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Analyse belastender Einsatzsituationen im Berufsalltag der sächsischen Polizei hinsichtlich auftretender Posttraumatischer Belastungsreaktionen sowie Strategien der Stressbewältigung

©2004 Diplomarbeit 159 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Fußballspiel am 01. September zwischen dem DSC und dem 1. FC Dynamo Dresden endete 0:0. Die DSC Fans gingen nach Hause, nicht so die Anhänger von Dynamo. Etwa 20 Minuten nach Spielende wurden aus dem Nichts sechs berittene Polizisten von ca. 250 Dynamoanhängern angegriffen. Ebenso schnell standen den 120 zur Hilfe eilenden Polizisten 1500 gewaltbereite Dynamoanhänger gegenüber und begannen ihre Schlacht: warfen mit Steinen, Flaschen, Verkehrsschildern, schließlich wurden Fahrräder gegen die Beamten geschleudert. Trauriges Fazit: 43 verletzte Beamte, drei davon schwer. Einer, dem am Boden liegend mehrere Täter auf dem Kopf herumtraten, überlebte knapp - dank seines Schutzhelmes (‘Kripo live’, Sendung vom 22.09.02).
Tagtäglich vernehmen wir Meldungen dieser Art, die Zeitungen sind voll mit Berichten über Gewalttaten. Doch wie sieht der Alltag der Polizei wirklich aus? Lassen wir an dieser Stelle Polizeibeamte zu Wort kommen, die bereit waren, sich für folgende Untersuchung zu Verfügung zu stellen: +++ Es war ein Einsatz im Jahr 2000, man wollte mich mit einem Messer erstechen, mein Kollege schoss, um mir zu helfen +++ Zwei Tatverdächtige versuchten mich mit dem gestohlenen Fahrzeug mehrmals zu überfahren, nach dem vierten Versuch machte ich von meiner Schusswaffe Gebrauch +++ Ein Verkehrsunfall: ein Motorradfahrer wurde dabei auf die Straße geschleudert, sein Helm lag weit weg von ihm, ich holte ihn - sein Kopf steckte noch im Helm +++ Ich erlebte den Tod eines Kleinkindes, die Familie kniete um die kleine Leiche und betete, es war sehr schwierig für mich nicht emotional zu reagieren +++ Belastend war für mich die Suche nach Überlebenszeichen, nach der Explosion in der Feuerwerk-Fabrik in Eschede (Holland) +++ 24.12.86: Drei Suizide, davon zwei Gasvergiftungen und einmal der Strang, alle drei Personen waren im Alter von 20-25 Jahren +++ Der Castor-Einsatz war für mich sehr belastend, die Führung versagte total +++ Hochwasser 2002 - vor allem der Absturz der Frau in Freital setzte mir zu +++ Es war eine Auseinandersetzung in Leipzig-Connewitz, bei der ich die Schusswaffe zog +++ Ich war während einer Geiselnahme in der JVA als Verbindungsperson eingesetzt und eine ganze Stunde mit den Geiseln und dem Geiselnehmer völlig allein +++ Belastet hat mich der Selbstmordversuch meiner Kollegin. Ich wusste nicht, wie ich mit ihr kurz danach umgehen sollte +++ Es ist der Alltag der Polizei. Die deutlich steigende […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sabine Lenke
Analyse belastender Einsatzsituaionen im Berufsalltag der sächsischen Polizei
hinsichtlich auftretender Posttraumatischer Belastungsreaktionen sowie Strategien der
Stressbewältigung
ISBN: 978-3-8366-4125-8
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland, Diplomarbeit, 2004
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

,,Dein Schicksal liegt in dir selbst. Die größte Höhe der Freude und die
tiefste Tiefe deiner Leiden sind dir schon in die Wiege gelegt. Ob du nun
die Höhe erreichst oder in die Tiefe sinkst - das liegt in deiner Hand."
Elisabeth Trube-Becker

3
DANKSAGUNG
All den Menschen, die mir Hilfestellung bei meiner Diplomarbeit in unterschiedlichster
Weise gaben, möchte ich an dieser Stelle ein liebes Dankeschön sagen: dazu gehören Dr.
Stefan Remke, DP des Sozialpsychologischen Dienstes der 2. BPA Leipzig, der unheimlich
viel Verständnis für meine zeitlichen Zwänge aufbrachte, die sich aus meiner beruflichen
Tätigkeit ergaben und mich immer wieder motivierte. Außerdem danke ich ihm für seinen
Enthusiasmus während meiner Praktikumszeit bei der Bereitschaftspolizei Leipzig und für
die Möglichkeit meiner Teilnahme an polizeilichen Großeinsätzen. Ein ebenso herzliches
Dankeschön richte ich an Herrn PD Dr. Konrad Reschke, welcher mir die Möglichkeit gab,
dieses Thema unter seiner Obhut zu untersuchen und der mich bereits im Studium durch
seine praktischen Vorlesungsinhalte begeisterte. Des Weiteren finde ich es fabelhaft - und
das sei an dieser Stelle betont - dass er mir und anderen Studenten die Möglichkeit gab, erste
Techniken der EMDR bei ihm erlernen zu dürfen. Dem Sächsischen Ministerium für Inneres
sei ebenso gedankt, da die vorliegende Untersuchung von ihnen unbürokratisch befürwortet
wurde. An diesem Platz auch allen Probanden der Polizei ein Dankeschön für die sehr offene
Beantwortung der umfangreichen Fragebögen. Ebenso herzlichen Dank an Frau Christa
Patzak vom Dezentralen Beratungsteam der Polizei Sachsen, die mir bei der Erhebung der
Daten behilflich war. Des Weiteren möchte ich Dr. Frauke Teegen, Uni Hamburg und Dr.
Frank Hallenberger, DP FHöV - FB Polizei danken, die mich aufgrund ihrer Erfahrungen
und Forschungen auf diesem Gebiet mit wichtigen Informationen versorgten. Einen lieben
Dank auch an Prof. Dr. Luise Greuel, Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung, sowie
Dr. Regina Steil, die mir die teilweise Verwendung der erweiterten und noch nicht
veröffentlichten Version der Posttraumatic Diagnostic Scale vorab genehmigten. Dank auch
an Paul Uccusic, der es in seinem bezaubernden Seminar vermochte, mir einen völlig
anderen nämlich schamanistischen Zugang zum Thema des seelischen Traumas zu
vermitteln. Zuletzt und dennoch von ganzem Herzen möchte ich all meinen Kollegen und
Freunden danken, die mir immer wieder Mut zusprachen, wenn Studium und Arbeit mir über
den Kopf wuchsen: Anne, Anett, Annette, Axel, Beatrice, Berno, Bettina, Carina, Daniel, Dr.
Vondran, Franzi, Gunter, Gunther, Henrik, Karin, Kerstin, Loni (und die Pferde), Nadine,
Renate, Sandra, Sylvia, Ulrike und Yvonne - ihr alle habt einen großen Anteil an dieser
Arbeit. Ich bin froh, dass ich euch kennen lernen durfte.

INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung ... 8
TEIL 1: THEORIE
1. Historischer Rückblick - Der Weg zur Erforschung der
Posttraumatischen Belastungsstörung
... 11
1.1. Seelenverlust, Ritual und Dichtung ...12
1.2. Die Wissenschaftsgeschichte - Auseinandersetzung mit dem Trauma ...12
1.2.1. Charcot, Janet, Breuer und Freud ...12
1.2.2. Eisenbahn und Weltkriege ...16
1.2.3. Die Stressforschung und Hans Selye ...19
2. Psychotraumatologie
... 20
2.1. Definition des psychischen Traumas ... 20
2.2. Einteilung psychischer Traumen ... 21
2.2.1. Klassifizierung nach der Schwere der Belastung ... 22
2.2.2. Klassifikation nach der Verursachung ... 23
2.2.3. Klassifikation nach der Dauer der Einwirkung ... 24
2.3. Klinische Subtypen ... 25
2.4. Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) ... 25
2.4.1. Klassifikationskriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung ... 26
2.4.2. Differenzialdiagnostik und Komorbidität ... 28
2.4.3. Epidemiologie ... 29
2.4.4. Diagnostische Verfahren ... 33
2.4.4.1. Strukturierte Interviews ... 33
2.4.4.2. Psychometrische Verfahren ... 35

Inhaltsverzeichnis
5
2.4.4.3. Psychophysiologische Messungen ... 36
2.4.5. Ätiologische Konzepte ... 36
2.4.5.1. Das Furchtstruktur-Modell nach Foa & Kozak (1986) ... 38
2.4.5.2. Das Modell kognitiver Schemata nach Horowitz (1976/1997) ... 39
2.4.6. Protektiv- und Risikofaktoren ... 41
2.4.6.1. Situationsgebundene und personale Risikofaktoren versus Ereignis-
und Aufrechterhaltungsfaktoren ... 42
2.4.6.2. Berufsbedingte Risikofaktoren ... 43
2.4.6.3. Protektivfaktoren ... 45
2.4.7. Behandlungsansätze ... 46
2.4.7.1. Psychopharmakologische Therapieansätze ... 46
2.4.7.2. Psychotherapeutische Behandlungsansätze ... 47
3. Stress
... 52
3.1. Geschichtliche Aspekte ... 52
3.2. Stress - eine Begriffsdefinition ... 55
3.3. Wirkungen von Stress ... 56
3.3.1. Die körperliche Stressreaktion ... 57
3.3.2. Die psychische Stressreaktion ... 59
3.3.3. Stressphysiologie und Traumatisierung ... 61
3.4. Bewältigungsstrategien -
Die kognitiv-transaktionale Stresstheorie von Lazarus und Launier ... 62
3.5. Stress als Mittlerkonzept zwischen Gesundheit und Krankheit ... 65
3.5.1. Stufen der Zusatzregulation und Destabilisierung unter Belastungsdruck ... 65
3.5.2. Pathogenetische Transformationsglieder zwischen Gesundheit und Krankheit -
Risikofaktoren für Psyche und Physis ... 68
3.5.3. Stressbewältigung, Persönlichkeit und Krankheit - ein Zusammenhang? ... 69
3.5.4. Stressbewältigung und Ressourcen -
Protektivfaktoren als Moderatoren zwischen Stress und Pathogenese ... 71

