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Euroskeptizismus in der Türkei

Die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Nationalistische Bewegungspartei (MHP) im Vergleich

©2009 Masterarbeit 113 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 11. Dezember 1999 wurde die Türkei als Beitrittskandidat anerkannt. Diese Anerkennung war ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Obwohl die Türkei mit der EU eine lange Geschichte bis hin zu der Unterzeichnung des Ankara-Vertrags im Jahr 1963 hat, hat sich der Einfluss der Europäisierung in der türkischen Politik erst nach dem Entscheid der EU in Helsinki gezeigt. Im Rahmen der Kopenhagener Kriterien begann ein tiefgreifender Wandel in der türkischen Politik und der Druck, die Türkei den EU-Normen anzupassen, verursachte eine Transformation im türkischen wirtschaftlichen und politischen Leben. Nach dem Entscheid auf dem Helsinki-Gipfel im Jahr 1999 stimmte die Türkei ihre Binnenmarkt- und Zollpolitik mit den EU-Regelungen ab und begann die politischen und rechtlichen Reformen für den EU-Beitritt zu verwirklichen. Ein nationales Programm für die Anpassung an den gemeinschaftlichen Besitzstand wurde von der türkischen Regierung im März 2001 lanciert. Dies war ein sehr breit gefächertes Programm zur Erfüllung der institutionellen, finanziellen und politischen Kriterien, und enthält 89 neue Gesetze und sah die Änderung der bestehenden 94 Gesetze vor, die in den ‘Harmonisierungspaketen’ erlassen worden waren. Im Dezember 2002 kündigte die EU an, dass die Entwicklung der Türkei zur Erfüllung der Kriterien bewertet und eine Richtung der Beitrittsgespräche im Dezember 2004 schriftlich festgelegt werden würde. Nachdem die EU-Kommission im Jahr 2004 entschied, dass die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien hinreichend erfüllt hatte, wurden die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei im Oktober 2005 eröffnet.
Die Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat auf dem Helsinki-Gipfel im Jahr 1999 hat im türkischen politischen System sowohl die Reformprozesse im Rahmen der Kopenhagener Kriterien beschleunigt, als auch euroskeptische Haltungen bei den politischen Akteuren entstehen lassen. Obwohl die türkischen Eliten behaupten, heute grundsätzlich eine pro-europäische Haltung zu haben, die nach dem Verständnis des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk als Verwestlichung verstanden werden könnte, verschleiert diese grundlegende pro-europäische Haltung nicht die Tatsache, dass die türkischen Eliten aus verschiedenen Gründen eine Skepsis gegenüber der Europäischen Union entwickelt haben. Infolgedessen kann festgestellt werden, dass der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Can Büyükbay
Euroskeptizismus in der Türkei
Die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Nationalistische Bewegungspartei (MHP)
im Vergleich
ISBN: 978-3-8366-4124-1
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Universität Bern, Bern, Schweiz, MA-Thesis / Master, 2009
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

1
INHALTSVERZEICHNIS
Verzeichnis der Tabellen und Anhänge
2
Abkürzungsverzeichnis
2
1. Einleitung
3
2. Theorie
6
2.1 Weicher und harter Euroskeptizismus
10
2.2 Euroskeptizismus nach Kopecky und Mudde
12
2.3 Die Klassifizierung des Euroskeptizismus nach Flood und Usherwood
15
2.4 Die Frage der Kausalität: Gründe des Euroskeptizismus
18
3. Methodisches Vorgehen
22
3.1 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
22
3.2 Differenz- und Konkordanzmethode
25
4. Türkei- EU-Beziehungen und die Geschichte der CHP und der MHP
27
4.1 Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei
27
4.2 Die Nationalistische Bewegungspartei (MHP)
29
4.3 Die Republikanische Volkspartei (CHP)
32
5. Analyse des Euroskeptizismus bei der MHP und der CHP (2004-2007)
35
5.1 Das Material und die Durchführung der qualitativen Inhaltsanalyse
36
