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Antisemitismus in Deutschland: Zum Wandel eines Ressentiments im öffentlichen Diskurs

©2008 Diplomarbeit 132 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Antisemitismus ist gegenwärtig ein globales Phänomen, das in manchen Ländern mehr, in anderen weniger verbreitet ist. Vor allem in der islamisch-arabischen Welt ist in den letzten Jahren ein Anstieg offener antisemitischer Äußerungen zu verzeichnen, teilweise bedingt durch den Nahostkonflikt und durch die Radikalisierung des Islams.
Allerdings hat der Antisemitismus in keinem Land solche Ausmaße und Konsequenzen gehabt wie im nationalsozialistischen Deutschland, wo er erstmalig in der Geschichte eine Art Staatsdoktrin darstellte. Die systematische Judenverfolgung über die eigenen Staatsgrenzen hinaus, gipfelte schließlich in der Shoa, die Millionen von Juden das Leben kostete und für die Geschichte Deutschlands, als auch für die Geschichte des Antisemitismus, einen radikalen Bruch darstellt. Trotz dieser historisch singulären Ereignisse ist Antisemitismus heute in Deutschland kein überholtes Phänomen oder eine Einstellung radikaler Minderheiten. Dies belegt die empirische Sozialforschung und die zahlreichen öffentlichen Debatten der jüngsten Zeit, die unter dem Paradigma der ‘Vergangenheitsbewältigung’ standen und immer noch stehen.
Im Rahmen dieser Studie soll untersucht werden, wie sich der Antisemitismus nach der Shoa im öffentlichen Diskurs in Deutschland entwickelt hat. Insbesondere sollen dabei die Debatten nach der Wiedervereinigung 1990, die einen entscheidenden politischen Einschnitt markiert, betrachtet werden.
Dabei soll die Rolle des Antisemitismus in der politischen Kultur analysiert werden. Daraus resultierend soll diskutiert werden, was den Antisemitismus gegenwärtig in Deutschland charakterisiert und wodurch er sich auszeichnet.
Das Ziel ist eine Konkretisierung des Begriffs Antisemitismus.
Im ersten Kapitel wird der Begriff Antisemitismus zunächst allgemein und abstrakt definiert, um eine erste Vorstellung vom Phänomen der Judenfeindschaft zu erlangen. Anschließend werden die gängigen Erklärungstheorien des Antisemitismus skizziert, da dies zum Verständnis und der Wirkungsweise des Ressentiments notwendig ist. In diesem Kontext soll zudem geklärt werden, inwieweit sich Antisemitismus und Rassismus unterscheiden.
Der heutige Antisemitismus ist nur vor dem Hintergrund seiner jahrhundertealten Tradition zu verstehen. Im dritten Kapitel wird deswegen die historische Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland bis zur Shoa rekapituliert. Der Fokus wird hierbei auf die relevanten historischen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Thomas Kühner
Antisemitismus in Deutschland: Zum Wandel eines Ressentiments im öffentlichen
Diskurs
ISBN: 978-3-8366-4126-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland, Diplomarbeit, 2008
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Inhaltsverzeichnis
1
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ...4
2. Zum Begriff des Antisemitismus ...7
2.1 Definition des Begriffs Antisemitismus ...7
2.2 Theoretische Erklärungsmodelle: Ursachen des Antisemitismus...9
2.2.1 Sozioökonomische Begründungen: Krisentheorie, Klassentheorie,
Deprivationstheorie ...10
2.2.2 Theorie psychosozialer Projektion: ,,Sündenbock-Theorien" ...11
2.2.3 Korrespondenztheorien...12
2.2.4 Extremismustheorien ...12
2.2.5 Differenztheorien: Identitäts- und Ausgrenzungsmuster ...13
2.2.6 Antisemitismustheorien der Frankfurter Schule ...13
2.2.7 Funktionalistische und kausale Theorieansätze in der Tradition der
Frankfurter Schule ...17
2.3 Abgrenzung des Antisemitismus von Rassismus und Xenophobie...19
2.4 Differenzierung des Antisemitismus in latent und manifest ...21
3. Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20.
Jahrhundert bis zur Shoa ...22
3.1 Christlicher Antijudaismus ...22
3.2 Die Judenemanzipation...24
3.3 Der Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich...25
3.4 Der Antisemitismus in der Weimarer Republik ...29
3.5 Der Antisemitismus im Dritten Reich...31
3.6 Fazit: Der Antisemitismus vor 1945...33
4. Antisemitismus nach 1945 ...35
4.1 Neue Bedingungen ab 1945...35
4.2 Die Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 bis 1990...37
4.2.1 Die Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 bis 1990 in der BRD .38
4.2.1.1 Phase 1: 1945 - 1952...38
4.2.1.2 Phase 2: 1953 - 1966...41
4.2.1.3 Phase 3: 1967 - 1979...42
4.2.1.4 Phase 4: 1980 - 1990...44

Inhaltsverzeichnis
2
4.2.2 Antisemitismus in der DDR ...47
4.3 Fazit: Der Antisemitismus zwischen 1945-1990...49
4.4 Die Wiedervereinigung als Katalysator des Antisemitismus...51
5. Theoretische Formen des Antisemitismus nach 1945...54
5.1 Der Sekundäre Antisemitismus: Schuld ­ und Erinnerungsabwehr ...55
5.1.1 Definition des Begriffs ,,sekundärer Antisemitismus"...55
5.1.2 Psychologische Hintergründe des sekundären Antisemitismus ...57
5.1.3 Schuld- und Schamgefühle ...57
5.1.4 Strategien der Entlastung...59
5.1.5 Ursachen und Ziele der Schuld- und Erinnerungsabwehr...63
5.1.7 Fazit ...64
5.2 Philosemitismus ...64
5.3 Kommunikationslatenz und Kryptoantisemitismus ...68
6. Antisemitismus in öffentlichen Konflikten nach 1990 ...71
6.1 Goldhagen-Debatte...72
6.1.1 Goldhagens Thesen...72
6.1.2 Die Reaktionen auf die Studie...73
6.1.3 Fazit der Debatte ...74
6.2 Die Walser Debatten ...75
6.2.1 Die Rede: ,,Erfahrungen beim Erfassen einer Sonntagsrede" ...75
6.2.2 Reaktionen...78
6.2.3 Auswirkungen und Folgen...83
6.2.4 Die zweite Walser Debatte um den Roman ,,Tod eines Kritikers" ...85
6.3 Die Debatte um das ,,Denkmal für die ermordeten Juden Europas"...86
6.3.1 Meinungen vor der Entscheidung im Bundestag...87
6.3.2 Die Bundestagsdebatte am 25. Juni 1999 ...88
6.3.3 Auswirkung und Bedeutung der Debatte...91
6.4 Die Möllemann Affäre...92
6.4.1 Die Möllemann ­ Karsli Affäre...92
6.4.2 Die Flugblatt-Affäre ...95
6.4.3 Fazit ...96
6.5 Die Hohmann Affäre...97

Inhaltsverzeichnis
3
6.5.1 Die Rede ,,Gerechtigkeit für Deutschland"...98
6.5.2 Die verspäteten Reaktionen und die Folgen ...99
6.6 Die geographische Imagination antisemitischer Muster ...101
6.6.1 Das Konstrukt der jüdischen Weltverschwörung...102
6.6.2 Antiamerikanismus...104
6.6.3 Antizionismus und Israelfeindschaft...106
6.6.4 Fazit ...109
7. Schlussfolgerung ...111
8. Literaturliste...119