Inhaltsverzeichnis
6
4. Traumatischer Stress bei der Polizei -
Bewältigung hochbelastender Erlebnisse im Polizeidienst
... 75
4.1. Was bedeutet für Polizisten Stress? ... 75
4.2. Reaktionen auf belastende Ereignisse im Polizeidienst ... 78
4.3. Konstruktive Strategien der Stressbewältigung im Polizeiberuf ... 79
4.4. Das Post-Shooting-Syndrom ... 82
4.4.1. Unsicherer Schuss versus Finaler Rettungsschuss ... 83
4.4.2. Extremlage Schusswaffengebrauch - physiologische und psychologische
Komponenten vor und während der Extremsituation ... 84
4.4.3. Belastungsreaktionen nach dem Schusswaffengebrauch ... 86
4.4.4. Trainingsstand und Persönlichkeitsstruktur - Prävention für Extremlagen ... 88
4.5. Harte Männer braucht die Polizei? -
Männlichkeit und die Verleugnung von Hilfsbedürftigkeit ... 90
4.6. Wie kann Stress im Polizeidienst begegnet werden? -
Betreuungskonzepte bei der Polizei ... 93
4.6.1. SAFE-R-Modell der Krisenintervention ... 93
4.6.2. Critical incident stress debriefing (CISD) ... 94
4.6.2.1. Debriefing - ein zweifelhaftes Verfahren? ... 96
4.6.3. Kognitive Verhaltenstherapie für Polizisten (Gersons & Carlier, 1997) ... 97
TEIL 2: EMPIRIE
5.
Fragestellungen
... 98
6. Erhebungsinstrumente
...100
6.1. Leipziger Ereignis- und Belastungsinventar nach Richter & Guthke (1996) 101
6.2. Fragebogen zu hochbelastenden Erfahrungen im Berufsalltag von Polizei und
Feuerwehr nach Teegen, F., Domnick, A. und Heerdegen, M. (1996) ... 101
6.3. Die Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS) nach Foa et al. (1995) ... 102
6.4. Stressverarbeitungsfragebogen (SVF) nach Janke et al. (1985) ... 103

Inhaltsverzeichnis
7
7. Stichprobencharakteristik
... 104
8. Ergebnisdarstellung
... 106
8.1. Belastungen in der Lebensgeschichte ... 106
8.1.1. Exposition traumatischer Stressoren der persönlichen Lebensgeschichte ... 106
8.1.2. Persönlich besonders belastende Ereignisse der Lebensgeschichte ... 108
8.2. Berufliche Extrembelastungen ... 108
8.2.1. Exposition zu traumatischen Stressoren im Beruf ... 108
8.2.2. Persönlich besonders belastende Einsätze ... 109
8.2.3. Zusätzliche Belastungsfaktoren ... 111
8.3. Posttraumatische Belastungsreaktionen ... 111
8.4. Stressverarbeitungsstrategien ... 113
8.5. Schutzfaktoren ... 115
8.6. Vorschläge und Wünsche zur Vor- und Nachbereitung belastender
Einsatzsituationen ... 117
9. Beantwortung der Fragestellung und Zusammenfassung
... 118
10. Diskussion der Ergebnisse
... 131
11. Ausblick
... 139
Tabellenverzeichnis ... 141
Abbildungsverzeichnis ... 142
Literaturverzeichnis ... 145
Anhang

Einleitung
8
EINLEITUNG
Das Fußballspiel am 01. September zwischen dem DSC und dem 1. FC Dynamo Dresden
endete 0:0. Die DSC Fans gingen nach Hause, nicht so die Anhänger von Dynamo. Etwa 20
Minuten nach Spielende wurden aus dem Nichts sechs berittene Polizisten von ca. 250
Dynamoanhängern angegriffen. Ebenso schnell standen den 120 zur Hilfe eilenden
Polizisten 1500 gewaltbereite Dynamoanhänger gegenüber und begannen ihre Schlacht:
warfen mit Steinen, Flaschen, Verkehrsschildern, schließlich wurden Fahrräder gegen die
Beamten geschleudert. Trauriges Fazit: 43 verletzte Beamte, drei davon schwer. Einer, dem
am Boden liegend mehrere Täter auf dem Kopf herumtraten, überlebte knapp - dank seines
Schutzhelmes. (,,Kripo live", Sendung vom 22.09.02)
Tagtäglich vernehmen wir Meldungen dieser Art, die Zeitungen sind voll mit Berichten über
Gewalttaten. Doch wie sieht der Alltag der Polizei wirklich aus? Lassen wir an dieser Stelle
Polizeibeamte zu Wort kommen, die bereit waren, sich für folgende Untersuchung zu
Verfügung zu stellen: +++ Es war ein Einsatz im Jahr 2000, man wollte mich mit einem
Messer erstechen, mein Kollege schoss, um mir zu helfen +++ Zwei Tatverdächtige
versuchten mich mit dem gestohlenen Fahrzeug mehrmals zu überfahren, nach dem vierten
Versuch machte ich von meiner Schusswaffe Gebrauch +++ Ein Verkehrsunfall: ein
Motorradfahrer wurde dabei auf die Straße geschleudert, sein Helm lag weit weg von ihm,
ich holte ihn - sein Kopf steckte noch im Helm +++ Ich erlebte den Tod eines Kleinkindes,
die Familie kniete um die kleine Leiche und betete, es war sehr schwierig für mich nicht
emotional zu reagieren +++ Belastend war für mich die Suche nach Überlebenszeichen, nach
der Explosion in der Feuerwerk-Fabrik in Eschede (Holland) +++ 24.12.86: Drei Suizide,
davon zwei Gasvergiftungen und einmal der Strang, alle drei Personen waren im Alter von
20-25 Jahren +++ Der Castor-Einsatz war für mich sehr belastend, die Führung versagte
total +++ Hochwasser 2002 - vor allem der Absturz der Frau in Freital setzte mir zu +++ Es
war eine Auseinandersetzung in Leipzig-Connewitz, bei der ich die Schusswaffe zog +++
Ich war während einer Geiselnahme in der JVA als Verbindungsperson eingesetzt und eine
ganze Stunde mit den Geiseln und dem Geiselnehmer völlig allein +++ Belastet hat mich der
Selbstmordversuch meiner Kollegin. Ich wusste nicht, wie ich mit ihr kurz danach umgehen
sollte +++ Es ist der Alltag der Polizei. Die deutlich steigende Gewaltbereitschaft wird mit
den aktuellen Zahlen der Kriminalitätsentwicklung für das Jahr 2003 unterlegt. Zudem kam

Einleitung
9
eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN, 2002) zur
`Gewalt gegen Polizeibeamtinnen- und beamte', die aufgrund der hohen Anzahl getöteter
Polizisten (1985-2000) durch die Gewerkschaft der Polizei in Auftrag gegeben wurde, zu
dem Resultat, dass sich die Art der Gewalt gegen Polizisten seit Ende der achtziger Jahre
erheblich verändert hat. Heute führen Routinearbeiten des tägliches Dienstes von einer
Sekunde zur anderen zu todbringenden Angriffen. Ernsthaftester Indikator für die Gewalt
gegen Polizisten ist die Zahl der getöteten Beamten: Seit 1945 wurden 383 Beamte
erschossen, erstochen oder überfahren. In Sachsen gab es im Jahr 2000 z.B. 590 Angriffe auf
Polizeibeamte. Sachsenweit wurden in 16 Fällen Messer, achtmal die Schusswaffe und
zweimal die Axt gegen Beamte gerichtet. 423 Übergriffe fanden unter körperlicher
Gewaltanwendung statt. Davon wurden 263 sächsische Beamte verletzt (Thieme, 2001).
Zudem sprechen die Zahlen der Schusswaffengebrauchsstatistik von 1999 (Diederichs,
2000) von 53 Schüssen, die durch Polizeibeamte auf Personen abgegeben wurden, 15 davon
trafen tödlich. In Abweichung zu den offiziellen Zahlen ermittelte der Informationsdienst
`Cilip' 19 Todesschüsse. Die Erklärung dafür lässt sich im Beschluss der
Innenministerkonferenz finden, die seit 1983 besagt, dass `unbeabsichtigte Schussabgaben'
bei denen ein Mensch getötet wird, nicht mehr mitzuzählen sind - so auch der tragische
Todesschuss auf Friedhelm Beate während der Suche nach dem Gewaltverbrecher
Zurwehme. Spätestens jetzt wird bewusst, dass der Beruf des Polizisten einer der
ungewöhnlichsten und belastendsten ist, dennoch existieren nur wenige wissenschaftliche
Untersuchungen zur Thematik. Ein Anliegen dieser Arbeit, die in Zusammenarbeit mit dem
Sächsischen Ministerium für Inneres entstand, soll daher die Möglichkeit sein, einen
weiteren Beitrag zu diesem Themengebiet zu leisten. Daher wurden anhand einer Stichprobe
von 147 sächsischen Polizeibeamten mittels Fragebogen, die Art und Häufigkeit
berufsbedingter belastender Einsatzsituationen, belastende Ereignisse in der
Lebensgeschichte, die Prävalenz Posttraumatischer Belastungsstörungen sowie typische
Strategien der Stressbewältigung erfasst. Letzteres umschließt auch Angaben zu bevorzugten
Gesprächspartnern, zur Nutzung psychologischer Hilfsangebote sowie Wünsche und
Vorschläge der Beamten. Zudem wurde analysiert, ob Zusammenhänge zwischen der
Ausbildung einer PTSD und dem Ausmaß der Traumaexposition sowie den Strategien der
Stressbewältigung bestehen. Einige Studien verweisen darauf, dass besagte Faktoren das
Risiko für die Entwicklung von Belastungsstörungen erhöhen. Ein weiteres Anliegen dieser
Arbeit ist, die Thematik des ,,harten Männlichkeitsideals" zu beleuchten und zu hinterfragen,
denn sie ist leider prägend für das Berufsbild. Eingebettet in eine Elite-Truppe, deren