5.2 Analyse des Parteiprogramms der MHP
42
5.3 Der Euroskeptizismus bei der MHP zwischen 2004 und 2007
43
5.3.1 Die Zypernfrage
46
5.3.2 Menschenrechte und Minderheiten
48
5.3.3 Minderheitsstiftungen, Religions- und Gebetsfreiheit
52
5.3.4 Armenien
54
5.3.5 Artikel 301
54
5.4 Auswertung und Kategorisierung des Euroskeptizismus bei der MHP
57
5.5 Analyse des Parteiprogramms der CHP
62
5.6 Der Euroskeptizismus bei der CHP zwischen 2004 und 2007
64
5.6.1 Die Zypernfrage
65
5.6.2 Menschenrechte und Minderheiten
68
5.6.3 Minderheitsstiftungen, Religions- und Gebetsfreiheit
70
5.6.4 Armenien
71
5.6.5 Artikel 301
72
5.6.6 Glaube an den doppelten Maßstab bei der EU
74
5.6.7 Vertrauensproblem mit der Regierungspartei AKP
82
5.7 Auswertung und Kategorisierung des Euroskeptizismus bei der CHP
83
6. Vergleich des Euroskeptizismus bei der MHP und CHP und Review der Hypothesen 88
6.1 Vergleich des Euroskeptizismus bei der CHP und bei der MHP
89
6.2 Review der Hypothesen
95

2
7. Fazit
96
Quellen- und Literaturverzeichnis
98
Tabellen
Tabelle 1: Das vierfache Modell des parteibasierten Euroskeptizismus
13
Tabelle 2: Die Differenz- und Konkordanzmethode
26
Tabelle 3: Der Kodierleitfaden
39
Tabelle 4: Kritikpunkte der CHP hinsichtlich der zwei Dokumente
75
Tabelle 5: Vergleich des Euroskeptizismus bei der CHP und bei der MHP
93
Anhänge
Anhang 1: Zeittafel
106
Anhang 2: Wahlresultate und Parlamentssitze
108
Abkürzungsverzeichnis
AKP
Adalet ve Kalkinma Partisi­Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei
ANAP
Anavatan Partisi­Mutterlandspartei
AP
Adalet Partisi­Gerechtigkeitspartei
CHP
Cumhuriyet Halk Partisi­Republikanische Volkspartei
DEHAP
Demokratik Halk Partisi­Demokratische Volkspartei
DP
Demokrat Parti­Demokratische Partei
DSP
Demokratik Sol Parti­Partei der Demokratischen Linken
EG
Europäische Gemeinschaft
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
MÇP
Milliyetçi Çalima Partisi­Partei der Nationalen Arbeit
MHP
Milliyetçi Hareket Partisi­Nationalistische Bewegungspartei
MSP
Milli Selamet Partisi­Nationale Heilspartei
NSR
Milli Güvenlik Kurulu­Nationaler Sicherheitsrat
OERN
Opposing Europe Research Network
TP
Türk çi Partisi­Türkische Arbeiterpartei

3
1. EINLEITUNG
Auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 11. Dezember 1999 wurde die Türkei als Beitrittskandidat
anerkannt. Diese Anerkennung war ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der
Europäischen Union und der Türkei. Obwohl die Türkei mit der EU eine lange Geschichte bis
hin zu der Unterzeichnung des Ankara-Vertrags im Jahr 1963 hat, hat sich der Einfluss der
Europäisierung in der türkischen Politik erst nach dem Entscheid der EU in Helsinki gezeigt.
Im Rahmen der Kopenhagener Kriterien begann ein tiefgreifender Wandel in der türkischen
Politik und der Druck, die Türkei den EU-Normen anzupassen, verursachte eine
Transformation im türkischen wirtschaftlichen und politischen Leben. Nach dem Entscheid
auf dem Helsinki-Gipfel im Jahr 1999 stimmte die Türkei ihre Binnenmarkt- und Zollpolitik
mit den EU-Regelungen ab und begann die politischen und rechtlichen Reformen für den EU-
Beitritt zu verwirklichen. Ein nationales Programm für die Anpassung an den
gemeinschaftlichen Besitzstand wurde von der türkischen Regierung im März 2001 lanciert.
Dies war ein sehr breit gefächertes Programm zur Erfüllung der institutionellen, finanziellen
und politischen Kriterien, und enthält 89 neue Gesetze und sah die Änderung der bestehenden
94 Gesetze vor, die in den ,,Harmonisierungspaketen" erlassen worden waren. Im Dezember
2002 kündigte die EU an, dass die Entwicklung der Türkei zur Erfüllung der Kriterien
bewertet und eine Richtung der Beitrittsgespräche im Dezember 2004 schriftlich festgelegt
werden würde. Nachdem die EU-Kommission im Jahr 2004 entschied, dass die Türkei die
politischen
Kopenhagener
Kriterien
hinreichend
erfüllt
hatte,
wurden
die
Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei im Oktober 2005 eröffnet.
