mit Schulen, die
als Community Centers, also eine Art Gemeindezentren Begegnungsmöglichkeiten
außerhalb des normalen Schulbetriebs schufen. Laut Hanifan sollte dies in einer
Stärkung der solidarischen Beziehungen zwischen den Bürgern resultieren, wodurch
sowohl ein öffentlicher Nutzen für die entstehende Zivilgesellschaft als auch ein
privater Nutzen zustande kommen sollte. Hanifan selbst beschreibt diesen Sachverhalt
wie folgt:
,,The individual is helpless socially, if left to himself. Even the association of the
members of one´s own family fails to satisfy that desire which every normal
individual has of being with his fellows, of being a part of a larger group than
the family. If he comes into contact with his neighbours, there will be an
accumulation of social capital, which will immediately satisfy his social needs
(...). The community as a whole will benefit by the cooperation of all its parts,
while the individual will find in his associations the advantages of the help, the
sympathy, and the fellowship of his neighbours." (Hanifan in Ostrom und Ahn:
2003, S. 23).
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass für Hanifan das Zusammenkommen
von Menschen die wesentlichste Voraussetzung für die Akkumulation von sozialem
Kapital darstellte.
Nachdem Hanifan den Begriff des Sozialkapitals zwar beeindruckend erörtert hatte,
fand er jedoch (vorläufig) in den Sozialwissenschaften kaum Beachtung. Dennoch griff
John Seeley 1956 die Begrifflichkeit wieder auf und wies ,,(...) darauf hin, dass die
Mitgliedschaft in Vereinen und Clubs eine nicht zu unterschätzende Ressource mit
Blick auf die Entwicklung der beruflichen Karriere ist." (Seeley in Franzen und Freitag:
2007, S. 10). Er verstand dabei Sozialkapital als eine Art von Status und sah seine
Entstehung ähnlich wie zuvor Hanifan in der Tätigkeit in Gruppen verankert.
In den Ausführungen von Glenn C. Loury ,,wurde der Begriff `soziales Kapital´ 1977
(...) das erste Mal auch in einer wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlung verwandt
(...). Loury versucht mit ökonomischen Modellen darzulegen, dass die Zugehörigkeit
zu einer bestimmten ethnischen Gruppe und einem bestimmten sozioökonomischen
Hintergrund den späteren wirtschaftlichen Erfolg mitbestimmen." (Euler: 2006, S.12f).
Mit sozialem Kapital verknüpft Loury außerdem den Sachverhalt, dass bei Personen mit
unterschiedlicher sozialer Herkunft eine Ungleichheit bezüglich des Erwerbs von
Humankapital, welches wiederum in engem Zusammenhang mit dem Verfügen über
Sozialkapital steht, permanent vorhanden ist und dies an der Höhe der resultierenden

- 8 -
Erträge für die Betroffenen erkennbar ist. Auch hier wird die Auslegung von sozialem
Kapital als eine begrenzte Menge an Ressourcen, die der Entwicklung von Kindern
förderlich sind, deutlich erkennbar (vgl. Franzen und Freitag: 2007, S. 10).
Natürlich gab und gibt es derzeit noch einige weitere Autoren, die den Weg des Begriffs
,,Soziales Kapital" in die Sozialwissenschaften geebnet haben, jedoch möchte ich den
Blick nun von den ,,Vorreitern" weg hin zu den zeitgenössischen, eher aktuellen
Klassikern der Sozialkapitaltheorie richten. Dabei handelt es sich vornehmlich um
Pierre Bourdieu, James S. Coleman und Robert Putnam, die ich nachfolgend genauer
auf ihre Erläuterungen zu sozialem Kapital hin untersuchen werde. Da sich meine
Fragestellung besonders am Konzept Granovetters orientiert, möchte ich an dieser Stelle
nochmals daraus verweisen, dass ich einige Aspekte der folgenden Konzeptionen
lediglich ansprechen kann oder auslassen muss, um die angestrebte Stringenz und
Prägnanz der Arbeit nicht zu gefährden. Zunächst also beleuchte ich den Theorieansatz
Pierre Bourdieus.
2.1.1.1 Der Sozialkapitalbegriff nach Pierre Bourdieu
,,Bourdieu ist es zu verdanken, dass er den Kapitalbegriff in seiner einseitigen, auf den
Besitz an Produktionsmitteln ausgerichteten Fassung als unpräzise ablegt und durch
multiple Kapitalformen ersetzt. Auch soziale Beziehungen können durch eine
kapitaltheoretische Formulierung unter einer sozialstrukturellen, kapitalistischen
Perspektive analysiert werden." (Dederichs: 1999, S. 125). Bourdieu konzipiert
zusätzlich zum traditionellen ökonomischen Kapital zwei weitere Kapitalsorten, die er
,,kulturelles" und ,,soziales" Kapital nennt.
,,Während Bourdieu ökonomisches Kapital als Besitz von Produktionsmitteln, Grund
und Boden bzw. Geldvermögen definiert, ist für ihn kulturelles Kapital ganz allgemein
gleich zu setzen mit Wissen." (Euler: 2006, S. 65). Kulturelles Kapital weist also
Ähnlichkeiten zu dem, was allgemein unter Humankapital verstanden wird, auf. Es geht
dabei folglich um Fähigkeiten und Fertigkeiten, die einer bestimmten Person
innewohnen und diese dazu befähigen, neuartige Handlungen und Aktionen
auszuführen beziehungsweise zu bewerkstelligen. Bourdieu unterteilt das kulturelle