Einleitung
10
Maximen durch Stärke, Leistung und Coolness gekennzeichnet sind, kann es zur
Verleugnung eigener Hilfsbedürftigkeit führen. Wird eine traumatische Situation erlebt, ist
dieses harte Männlichkeitsideal nicht kompatibel mit der Verbalisation von Gefühlen
geschweige der Suche nach adäquaten Hilfsmöglichkeiten. Genau diese Inkompatibilität
lässt jedoch den Nährboden für die Ausbildung traumatischer Belastungsreaktionen
entstehen. Dieses Persönlichkeitsstereotyp zu hinterfragen und Bewusstheit zu fördern, soll
ebenso Anliegen vorliegender Arbeit sein. Oft bin ich im Vorfeld dieser Diplomarbeit
gefragt worden, `wo denn Polizisten bitte sehr belastet wären'. Einen wesentlichen Aspekt in
Bezug auf derartige Fragen, tragen wohl diesbezüglich die Medien bei, denn in zahllosen
Kriminalserien, scheint sich der Eindruck zu vermitteln, dass der Schusswaffengebrauch eine
routinierte Form der Polizeiarbeit sei. Mit anderen Worten: Es fällt ein Schuss, der Held der
Serie klopft sich den Staub aus den Kleidern und geht zum Polizeialltag über. Dem ist jedoch
leider nicht so. Reaktionen nach einem Schusswaffengebrauch werden im Film oft völlig
falsch dargestellt. Daher soll Sinn und Zweck dieser Arbeit auch sein, einen realen Einblick
zu vermitteln, welche Wirkungen der Gebrauch der Schusswaffe tatsächlich hervorruft. In
diesem Kontext soll das `Post-shooting-syndrom' skizziert werden, dass eine spezifische Art
der Traumatisierung nach einem Schusswaffengebrauch darstellt. Des Weiteren wird auf
Möglichkeiten der Prävention für den Extremfall eingegangen, aber auch auf Hilfsangebote
nach einer möglichen Traumatisierung wie sie beispielsweise das Sächsische Beratungsteam
bietet. Es geht dabei nicht um den Aspekt, Polizisten mit einem Beruf zu sehen, dessen
permanente Anforderungen und Belastungen es nötig machen, dass sie sich durch
Psychologen und Seelsorger einer ständigen Betreuung unterziehen müssen. Aber ein
wichtiges Augenmerk sollte im Sinne der Prävention darauf liegen, dass Polizisten
zumindest im Theoretischen, einen gewissen Kenntnisstand über die Entstehung und
Bewältigung einer traumatischen Störung besitzen und sich klar darüber sind, dass gerade
ihre Berufsgruppe ein Risiko von 100 % besitzt, mit einem traumatischen Erlebnis
konfrontiert zu werden. Auch für dieses Anliegen soll folgende Diplomarbeit Rechnung
tragen. Der Weg dahin kann nur über eine qualifizierte Fortbildung und dem Erlernen
adäquater Bewältigungsstrategien im Kontext belastender berufsbedingter Erlebnisse führen.
Denn jeder muss vorher wissen, was hinterher mit ihm passiert ...

Historischer Rückblick
11
TEIL 1 : THEORIE
1. Historischer Rückblick - Der Weg zur Erforschung
der Posttraumatischen Belastungsstörung
,,Auch aus Steinen, die in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen."
J. W. von Goethe
Dieses erste Kapitel beginnt mit der Naturgeschichte der Psychotraumatologie und deren
Erinnerungen an uralte Rituale, spannt den Bogen weiter zur Wissenschaftsgeschichte und
der Entdeckung des psychischen Traumas, die mit Namen wie Charcot, Freud, Janet und
Selye verbunden sind und führt sich fort bis zum Begriff des ,,railway brain", den beiden
Weltkriegen, den Kriegszitterern und deren Rentenansprüchen und endet schließlich in dem
ersten Versuch der Kategorisierung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) in
einem klassischen Diagnosesystem, dem DSM-I.
1.1. Seelenverlust, Ritual und Dichtung
Der Versuch mit seelischen Verletzungen als Folge von Naturkatastrophen, Unfällen,
plötzlichem Tod und Gewalterfahrung umzugehen, ist so alt wie die Geschichte der
Menschheit selbst. Von daher lassen sich schon frühzeitig Beweise über Kenntnisse zur
Milderung traumatischer Erfahrungen finden. ,,Manche Rituale, Sitten und Gebräuche
entstammen der Not, mit psychischer Traumatisierung zurechtzukommen. Trauerrituale, die
in allen Zeiten und bei allen Völkern verbreitet sind, können hier als Beispiel gelten"
(Fischer & Riedesser, 1998). Einen anderen, den schamanistischen Zugang finden wir
beispielsweise bei Uccusic (2000) und Eliade (1994): ,,Das Zurückrufen der Seele bildet bei
bestimmten Völkern die erste Stufe der schamanischen Heilung. Nur wenn die Seele des
Kranken nicht in den Körper zurückkehren will oder kann, geht der Schamane auf die Suche
nach ihr und steigt schließlich in das Totenreich, um sie zurückzubringen" (Eliade, 1994, S.
210). Zur Illustration soll an dieser Stelle folgendes Ritual dienen: ,,Bei den Buriäten von
Alarsk setzt sich der Schamane in der Nähe des Kranken auf einen Teppich; um ihn herum
liegen verschiedene Gegenstände, darunter ein Pfeil. Von der Spitze des Pfeils geht ein roter

Historischer Rückblick
12
Seidenfaden zu der Birke, die vor der Jurte auf dem Hof aufgestellt ist. Durch diesen Faden
soll die Seele des Kranken in den Körper zurückkehren, deshalb bleibt die Tür der Jurte
offen. Neben dem Baum steht jemand mit einem Pferd; die Buriäten glauben nämlich, dass
das Pferd die Rückkehr der Seele zuallererst bemerkt und zu zittern anfängt. Auf einen Tisch
in der Jurte legt man Kuchen, Aquavit, Tabak. (...) Der Schamane beginnt mit der Anrufung
der Seele ..." (ebenda). Eine weitere Form der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse finden
wir in vielen literarischen Werken (Sartre oder Dickens), in denen Dichter künstlerisch
Menschen in Extremsituationen sowie deren Versuche der Bewältigung beschreiben.
1.2. Die Wissenschaftsgeschichte - Auseinandersetzung mit dem Trauma
1.2.1. Charcot, Janet, Breuer und Freud
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Trauma beginnt scheinbar 1895 mit dem
Werk Breuer (1842-1925) und Freuds - ,,Ätiologie der Hysterie". Sigmund Freud (1856-
1939) fing jedoch nicht neu an. Er setzte fort in einer Tradition, die sich Mitte des letzten
Jahrhunderts in Frankreich entwickelte. Damals setzten sich Gerichtsmediziner, mit der
Traumatisierung von Kindern auseinander. Ihr Ziel war es, Kriminalstatistiken zu erarbeiten,
die darlegen konnten, wie häufig Kindstötungen mit sexuellem Hintergrund auftraten. Laut
Sachsse (1998) gehen hieraus Zahlen hervor, die Angst machen können: ,,Ich bin auch
sicher, dass der Marquis de Sade nicht nur Phantasien beschrieben hat" (ebenda, S. 1). Freud
wollte sich im Bereich der Neurologie und Psychiatrie in einem längeren Praktikum bei
Charcot in der Pariser Salpetriére fortbilden - einem derzeit führenden Neurologen und
Psychiater. Jean-Martin Charcot (1825-1893) untersuchte unterdessen systematisch den
Zusammenhang von Trauma und psychiatrischer Erkrankung und behandelte zwei Arten
problematischer anfallskranker Patienten. Die eine Gruppe wurde nach jedem Anfall
dementer, mussten gepflegt werden und starben, währenddessen die andere Gruppe nach
einem Anfall klarer erschienen und es ihnen oft besser ging. Der Anfall schien etwas zu
deblockieren. Zu dieser letzteren Gruppe gehörten vorwiegend Frauen. Von daher entstand
die Hypothese, dass es sich bei den Anfällen um Krampfanfälle des Uterus handelte - des
Hyster. Es wurde von der Hystero-Epilepsie gesprochen - allerdings setzte sich diese
Hypothese nicht durch. Doch Charcot beobachtete an seinen Patientinnen, dass er mit Hilfe
der Hypnose die Symptome hervorrufen und positiv beeinflussen konnte (Sachsse, 1998;
Langkafel, 2000).