1. Einleitung
4
1. Einleitung
Antisemitismus ist gegenwärtig ein globales Phänomen, das in manchen Ländern
mehr, in anderen weniger verbreitet ist. Vor allem in der islamisch-arabischen Welt
ist in den letzten Jahren ein Anstieg offener antisemitischer Äußerungen zu
verzeichnen, teilweise bedingt durch den Nahostkonflikt und durch die
Radikalisierung des Islams.
Allerdings hat der Antisemitismus in keinem Land solche Ausmaße und
Konsequenzen gehabt wie im nationalsozialistischen Deutschland, wo er erstmalig
in der Geschichte eine Art Staatsdoktrin darstellte. Die systematische
Judenverfolgung über die eigenen Staatsgrenzen hinaus, gipfelte schließlich in der
Shoa
1
, die Millionen von Juden das Leben kostete und für die Geschichte
Deutschlands, als auch für die Geschichte des Antisemitismus, einen radikalen
Bruch darstellt. Trotz dieser historisch singulären Ereignisse ist Antisemitismus
heute in Deutschland kein überholtes Phänomen oder eine Einstellung radikaler
Minderheiten. Dies belegt die empirische Sozialforschung und die zahlreichen
öffentlichen Debatten der jüngsten Zeit die unter dem Paradigma der
,,Vergangenheitsbewältigung" standen und immer noch stehen (vgl. Rensmann
2005: 234 ff.).
Im Rahmen dieser Studie sollen untersucht werden, wie sich der Antisemitismus
nach der Shoa im öffentlichen Diskurs in Deutschland entwickelt hat.
Insbesondere sollen dabei die Debatten nach der Wiedervereinigung 1990, die
einen entscheidenden politischen Einschnitt markiert, betrachtet werden.
Dabei soll die Rolle des Antisemitismus in der politischen Kultur analysiert werden.
Daraus resultierend soll diskutiert werden, was den Antisemitismus gegenwärtig in
Deutschland charakterisiert und wodurch er sich auszeichnet.
Das Ziel ist eine Konkretisierung des Begriffs Antisemitismus.
Im ersten Kapitel wird der Begriff Antisemitismus zunächst allgemein und abstrakt
definiert, um eine erste Vorstellung vom Phänomen der Judenfeindschaft zu
erlangen. Anschließend werden die gängigen Erklärungstheorien des
1
In dieser Arbeit wird der Begriff Shoa dem des Holocaust vorgezogen. Einerseits weil der
Begriff Holocaust ursprünglich ein verbranntes Tieropfer bezeichnet, andererseits weil der
Begriff mittlerweile aufgrund der inflationären Verwendung nahezu sinnentleert ist. Zur
kulturindustriellen Abnutzung des Holocaust-Begriffes siehe Claussen 2005: 7ff..

1. Einleitung
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Antisemitismus skizziert, da dies zum Verständnis und der Wirkungsweise des
Ressentiments notwendig ist. In diesem Kontext soll zudem geklärt werden,
inwieweit sich Antisemitismus und Rassismus unterscheiden.
Der heutige Antisemitismus ist nur vor dem Hintergrund seiner jahrhundertealten
Tradition zu verstehen. Im dritten Kapitel wird deswegen die historische
Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland bis zur Shoa rekapituliert. Der
Fokus wird hierbei auf die relevanten historischen Erscheinungsformen des
Antisemitismus gelegt. Dieses Wissen ist notwendig, um den Wandel des
Antisemitismus nach der Shoa nachzuvollziehen zu können.
Im darauf folgenden Kapitel werden die neuen gesellschaftlichen Bedingungen
dargestellt, die im Jahr 1945 mit dem Sieg über das nationalsozialistische
Deutschland eingetreten sind. Diese radikalen Veränderungen verdeutlichen,
warum die Shoa in vielfacher Hinsicht einen Bruch darstellt und der
,,nationalsozialistische" Antisemitismus nicht weiter fortbestehen konnte. Vor dem
Hintergrund der neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wird anschließend
die Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 in der Bundesrepublik und der
DDR bis zur Wende 1990 dargestellt. Die Entstehung der ,,Berliner Republik"
2
durch die Wiedervereinigung stellt einen entscheidenden politisch-kulturellen
Einschnitt dar, der zugleich, so die These Auswirkungen auf den Antisemitismus
hat. Diese Interdependenz wird im letzten Abschnitt des vierten Kapitels erörtert.
Basierend auf der Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 werden im fünften
Kapitel die gängigen Theorien des Antisemitismus nach der Shoa skizziert. Die
Skandale und Debatten der Nachkriegszeit verdeutlichen den veränderten
Charakter des Antisemitismus nach der Shoa, der nun einer neuen theoretischen
Erörterung bedarf. Mit Hilfe dieses theoretischen Hintergrunds wird im sechsten
Kapitel die Bedeutung und die Ausdrucksformen des Antisemitismus in den
öffentlichen Debatten der ,,Berliner Republik" detaillierter analysiert. Dies wird
mittels einer umfassenden Diskursanalyse von einigen ausgewählten Debatten
und Skandalen, die im Kontext der ,,Aufarbeitung" der NS-Vergangenheit standen,
untersucht.
2
Dieser Begriff bezeichnet das vereinigte Deutschland und wird verwendet, um die neue
historische Periode und die neue nationale Identität zu betonen.

1. Einleitung
6
Im Rahmen eines Exkurses wird im letzten Abschnitt der Wandel der
Bezugspunkte des Antisemitismus erörtert. Im Zeitalter der Globalisierung ist der
Fokus nicht mehr alleine auf Deutschland gerichtet, sondern antisemitische
Agitation richtet sich zunehmend gegen Israel und die USA, forciert durch die
Mythen um die Terroranschläge des 11.Septembers 2001 und den Nahostkonflikt.
Der Exkurs soll deshalb die Verbindungen und Überschneidungen von
Antisemitismus, Antiamerikanismus, Verschwörungstheorien und Israelfeindschaft
aufzeigen, um die Brisanz für den aktuellen politischen Diskurs zu verdeutlichen.
Das Resümee fasst die Entwicklung des Antisemitismus nach der Shoa
zusammen, um darauf basierend den Begriff Antisemitismus konkreter zu
definieren.

2. Zum Begriff des Antisemitismus
7
2. Zum Begriff des Antisemitismus
Aufgrund der Komplexität und des stetigen Bedeutungswandels des Begriffs
Antisemitismus existiert keine allgemein anerkannte Definition, die all seine
Facetten beinhaltet. Als erste Orientierung wird deshalb der Ursprung des Begriffs
skizziert, um dann eine allgemeine, wenn auch vorläufige Definition zu erarbeiten.
Eine genauere Spezifizierung der verschiedenen Formen des Antisemitismus nach
der Shoa wird in Kapitel 5 erfolgen.
Um zu verstehen was den Antisemitismus charakterisiert und wie er funktioniert,
muss man die psychologischen und soziologischen Hintergründe analysieren, die
bei der Genese des Ressentiments bedeutend sind. Die gängigen Theorien der
Antisemitismusforschung werden in Kapitel 2.2. vorgestellt. Mit Hilfe dieses
theoretischen Hintergrunds lässt sich dann Antisemitismus von Rassismus und
Xenophobie differenzieren. Abschließend wird in Kapitel 2.4 der Antisemitismus
hinsichtlich seiner Intensität in latent und manifest unterschieden.
2.1 Definition des Begriffs Antisemitismus
Das Wort Antisemitismus hat seinen Ursprung im 19.Jahrhundert in Deutschland
und wurde wahrscheinlich das erste Mal von dem Antisemiten Wilhelm Marr
verwendet, um die alte, religiös motivierte Judenfeindschaft von einer neuen
säkularisierten und rassisch begründeten abzugrenzen (vgl. Bergmann 2002: 6).
Im Hinblick auf seine Semantik ist der Begriff Antisemitismus ungeeignet, da er
sich gegen alle Semiten richtet, zu denen auch die Araber zählen. Semiten sind
eine ethnographisch heterogene Völkergruppe, deren Schrift ohne
Vokalbezeichnung auskommt. Im wissenschaftlichen Sinn gibt es nur semitische
Sprachen, aber keinesfalls semitische Völker wie es der Begriff Antisemitismus
impliziert (vgl. Gniechwitz 2006: 11).
Mit semitischen Sprachen oder gar ,,Rassen" hat der Begriff Antisemitismus nichts
zu tun. Er diente damals als ideologisches Konstrukt und bezog sich nur auf die
Juden. Trotzdem verbreitete sich der ,,falsche" Begriff sehr schnell und wird auch
heute noch als Oberbegriff für alle Arten von Judenfeindschaft verwendet. So
definiert der Fremdwörterduden Antisemitismus wie folgt: ,,a) Abneigung od.