- 9 -
Kapital zudem noch in drei Unterarten: Zum einen nennt er das eben beschriebene
kulturelle Kapital ,,inkorporiertes" Kapital, da es im Laufe der Zeit von der betreffenden
Person verinnerlicht worden ist. Beispielhaft hierfür ist die allgemeine Schulbildung. Im
Gegensatz dazu zählen kulturell wertvolle Gegenstände wie Gemälde oder
Literatursammlungen zur ,,objektivierten" Form kulturellen Kapitals.
,,Institutionalisiertes" Kapital hingegen bezeichnet Schulabschlüsse, akademische Titel
oder auch Adelstitel (vgl. Geramanis: 2002, S. 10). Die dritte und letzte Kapitalform,
nämlich ,,soziales Kapital" versteht Bourdieu als ,,(...) die Gesamtheit der aktuellen und
potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder
weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens
verbunden sind, (...) es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu
einer Gruppe beruhen." (Bourdieu: 1983, S. 190f).
Somit gelang es Pierre Bourdieu als Erstem den Begriff des Sozialkapitals als Teil der
allgemeinen Kapitalausstattung zu systematisieren. Am verständlichsten wird Bourdieus
Vorstellung von Sozialkapital durch das umgangssprachliche Synonym des ,,Vitamin
B": Darunter werden im Allgemeinen Beziehungen verstanden, die von Vorteil sein
können und genau im richtigen Augenblick Kontakte zu anderen wichtigen Personen
herstellen. Daran wird außerdem deutlich, wie geradlinig Bourdieu eine
Mikroperspektive bezüglich sozialen Kapitals einnimmt (vgl. Westle und Gabriel: 2008,
S. 23). Für Bourdieu ist Sozialkapital somit eine individuelle Ressource und es ,,stehen
Vorteile und Chancen im Vordergrund, die ein Individuum durch ´langfristige nützliche
Verpflichtungen` gewinnt." (Fliaster: 2007, S. 110). Dabei sieht Bourdieu die
nützlichen Ressourcen nicht beim individuellen Akteur, der diese benötigt, verwurzelt,
sondern bei anderen Akteuren, die diese Ressourcen dank einer vorhandenen sozialen
Beziehung für ihn verfügbar machen.
Bourdieu konzipiert außerdem drei Dimensionen, die man zur Betrachtung von
sozialem Kapital heranziehen kann: Er benennt die qualitative Dimension als die
Ausdehnung des individuellen Kontaktnetzes, die sich aus der Dichte der Beziehungen
und deren reeller Nutzbarkeit ergibt. Diese Beziehungen können eher lose oder als
anderes Extremum sehr intim sein. Als zweites führt Bourdieu die quantitative
Dimension auf. Sie zeigt den Umfang des Netzes und hängt von der Anzahl der
bestehenden Kontakte ab. Die dritte und letzte Dimension, die so genannte
partizipierende Dimension gibt Auskunft über das Ausmaß des Sozialkapitals der
Netzmitglieder und wird sichtbar anhand der Beteiligung an deren Netzwerken (vgl.
Dederichs: 1999, S. 129).

- 10 -
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Zusammenhang, den Bourdieu zwischen den drei
beschriebenen Kapitalsorten sieht. Er geht davon aus, dass eine mangelnde Ausstattung
mit der einen Kapitalsorte oftmals auch mit einer fehlenden Möglichkeit, dieses Defizit
durch andere Kapitalformen zu beheben, in einem Zusammenhang steht. Jedoch ist laut
Bourdieu die Möglichkeit vorhanden, durch unterschiedliche Transformationen die
Kapitalsorten konvertierbar zu machen. ,,Soziales Kapital kann in Austauschprozessen
mit anderen Personen in andere Kapitalarten (kulturelles oder ökonomisches Kapital)
umgewandelt werden. (...) So erhält man durch soziales Kapital u. a. Informationen,
die dann wiederum ökonomisch verwertbar sind (...)." (Euler: 2006, S. 65). An dieser
Stelle muss aber ergänzt werden, dass eine solche Umwandlung auch
Umwandlungsverluste nach sich ziehen kann und ökonomisches Kapital allein
heutzutage kein Garant mehr für eine höhere Macht- oder Statusposition ist, die
letztendlich das Ziel von Kapitalanhäufungen repräsentieren. Somit muss ökonomisches
Kapital immer mit anderen Kapitalsorten zusammenwirken, um effektiv zu sein. Eine
besondere Rolle spielt dafür seit jeher das soziale Kapital, das beispielsweise in
Bereichen wie der Jobsuche entscheidend für Erfolg oder Misserfolg sein kann.
Allerdings benennt Bourdieu mit der heterogenen Verteilung der verschiedenen
Kapitalformen eine bedeutsame Ursache für die existierende Reproduktion sozialer
Ungleichheit. Damit sind vor allem ungleiche Lebens-, Bildungs- und Kontaktchancen
gemeint. ,,Eine bestehende Ungleichverteilung der Partizipation an Netzwerken, wie sie
schichtspezifisch vorliegt, führt zu einer ungleichen Ausstattung mit >>Beziehungen<<
(...). Die größten Kontaktnetze besitzen demnach Reiche, Dynastien und Akademiker,
die durch die vergleichsweise lange Ausbildung an verschiedenen Ausbildungsstätten
ein intensives ,Networking´ betreiben können." (Dederichs: 1999, S. 130). Soziales
Kapital ist demnach also abhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht.
Etwas allgemeiner formuliert, bedeutet dies, dass die Voraussetzungen für die
individuelle Kapitalausstattung durch bestimmte Handlungsgewohnheiten und
Einstellungen, die sich aus der eigenen Schicht-/Klassenzugehörigkeit generieren,
vorbestimmt sind. Diese Gegebenheit wird von Bourdieu mit dem Terminus ,,Habitus"
umschrieben.
,,Der Habitus ist sozial-strukturell bedingt, d. h. durch die spezifische Stellung,
die ein Akteur ­ und der sozialen Klasse, der man ihn zurechnen kann ­
innerhalb der Struktur gesellschaftlicher Relationen innehat; er formt sich im
Zuge der Verinnerlichung der äußeren gesellschaftlichen (materiellen und
kulturellen) Bedingungen des Daseins." (Schwingel: 2003, S. 60).