Historischer Rückblick
13
Damit lieferte er den Beweis, ,,dass es seelische Symptome gibt, die durch seelische
Ursachen herbeigeführt werden und mit seelischen Mitteln behandelt werden können"
(Sachsse, 1998, S. 2).
Abbildung 1.1.: Charcot demonstriert die Hypnose einer ,hysterischen` Patientin vor dem Kollegium
1
Bis ins Jahr 1800 gab es keinerlei Trennung zwischen Körper und Psyche und psychisch
Kranke wurden zusammen mit Prostituierten und Landstreichern in Zuchthäusern angekettet
und erhielten keine ärztliche Behandlung. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
und durch die ersten Befunde der Neurologie kam es zu einer Humanisierung in der
Behandlung psychisch Kranker (Laux et al., 1996). Wilhelm Griesinger (1810-1865) -
bedeutendster deutscher Psychiater des 19. Jahrhunderts, erklärte die Entstehung psychischer
Krankheiten als Erkrankungen des Gehirns und prägte den bekannten Ausspruch, dass
Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind. ,,Nach näheren und directeren Beweis für
unseren Satz, dass das Gehirn das beim Irresein erkrankte Organ sei, liefern die Ergebnisse
der Leichenöffnungen der Irren selbst. Es ist ausser Zweifel, dass man in der Mehrzahl
dieser Leichenöffnungen wirklich anatomische Veränderungen im Gehirne selbst oder
seinen Hüllen findet, und dass diese, da wo überhaupt anatom. Läsionen vorkommen, die
einzigen constanten sind. Der Umstand, dass man nicht immer solche Läsionen findet,
1
Quellen aller Abbildungen und Tabellen sind im Tabellen- und Abbildungsverzeichnis einzusehen

Historischer Rückblick
14
vermag diesen Grund nicht zu schwächen" (Griesinger, 1845, S. 4). Die Auffassung
Charcot's ,,bildete ein Gegengewicht zu Griesingers Sicht- und Denkweise. Beide Positionen
stehen sich seit 1850/1860 gegenüber und nähern sich jetzt in der Gegenwart allmählich
wieder an - die Position der Somatogenese und die der Psychogenese. (...) Einer der
wichtigsten Schüler von Charcot, Gilles de la Tourette, ein Neurologe, der das Tourette-
Syndrom miterforscht hat, sagte Charcot sei ganz selbstverständlich davon ausgegangen,
dass hysterische Symptome sehr oft durch traumatische Erfahrungen hervorgerufen worden
seien" (Sachsse, 1998, S. 2). Diesen Gedanken entwickelten zwei Schüler Charcot's weiter:
Pierre Janet (1859-1947), der damals die psychologische Abteilung an der Salpetriére leitete,
und Sigmund Freud. Janet prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der Dissoziation.
Janet's umfassendes Werk über Trauma und Behandlung dissoziativer Zustände geriet
jedoch allmählich in Vergessenheit und wurde erst in den achtziger Jahren, zum Zeitpunkt
als die Dissoziation für die Entwicklung der PTSD Relevanz zeigte, wieder entdeckt (van der
Kolk, Weisaeth, van der Hart, 2000). Es ist wie eine phasenweise auftretende Amnesie der
Psychiatrie - sie habe ,,die seltsame Form eines Wiederholungszwanges angenommen"
(ebenda, S. 92). Zurück zu Freud - auch Freud nutzte den Begriff der Dissoziation wie Janet,
entwickelte aber alsbald das Konzept der Abwehr. ,,Dabei handelt es sich um ein
motiviertes, absichtsvolles Vergessen. Traumatische Erfahrungen werden also demzufolge
nicht nur deshalb dissoziiert, weil das Bewusstsein momentan mit ihrer Verarbeitung
überfordert wäre. Vielmehr werden sie vom Bewusstsein aktiv ferngehalten, weil ihre
Integration die Persönlichkeit mit unangenehmen oder gar unerträglichen Affekten
überlasten würde" (Fischer & Riedesser, 1998, S. 33). Doch Freud durchlebte in der
Auseinandersetzung mit dem psychischen Trauma mehrere Wandlungen. Josef Breuer war
es letztendlich, der die Saat legte, aus der sich später die Psychoanalyse entwickelte
(Sachsse, 1998). Er behandelte eine 20-jährige Patientin namens Bertha Pappenheim, die in
die Geschichte der Psychoanalyse als `Anna O.' einging und Symptome zeigte, die
gegenwärtig unter der Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung klassifiziert sein
würden. ,,Abends sprach Anna O., z.B. nur englisch, manchmal zerriss sie die Bettwäsche,
warf mit Sachen um sich, dann wieder war sie ein liebes kleines Mädchen und setzte sich
Breuer auf den Schoß, was diesen in Eheschwierigkeiten brachte." (ebenda, S. 2ff.) Doch die
Hypnose allein brachte bei Anna O. nicht viel. Breuer erkannte, dass die irrationalen
Symptome der Kranken sich nur dann erschlossen, sobald es ihm gelang, sie unter Hypnose
erzählen zu lassen, was sie quälte. Breuer besprach diese Entdeckung sogleich mit Freud
(Fromm, 1995) und dieser machte Charcot auf die ,,faszinierenden Symptome aufmerksam,

Historischer Rückblick
15
doch der schien an einem reinen Fall der Psychologie nicht interessiert" (Markus, 1996, S.
98). Und so bat Freud seinen älteren Kollegen Josef Breuer die Krankengeschichte der
Patientin niederzuschreiben. ,,Die wunderbare Tatsache, dass vom Beginne bis zum
Abschlusse der Erkrankung alle aus dem zweiten Zustande stammenden Reize und ihre
Folgen durch das Aussprechen in der Hypnose dauernd beseitigt wurden, habe ich bereits
geschildert, und dem ist nichts hinzuzusetzen als die Versicherung, dass es nicht etwa meine
Erfindung war, die ich der Patientin suggeriert hätte; sondern ich war aufs höchste davon
überrascht, und erst als eine Reihe spontaner Erledigungen erfolgt waren, entwickelte sich
mir daraus eine therapeutische Technik" (Breuer & Freud, 1991, S. 66). 1895 wurden diese
Niederschriften zur Basis für das gemeinsame Werk Breuer und Freuds - die ,Studien zur
Ätiologie der Hysterie`. Freuds zunehmende Fokussierung auf die sexuelle Komponente der
Hysterie begegnete Josef Breuer jedoch nur widerstrebend (Mentzos, 1991). Letztendlich
führte diese zur Trennung von Freud und Breuer. Doch nicht nur diese beiden
Persönlichkeiten arbeiteten am Phänomen Hysterie - auch Janet, damals Freuds Nachfolger
als Assistent bei Charcot. Am 10. März 1898 schrieb Freud diesbezüglich seinem Freund
Wilhelm Fließ (1858-1928): ,,Ein jüngst erschienenes Buch von Janet 'Hysterie et idées
fixes', habe ich mit Herzklopfen zur Hand genommen und ruhigen Pulses bei Seite gelegt. Er
ahnt den Schlüssel nicht" (Freud, 1962, S. 212). Freud selbst musste zunächst die Hypnose
überwinden, um den besagten Schlüssel finden zu können und er entwickelte die `Freie
Assoziation'. Damit schlug die Geburtsstunde der Psychoanalyse. ,,Breuer konnte nur äußere
Symptome - wie Angst, Husten, Lähmungen - bekämpfen, Freud gelangte mit seiner
Methode an die dahinterliegende Störung, an die Wurzel des Leidens, heran" (Markus, 1996,
S. 105ff.). Dennoch behaupten bissige Zungen, ,,die Psychoanalyse sei weder von Sigmund
Freud noch von Breuer entwickelt worden, sondern von Anna O." (Sachsse, 1998, S. 2ff.).
Was Freud während der freien Assoziation von seinen Patienten vernahm, deckte sich mit
Berichten und Erfahrungen Charcot's und auch Janet's. Freud war überzeugt, dass die
Wurzeln der hysterischen Symptome in einer vorzeitigen sexuellen Erregung in Kindheit
und Jugend liegen. ,,Ich opferte unbedenklich meine beginnende Beliebtheit als Arzt und den
Zulauf der Nervösen in meine Sprechstunde, indem ich konsequent nach der sexuellen
Verursachung ihrer Neurosen forschte (...) Ich trat ahnungslos in der Wiener
Fachvereinigung, damals unter dem Vorsitze von v. Krafft-Ebing, als Redner auf (...) Erst
die Stille, die sich nach meinen Vorträgen erhob, die Leere, die sich um meine Person
bildete, die Andeutungen, die mir zugetragen wurden, ließen mich allmählich begreifen, dass
Behauptungen über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen nicht darauf

Historischer Rückblick
16
rechnen könnten, so behandelt zu werden wie andere Mitteilungen. Ich verstand, daß ich von
jetzt ab zu denen gehörte, die `am Schlaf der Welt gerührt haben', nach Hebbels Ausdruck,
und daß ich auf Objektivität und Nachsicht nicht zählen durfte" (Freud & Simon, 1988, S.
24f.). Und tatsächlich wurde ,,Freuds Vortrag weder zitiert noch diskutiert; er musste
feststellen, dass er keine Überweisungen mehr bekam, dass er ausgegrenzt wurde und dass
man mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte" (Sachsse, 1998, S. 3). Etwas später
relativierte Freud seine Auffassung - die Folge war, dass zwischen 1895 und ca. 1970/ 80
Kindesmissbrauch, sexueller Missbrauch und Trauma als Themen der Wissenschaft
begraben wurden. Dennoch verdanken wir Freud den Einblick in die kindliche
Sexualentwicklung, wobei er insbesondere ,,die Rolle kindlicher Triebwünsche und
Phantasiebildungen bei der Entstehung neurotischer Störungen" herausarbeitete (Fischer &
Riedesser, 1998, S. 33). Freud schreibt selbst in einem Brief an Marie Bonaparte am 10. Mai
1926 ,,Gesamteindruck: die Welt hat einen gewissen Respekt vor meiner Arbeit bekommen.
Angenommen ist die Analyse, aber bisher nur von den Analytikern" (Freud, 1960, S. 365).
Auch in der Bundesrepublik begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem
Trauma nicht durch die Psychologie oder Psychoanalyse, sondern durch die
Gerichtsmedizin. Elisabeth Trube-Becker soll an dieser Stelle als eine der Forscherinnen
stehen, die sich in vielen Publikationen mit sexueller Gewalt und der Tötung von Kindern
auseinander setzte. ,,Zu dem Thema Kindesmisshandlung aus rechtsmedizinischer Sicht sind
viele Arbeiten entstanden, Vorlesungen und Vorträge vor Fachleuten und Laien gehalten
worden. Erschüttert versprachen die Zuhörer, alles zur Verhinderung solcher tragischen
Abläufe zu tun. Nach Verlassen des Vortragssaals waren die guten Vorsätze meistens
vergessen" (Trube-Becker, 2000, S. 109 ff.). Angemerkt sei, dass erst kürzlich eine Studie
zur Kinderprostitution an der deutsch-tschechischen Grenze durch UNICEF und die
Kinderrechtsorganisation ECPAT
veröffentlicht wurde, die erstmals ein umfangreiches Bild
der sexuellen Ausbeutung von Kindern in dieser Region skizziert (UNICEF, 2003).
1.2.2. Eisenbahn und Weltkriege
Ein zweiter wesentlicher Teil bei der Auseinandersetzung mit dem psychischen Trauma ist
den Weltkriegen und der Zeit der Industrialisierung gewidmet, die insbesondere mit einem
erhöhten Unfallgeschehen infolge der Entwicklung der Eisenbahn einherging. Häufig war
von Verunfallten zu hören, die nach einem Eisenbahnunglück nicht mehr aufhören konnten,
an das Geschehene zu denken und zudem ständig zu zittern anfingen. Erste Erklärungen