Die Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat auf dem Helsinki-Gipfel im Jahr 1999 hat
im türkischen politischen System sowohl die Reformprozesse im Rahmen der Kopenhagener
Kriterien beschleunigt, als auch euroskeptische Haltungen bei den politischen Akteuren
entstehen lassen. Obwohl die türkischen Eliten behaupten, heute grundsätzlich eine pro-
europäische Haltung zu haben, die nach dem Verständnis des Staatsgründers Mustafa Kemal
Atatürk als Verwestlichung verstanden werden könnte, verschleiert diese grundlegende pro-
europäische Haltung nicht die Tatsache, dass die türkischen Eliten aus verschiedenen
Gründen eine Skepsis gegenüber der Europäischen Union entwickelt haben. Infolgedessen
kann festgestellt werden, dass der Europäisierungsprozess der Türkei nach der ,,Post-Helsinki-

4
Ära"
1
auch im türkischen Parteiensystem nicht nur Enthusiasmus, sondern ebenso viel
Skepsis auslöste. So trug der Helsinki-Gipfel zu einer Neuordnung des türkischen
Parteiensystems bei. Das türkische Parteiensystem wird durch eine neue Konfliktlinie geteilt:
Neben dem klassischen Rechts-Links-Schema unterscheiden sich die Parteien jetzt noch
zusätzlich durch pro-europäische beziehungsweise euroskeptische Positionen (Öni 2003b:
16). Die vorliegende Arbeit wird auf die linke sozialdemokratische Republikanische
Volkspartei (CHP) und die rechte Nationalistische Bewegungspartei (MHP) begrenzt, die dem
europäischen Integrationsprojekt entweder grundsätzlich oder in seiner gegenwärtigen Form
skeptisch gegenüber stehen und sich infolgedessen mit ideologischen, institutionellen und
strategischen Herausforderungen konfrontiert sehen. Es muss auch geklärt werden, warum
eine Fokussierung auf die politischen Parteien in der Türkei notwendig ist: Die
Wahrscheinlichkeit einer EU-Mitgliedschaft dient als ein starker Motor der Demokratisierung
und des wirtschaftlichen Wandels in den Beitrittsländern. Obwohl die EU ein starker externer
Faktor ist, der zum innenpolitischen Wandel führt, müssen zuerst die innenpolitischen
Akteure den Anstoß für den Wandel geben. Zudem ist die Analyse des innenpolitischen
Prozesses in der Türkei wichtig, denn die institutionellen, politischen und normativen
Rahmenbedingungen, die den Euroskeptizismus bei den politischen Parteien in der Türkei
beeinflussen, unterscheiden sich von denen der europäischen politischen Parteien in
erheblichem Masse. Obwohl in den letzten Jahren in der politikwissenschaftlichen Forschung
den Parteipositionen gegenüber der europäischer Integration und der Europäischen Union
immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, bleibt der türkische Fall weitgehend
unbeachtet. Die Positionen der türkischen politischen Parteien gegenüber der europäischen
Integration und der Europäischen Union müssen detailliert betrachtet werden, denn sie sind
die wichtigsten Akteure des Beitrittsprozesses der Türkei, da sie ihn direkt negativ oder
positiv beeinflussen. In dieser Arbeit wird deswegen versucht, den bis jetzt wenig
untersuchten parteibasierten Euroskeptizismus in der Türkei bei der MHP und der CHP im
Zeitabschnitt 2004-2007 zu analysieren und die Gründe für die euroskeptische Haltung bei
diesen Parteien festzustellen. Die Fragestellung dieser Arbeit lautet:
1
Dieser Begriff wird oft in den Monographien der türkischen Sozialwissenschaftler verwendet und deutet auf
den tiefgreifenden Wandel in der türkischen Politik nach der Anerkennung als Beitrittskandidat auf dem
Helsinki-Gipfel im Jahr 1999 hin.

5
,,Welche Ausformungen des Euroskeptizismus haben die CHP und MHP und welche
Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind bei diesen Parteien hinsichtlich des
Euroskeptizismus festzustellen? Was sind die Ursachen der Unterschiede und
Gemeinsamkeiten bei den Haltungen der beiden Parteien?"
Die vorliegende Arbeit ist wie folgt gegliedert: In einem ersten Schritt werden beim
theoretischen Teil der parteibasierte Euroskeptizismus und dessen Gründe vorgestellt. Dabei
wird auf die wichtigsten Typologien des parteibasierten Euroskeptizismus zurückgegriffen.