- 11 -
Demgemäß legt der Habitus innerhalb bestimmter Grenzen unser Verhalten, unsere
Einstellungen, unsere Präferenzen und Werthaltungen fest. Dies wiederum hat
Auswirkungen auf unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen,
aufrechtzuerhalten und auszubauen und beeinflusst somit die Akkumulation von
Sozialkapital. Gerade hinsichtlich bestimmter Interaktionsmuster lassen sich zwischen
verschiedenen Habitusformen Unterschiede ausmachen, die diese Anhäufung von
Sozialkapital beeinflussen. Wenn der verinnerlichte Habitus beispielsweise so angelegt
ist, dass die betreffende Person wenig Wert auf Distinktionspraktiken legt, also keine
Versuche unternimmt, sich bewusst von niedriger angesiedelten Schichten/ Klassen
abzuheben, so scheint die Wahrscheinlichkeit, neue und auch heterogene Kontakte
herzustellen, relativ hoch. Wenn hingegen eine nicht allzu offene Umgehensweise mit
allgemein Andersartigem oder mit fremden Personenkreisen ansozialisiert wurde,
gestaltet sich der Kontaktaufbau wesentlich schwieriger. ,,Den Ausgangspunkt bildet
aber letztlich immer der Habitus. Weder ist das individuelle Handeln direkt durch die
Kapitalausstattung bzw. das ökonomische Interesse bestimmt, noch kann es frei in der
Interaktion ausgehandelt werden." (Euler: 2006, S. 66).
Abschließend lässt sich bei kritischer Erörterung des Bourdieuschen Ansatz folgende
Bilanz ziehen:
Bourdieu hält am klassischen Grundgedanken der Soziologie fest, der die Prägung
sozialer Akteure durch die sie umgebende Gesellschaft und ihre Ausstaffierung mit
bestimmten vorgegebenen Anlagen festschreibt. Somit behält er unweigerlich eine
strukturalistischen Position bei (vgl. Euler: 2006, S. 66). Dies und die Tatsache, dass
sein Ansatz von ihm selbst nicht wirklich weiterentwickelt wurde, obwohl dieser an
manchen Stellen noch lückenhaft erscheint, haben trotz der allgemeinen Beliebtheit von
Sozialkapitaltheorien zu wenig Beachtung der Sozialkapitalkonzeption Bourdieus
geführt. Beispielsweise bleibt ,,unklar, ob das soziale Kapital eine Unterform des
kulturellen Kapitals oder eine Voraussetzung für den Erwerb weiteren Kapitals ist."
(Dederichs: 1999, S. 130).
Ferner scheint seine Verknüpfung von sozialem Kapital mit der Reproduktion sozialer
Ungleichheit momentan gesellschaftlich nicht gerne wahrgenommen zu werden. Wie
eingangs erwähnt, wird sozialem Kapital eher von der Mehrheit eine globale Relevanz
zugesprochen und hat bereits den Status eines Allheilmittels, das dem Wohle aller zu
Gute kommen kann. Im Gegensatz dazu wirkt Bourdieus Sprache von sozialer
Ungleichheit fast schon unpassend. ,,Seine (neo-)marxistische und daher sozialkritische

- 12 -
Betrachtungsweise passt nicht zu einem Zeitgeist, der Sozialkapital gerne als Lösung
aller Übel moderner Gesellschaften betrachtet." (Westle und Gabriel: 2008, S. 27).
,,Eine Schwäche im Bourdieuschen Theoriedesign ist auch die starre Konstruktion des
sozialen Raums, der auf Ökonomie und Kultur aufbaut, kulturelle Vielfalt und
Pluralisierung aber ignoriert." (Dederichs: 1999, S. 130). Dadurch kann die von ihm
postulierte, letztendlich immer existierende Statusabhängigkeit von Ressourcen, von
Optionen zur Kapitalanhäufung und von Netzwerkeinbindungen heutzutage als weniger
schwerwiegend als noch zu früheren Zeiten betrachtet werden. Schließlich kann man
das Resümee ziehen, dass Bourdieu wichtige Grundlagen und Anreize zur
Weiterverfolgung des Sozialkapitalansatzes durch andere geschaffen hat und zu Recht
sein Ansatz als einer der zentralsten klassischen Beiträge gewertet werden darf.
Im weiteren Verlauf möchte ich nun den Sozialkapitalbegriff aus der Perspektive von
James S. Coleman präzisieren.
2.1.1.2 Der Sozialkapitalbegriff nach James S. Coleman
Coleman geht zunächst in seiner Sozialtheorie davon aus, dass Akteure ein generelles
Interesse an bestimmten Ressourcen haben und im Rahmen verschiedener
Tauschhandlungen eine optimale Ressourcenallokation anstreben, um die eigenen Ziele
zu erreichen. Coleman selbst formuliert diese Sachlage folgendermaßen: ,,Soziale
Interdependenz und systemische Funktionsweisen ergeben sich aus der Tatsache, dass
Akteure an Ereignissen interessiert sind, die vollständig oder teilweise von anderen
Akteuren kontrolliert werden." (Coleman: 1991, S. 389). Somit nutzen Akteure unter
anderem Ressourcen, die in sozialen Beziehungen verwurzelt sind, um eine
Zielerreichung mit möglichst geringen Kosten zu realisieren. Der Begriff des
Sozialkapitals wird dabei von Coleman über seine Funktion und zwei bedeutsame
Merkmale, nämlich den Aspekt einer vorhandenen Sozialstruktur und einer
Handlungserleichterung, definiert:
,,Social capital is defined by its function. It is not a single entity but a variety of
different entities, with two elements in common: they all consist of some aspect
of social structures, and they facilitate certain actions of actors- whether persons