Historischer Rückblick
17
dafür waren somatischer Art - ein Vertreter dieser Richtung war der Londoner Chirurg John
Eric Erichsen. ,,Erichsen formulierte die Überlegung, dass die Erschütterungen z.B. bei
einem Eisenbahnunfall zu Irritationen in der Wirbelsäule führten, und diese
`Eisenbahnwirbelsäule' dafür verantwortlich sei, dass es später zu Zittern,
Konzentrationsstörungen und schnellem Herzschlag komme" (Sachsse, 1998, S. 4). Eine
weitere Gruppe sah nicht die Irritation der Wirbelsäule als das Wesentliche, sondern das
durch den Unfall in Mitleidenschaft gezogene Gehirn. Man sprach vom `railway brain' -
dem ,,Eisenbahngehirn." Ein Vertreter dieser Gruppe war der deutsche Neurologe Hermann
Oppenheim, welcher der Ansicht war, dass die Entwicklung seelischer Symptome infolge
eines Unfalls, auf eine mikrostrukturelle Schädigung des Gehirns zurückzuführen sei.
Diesbezüglich prägte Oppenheim den Begriff der `traumatischen Neurose', welcher in der
Diskussion um die Entschädigungsansprüche der so genannten Kriegszitterer des Ersten
Weltkrieges Relevanz zeigte. Eine dritte Gruppe wiederum verfolgte schlicht die These, dass
alle Verunglückten einfach nur Simulanten und Versicherungsbetrüger wären (Langkafel,
2000; Sachsse, 1998). ,,Diese drei Hypothesen: Somatogenese, Psychogenese, Simulation
und Versicherungsbetrug durchziehen die gesamte Diskussion bis in die Gegenwart und
werden sich wahrscheinlich erst auflösen, wenn man tatsächlich mit den
Gehirnuntersuchungen und mit den Untersuchungen der Posttraumatischen
Belastungsstörungen, die gegenwärtig im Gange sind, weitergekommen ist" (Sachsse, 1998,
S. 4). Eine in Kriegszeiten nur sehr selten beobachtete Symptomatik trat ab 1916 im Ersten
Weltkrieg auf - die `Kriegszitterer'. Es wurden Stimmen laut, die diese Soldaten als
Simulanten beschimpften. Aus diesem Grunde wurden Elektroschocks und
Kaltwasseranwendungen als ganz spezielle Behandlung eingesetzt. Die Soldaten kehrten in
den Einsatz zurück, nach kurzer Zeit an der Front begann erneut das Zittern. ,,Heute weiß
man ziemlich sicher, dass eine bestimmte Art der Kriegsführung dieses Symptom
hervorgerufen hat (...) nämlich der Schützengrabenkrieg. Die Soldaten waren völlig hilflos in
ihren Schützengräben, und es war eine absolut statistische Willkür, ob sie überlebten oder
nicht" (Sachsse, 1998, S. 5). Soldaten aller Nationen stellten alsbald Versicherungsansprüche
- Geld, dass in der Weltwirtschaftskrise nicht vorhanden war. Laut Sachsse (1998)
verabschiedete das Reichsversicherungsamt daher einen Beschluss, der besagte, dass sobald
jemand eine Rente beantragt, einen sekundären Krankheitsgewinn davonträgt, der wiederum
die Ursachen der Störung stabilisiert und daher den Rentenanspruch ausschließe. ,,Das ist ein
hervorragender, geradezu klassischer Double bind, aus dem es ja kein Entrinnen gibt"
(ebenda, S. 5). Der amerikanische Psychiater Abram Kadiner prägte, aufgrund der

Historischer Rückblick
18
Erfahrungen aus seiner psychotherapeutischen Arbeit mit traumatisierten amerikanischen
Soldaten, den Begriff der `Physioneurose' und er ,,formulierte ein Syndrom von
Folgeerscheinungen, das in vielem bereits als Vorläufer des heutigen psychotraumatischen
Belastungssyndroms (bPTBS) gelten kann" (Fischer & Riedesser, 1998, S. 37). Die
schlimmen psychosomatischen Folgen des Zweiten Weltkrieges wurden zumindest im
angloamerikanischen Raum im DSM-I unter der Diagnose einer `Schweren
Belastungsreaktion' kategorisiert, allerdings ohne die chronischen Störungsverläufe. Die
Bundesrepublik Deutschland verabschiedete 1956, im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit
dem Holocaust und auf den Druck der Alliierten, das Entschädigungsgesetz, dass allen
Opfern von nationalsozialistischer Verfolgung, die gesundheitliche Schädigungen
davontrugen, den Anspruch einer Erwerbsminderungsrente (EU-Rente) gewähren sollte. Um
diese Rente auszahlen zu können, mussten Gutachten erstellt werden. In diesen wurde jedoch
davon ausgegangen, dass jeder der infolge einer Traumatisierung auch nach einem halben
Jahr immer noch Störungen aufzeigte, bereits von vornherein konstitutionell belastet
gewesen sei und damit andere Faktoren für das eigentliche Trauma verantwortlich zu
machen sind. Aus diesem Grunde sei die Auszahlung einer Rente hinfällig (Sachsse, 1998;
Langkafel, 2000). Eissler (1963, S. 255ff.) greift diesen Irrsinn anhand eines seiner Patienten
auf und verurteilt diesbezüglich scharf die bestehende Gesetzgebung ,,Können das Gericht
und seine Psychiater den Schluß gezogen haben, daß die Traumen, die B. ertragen musste,
nicht das Maximum dessen überstiegen haben, was zu ertragen eben ein
Durchschnittsmensch üblicherweise die Fähigkeit besitzen soll? Wegen dieser Möglichkeit
ist es berechtigt, die eingangs gestellte Frage aufzuwerfen, die Ermordung von wieviel
Kindern kann die normale Konstitution symptomfrei ertragen? (...) Die Argumentation der
Richter und der Vertrauensärzte gerät von da an in unentwirrbare Widersprüche." Spätere
Forschungen ließen jedoch mehr und mehr erkennen, dass es Extremtraumatisierungen gibt,
unter denen fast jeder zusammenbrechen muss. Unterstützt wurden diese Resultate durch die
Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki sowie den Opfern der Konzentrationslager des
Nazi-Deutschlands (Sachsse, 1998). Ein weiteres Ereignis trug zur Entwicklung der
Psychotraumatologie bei - der Vietnam-Krieg. Bis zu einer Million Vietnam-Veteranen in
den USA litten an Posttraumatischen Störungen und auch ihnen wurde eine vorausgehende
psychische Labilität unterstellt. Die Veteranen wehrten sich jedoch gegen diese Vorwürfe
und es konnte somit die Erforschung der Posttraumatischen Belastungsstörung auf einer
weitaus breiteren Basis beginnen (Fischer & Riedesser, 1998; Sachsse 1998; Langkafel,
2000). Die im DSM-I eingeführte Kategorie der schweren Belastungsreaktion fand zwar

Historischer Rückblick
19
international Anerkennung, dennoch wurde sie als vorübergehende sowie von der Situation
abhängige Störung in das DSM-II eingeführt (Saigh, 1995). Der Aspekt der Chronizität blieb
unberücksichtigt. Henry Krystal ist als erster Psychoanalytiker zu nennen, der zwischen
Extremtraumatisierung und leichteren Formen des Traumas unterschied und ähnlich wie
Elisabeth Trube-Becker darauf verwies, dass die meiste Gewalt innerhalb der Familie zu
suchen sei. Vorerst zeigte jedoch diese Erkenntnis keinen Widerhall. In den 70er und 80er
Jahren erhob sich jedoch eine Diskussion, welche die Gewalt gegen Frauen zum Thema
machte. Begriffe wie `Battered-Child-Syndrom' und `Broken-Home-Situation' entwickelten
sich. ,,Aber erst 1974 beschrieben Ann Burgess und Linda Holstrom die Folgen von
Vergewaltigung (`rape trauma syndrom'), erst 1978 begann mit Kempe und Kempe die
Untersuchung von Gewalt an Kindern (`battered child syndrom') und von familiärer Gewalt"
(Langkafel, 2000, S. 9). Der Kreis schließt sich: Man beginnt sich erneut an die schon längst
verblassten Ergebnisse von Charcot, Janet und Freud zu erinnern. 1980 kommt es zur
Kategorisierung der Posttraumatischen Belastungsstörung im DSM-III (1984). Unbeachtet
blieb jedoch die Differenzierung von Störungsbildern bei unterschiedlichen Stressoren
(Vergewaltigung/ Naturkatastrophe). Seit der Klassifikation der Posttraumatischen
Belastungsstörung im DSM-III spielt die von Charcot und Janet entdeckte Abspaltung der
traumatischen Erfahrung eine relevante Rolle (Langkafel, 2000). Es ist eine ,,Entwicklung,
die noch völlig offen ist, die aber mit jenen originellen und genialen Beobachtungen und
Überlegungen aus dem Jahre 1895 begonnen hat" (Mentzos, 1991, S. 20).
1.2.3. Die Stressforschung und Hans Selye
Ein weiterer Baustein, der zur Auseinandersetzung mit dem Trauma und schließlich zur
Weiterentwicklung der Psychotraumatologie führte, zeigte sich in der Stressforschung. Als
Pionier dieser Forschungsrichtung galt der Internist und Biochemiker Hans Selye (1907-
1982). Selye machte in Versuchen die Entdeckung, dass Tiere auf bestimmte Substanzen und
Hormone mit körperlichen Veränderungen reagierten (Selye, 1991). Im Jahre 1936
publizierte er erstmals sein Modell der Stressreaktion. Er unterteilte Stressoren in Eu- und
Distress (
3.1.). ,,Faszinierend ist die Beobachtung, dass Forschungsrichtungen mit
zunächst völlig unterschiedlichem Ausgangspunkt und unterschiedlichen Begriffssystemen
sich zunehmend auf die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt zu
konzentrieren beginnen, sobald sie sich mit Phänomenen der Traumatisierung befassen"
(Fischer & Riedesser, 1998, S. 40).