2. Zum Begriff des Antisemitismus
8
Feindschaft gegenüber Juden; b) [politische] Bewegung mit ausgeprägten
judenfeindlichen Tendenzen" (Duden Fremdwörterbuch 1990: 69).
Die Definition ist allerdings unzureichend, da sie die Komplexität und die Dynamik
des Antisemitismus nicht einmal annähernd darstellen kann. Antisemitismus ist,
wie im Verlauf der Arbeit gezeigt wird, mehr als nur Judenfeindschaft und mehr als
eine Form von Xenophobie (vgl. Bergmann 2002: 6).
Im Auftrag der EU hat die Wissenschaftlerin Helen Fein eine internationale
Definition des Begriffs erarbeitet, die vorerst als Hypothesenrahmen genügen soll.
Danach ist Antisemitismus ,,eine anhaltende latente Struktur feindseliger
Überzeugungen gegenüber Juden als Kollektiv, die sich bei Individuen als
Haltung, in der Kultur als Mythos, Ideologie, Folklore sowie Einbildung und in
Handlungen manifestieren ­ soziale und rechtliche Diskriminierungen, politische
Mobilisierungen gegen Juden und kollektive oder staatliche Gewalt -, die dazu
führen und/oder darauf abzielen, Juden als Juden zu entfernen, zu verdrängen
oder zu zerstören" (Helen Fein zit.n. Gniechwitz 2006: 3 f.).
Die feindseligen Überzeugungen gegenüber Juden werden vor allem durch
Stereotype vermittelt, die genau wie der Antisemitismus selbst, von Wandel und
Kontinuität geprägt sind. ,,Ein Kanon verfestigter Vorstellungen über ,,die Juden" ist
seit Jahrhunderten überliefert" (Benz 2004: 65
).
Entscheidend ist, dass die internalisierten Vorurteile gegenüber Juden nichts mit
der Realität zu tun haben. Die Zuschreibungen sind absurd und irrational (vgl.
Benz 2004: 234 ff.). Deswegen beschrieb Theodor Adorno den Antisemitismus
auch treffend als ,,[...] das Gerücht über die Juden" (Adorno 2003: 125).
Ein konsistentes, antisemitisches Weltbild kann aus den Stereotypen erst mittels
verschiedener Strukturprinzipien entstehen. Nach Thomas Haury gibt es drei
elementare Strukturprinzipien des Antisemitismus: Die binäre Einteilung der Welt
in Gut und Böse, die Personifizierung und die Konstruktion identitärer Kollektive.
Die binäre Codierung der Welt in Gut und Böse, basiert auf dem Grundgedanken
eines existenziellen Kampfs des Guten gegen das Böse, bei dem es nur einen
Sieger geben kann. Die Personifizierung dient der Identifizierung des abstrakten
Bösen in dem man die Schuld konkreten Menschen zuweist. Mittels der
Konstruktion identitärer Kollektive wird zwischen einer Wir-Gemeinschaft, wie z.B.

2. Zum Begriff des Antisemitismus
9
der deutschen Nation und einer existentiell bedrohlichen Feindgemeinschaft, wie
z.B. ,,den Juden" unterschieden (vgl. Haury 2001: 218 f.).
2.2 Theoretische Erklärungsmodelle: Ursachen des Antisemitismus
Aufgrund der Komplexität des Ressentiments existieren sehr viele
unterschiedliche Theorien, wobei keine davon so umfassend ist, dass sie den
Antisemitismus in all seiner Komplexität erklären kann.
Am zutreffendsten und immer noch aktuellsten sind jedoch die Ansätze der
Kritischen Theorie. Zusätzlich zu den hier skizzierten Theoriemodellen gibt es
noch weitere, die sich nur der Erklärung der Shoa gewidmet haben. Für die
Fragestellung der Arbeit sind diese allerdings irrelevant, weswegen auf eine
Erläuterung verzichtet wird.
Bei Rensmann findet man einen sehr guten Überblick über die
Antisemitismusforschung, weswegen seine Einteilung hier größtenteils
übernommen wird. Zudem liefert Holz eine etwas eigene, aber durchaus kompakte
Übersicht über die Forschungslage. Grob kann man zwischen soziologischen und
psychologischen Analysen des Antisemitismus unterscheiden, wobei in der
Wissenschaft bisher psychologische Erklärungsmodelle dominieren (vgl. Holz
2001: 16).
Eine andere Einteilung, die man bei Holz und Rensmann wiederfinden kann,
kategorisiert die Theorien in funktionale, kausale und eine Kombination von
beiden. Funktionale Theorien konzentrieren sich auf die projektive Funktion des
Antisemitismus. Dies sind z.B. sozioökonomische Ansätze oder die
psychologischen Ansätze der Vorurteilsforschung. Kausale Theorien hingegen
versuchen den Antisemitismus aufgrund kapitalistischer und psychischer Faktoren
zu begründen. Die These lautet, dass es bestimmte soziale und psychologische
Bedingungen gibt, die Antisemitismus ermöglichen oder forcieren. Zudem gibt es
einige Theorien, die funktionale und kausale Ansätze vereinen wie z.B. die
Kritische Theorie, sowie die eng verwandten Theorien von Moishe Postone und
Detlev Claussen.

2. Zum Begriff des Antisemitismus
10
2.2.1 Sozioökonomische Begründungen: Krisentheorie,
Klassentheorie, Deprivationstheorie
Die Krisentheorie geht von einem Ursprungszusammenhang von Krise und
Antisemitismus aus. Wirtschaftliche Krisen führen demnach zu einem Anstieg des
Antisemitismus in der Bevölkerung, wobei man klar zwischen Krise und
Kriseninterpretation unterscheiden muss. Niemand wird bestreiten, dass
Antisemitismus eine Funktion in Krisenzeiten erfüllen kann. Entscheidend ist
allerdings, wie die Krise interpretiert wird (vgl. Holz 2001: 56). Zutreffend ist die
Theorie, wenn die personifizierte Deutung der Krise ,,die Juden" als Schuldige trifft.
Obwohl es bestimmte Korrelationen zwischen Krise und Antisemitismus gibt, so
lässt sich die These von einer strikten Parallelisierung von beidem nicht aufrecht
erhalten. Es kann nicht verleugnet werden, dass Antisemitismus auch gegenwärtig
oftmals eine antimodernistische Reaktion auf gesellschaftliche
Wandlungsprozesse darstellt (vgl. Rensmann 2005: 96 f.).
Deprivationstheorien führen Antisemitismus auf reale oder wahrgenommene
Status- und Existenzkrisen zurück, deren Ursachen auf ,,die Juden" projiziert
werden. Dies können materielle aber auch immaterielle Deprivationen sein.
Theorien relativer Deprivation hingegen beziehen sich nicht auf objektive, sondern
auf subjektive Umstände und knüpfen an Theorien zum Statusverlust und zur
Statusdiskrepanz an.
Ursachen sind Anpassungsschwierigkeiten an eine zunehmend komplexer und
dynamischer werdende Welt, Probleme der sozialen Integration, das Gefühl ein
Verlierer der Globalisierung zu sein. Diese subjektiven Gefühle werden dadurch
verstärkt, dass auf der anderen Seite z.B. in multinationalen Konzernen, dem
,,Mittelstand", ,,dem Finanzkapital" usw. Globalisierungsgewinner gesehen werden.
Soziale Krisen und Deprivationen stellen ein ,,objektives" verstärkendes Element
dar, aber sind keinesfalls der Ursprung von Antisemitismus (vgl. Rensmann 2005:
97 f.).
Ähnlich wie die zuvor beschriebene Krisentheorie basiert die Klassentheorie auf
der ökonomischen Situation und bezieht sich stark auf die marxistische
Gesellschaftsanalyse. Der Hass auf die Kapitalisten wird von der ,,herrschenden
Klasse" auf die Juden umgelenkt. So fungieren die Juden für die ,,abhängige