- 13 -
or corporate actors- within the structure. Like other forms of capital, social
capital is productive, making possible the achievement of certain ends that in its
absence would not be possible." (Coleman: 1988, S. 98).
Sozialkapital drückt also aus, welchen Wert die Existenz von Sozialstrukturen für die
einzelnen Akteure hat. Ferner sieht Coleman in den Eigenschaften von sozialem Kapital
Ähnlichkeiten zu anderen Kapitalsorten. ,,Like physical capital and human capital,
social capital is not completely fungible but may be specific to certain activities. A
given form of social capital that is valuable in facilitating certain actions may be useless
or even harmful for others." (Coleman: 1988, S. 98). Folglich kann der betreffende
Akteur sein Kapital nicht völlig flexibel einsetzen, es muss vielmehr eine
situationsspezifische Passung vorliegen.
Doch Colemans Konzeption berücksichtigt auch Unterschiede, die soziales Kapital von
physischem Kapital oder Humankapital abheben: ,,Anders als andere Kapitalformen
wohnt soziales Kapital den Beziehungsstrukturen zwischen zwei oder mehreren
Personen inne. Es ist weder Individuen noch materiellen Produktionsgeräten eigen."
(Coleman: 1991, S. 392). Dem Colemanschen Ansatz liegt demzufolge also die
Auffassung zugrunde, dass Sozialkapital eine recht unkonkrete Handlungsressource
darstellt, wobei die Akteure zugleich gemäß den Gesetzmäßigkeiten der Rational-
Choice-Theorie handeln. Dies bedeutet, dass die Akteure rational handeln im Sinne
einer Nutzenmaximierung unter bestmöglicher Berücksichtigung aller verfügbaren
Informationen, die eine Entscheidung für oder gegen eine Handlung beeinflussen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Coleman hervorbringt, findet sich im
Doppelcharakter sozialen Kapitals. ,,Die sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren
sind damit auf der Mikroebene als individuelle Merkmale oder Ressourcen zu
verstehen, während sie auf der Makroebene Komponenten sozialer Strukturen
darstellen." (Westle und Gabriel: 2008, S. 28). Infolgedessen kann soziales Kapital als
eine Möglichkeit herangezogen werden, die Unterstützung sozial schwächerer
Personengruppen zu erläutern. Beispielsweise wird die Funktionsweise von sozialem
Kapital sehr anschaulich an der ´gewohnheitsmäßigen´ Unterstützung von Kindern
durch Eltern, Verwandte und Nachbarn deutlich. Steht unglücklicherweise ein Umzug
bei einer Familie an, so geht ein großer Teil an Sozialkapital verloren. Denkbar wäre
hierbei, dass die Nachbarn, denen die besagten Eltern gelegentlich einen Gefallen tun,
nicht mehr im Gegenzug wie bisher auf die im Garten spielenden Kinder aufpassen
können, falls die Eltern gerade unaufmerksam oder abgelenkt gewesen sind. Auch
Verwandte, die oftmals als Babysitter fungiert haben könnten, fallen aufgrund der

- 14 -
räumlichen Distanz als Hilfegeber weg. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass das
Paar einen neuen Babysitter suchen muss, der allerdings wiederum den Nachteil mit
sich bringt, dass man ihn nicht kennt, ihm vorläufig einen Vertrauensvorschuss geben
muss und dieser zugleich einen höhere Entlohnung als wohl gesonnene Verwandte
fordern könnte. An diesem kleinen Beispiel wird somit recht schnell klar, worin die
Vorteile und die Funktionsweise von Sozialkapital liegen. Es handelt sich dabei im
Kern um das Vorhandensein von gegenseitigen Verpflichtungen und Erwartungen.
Wenn also das oben beschriebene Elternpaar etwas für die Nachbarn tut, so hat dieses
Paar das Vertrauen aufgrund der existierenden sozialen Beziehung, die sich entwickelt
hat, dass die Nachbarn eine Gegenleistung, zum Beispiel in Form von Babysitting, in
der Zukunft erbringen werden. Somit ist also auf der Seite des Elternpaars eine
Erwartung entstanden und auf der Seite der Nachbarn existiert nun eine Verpflichtung.
Diese Verpflichtung kann als eine Art ,,Gutschrift" für die Zukunft betrachtet werden,
die bei Bedarf in eine Hilfeleistung umgewandelt oder eingelöst werden kann. Coleman
spricht in diesem Zusammenhang, wenn also gegenseitige Erwartungen und
Verpflichtungen existieren, auch von der so genannten Reziprozitätsnorm. ,,Individuen
in Sozialstrukturen, die sich jederzeit auf eine große Anzahl ausstehender
Verpflichtungen berufen können, gleichgültig, welcher Art diese Verpflichtungen sind,
können auf ein größeres soziales Kapital zurückgreifen." (Coleman: 1991, S. 398f).
Hinzu kommt, dass zwei Aspekte bei derartigem sozialem Kapital eine entscheidende
Rolle spielen: zum einen geht es hierbei um das Maß der Vertrauenswürdigkeit des
sozialen Umfeldes, was also dafür steht, ob Verpflichtungen nachgekommen wird oder
nicht. Zum anderen ist die Anzahl der Verpflichtungen, die ein Akteur einlösen kann,
von besonderer Bedeutung (vgl. Coleman: 1991, S. 397). Nur wenn ein relativ großes
Vertrauen in die Mitmenschen vorhanden ist, wird ein Akteur eine Hilfeleistung
erbringen in der berechtigten Hoffnung, irgendwann eine gleichwertige Gegenleistung
zu erhalten. Auch die Anzahl der Verpflichtungen ist entscheidend, da sie zusammen
mit dem eben genannten Aspekt der Vertrauenswürdigkeit darüber entscheidet, wie viel
man in soziales Kapital investiert und in welchem Umfang man auf diverse Ressourcen
mit Hilfe von sozialem Kapital zugreifen kann.
Weitere Formen von Sozialkapital können laut Coleman auch Informationspotential,
Normen und Sanktionen, sowie Herrschaftsbeziehungen sein. ,,Da die Beschaffung von
Informationen häufig kostenintensiv bzw. zeitaufwendig ist, können auch
Informationen, die man unbeabsichtigt, nebenbei durch Kontakte in sozialen
Netzwerken erhält, ebenfalls eine wertvolle Handlungsressource darstellen, die so