Psychotraumatologie
20
2. Psychotraumatologie
,,Kannst nichts ersinnen für ein krank Gemüt? Tief wurzelnd Leid aus dem Gedächtnis
reuten? Die Qualen löschen, die ins Hirn geschrieben? Und mit Vergessens süßem
Gegengift die Brust entled'gen jener gift'gen Last, die schwer das Herz bedrückt?"
William Shakespeare, ,,Macbeth"
Das Kapitel der Psychotraumatologie führt ein in die Thematik des psychischen Traumas,
greift spezifisch die Posttraumatische Belastungsstörung heraus, gibt Auskunft über deren
Klassifikationskriterien, Diagnostik, Differenzialdiagnostik, ätiologische Konzepte sowie
Behandlungsmöglichkeiten und lässt dabei auch den Aspekt der Risiko- und
Protektivfaktoren, die das psychische Trauma beeinflussen können, nicht außer Acht.
2.1. Definition des psychischen Traumas
Das Wort `Trauma' stammt aus dem Griechischen und bedeutet schlicht Verletzung.
Doch
physisches und psychisches Trauma sind zu unterscheiden. Knochen brechen, Muskelfasern,
Bänder und Sehnen reißen, wenn unser Körper zu starken mechanischen Belastungen
ausgesetzt wird. Muss unsere Psyche jedoch Situationen aushalten, die für einen Menschen
bisher unvorstellbar waren, wie beispielsweise eine Geiselnahme, der plötzliche Tod eines
geliebten Menschen oder eine Vergewaltigung, denen dieser Mensch zudem völlig allein und
hilflos ausgeliefert ist, dann potenziert sich förmlich der Stress dieses Erlebnisses und dringt
unaufhörlich in unsere Seele ein. In Sekunden stürzt alles auf uns ein und unsere Psyche ist
überfordert mit dem Unfassbaren, dem Entsetzen, der unvorstellbaren Angst, den
schrecklichen Bildern und Gerüchen und auch damit, die eigene Handlungsunfähigkeit und
Hilflosigkeit zu erleben.
Solche Erlebnisse werden als traumatische Situation bezeichnet. Sie
erschüttern die Seele eines Menschen zutiefst. Aus schamanistischer Sicht beschreibt
Uccusic (2000) sehr treffend diese Verletzung der Seele: ,,Der Mechanismus des
Seelenverlustes ist als Automatismus des Unbewussten zu denken, als Schutzreflex im
Augenblick der Gefahr, des Schocks. Ein Teil der Persönlichkeit möchte das Entsetzliche,
das Grauenhafte, unzerstört überdauern - deswegen verlässt es den Menschen und geht
`irgendwohin'" (ebenda, S. 157). ,,Ein Teil von uns läuft sozusagen davon, um den Schock
heil zu überstehen. Meist kehren diese geflüchteten Teile von allein zurück, manchmal

Psychotraumatologie
21
jedoch nicht. Dann fühlen wir uns unvollständig und irgendwie vom Leben abgeschnitten"
(Uccusic, 2002, S. 3). Freud (1991, S. 29f.) skizziert das psychische Trauma aus seiner
Sicht: ,,Als solches kann jedes Erlebnis wirken, welches die peinlichen Affekte des
Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft, und es hängt
begreiflicherweise von der Empfindlichkeit des betroffenen Menschen (...) ab, ob das
Erlebnis als Trauma zur Geltung kommt." Laut DSM-IV-TR (2003, S. 515) wird eine
traumatische Situation wie folgt definiert:
Definition eines psychischen Traumas nach DSM-IV-TR (2003)
,,Das traumatische Ereignis beinhaltet das direkte persönliche Erleben einer Situation, die
mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen
Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat oder die Beobachtung eines
Ereignisses, das mit dem Tod, der Verletzung oder der Bedrohung der körperlichen
Unversehrtheit einer anderen Person zu tun hat oder das Miterleben eines unerwarteten oder
gewaltsamen Todes, schweren Leids, oder Androhung des Todes oder einer Verletzung eines
Familienmitgliedes oder einer nahestehenden Person."
Im Vergleich zu den vorherigen Veröffentlichungen des DSM beschreibt das DSM-IV einen
sehr wesentlichen und neuen Aspekt. Es wird hierbei die Möglichkeit eingeschlossen, dass
neben den unmittelbaren Opfern auch mittelbar Betroffene (z.B. Beobachter) ein Trauma
erleiden können. Einsatzkräfte der Polizei, der Feuerwehr, des Rettungsdienstes, des
Katastrophenschutzes sowie Augenzeugen und Familienmitglieder der Opfer gelten als
Beispiele. Eine wohl derzeit am treffendsten formulierte Definition des psychischen
Traumas stammt von den Autoren Fischer und Riedesser (1998, S. 79):
Definition des psychischen Traumas nach Fischer und Riedesser (1998)
,,(Ein psychisches Trauma ist ein) ... vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen
Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von
Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von
Selbst- und Weltverständnis bewirkt."

Psychotraumatologie
22
2.2. Einteilung psychischer Traumen
Traumatische Situationen können jedoch sehr unterschiedlich sein und müssen hinsichtlich
ihres Schweregrades, ihrer Häufigkeit, ihrer Dauer der Einwirkung, ihrer Faktoren der
Verursachung, der Beziehung zwischen Opfer und Täter und auch der mittel- oder
unmittelbaren Betroffenheit des Opfers unterschieden werden. Im Folgenden sollen einige
dieser Aspekte näher untersucht werden.
2.2.1. Klassifizierung nach der Schwere der Belastung
Fischer und Riedesser (1998, S. 123) stellen in Anlehnung an das DSM-III-R (1989) die
Schwere von psychosozialen Belastungsfaktoren bei Erwachsenen dar, die hier in
abgewandelter Form wiedergegeben werden soll.
Tabelle 2.1.: Schwere psychosozialer Belastungsfaktoren bei Erwachsenen
Begriff Akute Ereignisse Länger andauernde Lebensumstände
(Dauer < 6 Monate) (Dauer > 6 Monate)
Leicht - Auseinanderbrechen - Familiäre Streitigkeiten
von Freundschaften - beengte Wohnsituation
- Kind verlässt Elternhaus
Mittel - Heirat - Eheprobleme
- Trennung der Ehepartner - finanzielle Probleme
- Arbeitsplatzverlust, Pensionierung - Ärger mit dem Vorgesetzten
- Fehlgeburt - Alleinerziehender Elternteil
Schwer - Scheidung - Arbeitslosigkeit
- Geburt des ersten Kindes - Armut
Sehr schwer - Tod des Ehepartners - schwere chronische Erkrankung
(extrem) - Opfer einer Vergewaltigung - dauernde körperliche Misshandlung
oder sexueller Missbrauch
Katastrophal - Tod eines Kindes - Gefangennahme als Geisel
- Selbstmord eines Ehepartners - Erfahrungen im KZ
- Verheerende Naturkatastrophe

Psychotraumatologie
23
2.2.2. Klassifikation nach der Verursachung
Maercker (2003) schlägt zudem eine Einteilung des psychischen Traumas nach der Art und
Weise der Verursachung sowie nach der Dauer der Einwirkung vor. Eine wesentliche Rolle
spielt dabei, ob die Person unmittelbar oder mittelbar von einem traumatischen Ereignis
betroffen wurde. Maercker (ebenda, S. 5) unterscheidet hier Folgendes:
Menschlich verursachte Traumen (engl. ,,man made disasters")
· Sexuelle und körperliche Misshandlungen in der Kindheit,
· kriminelle und familiäre Gewalt,
· Vergewaltigungen,
· Kriegserlebnisse,
· zivile Gewalterlebnisse (z.B. Geiselnahme),
· Folter und politische Inhaftierung,
· Massenvernichtung (KZ-Vernichtungslagerhaft),
Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumen
· Naturkatastrophen,
· technische Katastrophen (z.B. Giftgaskatastrophen),
· berufsbedingte (z.B. Militär, Polizei, Feuerwehr),
· Arbeitsunfälle (z.B. Grubenunglück),
· Verkehrsunfälle,
Diskutiert wird zudem, ob schwere Lebensereignisse wie Krebs, Aids oder ein Suizid in der
Familienanamnese, zukünftig als Traumen im Sinne der Definition einer PTSD behandelt
werden sollen (Maercker, 2003).