2. Zum Begriff des Antisemitismus
11
Klasse" als Repräsentanten des ,,raffenden Kapitals" und sind damit die
,,Sündenböcke" des Kapitalismus und der kapitalistischen Klassenverhältnisse.
Der Antisemitismus entspringt demnach aus falsch wahrgenommenen
Klassengegensätzen.
Diese Funktion des Antisemitismus mag für bestimmte Situationen und Gruppen
zutreffen, trotzdem ist der Ansatz monokausal und ignoriert viele weitere
Dimensionen. Die ,,abhängigen Klassen" werden nur als Objekt von Manipulation
gedacht, während bewusstseins-strukturelle und subjektive Bedingungen
missachtet werden (vgl. Rensmann 2005: 98 f.).
2.2.2 Theorie psychosozialer Projektion: ,,Sündenbock-Theorien"
Die sozioökonomischen Theorien beinhalten implizit oder explizit eine
,,Sündenbock- Theorie" der zufolge Probleme auf einen konstruierten Sündenbock,
in dem Fall die Juden, politisch ,,abgelenkt" werden. In diesen Ansätzen werden
die subjektiven Mechanismen, welche die Ablenkung erst ermöglichen nicht
betrachtet. Dies soll hier kurz skizziert werden und stellt einen wichtigen
Bestandteil der Vorurteilsforschung dar. Die Funktion und die Genese
antisemitischer Vorurteile muss bei den Antisemiten gesucht werden und nicht bei
den konstruierten Sündenböcken, den Juden. Die tatsächliche Schuld, bzw.
Ursachen von Problemen sind diesbezüglich irrelevant. Diese Prämisse ist nicht
nur entscheidend für diese Theorie, sondern für jede ernst zunehmende kritische
Antisemitismusanalyse.
,,Eigene Triebwünsche, Ängste, Aggressionen und Phantasien werden in
Fremdgruppen-Konstruktionen als kulturell oder politisch akzeptierte
Projektionsflächen imaginiert; Juden erscheinen dergestalt im psychodynamischen
Sinn als ,,Sündenbock" für unbewusste eigene Anteile oder sozial wahrgenommene
Probleme" (Rensmann 2005: 100).
Die Herabsetzung des Sündenbocks ist zeitgleich ein Prestigegewinn für die
projizierende Gruppe. Problematisch ist, dass in der ,,Sündenbock-Theorie"
judenfeindliche Vorurteile austauschbar erscheinen, z.B. gegen rassistische
Vorurteile. Die Besonderheit der antisemitischen Ideologie wird nicht genauer
thematisiert, so dass der konkrete Nutzen der ,,Sündenbock-Theorien" für die
Erforschung des Antisemitismus gering ist (vgl. Rensmann 2005: 100).

2. Zum Begriff des Antisemitismus
12
Zudem merkt Holz an, dass die Verwendung des Begriffs Sündenbock im Bezug
auf die Juden problematisch ist, da der Sündenbock ursprünglich Mitglieder der
Wir-Gruppe war und die Schuld der Gruppe auf sich nahm.
Die Juden zählen nicht zur Wir-Gruppe und fungieren als Täter und nicht als Opfer
(vgl. Holz 2001: 51 ff.).
2.2.3 Korrespondenztheorien
Die Korrespondenztheorie geht von einem Zusammenhang zwischen
antisemitischen Vorurteilen und ,,jüdischen Eigenschaften" aus, weswegen sie den
Fokus auf die angeblichen Besonderheiten der Juden richtet. Ausgefeilte und rein
korrespondenztheoretische Antisemitismusanalysen existieren nicht, wobei der
Ansatz immer noch in populär-wissenschaftlichen Arbeiten aufgegriffen wird (vgl.
Holz 2001: 62).
Indem die Ursache des Antisemitismus bei den Juden verortet wird, wird der
Antisemitismus selbst direkt oder indirekt als ,,wahrheitsfähig" angesehen.
Damit argumentieren Vertreter der Korrespondenztheorie in gewisser Weise selbst
antisemitisch, so dass der Ansatz mehr als fragwürdig erscheint (vgl. Rensmann
2005: 100 ff.).
2.2.4 Extremismustheorien
Die in der Wissenschaft umstrittene Extremismustheorie geht von einem formalen
Modell aus, welches besagt, dass es in der Gesellschaft eine demokratische Mitte
gibt, die links und rechts von strukturgleichen extremen Rändern bedroht wird.
Beide Formen des Extremismus stehen sich nah und brauchen einander, bedingt
durch die ,,extreme" Psyche und die politische, antistaatliche Orientierung. Die
Theorie beinhaltet allerdings einen Zirkelschluss, da das zu Erklärende, der
Extremismus, gleichzeitig die Erklärung darstellt. Der Extremist ist Extremist
aufgrund seiner ,,extremen Psyche". In diesem Kontext erscheint der
Antisemitismus nur als eine Spielart des Extremismus, um sich gegen den
demokratischen Staat zu wehren. Das tripolare Modell dient in keiner Weise der
Analyse des Antisemitismus, da es schon an einer differenzierten
Gesellschaftsanalyse scheitert (vgl. Rensmann 2005: 102 f.).

2. Zum Begriff des Antisemitismus
13
2.2.5 Differenztheorien: Identitäts- und Ausgrenzungsmuster
Differenztheorien bedienen sich bei der Analyse des Antisemitismus der
Grundunterscheidung Freund vs. Feind bzw. Freund/Feind vs. Fremder.
Je nach Autor wird das Konstrukt des ,,Juden" mit dem des ,,Fremden" oder des
,,Ausländers" gleichgesetzt und analysiert (vgl. Holz 2001: 95).
Die Theorie basiert auf einer binären Sichtweise bei der eine nationale Wir-
Konstruktion von anderen Gruppen, wie z.B. Ausländern oder Juden abgegrenzt
wird. Hier zeigt sich das Problem der Differenztheorie, die nur unzureichend
zwischen Rassismus, Xenophobie und Antisemitismus unterscheidet.
Obwohl es deutliche Überschneidungen in der Funktion gibt, so sind
Antisemitismus und Rassismus, bzw. Xenophobie deutlich voneinander zu
differenzieren. Dazu mehr in Abschnitt 2.3 dieses Kapitels.
2.2.6 Antisemitismustheorien der Frankfurter Schule
Die Mitglieder der sogenannten Frankfurter Schule, die vor dem
Nationalsozialismus ins Exil flüchteten, begründeten die Kritische Theorie.
Ihr Ziel war die Analyse der gesellschaftlichen Totalität, die u.a. nach Auschwitz
geführt hat. Als Grundlagen der Gesellschaftsanalyse dienten die Werke von Marx
und die Psychoanalyse von Freud. Für die Analyse des Antisemitismus ist vor
allem der Abschnitt ,,Elemente des Antisemitismus" aus ,,Dialektik der Aufklärung"
relevant die Adorno und Horkheimer gemeinsam verfassten, sowie Adornos
,,Studien zum Autoritären Charakter". Die relevanten Punkte beider Theorien
werden in diesem Abschnitt kurz erläutert.
Wegweisend für die Erforschung des Antisemitismus sind die Beiträge der
Frankfurter Schule zum Autoritarismus. Der Begriff Autoritarismus bezeichnet eine
irrationale und konformistische Unterwerfung unter Autoritäten, die den rationalen
Eigeninteressen des Menschen widerspricht. Diese psychosozialen Dispositionen
bedingen eine antidemokratische politisch-soziale Grundorientierung, die
wiederum empfänglich für autoritäre Ideen (u.a. Nationalismus und
Antisemitismus) und deren gewaltförmige Umsetzungen ist. Dies geht einher mit
einer Unterwerfung unter autoritär-hierarchische, antidemokratische
Organisations- und Staatsformen. Der autoritäre Charakter seinerseits ist ein