Im zweiten Schritt wird die qualitative Analyse nach Mayring und die Differenz- und
Konkordanzmethode erläutert, die dazu dienen, eine systematische Analyse der Dokumenten
zu ermöglichen und einen wissenschaftlichen Vergleich zwischen der CHP und der MHP zu
ziehen. Danach werden die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei und die Geschichte
der entsprechenden Parteien beleuchtet. Zudem werden die Positionen der Parteien nach dem
Helsinki-Gipfel bis zu den untersuchten Zeitraum vorgestellt, damit eine Grundlage für deren
Europarhetorik geschaffen werden kann. Im fünften Kapital wird in Anlehnung an die
vierfache Typologie von Kopecky und Mudde ein Kategoriensystem erstellt und die Analyse
der Parteiprogramme und der verschiedenen Dokumente, die zur Feststellung der
Ausformungen des Euroskeptizismus und dem Vergleich beider Parteien dienen sollen,
durchgeführt. Die Analyse gliedert sich in die Themenbereiche, die die Parteien in ihrem
Europadiskurs am meisten thematisiert haben. Im sechsten Kapitel folgen der kontrollierte
Vergleich des Euroskeptizismus beider Parteien mit der Differenzmethode von John Stuart
Mill und die Review der Forschungshypothesen. Schließlich folgt das Fazit.

6
2. THEORIE
Der Prozess der europäischen Integration beeinflusst die nationalen Parteiensysteme seit mehr
als vierzig Jahren. Die Zunahme des Euroskeptizismus, der als eine grundsätzliche oder
bedingte Ablehnung der europäischen Integration bezeichnet werden kann, erscheint als ein
relativ neues Phänomen in der europäischen Politik. Infolgedessen wuchs in den letzten
Jahren die Zahl der wissenschaftlichen Analysen des partei-basierten Euroskeptizismus.
Trotzdem kann kein umfassendes Bild des parteibasierten Euroskeptizismus konstruiert
werden, weil noch die Parteipositionen in den zehn jüngsten Mitgliedstaaten und dem
Beitrittskandidaten Türkei analysiert werden muss. Die Gründung des ,,Opposing Europe
Research Network" (OERN) hat der Forschung in Bezug auf den parteibasierten
Euroskeptizismus einen Anstoß gegeben. Die Forscher des OERN produzierten wertvolle
Fallstudien und zeigten theoretische Entwicklungen auf.
2
Dieses internationale Netzwerk,
dessen Zentrum sich an der Universität Sussex in Großbritannien befindet, beinhaltet die
umfassendste Forschungsgruppe, die sich bisher mit dem Euroskeptizismus und
weiterführenden Fragen bezüglich des Einflusses der Europäisierung auf die nationalen
Parteiensysteme beschäftigt. Die wichtigsten Befunde der Forscher werden in der
vorliegenden Arbeit nachher detailliert betrachtet. Im Folgenden wird der theoretische
Rahmen für den türkischen Fall vorgestellt.
Generell tragen die Kopenhagener Kriterien dazu bei, dass die Institutionen der EU einen
Anpassungsdruck auf die Kandidatenländer ausüben, so dass sich die Innenpolitik
entsprechend der Kriterien wandelt und die politische Struktur neu geformt wird. Nach der
Theorie ,,Goodness of Fit" von Börzel und Risse (2003: 60f.) besteht ein Anpassungsdruck,
wenn die nationale und die europäische Politik inkompatibel sind. Die Diskrepanz (misfit)
zwischen den Kopenhagener Kriterien und der türkischen Demokratie war bedeutsam und
dies führte zu einem Anstieg des Anpassungsdrucks durch die EU-Institutionen und zu einem
Wandel der türkischen Demokratie. Darüber hinaus betonen Börzel und Risse (2003: 63),
dass ein ,,misfit" nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für
Europäisierung ist. Damit ein Wandel in der nationalen Politik stattfindet, müssen auch
positive institutionelle Bedingungen, wie eine kleine Zahl von Vetospielern sowie
2
Zum Beispiel: P.Taggart, ,A Touchstone of Dissent: Euroscepticism in Contemporary Western European Party
Systems', European Journal of Political Research, Vol 33. 1998. 363-388. N. Sitter, ,,The Politics of Opposition
and European Integration in Scandinavia: Is Euro-scepticism a Government-Opposition Dynamic?" West
European Politics. Vol 24. No 4. Oktober 2001. 22-39. P.Kopecky und C. Mudde, ,,The two Sides of
Euroscepticism: Party Positions on European Integration in East Central Europe, European Union Politics. Vol 3.