- 15 -
kostenfrei ausschließlich durch soziale Beziehungen bereitgestellt werden kann."
Westle und Gabriel: 2008, S. 29). Beispielsweise ,,(...) kann eine Person, die sich für
Tagesereignisse nicht brennend interessiert, jedoch über wichtige Entwicklungen auf
dem laufenden sein möchte, die Zeit sparen, die das Lesen einer Zeitung erfordern
würde, wenn sie sie gewünschten Informationen von einem Freund erhalten kann, der
solchen Ereignissen seine Aufmerksamkeit widmet. ,, (Coleman: 1991, S. 402).
Bezüglich Normen und Sanktionen als Form von sozialem Kapital sieht Coleman deren
Wirksamkeit darin, dass sie bestimmte Handlungsweisen erleichtern oder aber auch
erschweren beziehungsweise verbieten. ,,(...) social norms constitute social capital.
Their presence results in higher levels of satisfaction- though perhaps at the cost of
reducing the satisfaction of some members whose actions are most constrained by the
norms." (Ostrom und Ahn: 2003, S. 156). So können Normen, die gegen Kriminalität
gerichtet sind, als Sozialkapital für schwächere Personengruppen fungieren, indem sie
für diese eine gewisse Sicherheit erzeugen. ,,Wirksame Normen, die Verbrechen in
einer Stadt verbieten, erlauben es Frauen, nachts ungehindert nach draußen zu gehen,
und alten Menschen, ihre Wohnungen ohne Angst zu verlassen." (Coleman: 1991, S.
403).
Dabei gibt es zwei Arten von Normen. Einerseits existieren Normen, die internalisiert
wurden, also im Laufe der Erziehung und Sozialisation einer Person von ihr
verinnerlicht worden sind. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass Normen über
externe Sanktionen zu Wirksamkeit verholfen wird. Dies geschieht über Belohnungen,
Ansehen und soziale Unterstützung im Falle von sozial erwünschten Handlungen und
über Bestrafungen im Falle von unerwünschtem oder abweichendem Verhalten.
,,Normen der Selbstlosigkeit und Prosozialität erscheinen als besonders bedeutsam für
die Überwindung des Kollektivgutproblems." (Westle und Gabriel: 2008, S. 29).
Auf den Aspekt des öffentlichen Gutes/ Kollektivgutes bei Sozialkapital werde ich
später noch einmal zurückkommen, nachdem ich Herrschaftsbeziehungen als letzte
Form von sozialem Kapital beleuchtet habe. Im Allgemeinen spricht Coleman von
Herrschaft, wenn eine Person Kontrollrechte über bestimmte Handlungen einer anderen
Person besitzt (vgl. Coleman: 1991, S. 83). Somit kann der Herrschende die erworbenen
Kontrollrechte als soziales Kapital nutzbar machen, vor allem dann, wenn von mehreren
Personen eine Kontrollrechtsübertragung stattgefunden hat, indem der damit erworbene
Pool an Ressourcen gebündelt - und daher noch effektiver- verwertet werden kann (vgl.
Coleman: 1991, S. 404).

- 16 -
Soziales Kapital stellt, wie bereits kurz angedeutet, auch eine Form von öffentlichem
Gut dar, da es nicht als reines Privateigentum angesehen und genutzt werden kann. Dies
liegt an seiner typischen Eigenschaft, in den Beziehungen zwischen den Personen
verankert zu sein. In diesem Zusammenhang ist auch von einer faktischen
Unveräußerlichkeit und Immaterialität von Sozialkapital die Rede. Des Weiteren
entstehen bei sozialem Kapital im Unterschied zu allen anderen Kapitalsorten nicht nur
Gewinne für den Investierenden, sondern für alle Beteiligten der vorhandenen
Sozialstruktur. Wenn also Eltern, deren Kinder dieselbe Schule besuchen, sich freiwillig
für bessere Schulverhältnisse engagieren, so profitieren davon auch die Kinder der
wenigen Eltern, die sich nicht an gemeinsamen Aktionen für das Allgemeinwohl
beteiligt haben. Das bei Kollektivgütern weit verbreitete Trittbrettfahrerproblem wird
also auch hier erkennbar. Überdies taucht Sozialkapital meist als unbeabsichtigtes
Nebenprodukt im Verlaufe anderer Handlungen auf. ,,Ein Großteil an sozialem Kapital
entsteht oder vergeht, ohne daß (sic) irgend jemand bewusst dazu beiträgt." (Coleman:
1991, S. 412).Grund hierfür ist, dass der rationale Akteur kein Interesse daran hat,
bewusst soziales Kapital zu erschaffen, da er damit rechnen muss, den größten Teil
davon nicht selbst nutzen zu können. Dies führt laut Coleman zu einer generell
vorhandenen Tendenz der Unterinvestition in Sozialkapital.
Daneben gelingt es Coleman, besonders günstige Merkmale für die Schaffung und
Aufrechterhaltung von sozialem Kapital herauszuarbeiten:
,,Als besonders wichtig erscheint hierbei die Geschlossenheit des sozialen
Kontextes. Ein geschlossener sozialer Kontext ist dadurch gekennzeichnet, dass
jedes Mitglied mit jedem anderen direkt oder indirekt verknüpft ist, während in
offenen Kontexten manche Mitglieder nicht mit allen verknüpft sind. Die
geschlossene Struktur erleichtere die Herausbildung gemeinschaftlicher Normen,
da alle Kräfte gesammelt wirksam werden können, potentiell jeder durch das
Handeln der anderen betroffen ist, und Sanktionen jeden einschließen können
(...)." (Westle und Gabriel: 2008, S. 30).
Ein zusätzlicher Vorteil geschlossener Systeme liegt Coleman zufolge darin, dass die
Entscheidung, einer Person zu vertrauen oder nicht, vom Urteil einer dritten Person
abhängig gemacht werden kann, die die betreffende Person weitaus besser einschätzen
kann, da sie sich in einer engeren Beziehung mit ihr befindet.
Für die Genese sozialen Kapitals nennt Coleman außerdem die Stabilität der
Sozialstruktur als wichtige Einflussgröße. Das eigentliche Problem hierbei besteht in