Psychotraumatologie
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2.2.3. Klassifikation nach der Dauer der Einwirkung
Unterschieden werden muss, ob es sich um ein einmalig überwältigendes oder ein
mehrfaches, länger andauerndes Ereignis handelt, dass simultan oder sukzessive auf das
Individuum einwirkt. Dazu zählen nach Maercker (ebenda, S. 5):
Kurzdauernde traumatische Ereignisse (Typ-I-Traumen)
· Naturkatastrophen,
· Unfälle,
· technische Katastrophen,
· kriminelle Gewalttaten wie Überfälle, Schusswechsel,
Typ-I-Traumen gehen häufig mit Überraschungseffekten und akuter Lebensgefahr einher.
Längerdauernde, wiederholte Traumen (Typ-II-Traumen)
· Geiselhaft,
· mehrfache Folter,
· Kriegsgefangenschaft,
· KZ-Haft,
· wiederholte sexuelle oder körperliche Gewalt in Form von Kindesmissbrauch,
Kindesmisshandlung sowie wiederholten Vergewaltigungen
Typ-II-Traumen sind durch eine Reihe aufeinanderfolgender Mikrotraumen gekennzeichnet
und führen zu starken sowie chronisch psychischen Folgen (Maercker, 2003). Wie sich eine
Belastungssituation auf den Betroffenen auswirkt, hängt jedoch insbesondere vom Verhältnis
zwischen Opfer und Täter ab. "Eine traumatische Situation wird für die Betroffenen
komplexer, wenn der Täter zugleich eine enge Beziehungsperson, ein Vertrauter des Opfers
ist. (...) Die Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses ist in diesem Falle äußerst
nachhaltig, da das Urvertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen generell
erschüttert werden kann" (Fischer & Riedesser, 1998, S. 125) .

Psychotraumatologie
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2.3. Klinische Subtypen
Insgesamt sind vier wesentliche Störungsbilder bekannt. Allen Störungen gemein ist, dass
sie sich gravierend auf die affektive Situation, die Leistungsfähigkeit der betroffenen Person
und auf seine soziale Beziehungsfähigkeit auswirken.
Klinische Subtypen
· Akute Belastungsreaktion
· Anpassungsstörung
· andauernden Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastung
· die Posttraumatische Belastungsstörung sowie
· andere Reaktionsformen
2.4. Die Posttraumatische Belastungsstörung (Posttraumatic Stress Disorder = PTSD)
Im Jahre 1980 wurde die Posttraumatische Belastungsstörung von der American Psychiatric
Association als anerkannte psychische Störung in das Klassifikationssystem DSM-III
aufgenommen (
1.2.2.). Unter dem Begriff der PTSD werden verschiedene Symptome zu
einem Syndrom zusammengefasst, das häufig bei Menschen auftritt, die extremen
psychischen Belastungen mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt waren wie es z.B.
Vergewaltigungen, Kriege, das Moskauer Geiseldrama, der Amoklauf von Erfurt, die
Hochwasserkatastrophe in Deutschland oder die massiven Terroranschläge auf die USA,
Bali und Madrid verkörpern. Ereignisse also, die bei jedem Menschen Verwirrung und
Verstörung provozieren. Um eine korrekte Diagnose stellen zu können, ist zu überprüfen, ob
das Auftreten späterer langfristiger Symptome beobachtet werden kann. Zu diesen
Symptomen zählen das Wiedererinnern (Flashbacks und Intrusionen), die Vermeidung
alltäglicher Situationen und die vegetative Übererregung (Hyperarousal) - ein typischer
Symptomtrias, der bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung auftritt. In folgenden
Abschnitten soll daher das Augenmerk auf Diagnostik, Epidemiologie, Komorbidität,
Risiko- und Protektivfaktoren sowie auf Erklärungs- und Behandlungsansätze der PTSD
gelegt werden. Ein spezifischer Bereich der PTSD - der des ,,Post-shooting-syndroms" -
wird noch einmal im Kapitel 4.4. ausführlich dargelegt.

Psychotraumatologie
26
2.4.1. Klassifikationskriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung
Für die Diagnostik einer PTSD stehen in der Praxis die aktuellen Klassifikationssysteme
DSM-IV (APA) sowie das ICD-10 (WHO) zur Verfügung.
Einordnung der PTSD im DSM-IV
300 Angststörungen
309.81 Posttraumatische Belastungsstörung
Einordnung der PTSD im ICD-10
F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
F43 Reaktion auf schwere Belastung und Anpassungsstörungen
F43.1 Posttraumatische Belastungsstörungen
Laut ,,DSM-IV - Diagnostische Kriterien" (Saß et al., 1998, S. 189ff.) lassen sich folgende
Leitlinien für die Diagnose einer PTSD finden (Kinder betreffende Zusätze entfallen):
Kriterien der PTSD nach DSM-IV
Kriterium A: Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei
dem die folgenden Kriterien vorhanden waren:
(1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen
konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine
Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderen Personen
beinhalten.
(2) Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
Kriterium B: Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der
folgenden Weisen wiedererlebt:
(1) wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder,
Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können,
(2) wiederkehrende belastende Träume von dem Ereignis,
(3) Handeln oder Fühlen, ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl,
das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-
Episoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen
auftreten),
(4) intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen
Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an
Aspekte desselben erinnern,

Psychotraumatologie
27
(5) körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen
Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an
Aspekte desselben erinnern.
Kriterium C: Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden
sind, oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht
vorhanden). Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:
(1) bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma
in Verbindung stehen,
(2) bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das
Trauma wachrufen,
(3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern,
(4) deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten,
(5) Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen,
(6) eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu
empfinden),
(7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder
normal langes Leben zu haben).
Kriterium D: Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht
vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:
(1) Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen,
(2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten,
(4) übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz),
(5) übertriebene Schreckreaktion.
Kriterium E: Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger
als einen Monat an.
Kriterium F: Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen o. anderen wichtigen Funktionsbereichen.
Bestimme ob:
Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.
Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern.
Bestimme ob:
Mit verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem
Belastungsfaktor liegt.
Abbildung 2.1.: Diagnostische Kriterien der PTSD nach DSM-IV (1998)
Gemäß des ,,ICD-10 - Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis" (Dilling et al.,
2000, S. 121) gelten unter F43.1 folgende diagnostische Leitlinien zur Klassifizierung einer
Posttraumatischen Belastungsstörung:

Psychotraumatologie
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Kriterien einer PTSD nach ICD-10
Kriterium A:
Die Betroffenen waren einem kurz- oder lang haltenden Ereignis oder Geschehen von
außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei
jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.
Kriterium B:
Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche
Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume
oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in
Zusammenhang stehen.
Kriterium C:
Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden
tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden
Erlebnis.
Kriterium D:
Entweder 1. oder 2.
1. Teilweise/vollständige Unfähigkeit, sich an wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern.
2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht
vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:
a. Ein- und Durchschlafstörungen
b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche
c. Konzentrationsschwierigkeiten
d. Hypervigilanz
e. Erhöhte Schreckhaftigkeit
Kriterium E:
Die Kriterien B, C, und D treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis
oder nach Ende einer Belastungsperiode auf.
Abbildung 2.2: Diagnostische Kriterien der PTSD nach ICD-10 (2000)
2.4.2. Differenzialdiagnostik und Komorbidität
Oft können andere psychische Erkrankungen mit Symptomen einhergehen, die der
Symptomatik der PTSD täuschend ähnlich sind. Nach DSM-IV-TR (2003, S. 519) und dem
Handbuch der Differenzialdiagnosen, DSM-IV (Saß, 1999, S. 135f.) sind folgende
Erkrankungen abzugrenzen:

Psychotraumatologie
29
Differenzialdiagnostik
· Akute Belastungsstörungen
· Anpassungsstörungen
· Zwangsstörungen
· Schizophrenie
· andere Psychotische Störungen
· Affektive Störungen mit psychotischen Merkmalen
· Delir
· Substanzinduzierte Störungen und
· Psychotische Störungen auf Grund eines medizinischen Krankheitsfaktors
Es gibt zudem weitere Störungsbilder, die bei einer PTSD vorliegen und mit dem Trauma in
Verbindung stehen können (Mehrfacherkrankung). Kessler et al. (1995, p. 1055) konnten bei
88 % aller Männer und 79 % aller Frauen mit einer PTSD eine komorbide andere psychische
Störung in der Lebensgeschichte erheben. Höchste Komorbiditätsraten wurden vor allem bei
Affektiven- als auch bei Angststörungen postuliert.
Komorbide Störungen bei PTSD (Maercker, 2003, S. 16)
· Angststörungen,
· Depressionen,
· Suizidalität,
· Medikamenten-, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder -sucht,
· Somatisierungsstörungen,
· Herz-Kreislauf-Erkrankungen
2.4.3. Epidemiologie
Die Mehrheit der Allgemeinbevölkerung (60 bis 89 %) erlebt in ihrem Leben mindestens ein
traumatisches Ereignis. Das häufigste Trauma (60 %) dabei ist der plötzliche Tod eines
nahestehenden Menschen (Teegen, 2003). In einem Drittel der Fälle führt dieses zur
Ausbildung einer PTSD (Davison, Neale und Hautzinger, 2002). Kessler, Sonnega, Bromet,
Hughes und Nelson (1995) ermittelten anhand einer repräsentativen Studie (National