2. Zum Begriff des Antisemitismus
14
Produkt der Verinnerlichung der irrationalen Aspekte moderner
Vergesellschaftung, autoritärer Sozialisationserfahrungen, sowie
undemokratischen Regierungsweisen in Geschichte und/oder Gegenwart.
Psychologisch entscheidend ist die Ich-Schwäche der Subjekte, die mit den
Anforderungen an die Selbstbestimmung, der selbstständigen Organisation des
eigenen Triebhaushalts und Lebens überfordert sind und deswegen autoritäre
Phantasien hegen. Dies ist der soziale Kitt der Gesellschaft.
Besonders in Krisensituationen wird gesellschaftlicher Halt gesucht, die Welt als
Verschwörung wahrgenommen und Unverarbeitetes nach außen getragen. Die
erfahrene Gewalt trägt der autoritäre Charakter sadistisch gegen vermeintlich
Schwächere nach außen und masochistisch in Form von Unterwerfung unter
Autoritäten nach innen. Die Korrelation zwischen modernen antisemitischen
Vorurteilsstrukturen und autoritär-masochistischen Persönlichkeitsdispositionen
wurde in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts erstmals in den ,,Studien
zum autoritären Charakter" empirisch belegt (vgl. Rensmann 2005: 131 ff.).
Das Ziel der Studie galt der Untersuchung des potentiell faschistischen
Individuums, das empfänglich für antidemokratische Propaganda ist, um den
Faschismus besser bekämpfen zu können. Die Grundlage der Analyse ist die
verborgene, individuelle Charakterstruktur, die sich in bestimmten politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen zeigt (vgl. Adorno 1973a:
1).
Die Charakterstruktur ist die Bereitschaft zu einem bestimmten Verhalten, nicht
das Verhalten selbst, das immer auch von der objektiven Situation abhängt. Diese
Bereitschaft ist weder angeboren, noch rassisch bedingt, sondern abhängig von
Erziehung, häuslicher Umwelt und ökonomischen Faktoren (vgl. Adorno 1973a: 8).
Zur Erforschung der Charakterstruktur wurden traditionelle Methoden der
Sozialpsychologie verwendet, dass heißt Gruppen- und Einzelstudien, sowie die
Verwendung von Fragebögen und Interviews. Neben Fragen zur Person, die sich
hauptsächlich auf Gruppenzugehörigkeiten bezogen, wurden Meinungs- und
Einstellungsskalen und offene Fragen verwendet. Die Aussagen der Skalen
dienten zur Messung von ideologischen Trends wie Antisemitismus,
Ethnozentrismus, politisch-wirtschaftlicher Konservativismus sowie

2. Zum Begriff des Antisemitismus
15
antidemokratischer Tendenzen in der Charakterstruktur (vgl. Adorno 1973a: 15
ff.). Die wichtigste und komplexeste Skala ist die F(Faschismus)-Skala mit der
unbemerkt Vorurteile und damit latente antidemokratische Tendenzen in der
Charakterstruktur gemessen werden können.
Sie beinhaltet Variablen wie z.B. Konventionalismus, autoritäre Unterwürfigkeit,
autoritäre Aggression, Aberglaube und Stereotypie, Machtdenken und
Projektivität. Die Studie hat gezeigt, dass es eine hohe Korrelation zwischen
präfaschistische Neigungen und Ethnozentrismus gibt. Die Korrelation von F-Skala
und A-S-Skala (Antisemitismus) hingegen ist nicht so stark ausgeprägt, obgleich
man immer noch von einer Korrelation sprechen kann.
,,Wenn auch Antisemitismus in erster Linie immer noch als ein Aspekt des
allgemeinen Ethnozentrismus zu verstehen ist, kann es doch keinen Zweifel daran
geben, daß er seine eigenen spezifischen Merkmale hat" (vgl. Adorno 1973a: 94).
Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Konstruktion der F-Skala gelungen ist, da
man mit ihr Vorurteile messen kann, ohne Minderheitengruppen zu nennen. Ob
die F-Skala als Instrument dient um die Anfälligkeit eines Individuums für den
Faschismus zu messen, muss noch bewiesen werden (vgl. Adorno 1973a: 101).
,,Die zentrale These von der immanent-sozialpsychologischen Korrelation
autoritätsgebundener
Charakterdispositionen mit antisemitischen
Vorurteilsstrukturen hat indes an empirischer Triftigkeit und theoretischer Plausibilität
zunächst scheinbar kaum verloren, obgleich Adornos ursprüngliche Autoritarismus-
Studie selbst in ihren sozialwissenschaftlichen Methoden nicht unbedingt zu
überzeugen wusste" (Rensmann 2005: 133 f.).
Die ,,Elemente des Antisemitismus" hingegen sind breiter angelegt als
umfassender Entwurf einer Kritischen Theorie über den Antisemitismus.
Thesenhaft erläutern Horkheimer und Adorno die Charakteristika und
Funktionsweisen des nationalsozialistischen Antisemitismus. Der Essay ist ein Teil
der ,,Dialektik der Aufklärung" in der Horkheimer und Adorno in thematisch
verschiedenen Kapiteln die dialektische Verstrickung von Aufklärung und
Herrschaft darstellen. Die zentrale These des Werkes besagt, dass die Aufklärung
selbst zum Mythos wird und keineswegs einen Weg aus der Barbarei bedeutet,
sondern vielmehr eine Rückkehr zu dieser. Die herrschende Vernunft der
bürgerlichen Gesellschaft ist irrational und findet ihren Ausdruck im faschistischen
Denken. Es besteht demzufolge ein Zusammenhang zwischen bürgerlicher

2. Zum Begriff des Antisemitismus
16
Ordnung und antisemitischer Ideologie. Die Juden wurden nicht als Minderheit,
sondern als Gegenrasse und negatives Prinzip betrachtet von deren Ausrottung
das Glück der Menschheit abhing.
,,Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen
auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert"
(Horkheimer/Adorno 2003: 177).
Aus psychologischer Sichtweise ist der Antisemitismus eine Ideologie, in der die
eigenen Wünsche nach Außen verlagert werden. Der Antisemit strebt selbst nach
der grenzenlosen Macht, die er dem Juden unterstellt.
,,Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes
Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um
jeden Preis" (Horkheimer/Adorno 2003: 177).
Der Antisemitismus dient als spezifische Welterklärung und als Reaktion auf den
Umbruch der Moderne. ,,Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen
ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion"
(Horkheimer/Adorno 2003: 182). Das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse
wird dem Juden aufgebürdet, da er als Verantwortlicher der Zirkulationssphäre
erscheint. Die verblendete Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse beruht wie
der Antisemitismus selbst auf falscher Projektion (Horkheimer/Adorno 2003: 196).
Elementar für den Antisemitismus sind also weniger ethnisch-soziale Konflikte,
sondern vielmehr der projektive Charakter des Ressentiments. Es wird deutlich,
dass der Antisemitismus unabhängig von den Juden ist und mit der Shoa nicht
zwangsläufig beendet sein muss.
,,Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt gegen die
Juden enthält, gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen mit
Juden keine Rolle spielen" (Horkheimer/Adorno 2003: 210).
Aufgrund der herausragenden Kombination von marxistischer Gesellschaftstheorie
und Psychoanalyse werden die Ansätze der Kritischen Theorie auch heute noch
als Grundlage für die Antisemitismusforschung verwendet. Sie sperren sich im
Vergleich zu vielen anderen Theorien monokausaler Ableitungen und deduktiver
Deutungen und definieren Antisemitismus, resümiert von Rensmann, wie folgt:
,,Dabei erscheint Antisemitismus in erster Hinsicht als meist an nationalistische
Identifikationen gekoppelte, identitätskonstituierende, (völkisch-)kollektivistische,
autoritätsgebundene
und
anti-moderne Ideologie, die in Juden alle gesellschaftlichen
und psychosozialen Probleme, Widersprüche und Transformationen personifiziert.