No 3.2002. 297-326.

7
unterstützende Institutionen vorhanden sein. Mehmet Uur (2003), Politikwissenschaftler an
der Universität Greenwich, argumentiert, dass die Beitrittsverhandlungen als ein Zwei-
Ebenen-Spiel betrachtet werden können, wo die Voraussetzungen der Formulierung und der
Umsetzung der Politik im inländischen politischen Kontext mindestens so wichtig ist wie die
Beziehungen mit der EU. Während auf der internationalen Ebene die EU und die Türkei ihre
Glaubwürdigkeit nicht verlieren dürfen, muss auch Legitimität in der innenpolitischen Arena
geschaffen werden. Da sich die politischen Kulturen der EU und der Türkei erheblich
unterscheiden, war dies eine schwere Aufgabe. Dieser ,,misfit" wird in dieser Arbeit in den
folgenden Kapiteln am Beispiel der CHP und der MHP näher betrachtet.
In der Türkei gibt es wenige Studien über den Euroskeptizismus auf Parteienebene. Hakan
Yilmaz, Professor an der Boaziçi Universität, hat den Euroskeptizismus bei der türkischen
Öffentlichkeit untersucht. Yilmaz führte zum ersten Mal im Mai und Juli des Jahres 2002 eine
Studie basierend auf einer zufälligen Studien bei 3060 Personen durch, um die öffentliche
Meinung in der Türkei gegenüber der EU und Europa zu analysieren.
3
Er gelangte zu dem
Ergebnis, dass der wichtigste Indikator des Euroskeptizismus in der öffentlichen Meinung
darauf basiert, dass die EU als ein Christen-Club wahrgenommen wird. So würde die EU die
Türkei als ein mehrheitlich muslimisches Land nie akzeptieren, obschon die politischen und
ökonomischen Reformen verwirklicht wurden. Als zweiten Indikator stellte er fest, dass 60%
der Antwortenden daran glauben, dass die Türkei von der EU ungerecht behandelt wird,
indem ihr Bedingungen gestellt wurden, die von anderen Beitrittskandidaten nicht gefordert
wurden. Darüber hinaus untersuchte Yilmaz den Euroskeptizismus in der türkischen
Öffentlichkeit mit einer Fallstudie, die zwischen 17. Oktober und 23. November 2003
durchgeführt und durch die Boaziçi Universität und Open Society Institute unterstützt
wurde.
4
In dieser Fallstudie wurden mit 2123 zufällig ausgewählten Personen aus 17 Städten
Interviews durchgeführt. Im ersten Teil wurden generelle Haltungen gegenüber der EU-
Mitgliedschaft der Türkei festgestellt, wobei zu dem Ergebnis gelangt wurde, dass die
Mehrheit (75%) für eine EU-Mitgliedschaft ist. Unter den Wählern der Republikanischen
Volkspartei wurde die EU-Mitgliedschaft von 85,8% unterstützt, 10,6% waren dagegen und
3,5% hatten keine Meinung darüber. Unter den Wählern der Nationalistischen
3
Hakan Yilmaz: Indicators of Eurosupportiveness and Euroscepticism in the Turkish Public Opinion. TESEV.
4
Hakan Yilmaz: Euroscepticism in Turkey: Doubts, Anxieties and Fears of the Turkish Public Concerning
Europe and the European Union. Open Society Institute. Bogazici University Research Fund. 2003.
Hakan Yilmaz: Euroskeptizismus in der Türkei- Parteien, Eliten und öffentliche Meinung, 1995-2006. In:
Gabriele Clemens (Hg.), Die Türkei und Europa, Berlin: Verlag LIT. 215-245.