Psychotraumatologie
30
Comorbidity Survey, n = 5877, im Alter von 15 bis 54 Jahren) in der US-amerikanischen
Allgemeinbevölkerung eine Lebenszeitprävalenz für die PTSD von 7,8 %. Die Häufigkeit
des Auftretens in der Bevölkerung hängt jedoch davon ab, inwiefern und wie oft überhaupt
Situationen auftreten, die außerhalb des menschlichen Ermessens liegen. Das Auftreten der
PTSD ist zudem von regionalen (Erdbeben- oder Überschwemmungsgebiete) abhängig
sowie von politischen Faktoren (Kriege) wie auch von der Art und Schwere der
traumatischen Erfahrung (
2.2. Einteilung Traumen). Für die PTSD gibt es aus diesen
Gründen derzeit noch keine ausreichend sicheren Angaben im Hinblick auf die Häufigkeit
ihres Auftretens und des Lebenszeitrisikos. Ebenso wenig lassen sich die Resultate der
amerikanischen Studie 1:1 auf Deutschland übertragen. Tabelle 2.2. stellt die Häufigkeiten
verschiedener Traumen und der sich daraus entwickelnden Posttraumatischen
Belastungsstörung am Beispiel von Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren dar (Maercker,
2003, S. 16)
Tabelle 2.2: Häufigkeiten verschiedener Traumen und PTSD
(Dresden, Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahre)
Art
Traumahäufigkeit (%)
Störungshäufigkeit
(Lebenszeitprävalenz)
nach Trauma (%)
Vergewaltigung
1,5
51,7
Körperliche Gewalt
4,2
15,6
Kriegserlebnisse
-
-
Schwere Unfälle
7,9
2,5
Zeuge (von Unfällen, Gewalt) 3,3
3,8
Katastrophen
0,6
12,5
Sexueller Missbrauch/Kindheit 1,8
27,3
andere Traumen
3,0
16,4
Laut DSM-IV-TR (2003, S. 518) sind ,,über die Prävalenz der Gesamtbevölkerung in
anderen Staaten zur Zeit keine Informationen verfügbar. Studien an Risikopopulationen (...)
erbrachten unterschiedliche Ergebnisse, mit höchsten Raten (...) bei Überlebenden von
Vergewaltigungen, Militäreinsätzen und Gefangenschaft sowie bei ethnisch oder politisch
begründeter Internierung und Genozid."

Psychotraumatologie
31
Zusammenfassend wird deutlich, dass sich als pathogenste Traumen a) das Erleben sexueller
Gewalt (Männer wie Frauen), b) Kriegsteilnahme und Kampfeinsätze (Männer) und c)
Misshandlungen sowie sexueller Missbrauch in der Kindheit (Männer wie Frauen) benennen
lassen (Maercker, 2003; Kessler et al., 1995) und diese auch genau die Ereignisse darstellten,
die am häufigsten eine Auslösung der PTSD nach sich zogen (vgl. Tabellen 2.2/ 2.3.).
Tabelle 2.3.: Häufigkeiten verschiedener Traumen und PTSD
(Frauen und Männer gemittelt)
Art
Traumahäufigkeit (%)
Störungshäufigkeit
(Lebenszeitprävalenz)
nach Trauma (%)
Vergewaltigung
5,5
55,5
Sexuelle Belästigung
7,5
19,3
Krieg/Kampf
3,2
38,8
Waffengewaltandrohung
12,9
17,2
Körperliche Gewalt
9,0
11,5
Unfälle
19,4
7,6
Zeugen (Unfälle, Gewalt)
25,0
7,0
Feuer, Naturkatastrophe
17,1
4,5
Misshandlung in der Kindheit 4,0
35,4
Vernachlässigung in Kindheit 2,7
21,8
Andere lebensbedrohliche Sit. 11,9
7,4
Andere Traumen
2,5
23,5
Irgendein Trauma
60,0
14,2
Konkret 65 % der Männer und 46 % der Frauen entwickelten nach dem Erleben sexueller
Gewalt eine PTSD (Kessler et al., 1995, p. 1053). ,, ... it has been 3 years, and my self-
confidence is still shattered. I find it unacceptable in me that an event of ten minutes could so
interfere with my entire life" - ein Vergewaltigungsopfer, 48 Jahre (Hazelwood & Burgess,
2001, p. 33). Im Gegensatz hierzu liegt die Ausbildung einer PTSD durch Naturkatastrophen
oder Unfälle bei unter zehn Prozent (Kessler et al., 1995). Angaben über
Geschlechtsunterschiede sind bisher als nicht gesichert anzusehen (Laux et al., 1996).
Dennoch verweisen die Ergebnisse von Kessler et al. (1995, p. 1052) darauf, dass Männer
zwar häufiger ein traumatisches Ereignis als Frauen (60,7 % vs. 51,2 %) erleben, letztere
jedoch doppelt so häufig eine PTSD ausbilden. Auch die Lebenszeitprävalenz, um an einer
PTSD zu erkranken, zeigt sich im Hinblick auf die Geschlechterverteilung bei Frauen mit
10,4 % (Hermanutz,
[2001] spricht von etwa 13 %) als inetwa doppelt so hoch, im Vergleich
zu den Männer mit 5 %. Diese Ergebnisse werden vor allem damit erklärt, dass Frauen von

Psychotraumatologie
32
vornherein ein größeres Angriffsfeld für sexuell gezielte Überfälle bieten. Studien zeigen
(Hautzinger et al., 2002), dass durch eine schwere Traumatisierung (Bedrohung mit dem
Tode während einer Vergewaltigung), in Folge auch eine stärkere PTSD-Symptomatik
auftritt. Eine weitere Rolle spielt das erhöhte Risiko von Frauen, an Angst- und Affektiven
Störungen zu erkranken (Butollo et al., 1998). Bezüglich der Verlaufscharakteristik konnte
bei ca.
1
/
3
der Patienten mit PTSD-Symptomatik eine Spontanremission in den ersten zwölf
Monaten nach Störungsbeginn beobachtet werden (Ehlert, 1999). Bei fast der Hälfte der
Betroffenen dauerte ,,die Störung länger als ein Jahr, bei einem Drittel der Patienten länger
als 10 Jahre" (ebenda, S. 5). Neben den Opfern von Gewalttaten gibt es jedoch auch
Angehörige der helfenden Berufsgruppen (Feuerwehr, Rettungswesen, Polizei, Journalisten),
die durch ihre Tätigkeit traumatischen Erlebnissen ausgesetzt sind und somit einer starken
Gefährdung unterliegen, eine PTSD auszubilden (
4. Traumatischer Stress bei der
Polizei). Wagner et al. (1999) konnten anhand einer epidemiologischen Studie zeigen, dass
bei 18,24 % der Einsatzkräfte der Berufsfeuerwehr allein in Rheinland-Pfalz eine PTSD
vorlag, d.h. ,,nahezu jeder fünfte Berufsfeuerwehrmann über PTBS-Symptome berichtet und
weitere 50 % charakteristische psychiatrische Auffälligkeiten zeigen" (ebenda, S. 35).
Tabelle 2.4.: Posttraumatische Belastungsstörungen bei Polizisten
Ort/Studie
Anzahl
PTSD
partielle PTSD
Hamburg
(Teegen et al., 1997)
155
5 %
15 %
Niederlande
(Carlier et al., 1997)
262
7 %
34 %
USA
(Robinson et al., 1997)
105
13 %
--
Teegen, Domnick und Heerdegen (1997) sowie Teegen (1999) stellten in ihren Studien über
berufsbedingte belastende Erlebnisse der Helferberufe fest, dass bei 5 % der Polizisten, 9 %
der Feuerwehrleute und 36 % der Rettungskräfte eine vollausgeprägte chronische PTSD
bestand (
Tabelle 2.4.). Letztere Ergebnisse werden mit dem intensiven Betreuungskontakt
dieser Helfergruppe zu Schwerverletzten erklärt. Das Risiko berufsbedingt mit einem
traumatischen Erlebnis konfrontiert zu werden, wurde bei genannten Helferberufen mit 100
% (!) eingestuft (Teegen et al., 1997). Tabelle 2.4. enthält zudem einen Überblick
unterschiedlicher Studien bezüglich der Ausbildung einer PTSD bei Polizeibeamten.

Psychotraumatologie
33
2.4.4. Diagnostische Verfahren
Im vorliegenden Abschnitt soll das Interesse auf die Verfahren der Diagnostik einer PTSD
gerichtet werden (
6.) Hierbei werden drei wesentliche Methodengruppen unterschieden:
Diagnostische Methodengruppen zur Erfassung einer PTSD
· Strukturierte Interviews
· Psychometrische Verfahren
· Psychophysiologische Messungen
Um alle Vorzüge dieser diagnostischen Methoden zu nutzen und Nachteile auszugleichen, ist
es notwendig multimethodal vorzugehen. Zusätzliche Verfahren zur sicheren und
umfassenden Diagnostik einer PTSD können in diesem Sinne sein:
Multimethodale Diagnostik
· Trierer Persönlichkeitsfragebogen nach Becker (TPF, 1989)
· WARTEGG-Zeichentest nach Wartegg (1968)
· Beschwerdenfragebogen nach Höck und Hess (BFB, 1981)
· Symptom-Checkliste von Derogatis nach Franke (SCL-90-R, 1995)
· Kurzfragebogen für Alkoholgefährdete nach Feuerlein et al. (KFA, 1989)
· Leipziger Ereignis- und Belastungsinventar nach Richter und Guthke (LEBI, 1996) oder
· Fragebogen zu dissoziativen Symptomen nach Freyberger et al. (FDS, 1999)
2.4.4.1. Strukturierte Interviews
Mittels eines gezielten strukturierten Leitfadens werden Informationen über alle
bedeutsamen PTSD-Symptomgruppen erhoben, wodurch die Verfahren der strukturierten
Interviews unentbehrlich im Hinblick auf eine zuverlässige Störungsklassifikation sind. Zur
Erhebung therapierelevanter Informationen tragen diese Verfahren wenig bei, jedoch
unterliegen sie nur in geringem Maße Antworttendenzen. Folgende Verfahren sind u.a. je
nach ihrer Praktikabilität einsetzbar (Schützwohl, 2003):

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783836641258
DOI
10.3239/9783836641258
Dateigröße
1.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Leipzig – Biowissenschaften, Pharmazie, Psychologie, Institut für Psychologie II
Erscheinungsdatum
2010 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
posttraumatische belastungsstörung polizei trauma stress schusswaffe
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Titel: Analyse belastender Einsatzsituationen im Berufsalltag der sächsischen Polizei hinsichtlich auftretender Posttraumatischer Belastungsreaktionen sowie Strategien der Stressbewältigung
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