- 17 -
der faktischen Mobilität von Individuen. Indem Individuen die Sozialstruktur verlassen,
sei es durch einen Umzug oder andere Umstände, geht ein Teil des Sozialkapitals der
betreffenden Gruppe verloren (vgl. Coleman: 1991, S. 416). In letzter Konsequenz wird
die Stabilität der Sozialstruktur durch diese Mobilitätsbewegungen beeinträchtigt, da
alte sozial verfügbare Ressourcen verloren gehen und neu hinzukommende soziale
Ressourcen erst durch den Aufbau von Vertrauen und Beziehungsarbeit, also durch
Investitionen in neue Beziehungen, nutzbar gemacht werden müssen. Allerdings sieht
Coleman in der Einführung von Organisationen, deren Struktur nicht von einzelnen
Personen sondern von Positionen abhängt, eine mögliche Lösung des
Stabilitätsproblems (vgl. Coleman: 1991, S. 416).
Als weitere Faktoren, die die Schaffung von sozialem Kapital beeinflussen, werden von
Coleman auch Ideologien aufgeführt. Durch die Wirkung religiöser Lehren
beispielsweise wird das eigene Verhalten gegenüber anderen rücksichtsvoller. Auch die
Existenz staatlicher Unterstützungsleistungen, der Grad des vorherrschenden
Wohlstands oder andere Alternativen von Hilfe haben Auswirkungen auf die
Entstehung oder auch Vernichtung von sozialem Kapital. Bei all diesen
Sozialkapitalformen tritt jedoch die Gemeinsamkeit auf, dass sie im Laufe der Zeit an
Wert einbüßen, wenn keine Investitionen in die Aufrechterhaltung/ Erneuerung der
bestehenden sozialen Beziehungen getätigt werden.
Auch zu James Coleman möchte ich kurz kritisch Stellung beziehen: Zunächst einmal
bleibt anzumerken, dass zwischen der Sozialkapitalkonzeption Colemans und dem
Alltagsverständnis eine gewisse Unstimmigkeit vorhanden ist. James Coleman setzt als
Prämisse voraus, dass Akteure nahezu jederzeit rationales Handeln an den Tag legen.
Allerdings übersieht er dabei meiner Meinung nach den Aspekt, dass Akteure im
tagtäglichen Leben auch irrationale Handlungen vornehmen, indem sie sich zum
Beispiel durch eine altruistische Einstellung, starke Emotionen, Affekte oder vielleicht
sogar durch Triebe in ihrem Verhalten lenken und beeinflussen lassen.
Zudem grenzt sich das Theoriedesign Colemans zu sehr auf strukturelle
Interdependenzen ein. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Individuum kaum von
strukturellen Gegebenheiten tangiert wird/ werden möchte und die Handlungsweisen
nicht unmittelbar an strukturellen Anforderungen oder gesellschaftlich erwünschten
Gepflogenheiten ausrichtet. Des Weiteren erfolgt keine Berücksichtigung der
Problematik der doppelten Kontingenz. Dies bedeutet, Coleman blendet das Phänomen
der doppelten Erwartungserwartungen aus, welches besagt, dass ein Akteur A seine

- 18 -
Handlungen und Erwartungen nicht nur an den Handlungen des Akteur B sondern auch
an dessen Erwartungen und Erwartungserwartungen ausrichtet. Akteur A erwartet also,
dass Akteur B bestimmte Erwartungen bezüglich seiner Erwartungen hat.
Unterdessen findet genau derselbe Prozess umgekehrt auch bei Akteur B statt, was
wiederum zu einer Entscheidungs- und Handlungsverzögerung oder sogar zu einer
gegenseitigen Blockade führen kann. Jedoch finden sich bei Coleman zu dieser
Problematik hinsichtlich Sozialkapitals keine Ausführungen, die dies fokussieren.
Allerdings scheint die Colemansche Konzeption im Vergleich zur Auslegung Bourdieus
weitaus besser dafür geeignet zu sein, Sozialkapital als ein wertvolles Instrument zur
Lösung brisanter gesellschaftlicher Probleme heranzuziehen (vgl. Westle und Gabriel:
2008, S. 27). Im Gegensatz dazu halte ich jedoch Colemans Verständnis der
Sozialstruktur als eines der wesentlichen Merkmale von sozialem Kapital für
problematisch, denn wenn soziales Kapital eine Kapitalart darstellen soll, so müsste
folgender Aspekt ebenso für soziales Kapital gelten: ,,Kapital ist also Kapital, nicht weil
es etwas wertvolles darstellt wie etwa Vermögensgüter, sondern weil es eine Chance auf
die Realisierung zukünftiger Erträge oder ganz allgemein Vorteile bereithält. Und dies
gilt es eben auch für soziales Kapital zu berücksichtigen. Insofern ist die soziale
Struktur nur dann als soziales Kapital zu interpretieren, wenn sie stabilisierte
Erwartungen für den über sie realisierbaren Nutzen bieten kann, wie dies für jede andere
Form von Kapital auch gilt." (Twickel: 2002, S. 65). Genau hier liegt aber das Problem
beim Begriff des Sozialkapitals: Einerseits existiert doppelte Kontingenz, was
stabilisierte Erwartungen nahezu unmöglich werden lässt und andererseits bleibt der
realisierbare Nutzen einer sozialen Beziehung ungewiss, da ein Vertrauensbruch
niemals vollständig ausgeschlossen werden kann und die zu erwartende zukünftige
Gegenleistung nicht im voraus konkretisiert werden kann.
Ferner übersieht Coleman den Aspekt, dass nicht nur Sozialkapital in Form von
Vertrauen zum Erfolg einer Gesellschaft verhelfen kann, sondern dass in Einzelfällen
auch Misstrauen positive Wirkungen auf die Gesamtgesellschaft haben kann. Somit ist
die ,,(...) Vorstellung, Vertrauen sei die einzige Lösung für soziale Probleme, hier in
Zweifel zu ziehen, genauer, Mißtrauen (sic) muß (sic) sogar in einem funktionalen
Verhältnis zum Gelingen gesellschaftlicher Performance gesehen werden, denn
blockierte Kooperationen können gesellschaftlich gesehen von großem Nutzen sein und
strategisch gewollt werden." (Twickel: 2002, S. 66). Als Beispiel hierfür möchte ich das
vielfach von den damaligen Bürgern entgegengebrachte, unhinterfragte Vertrauen in die
Machthaber des Nazi-Regimes anführen: Ein größeres Maß an Misstrauen innerhalb der