2. Zum Begriff des Antisemitismus
17
Antisemitismus wird gedeutet als eine besondere Form sozialer Paranoia, die
tradierte kollektive Phantasmen aufgreift und in eine politisch-soziale Welterklärung
einfügt" (Rensmann 2005: 121).
2.2.7 Funktionalistische und kausale Theorieansätze in der Tradition der
Frankfurter Schule: Antisemitismus als Personifikation des Abstrakten
Neben den bisher vorgestellten Theorien gibt es auch aktuellere
Erklärungsansätze, die sich auf die Kritische Theorie beziehen und deren Ansätze
weiter verfolgen. Diesbezüglich sind vor allem die Erklärungsmodelle von Moishe
Postone und Detlev Claussen interessant, die sich beide auf die Kritische Theorie
beziehen.
In der Theorie von Moishe Postones wird der moderne Antisemitismus vor dem
Hintergrund marxistischer Erkenntnistheorie gedeutet und in enger Beziehung zum
Warenfetisch gesehen. Sein Ziel ist die Herausarbeitung der spezifischen Aspekte
des nationalsozialistischen Antisemitismus, um die Vernichtung des europäischen
Judentums zu erklären und um die Frage zu beantworten, warum dies gerade in
Deutschland geschah (vgl. Postone 1988: 243).
Markant für Postone ist der systemartige Charakter des Antisemitismus, der den
Anspruch hat, die Welt zu erklären, sowie der enge Zusammenhang zur
Entwicklung des Kapitalismus. Die Juden gelten ihm zufolge im modernen
Antisemitismus nicht als Repräsentant des Kapitals, sondern als Personifikation
des Kapitals, bzw. des Abstrakten (vgl. Rensmann 2005: 107).
Postones Theorie bezieht sich vor allem auf Marxs Fetischcharakter der Ware,
wonach man zwischen Gebrauchs- und Tauschwert unterscheiden kann. Der
Gebrauchswert zeigt sich im Nutzen der Ware zur Befriedigung menschlicher
Bedürfnisse. Der Tauschwert hingegen erscheint in einer selbstständigen von der
Ware abgelösten Form als Geld. Der Doppelcharakter der Ware ist zugleich
Ausdruck und Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Der Kapitalismus
scheint deshalb zwei gegensätzliche Seiten zu haben, wobei beide sein Wesen
konstituieren und nicht voneinander zu trennen sind. Die eine Seite ist die
konkrete Form, der Gebrauchswert einer Ware, bzw. die vergegenständlichte
Arbeit. Die andere Seite ist die abstrakte Form, d.h. der Tauschwert einer Ware in
Form von Geld und das Finanzkapital.

2. Zum Begriff des Antisemitismus
18
,,Die kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen scheinen ihren Ausdruck nur in
der abstrakten Dimension zu finden ­ etwa als Geld und als äußerliche, abstrakte,
allgemeine ,,Gesetze" (Postone 1988: 248).
Kapitalismus erscheint nur als abstrakte Seite und Geld als die Wurzel allen Übels.
Im Juden wird die abstrakte Seite biologisiert und naturalisiert.
,,So wird der Gegensatz vom stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen
Gegensatz von Arier und Jude. Der moderne Antisemitismus besteht in der
Biologisierung des Kapitalismus ­ der selbst nur unter der Form des erscheinenden
Abstrakten verstanden wird ­ als internationales Judentum" (Postone 1988: 251).
Aus dieser Perspektive waren die nationalsozialistischen Vernichtungslager
Fabriken zur ,,Vernichtung" des Wertes bzw. ,,Vernichtung" der Personifizierung
des Abstrakten, eine Befreiung des Konkreten vom Abstrakten. Vor der Tötung
wurden die Reste des konkreten Gebrauchswerts abgeschöpft: Kleider, Gold,
Haare usw. (vgl. Postone 1988: 254).
Postone nennt zwei Gründe warum die biologische Interpretation des Abstrakten
auf die Juden zielt. Einerseits weil in der Tradition der Judenfeindschaft Juden
bisher immer mit Geld und Handel assoziiert wurden. Andererseits weil die
Unterteilung in abstrakt und konkret auch für Staatsbürger und Privatpersonen gilt.
Der Mensch als Staatsbürger ist eine abstrakte Konstruktion während er als
Privatperson konkret erscheint. Die Juden waren zwar deutsche Staatsbürger,
aber keine ,,richtigen" Deutschen. Sie gehörten abstrakt zur Nation aber nur selten
konkret. ,,Die Juden wurden als wurzellos, international und abstrakt angesehen"
(Postone 1988: 253).
Obwohl Postones Ansatz innovativ ist und bestimmte Facetten des Antisemitismus
zutreffend erklärt, ist er zu einseitig und reduktionistisch, da auf psychologische
Theorien vollkommen verzichtet wird. Für Holz ist Postones Erklärung warum die
Juden die Personifikation des Kapitals darstellen unzureichend: ,,So kann mit dem
Theorem des Fetischcharakters der Ware die Personifikation von Abstrakten und
Konkretem nicht erklärt werden" (Holz 2001: 89).
Detlev Claussens Konzept ist deutlich komplexer als das von Postone, da es
psychologische Theorien mit einbezieht und die veränderten politischen und
gesellschaftlichen Bedingungen nach Auschwitz integriert.
Seine These besagt, dass die kapitalistische Gesellschaft quasi antisemitisch
strukturiert ist und begründet dies mit der Analyse der psychischen und politisch-

2. Zum Begriff des Antisemitismus
19
ökonomischen Prozesse wobei er sich hauptsächlich auf Freud und Marx bezieht.
Seit der bürgerlichen Gesellschaft ist der Warenaustausch universal geworden
und geht einher mit einem politisch manifestierten Gewaltverzicht. Durch den
Gewaltverzicht verbinden sich Subjektkonstitution und Warentausch zur
Produktion von Ideologien. Die entstandene Herrschaftsform und das Diktat der
Ökonomie wirken für das Subjekt ahistorisch und naturgegeben. Anstatt diese
Verhältnisse zu durchschauen, passt sich das Subjekt konformistisch an, rebelliert
aber zugleich gegen die mysteriöse, abstrakte Herrschaft. Das Ziel der Rebellion
sind die Juden, da sie mit dem Kapitalismus und dem Abstrakten identifiziert
werden (Holz 2001: 91 ff.).
Obwohl Claussens Modell differenzierter und vielseitiger ist als das von Postone,
kann es nicht die Vielschichtigkeit des Antisemitismus erfassen. Holz kritisiert an
Claussen und an Postones Theorien, dass sie die ,,Oberfläche" des
Antisemitismus, die soziale Kommunikation vernachlässigen und sich primär auf
die dahinter stehenden Erklärungsmodelle konzentrieren (vgl. Holz 2001: 94; vgl.
Rensmann 2005: 107 ff.).
2.3 Abgrenzung des Antisemitismus von Rassismus und Xenophobie
Obwohl es zwischen Antisemitismus und Rassismus bzw. Xenophobie einige
strukturelle Gemeinsamkeiten gibt, muss man den Antisemitismus deutlich von
den beiden anderen Ressentiments trennen.
Es geht bei allen drei um die Einteilung von Menschen in verschiedene Gruppen
aufgrund bestimmter Zuschreibschreibungsschemata und die daran anknüpfende
Bewertung der Gruppe.
,,Rassismus wie Antisemitismus folgen beide kollektiven Klassifikations- und
Subsumtionsschemata und haben Rückwirkung auf das kollektive Selbstbild, durch
das sie sich mitkonstituieren" (Rensmann 2005: 106).
Rassismus basiert auf der Einteilung von Menschen in verschiedene Gruppen
aufgrund biologisch-anthropologischer Merkmale. Der Begriff wird im allgemeinen
Sprachgebrauch und in der Forschung in erster Linie für den ,,kolonialen"
Rassismus verwendet, der vor allem die Diskriminierung der

2. Zum Begriff des Antisemitismus
20
schwarz-afrikanischen Bevölkerung beinhaltete. Um die Ausbeutung und
Versklavung während des Kolonialismus zu legitimieren, wurde die ,,Rassenlehre"
von der Überlegenheit der Weißen entwickelt (vgl. Rommelspacher 1995: 13 f.).
Es besteht zudem ein enger Zusammenhang zwischen den Begriffen ,,Nation" und
,,Rasse".
,,,,Nation" und ,,Rasse" sind nicht nur Äquivalente, sondern letzteres kann und wird als
,,semantische Verschärfung" der Ethnisierung von ,,Völkern" zu
Abstammungsgemeinschaften eingesetzt. Der Rassismus erzeugt die Vorstellung
von die Weltgeschichte fundierenden ,,Rassen", die sich als ,,Völkerfamilien" zu
einzelnen ,,Nationen" besondern" (Holz 2001: 109).
Dem Rassismus nahe steht die Xenophobie, die Angst vor Fremden bzw. die
Fremdenfeindlichkeit. Es ist problematisch den Antisemitismus als eine Form der
Xenophobie zu deuten und ,,Juden" unter die Kategorie ,,Fremde" zu subsumieren,
da sie nicht im herkömmlichen Sinn ,,Ausländer" sind, die außerhalb von
Deutschland ihre Heimat haben (vgl. Holz 2001: 107).
3
Auf der einen Seite steht immer das Konstrukt einer nationalen Wir-Gruppe, auf
der anderen Seite stehen zwei komplementäre Fremdbilder. Die Fremdbilder sind
andere ,,Völker" und ,,Juden" wobei zu betonen ist, dass die ,,Juden" allen anderen
,,Völkern" entgegengesetzt sind. Die Xenophobie gründet auf dem Gegensatz
,,eigenes vs. anderes Volk". Dies verdeutlicht, dass Antisemitismus mehr als eine
Form von Xenophobie ist (vgl. Holz 2001: 99).
Eine weitere Differenz zeigt sich bei der Betrachtung des ,,Judenbildes", das der
Antisemit verinnerlicht hat. Die Juden verkörpern hierarchisch gesehen nicht ein
minderwertiges Kollektiv, wie es im Rassismus, bzw. bei der Xenophobie der Fall
ist, sondern etwas Übermächtiges und Bedrohliches.
Niemand würde z.B. die Behauptung einer Weltverschwörung der Afro-Amerikaner
aufstellen (vgl. Jaecker 2005: 30). Im Bezug auf die Fragestellung der Arbeit wird
sich zeigen, dass Antisemitismus besonders nach Auschwitz weit mehr ist, als Teil
eines allgemeinen xenophobischen Einstellungskomplexes.
3
Obgleich es immer noch Personen gibt die denken, dass die Heimat aller Juden der Staat
Israel ist.