8
Bewegungspartei wurde die EU-Mitgliedschaft von 60,6% unterstützt, 37,2% waren dagegen
und 2,1% hatten keine Meinung darüber. Der zweite Teil befasste sich mit der Untersuchung
von Wechselwirkungen der national-lokalen und der europäischen Identitäten, wobei sich
54,2% der Antwortenden nur mit der nationalen Identität identifizierten. Eine Identifizierung
mit europäischer Identität neben der nationalen Identität wurde von nur 39,3% angegeben. Im
dritten Teil wurden die Ängste der Bürger gegenüber der EU und Europa festgestellt und
folgendermaßen kategorisiert: Historische Ängste, die von historischen Ereignissen
hervorgerufen werden. Es wird daran geglaubt, dass darauf abgezielt wird, die Türkei zu
spalten (historisches Gedächtnis- Sévres-Syndrom
5
). Ängste vor dem Souveränitätsverlust,
die mit dem Verlust der nationalen Unabhängigkeit erklärt werden können. Religiöse Ängste,
die mit einer Identifizierung der EU als einem Christen-Club einhergehen. Separatismus-
Ängste, die darauf basieren, dass die nationale Einheit gefährdet wird. Moralische Ängste, die
eine Erosion traditioneller Werte fürchten. Allgemein gelangte die Studie zu den Ergebnissen,
dass Frauen eher euroskeptisch eingestellt sind als Männer, Euroskeptizismus keine
Korrelation mit dem Alter aufzeigt, dass sich mit höherem Einkommen Euroskeptizismus
verringert, dass die türkischsprachige Bürger eher euroskeptisch eingestellt sind als
kurdischsprachige und dass euroskeptische Bürger 35% der Bevölkerung ausmachen. In
seinem im Jahr 2006 veröffentlichten Artikel ,,Euroskeptizismus in der Türkei: Parteien,
Eliten und öffentliche Meinung" analysierte Yilmaz die Haltung der türkischen Öffentlichkeit
und der türkischen Parteien zur Beitrittsfrage der Türkei in den Jahren zwischen 1995 und
2006. Yilmaz (2006: 217) unterscheidet auf der Parteiebene zwischen dem Identitäts-
Euroskeptizismus, welcher abstrakte und symbolische Themen, vor allem das Problem der
nationalen Identität hervorhebt, und politischem Euroskeptizismus, der pragmatische,
politisch orientierte Probleme betont. Yilmaz argumentiert, dass in der Türkei sowohl der
typisch westeuropäische politische Euroskeptizismus, als auch der osteuropäische
Identitätseuroskeptizismus zu finden seien, wobei der Identitätseuroskeptizismus verbreiteter
als ersterer sei und von den radikalen rechten und linken Parteien vertreten werde. Der
politische Euroskeptizismus sei eher bei den Mitte-Rechts und Mitte-Links Parteien zu
beobachten. Darüber hinaus betont er, dass der von Sitter (2002) festgestellte Zusammenhang
zwischen der Oppositionsrolle und dem Euroskeptizismus einer Partei auch in der Türkei zu
5
Die Befürchtung des Verlustes der nationalen Souveränität wird in akademischem Bereich als ,,Sévres-
Syndrom" bezeichnet. Das "Sévres-Syndrom" 'hat tiefe historische Wurzeln, die auf den völligen
Zusammenbruch des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs zurückgehen. Bei der Aufteilung der
Gebiete des zerfallenen Osmanischen Reiches im Vertrag von Sévres sollte im Osten der Türkei ein armenischer
Staat entstehen und den Kurden sollte Autonomie gewährt werden. Der Prozess konnte nur durch den
Unabhängigkeitskrieg in den frühen 1920er Jahren rückgängig gemacht werden, was zur Gründung der
modernen Republik im Jahre 1923 führte.

9
beobachten ist. Er nennt als Beispiel die Änderung der Haltung der CHP nach den Wahlen
vom November 2002, die vor den Wahlen eine proeuropäische Position hatte und nach der
Wahl allmählich zu einer politisch-euroskeptischen Haltung gelangte. Yilmaz begründet diese
Änderung vor allem damit, dass die konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung
(Adalet ve Kalkinma Partisi/AKP) an die Regierung kam und die Macht übernahm. Nach
Auffassung von Yilmaz vertritt die MHP einen Identitäts-Euroskeptizismus.
Gamze Avci, Forschungsbeauftragte an der Universität Leiden seit 2003, hat einen Artikel
über die Reaktionen der türkischen politischen Parteien nach der post Helsinki-Periode
veröffentlicht, die die Klassifizierung von hartem und weichem Euroskeptizismus bei der
Analyse hervorhebt.