- 19 -
deutschen Bevölkerung gegenüber der nationalsozialistischen Regierung hätte sicherlich
weniger schwerwiegende Folgen für die Gesamtgesellschaft hervorgebracht, als die, die
sich leider real offenbart haben. Infolgedessen wird meiner Meinung nach das Risiko,
dem sich der Akteur bei einer Vertrauensleistung im Sinne eines einseitigen
Ressourcentransfers aussetzt, zu wenig von Coleman in seine Überlegungen
miteinbezogen.
Abschließend stelle ich fest, dass trotz der vorhandenen kleineren Schwächen, die sich
in der Theorie James Colemans finden lassen, seine Erörterungen zu sozialem Kapital
besonders relevant in aktuellen Diskursen erscheinen, da er es schafft, sowohl auf der
Mikroebene als auch auf der Makroebene zu argumentieren. Gleichzeitig gelingt ihm
erfolgreich eine (nahezu) widerspruchsfreie Verquickung des ökonomische geprägten
Rational-Choice-Ansatzes (mit den darin verhafteten Annahmen über den rationalen,
nutzenmaximierenden ,,homo oeconomicus") mit dem allgemeinen Paradigma der
Soziologie (welches das Handeln des Akteurs dagegen durch soziale Prozesse wie
Sozialisation bestimmt sieht).
Im Gegensatz zu Bourdieu und auch Coleman behandelt Robert D. Putnam die
Thematik rund um soziales Kapital anhand empirischer Studien, die ihn zu einem
Sozialkapitalansatz führen, der insbesondere soziales Kapital in seiner Funktion zur
Überwindung kollektiver Dilemmata genauer überprüfbar macht. Dieses Theoriedesign
von Putnam soll Gegenstand des nächsten Abschnittes sein.
2.1.1.3 Der Sozialkapitalbegriff nach Robert D. Putnam
Die große weltweite Resonanz auf die Ansätze zu Sozialkapital ist unter anderem auch
der Verdienst Putnams. Er führte umfassende Studien zur abnehmenden
Leistungsfähigkeit moderner Demokratien, insbesondere in Italien und den USA, durch
und nahm dabei Bezug auf die Rolle des schwindenden Sozialkapitals bei der
Gefährdung dieser Demokratien. Allerdings werde ich nachfolgend nicht auf die
empirischen Ergebnisse Putnams in dieser Arbeit näher eingehen, da sie sich thematisch

- 20 -
zu sehr mit dem Sozialkapitalverfall in einzelnen Ländern befassen und wenig Bezüge
zu dieser Arbeit aufweisen können.
Ähnlich wie Coleman konzipiert Putnam soziales Kapital als Verbindung aus Normen
der Reziprozität, Netzwerken des bürgerlichen Engagements und Vertrauen. Er versteht
Sozialkapital somit als ,,(...) features of social organization, such as trust, norms, and
networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions"
(Putnam: 1993, S.167). Bezüglich der Normen der Reziprozität sieht Putnam zwei
verschiedene Ausprägungen existent: Auf der einen Seite spricht Putnam von der
,,balanced reprocity", also dem gleichzeitigen Austausch von Gegenständen mit
gleichem Wert. Auf der anderen Seite nennt er die ,,generalized reciprocity". Darunter
versteht er einen länger andauernden Beziehungsaustausch, bei dem eine aktuell
geleistete Hilfe später zum eigenen Vorteil vom jeweiligen Beziehungspartner
eingefordert werden kann.
Putnam definiert zudem Sozialkapital über dessen charakteristischen Eigenschaften: Es
verhält sich wie andere Kapitalarten produktiv. Damit ist gemeint, dass es zusammen
mit Vertrauen zur Verhinderung oder Überwindung gesellschaftlicher Dilemmata oder
Probleme in den verschiedensten Kontexten herangezogen werden kann. Putnam drückt
dies folgendermaßen aus: ,,Wenn wir nicht für jeden Austausch sofort eine
Gegenleistung bringen müssen, können wir viel mehr erreichen. Vertrauen ist das
<<Gleitmittel>> des gesellschaftlichen Lebens. Wenn wirtschaftliches und politisches
Handeln in dichte Netzwerke sozialer Interaktion eingebettet sind, verringern sich die
Anreize für Opportunismus und Fehlverhalten." (Putnam: 2001, S. 21f).
Des Weiteren wird soziales Kapital von Robert D. Putnam augrund der innewohnenden
Nicht-Ausschließbarkeit als Kollektivgut deklariert. ,,Kollektivgüter sind Güter, von
deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann, unabhängig davon, ob jemand zu
ihrer Herstellung einen Beitrag geleistet hat oder nicht." (Westle und Gabriel: 2008, S.
32). Ferner konzipiert Putnam soziales Kapital als Nebenprodukt sozialer Aktivitäten,
das außerdem das Zustandekommen spontaner Kooperation durch eine gewisse soziale
Grundeinstellung erleichtern kann. Putnam selbst stellt diese Sachverhalte folgend dar:
,,Like other forms of capital, social capital is productive, making possible the
achievement of certain ends that would not be attainable in its absence. ... For
example, a group whose members manifest trustworthiness and place extensive
trust in one another will be able to accomplish much more than a comparable
group lacking that trustworthiness and trust." (Putnam: 1993, S. 167).