2. Zum Begriff des Antisemitismus
21
2.4 Differenzierung des Antisemitismus in latent und manifest
In der Wissenschaft wird der Antisemitismus hinsichtlich seiner Intensität
differenziert. Er ist offen und manifest, wenn er sich durch Attacken gegen
Personen, Sachbeschädigungen und Propagandadelikten äußert. Diese Form des
Antisemitismus ist vor allem im rechtsextremen Spektrum zu finden und lebt im
Schutze der Anonymität. Der latente Antisemitismus ist ein Alltagsphänomen und
beinhaltet ein stillschweigend anerkanntes Bild über ,,die Juden". Er bleibt
hauptsächlich auf der Einstellungsebene und tritt nur in Meinungsumfragen oder
am Stammtisch hervor, so dass er sich der Wahrnehmung des Einzelnen
weitestgehend entzieht. Letzteres verdeutlicht die Gefahr, die vom latenten
Antisemitismus ausgeht (vgl. Benz 2004: 20).
Rensmann merkt an, dass es prinzipiell irrelevant ist, ob die latent antisemitischen
Äußerungen bewusst oder unbewusst getätigt werden, da die Vorurteilsstruktur
per se immer auch unbewusste und reflexionslose Anteile beinhaltet. Die Grenzen
zwischen latentem und manifestem Antisemitismus sind fließend und historisch
veränderbar, da sich manifester Antisemitismus in einer Demokratie nur bedingt
als solcher darstellen kann. Deswegen zählen für Rensmann antisemitische
Wahrnehmungsweisen und Weltbilder (z.B. der ,,ewige Jude", der ,,fette Bonze",
die jüdische Weltverschwörung), auch zum manifesten Antisemitismus, obwohl es
sich nicht um tätige Angriffe gegen Sachen oder Personen handelt (vgl.
Rensmann 2005: 78 f.).

3. Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert bis
zur Shoa
22
3. Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und
20. Jahrhundert bis zur Shoa
,,Zum Verständnis moderner Judenfeindschaft ist die Kenntnis der Tradition des
Vorbehalts unerlässlich" (Benz 2004: 65). Dies beinhaltet die Entwicklung der
Judenfeindschaft sowie die jahrhundertelang tradierten Vorurteile. Erst mit Hilfe
dieses Wissens können mögliche Differenzen oder Kontinuitäten des
Antisemitismus vor und nach der Shoa festgestellt werden, bzw. verstanden
werden, was Antisemitismus eigentlich ist.
Die Judenfeindschaft selbst ist viel älter als der Begriff des Antisemitismus, der
das erste Mal gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland aufkam und dazu
diente, die alte Judenfeindschaft von einer Neuen abzugrenzen. Bergmann merkt
zurecht an, dass es problematisch ist, Antisemitismus von anderen Formen der
Judenfeindschaft abzugrenzen. Andererseits ist es auch problematisch alle
Formen als Antisemitismus zu bezeichnen und nur eine genauere Differenzierung
anhand von Charakterisierungen wie ,,rassistischer", ,,antiker" oder ,,moderner"
vorzunehmen. Dies würde eine historische Kontinuität und Allgegenwart des
Antisemitismus implizieren (vgl. Bergmann 2002: 6 f.; vgl. Berding 1988: 8).
Im weiteren Verlauf wird die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im
19. und 20. Jahrhundert bis zur Shoa skizziert. Zuvor wird als Kontrast der
christliche Antijudaismus beschrieben, um den Wandel des Ressentiments zu
verdeutlichen. Der Fokus soll dabei auf der Darstellung der unterschiedlichen
öffentlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus und den dazu gehörigen
Stereotypen liegen. Eine lückenlose, chronologische Darstellung oder gar die
Entwicklungsgeschichte der Shoa würde den Rahmen der Studie sprengen.
3.1 Christlicher Antijudaismus
Als ,,Vorform" des modernen Antisemitismus bezeichnet Benz den christlichen
Antijudaismus, den er als erste relevante und prägende Form der
Judenfeindschaft sieht. Der christliche Antijudaismus, zog sich vom Mittelalter bis
in das 19. Jahrhundert und beeinflusste über Jahrhunderte die Vorstellung und
das Verhalten gegenüber den Juden. Er war vor allem religiös und ökonomisch

3. Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert bis
zur Shoa
23
motiviert, beinhaltete aber auch soziale und kulturelle Ressentiments gegenüber
Juden (vgl. Benz 2004: 19; vgl. Berding 1988: 11).
Die Juden galten der christlichen Lehrmeinung nach als Antichristen und
,,Gottesmörder", da man ihnen die Kollektivschuld an der Ermordung von Gottes
Sohn, Jesus von Nazareth, gab. Dies ist eines der ältesten und dauerhaftesten
Stereotype der Judenfeindschaft. Die theologischen Ursprünge lagen in
Identitätsproblemen des jungen Christentums, das sich im Gegensatz zu den
Juden, die eine Erlösung durch den Messias ablehnten, als das ,,wahre Israel"
verstand. Die Juden waren in den Augen der Christen gottlos, amoralisch,
ketzerisch und galten als Verweigerer des göttlichen Heilsplans (vgl. Bergmann
2002: 9; vgl. Benz 2004: 65).
4
Aufgrund der mittelalterlichen Standes- und Zunftordnung waren die Juden vom
Warenaustausch und der Produktion ausgeschlossen. Beschränkt auf Geldhandel
und Pfandleihe wurden sie zum Objekt des Hasses, da das Nehmen von Zinsen
als Wucher galt und für Christen verboten war. Dadurch ist ein weiterer Stereotyp
entstanden, das Bild des jüdischen Wucherers und das obwohl diese Lage aus
einem Zwang heraus entstanden ist (vgl. Benz 2004: 66 ff., 76; vgl. Berding 1988:
17 f.; vgl. Bergmann 2002: 11).
Die Stereotype hatten wenig, bzw. gar nichts mit der jüdischen Realität zu tun,
eine Tatsache die charakteristisch für alle Formen der Judenfeindschaft ist.
,,Mit den aus christlicher Wurzel stammenden tradierten Feindbildstereotypen von
Wucherern, Christenfeinden, Brunnenvergiftern, Ritualmördern und mit den in
Christenaugen rätselhaften und suspekten religiösen Bräuchen und vermeintlich
daraus abgeleiteten Eigenschaften (Geiz, Rachedurst, Raffgier, Hochmut, Feigheit,
Arglist,Lügenhaftigkeit usw.) waren die Juden als Angehörige einer randständigen
Minderheit ohne Schuld stigmatisiert, ähnlich wie Ketzer, Magier, Hexen" (Benz
2004:
77).
Die alte Judenfeindschaft wurde vor allem durch das Christentum hervorgebracht,
tradiert und forciert.
Judenfeindschaft hat sich phasenweise immer in Gewalt entladen der den
Charakter von Pogromen hatte. ,,Ein Wesenselement des christlichen Mittelalters
4
Näheres zu den Gründen der christlichen Judenfeindschaft siehe Bergmann 2002: 9 ff.;
Berding 1988: 11 ff..

3. Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert bis
zur Shoa
24
war die Diskriminierung und Segregation der Juden, die sich immer wieder zur
Verfolgung und Massakern steigerte" (Benz 2004: 65).
Der christliche Antijudaismus bildete einen Nährboden für eine neue Form der
Judenfeindschaft, die sich Ende des 19.Jahrhunderts in ganz Europa verbreitete.
Benz nennt die neue Form, die in Deutschland in etwa zeitgleich mit der Gründung
des Kaiserreichs aufkam ,,modernen Antisemitismus".
5
Mit dem Wandel der Judenfeindschaft sind die Stereotype und das Judenbild des
religiösen Antijudaismus nicht obsolet geworden oder komplett verschwunden.
Zum Teil sind diese auch noch heute im aktuellen Diskurs zu finden.
,,Das Erbe christlicher Judenfeindschaft besteht aber vor allem anderen im
Ressentiment, das nicht artikuliert, jedoch als eine Art ,,unbewusste Gewissheit" über
Generationen tradiert wird" (Benz 2004: 82; vgl. Bergmann 2002: 7).
Vielmehr hat eine Säkularisierung der Vorurteile stattgefunden, bedingt durch den
gesellschaftlichen Wandel.
3.2 Die Judenemanzipation
Eine nicht unerhebliche Rolle für die Geschichte und das Verständnis der
Judenfeindschaft spielt die jüdische Emanzipation. Mit der Aufklärung und der
Französischen Revolution wandelte sich die Gesellschaft Ende des 18.
Jahrhunderts und die bürgerliche Emanzipation beeinflusste auch die Stellung der
Juden. Der Gedanke der Rechtsgleichheit aller Menschen führte in Deutschland
zu heftigen Debatten (,,Judenfrage"), ob und wie sich dies im Bezug auf die
jüdische Bevölkerung umsetzen ließ. Die rechtliche Gleichstellung war mit
Assimilationserwartungen an die Juden verbunden, die mit ihrer Umwelt in
kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Weise verschmelzen sollten. Für viele
bildeten die Juden einen eigenen Staat im Staat (vgl. Berding 1988: 20 ff.; vgl.
Bergmann 2002: 17).
Der Reformwille des Staats stand im krassen Gegensatz zur Ablehnung seitens
großer Teile der Bevölkerung, deren Protest sich in handfesten Unruhen und
Ausschreitungen entlud. Mit der Revolution 1848 begann die Umsetzung der
5
Der Begriff Antisemitismus entstand erst zu dieser Zeit weswegen es problematisch ist von
modernen Antisemitismus zu sprechen.

3. Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert bis
zur Shoa
25
rechtlichen Gleichstellung der Juden, die mit der Reichsgründung 1871 endgültig
abgeschlossen war (vgl. Bergmann 2002: 36).
Die Emanzipation der Juden und der damit verbundene wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Aufstieg hatte eine Kehrseite, da sich parallel die antijüdischen
Vorurteile änderten. Aufgrund der erzwungenen Konzentration auf bestimmte
Wirtschaftszweige hatten die Juden bei der Industrialisierung ökonomische
Vorteile und zogen so den Neid der Bevölkerung auf sich (vgl. Bergmann 2002:
19; vgl. Berding 1988: 37).
In dieser Phase war die Judenfeindschaft nicht politisch organisiert, nicht auf
bestimmte Schichten beschränkt und richtete sich hauptsächlich gegen die
Emanzipation. Es kam zu einer Verschmelzung von antiemanzipatorischen und
antijüdischen Gedanken, die wirtschaftlich, sozial oder national begründet waren
(vgl. Berding 1988: 44).
Im Vergleich zu dem christlichen Antijudaismus gewannen nationale Vorbehalte an
Bedeutung. Christentum und Germanentum galten als Ursprung des deutschen
Nationalbewusstseins zu dem die Juden nicht gehörten. Der Konfessionswechsel
reichte nicht aus, um Juden zu gleichwertigen deutschen Bürgern zu machen.
Vermehrt wurden die Juden als eigene Rasse angesehen, die man nicht
assimilieren kann. Die ,,Judenfrage" blieb trotz Emanzipation vorerst ungelöst und
wurde auch im Kaiserreich weiterhin diskutiert (vgl. Berding 1988: 63 ff.). Vor
allem die aufkommenden Schlagworte ,,Nation" und ,,Rasse" sollten weiter an
Relevanz gewinnen.
3.3 Der Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich
Zu Beginn des Deutschen Kaiserreichs war die Judenfeindschaft abgeflaut und die
Juden waren zumindest rechtlich in die Gesellschaft integriert. Die ,,Gründerkrise"
löste 1873 eine lang anhaltende wirtschaftliche Depression aus, die dazu führte,
dass im Liberalismus die Schuld gesucht wurde. Da die Judenemanzipation in
enger Verbindung zum Liberalismus stand, wurde diese nun noch mehr in Frage
gestellt und die antijüdische Bewegungen erfuhr einen starken Aufschwung (vgl.
Berding 1988: 85).

3. Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert bis
zur Shoa
26
In den folgenden Jahren des Kaiserreichs fand eine Bündelung, Mobilisierung und
neue Rechtfertigung der überlieferten Judenfeindschaft statt. Der Wandel zeigte
sich in der schnellen Verbreitung des analytisch unbrauchbaren und unbestimmten
Begriffs ,,Antisemitismus". Der Begriff wurde zum Schlagwort und sein pseudo-
wissenschaftlicher Charakter vermittelte das Gefühl, dass die Anschuldigungen
gegen die Juden rational begründet waren (vgl. Berding 1988: 86 f.).
Während des Kaiserreichs erreichte die Judenfeindschaft nicht nur eine neue
Qualität, sondern auch eine neue Quantität. Den Wandel des Ressentiments
beschreibt Pfahl-Traughber wie folgt:
,,In der Zeit des Deutschen Kaiserreiches kommt es zu einem grundlegenden
Wandel des Antisemitismus: Während es sich bislang um Agitation und
Ausschreitungen handelte, setzt nun die Phase der systematischen Organisation ein.
Es entstehen die ersten antisemitischen Parteien, die mit einem entsprechenden
Programm um Wählerstimmen werben. Darüber hinaus spielte die Judenfeindschaft
für den inneren Zusammenhalt sozialer Interessensgruppen eine wichtige Rolle."
(Pfahl-Traughber 2002: 56).
Der inhaltliche Wandel der Judenfeindschaft wird von Pfahl-Traughber nicht
thematisiert, wobei dieser besonders für die weitere geschichtliche Entwicklung
relevant ist.
Die neue systematische Organisation des Antisemitismus zeigte sich in seiner
Durchdringung von Parteien und Organisationen, sowie in der Fülle von
publizierten antisemitischen Schriften, die reißenden Absatz fanden. Der Historiker
Treitschke beschrieb 1879 in einem Aufsatz die Judenfeindschaft mit dem simplen
aber zutreffenden Schlagwort: ,,Die Juden sind unser Unglück". Damit
charakterisierte er die Kernidee des Antisemitismus in einer einfachen Formel.
Einen hohen Bekanntheitsgrad und eine hohe Auflage erlangte das politische
Pamphlet ,,Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum"[sic] vom Wilhelm
Marr, in dem wahrscheinlich das erste Mal das Wort Antisemitismus verwendet
wurde (vgl. Benz 2004: 87 ff.).
Inhaltlich kam es zu einer schrittweisen Verschiebung, bzw. Erweiterung der
Motive der Judenfeindschaft, weswegen Benz diese Form als
,,Rassenantisemitismus" bezeichnet. Die Juden wurden, im Unterschied zum
christlich antijudaistischen Zuschreibungsschema, nicht mehr als Religion,
sondern als fremde Nation bzw. Rasse wahrgenommen (vgl. Benz 2004: 19).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836641265
Dateigröße
610 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Darmstadt – Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
antisemitismus holocaust israel antizionismus juden
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Titel: Antisemitismus in Deutschland: Zum Wandel eines Ressentiments im öffentlichen Diskurs
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