6
Sie fokussiert hier die Reaktionen der politischen Parteien auf die
Europäisierung seit dem Helsinki-Gipfel bis zum Jahr 2003 und beschränkt sich auf die
Analyse des Euroskeptizismus und die Auswirkungen der Europäisierung auf das
Parteiensystem der Türkei. Avci kam dabei zu dem Schluss, dass die Reaktionen der Parteien
den gegenwärtigen Beitrittsprozess der Türkei und somit die EU- Türkei Beziehungen
erheblich beeinflusst hatten. Methodisch geht der Artikel von den Fragen aus, wann, wie und
warum sich die Regierungsparteien auf den Euroskeptizismus zubewegen oder sich davon
entfernen. So werden die vier Parteien DSP (Demokratische Linkspartei), MHP
(Nationalistische Bewegungspartei), ANAP (Mutterlandspartei) und AKP (Partei der
Gerechtigkeit und Entwicklung), die von 1999 bis 2003 in der Regierung waren, dahingehend
analysiert.
Kemal Kiriçi (2003: 9), Professor an der Boaziçi Universität differenziert zwei Gruppen in
der hinsichtlich der EU- Integration. Die erste Gruppe besteht aus Befürwortern der EU-
Mitgliedschaft aus ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen. Sie
argumentieren, dass die Bemühungen zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien aus der
Türkei ein reicheres und demokratischeres Land machen würden. Diese Gruppe fühlt sich
nicht gestört von der Übertragung der nationalen Souveränität an EU- Institutionen. Sie
befürwortet einen postmodernen Staat mit einer pluralistischen Demokratie, einer
multikulturellen Identität und einer mehrstufigen ,,Governance". Auf der anderen Seite steht
die Gruppe, die sich dem Wandel und den Reformen widersetzt. Sie sehen die Reformen als
6
Gamze, Avci: Turkish political parties and the EU discourse in the post-Helsinki period. A case of
Europeanization. In: Mehmet Uur und Nergis Canefe (Hrsg).Turkey and European Integration. Accession
Prospects and issues .Routledge. 2004. London.

10
eine Gefährdung der nationalen Sicherheit und der Unabhängigkeit des Landes, wobei
Supranationalismus einen hohen Stellenwert in ihrer Politik hat (Kirisçi 2003: 10). Sie sind
misstrauisch gegenüber der EU sowie der internationalen Gemeinschaft. Sie argumentieren,
dass die EU darauf abzielt, die Türkei zu schwächen und sie territorial zu teilen. Einige
betrachten die Reformen, vor allem diejenigen der kulturellen Rechte, die Freiheit der
Meinungsäußerung und die Schwächung der Rolle des Militärs als eine Schwächung der
Türkei. Sie sind der Ansicht, dass diese Reformen gefährlich für die Sicherheit der Türkei mit
ihrer problematischen Nachbarschaft sind. Kirisçi (2003: 10) betont, dass sich in dieser
Gruppe viele Beamte befinden, die ihren Einfluss und ihre Macht gefährdet sehen. Eine
transparente und rechenschaftspflichtige Regierung ist für sie ein negatives Konzept. Die EU
ist in ihren Augen ein Eindringling oder eine Gefahr für das Überleben. Es gibt nach Kirisçi
auch diejenigen, die gegen die EU sind, weil die Mitgliedschaft die türkische Kultur und
Identität erodieren würde.
Nach einem kurzen Überblick auf den Forschungsstand wird es in folgenden Teilen versucht,
die wichtigsten Typologien des parteibasierten Euroskeptizismus zu betrachten, die für die
Analyse des Euroskeptizismus die Grundlage bilden. Zuerst wird die weit verbreitete
Klassifikation des ,,weichen" und ,,harten" Euroskeptizismus vorgestellt. Dann werden die
vierfache Typologie von Kopecky und Mudde und Floods Kategorisierung des
Euroskeptizismus diskutiert. Am Schluss werden verschiedene Strömungen in der Forschung
für die Gründe des Euroskeptizismus vorgestellt.