- 21 -
Der eigentliche Grundgedanke, den Putnam mit seinem Sozialkapital-Konstrukt
verfolgt, drückt aus, dass das persönliche Umfeld eines Akteurs, also die Familie,
Freunde, Arbeitskollegen und Bekannte, eine bedeutsame Stütze symbolisieren, die in
Notfallsituationen aktiviert werden kann (vgl. Westle und Gabriel: 2008, S. 32).
Besonders auf Netzwerke des bürgerlichen Engagements legt Putnam den Fokus seiner
Arbeiten. ,,Als Indikator des Sozialkapitals gilt für Putnam daher das bürgerliche
Engagement im weitesten Sinne. Kenngrößen, mit denen er argumentiert, haben vor
allem mit freiwilliger Mitgliedschaft in sozialen, religiösen, sportlichen Organisationen,
in Gewerkschaften und politischen Verbänden, aber auch in literarischen
Diskussionsgruppen usw. zu tun." (Fliaster: 2007, S. 117). Demnach dienen diese
Netzwerke allgemein der interpersonellen Kommunikation und dem formellen als auch
informellen Austausch. Überdies wird durch die Tätigkeit in Vereinen und wohltätigen
Organisationen ein allgemeines Vertrauen, sozusagen als Nebenprodukt des
Engagements geschaffen. Dieses bürgerliche Engagement ist Putnam zufolge besonders
in modernen Demokratien zur Vertretung der bürgerlichen Interessen erforderlich. Falls
dies nicht geschieht, bestehe die Gefahr, dass diese Aufgabe von intermediären
Organisationen übernommen wird. Somit ist der Bezugspunkt seiner Überlegungen
nicht mehr nur das einzelne Individuum wie beispielsweise bei Coleman, sondern er
konzentriert sich auch insbesondere auf die Auswirkungen von Sozialkapital auf die
gesamte Gesellschaft oder Gemeinschaft.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in Putnams Theoriedesign zeigt sich in seinen
Differenzierungskriterien für Netzwerke: Putnam nimmt eine Unterscheidung zwischen
horizontalen und vertikalen Netzwerken vor.
,,Die beiden Formen von Netzwerken unterscheiden sich dadurch, dass in
horizontalen Netzwerken Akteure mit vergleichbarem Status und Macht
zusammengebracht werden, während in vertikalen Netzwerken ungleiche
Akteure miteinander verknüpft werden. Putnam argumentiert, dass
ausschließlich horizontale Netzwerke vertrauensbildende und
kooperationsfördernde Wirkung zeitigen. In vertikalen Netzwerken ist der
Informationsfluss seiner Ansicht nach zu wenig zuverlässig (...)." (Franzen und
Freitag: 2007, S. 35).
Ein zusätzliches Unterscheidungsmerkmal liegt gemäß Putnam im Stärkegrad von
Beziehungen. Es zeigen sich dabei Parallelen zu den von Granovetter geprägten
Beziehungsarten der ,,strong ties" oder ,,weak ties". Granovetter und seine Sichtweise

- 22 -
auf diese zwei Beziehungsformen möchte ich allerdings vorerst nicht näher behandeln,
da dies an anderer Stelle erfolgen soll. Putnam sieht in schwachen Beziehungen solche
Beziehungen, die zwischen flüchtigen Bekannten bestehen und eher oberflächlich
bleiben. Er verwendet hierfür die Begrifflichkeit eines Sozialkapitals von geringer
Dichte, wie es etwa bei Grußbekanntschaften der Fall ist. Hingegen stellen Beziehungen
zu Familienmitgliedern und zu engen Freunden oder zu Kollegen, mit denen man auch
viele Freizeitaktivitäten teilt, starke Verbindungen, also Sozialkapital von hoher Dichte,
dar. Der Vorteil von schwachen Bindungen liegt nun darin, dass sie eine
brückenbildende Eigenschaft besitzen. Dies bedeutet, sie können in sich geschlossene
Gruppen eines Netzwerkes miteinander verbinden, was ohne diese schwache
Verbindung ansonsten nicht möglich wäre. Starke Beziehungen tendieren hingegen eher
zur einer Abschottung nach außen, so dass Beziehungen zu anderen
Gruppenmitgliedern außerhalb der eigenen Gruppe eher unwahrscheinlich werden (vgl.
Franzen und Freitag: 2007, S: 39). Es gibt somit also eher innenorienierte Netzwerke
und außenorientierte Netzwerke. ,,Manche Formen von Sozialkapital sind ­ gewollt
oder notwendigerweise ­ innenorientiert und stärker darauf gerichtet, die materiellen,
sozialen oder politischen Interessen von Mitgliedern zu verfolgen, während andere
Formen außenorientiert sind und sich mit öffentlichen Gütern befassen." (Putnam:
2001, S.28). Beispiele für außenorientierte Netzwerke wären demnach also
Jugendbewegungen, Bürgerrechtsvereinigungen oder wohltätige Vereine. Hingegen
zählen Handelskammern, ethnisch geprägte Bruderschaften oder elitäre Clubs zur
Kategorie der innenorientierten Netzwerke.
Zugleich hängt damit ein anderes Kriterium zur Unterscheidung von Netzwerken
zusammen: es gibt, wie ich bereits kurz erwähnt habe, Netzwerke mit bridging/
brückenschlagendem Sozialkapital und Netzwerke mit bonding/ bindendem
Sozialkapital. ,,Bindende Formen von Sozialkapital verstärken die Kohäsion und
Identität von kleinen sozialen Gruppen, brückenschlagende Formen von Sozialkapital
erleichtern den Zugang zu externen Ressourcen und die Identität von großen sozialen
Gruppen." (Franzen und Freitag: 2007, S. 39). Bindende Netzwerke finden sich vor
allem bei sozial homogenen Gruppen, die oftmals als Gegenpol zu anderen Gruppen
existieren.
Außerdem nimmt Putnam eine Differenzierung in formelles und informelles
Sozialkapital vor. Dabei stellen Netzwerke mit einer formellen Organisation, also
Vereinigungen mit regelmäßigen Treffen und bestimmten Mitgliedschaftsregelungen
formelles Sozialkapital dar. Im Gegensatz dazu zählen spontane Zusammenkünfte mit

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836642125
DOI
10.3239/9783836642125
Dateigröße
612 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg – Pädagogik
Erscheinungsdatum
2010 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
social software online-networking ronald burt xing network society
Zurück

Titel: Neue Netzwerkstrukturen und neue Sozialkapital-Möglichkeiten am Beispiel von Internetplattformen
Cookie-Einstellungen