2.1 Weicher und harter Euroskeptizismus
Einer der ersten Versuche, eine umfassende Definition des parteibasierten Euroskeptizismus
zu erstellen, stammt von Paul Taggart. Nach seiner Definition drückt Euroskeptizismus "the
idea of contingent or qualified opposition, as well as incorporating outright and unqualified
opposition to the process of European integration" aus (Taggart 1998: 366). Diese breite
Definition, die verschiedene Positionen umfasst, wurde später weiterentwickelt und verfeinert
von Aleks Szczerbiak in Zusammenarbeit mit Taggart. Ihre neue Kategorisierung, die den
Euroskeptizismus in ,,weich" und ,,hart" differenziert, ist mittlerweile weit verbreitet. Taggart
und Szczerbiak (2001b: 10) definieren harten Euroskeptizismus als "outright rejection of the
entire project of European political and economic integration and opposition to their country
joining or remaining a member of the EU". Darüber hinaus werden auch die Parteien, die ihre
Unterstützung für die EU von bestimmten Bedingungen, die wahrscheinlich nie erfüllt

11
werden, abhängig machen, als hart definiert. Taggart und Szczerbiak (2001a: 6) betonen, dass
harter Euroskeptizismus einen prinzipiellen Einwand gegen die gegenwärtige Form der
europäischen Integration in der EU bedeutet. Dieser prinzipielle Einwand basiert auf dem
Glauben, dass die EU gegen die Werte der europäischen Integration funktioniert. Als Beispiel
nennen sie den Einwand, dass die EU zu liberal/kapitalistisch/sozialistisch sei. Parteibasierter
weicher Euroskeptizismus auf der anderen Seite ist "where there is not a principled objection
to European integration or EU membership but where concerns on one (or a number) of
policy areas leads to the expression of qualified opposition to the EU, or where there is a
sense that `national interest' is currently at odds with the EU's trajectory" (Taggart/Sczerbiak
2001a: 6). Zudem unterscheiden sie zwei Unterkategorien für den weichen Euroskeptizismus:
,,policy Euroscepticism" und ,,national-interest Euroscepticism". Beide Arten des weichen
Euroskeptizismus beinhalten keine prinzipiellen Einwände gegen die europäische Integration
(Taggart/Sczerbiak 2001b: 10). ,,Policy Euroscepticism" impliziert eine Opposition gegen die
Politik zur Vertiefung der europäischen politischen und ökonomischen Integration (zum
Beispiel: EMU), während ,,national-interest Euroscepticism" eine Rhetorik zur Verteidigung
des nationalen Interesses in den EU-Debatten aufweist. Es muss beachtet werden, dass die
Opposition zu einem Politikbereich und die Betonung der nationalen Interessen vereinbar mit
einer generellen Unterstützung für das Projekt der Europäischen Integration sein muss, sonst
wird eine Partei als harter Euroskeptiker bezeichnet (Taggart und Szczerbiak 2002b: 7). Diese
beiden Arten des weichen Euroskeptizismus schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern
überschneiden sich oft. Zudem betonen Taggart und Szczerbiak (2002b: 8), dass diese
Differenzierung als Idealtyp gesehen werden muss, weil sie in einigen Fällen unscharf sein
kann.
Dank der einfachen Zweiteilung dieses Modells konnte es in vielen Studien über die jungen
Demokratien in Mittel- und Osteuropa, als auch bei reiferen westeuropäischen Demokratien
erfolgreich verwendet werden. Taggart und Sczerbiaks Modell wurde kritisiert, weil es zu
vereinfachend und allumfassend ist. Insbesondere wird behauptet, dass die Definition von
weichem Euroskeptizismus zu weit gefasst wurde und nicht die unterschiedlichen Grade der
Unterstützung und des Widerstands gegen die EU umfassen kann. Flood und Usherwood
(2005) weisen darauf hin, dass es kaum politische Parteien gibt, die keine Einwände gegen
einige Funktionen der EU haben. Außerdem wurde die Unterteilung des ,,weichen"
Euroskeptizismus in ,,policy" und ,,national-interest" Formen von Lees (2002) kritisiert, weil

12
sie überflüssig seien. Lees argumentiert, dass es schwer sei, einen Politiker zu finden, der
nicht von Zeit zu Zeit auf eine Rhetorik des nationalen Interesses zurückgreift.
Kopecky und Mudde (2002: 300) kritisieren Taggarts und Szczerbiaks Modell aus zahlreichen
Gründen. Erstens weisen sie darauf hin, dass die Kategorie des weichen Euroskeptizismus
allumfassend sei, so dass sie jede kleine Abweichung von einer politischen Entscheidung der
EU enthalte. Zweitens argumentieren Kopecky und Mudde, dass die Kriterien für die
Trennung der beiden Formen unklar sind. Ihre grundsätzliche Kritik der Zweiteilung beruht
allerdings auf der Tatsache, dass Taggart und Szcerbiak bei ihrer Typologie nicht auf die
ideologische Dimension der politischen Positionen der Parteien achten. Kopecky und Mudde
glauben, dass weicher und harter Euroskeptizismus zwischen der grundsätzlichen
Unterstützung und Ablehnung der Idee der europäischen Integration und die Einstellung
gegenüber der europäischen Integration als die aktuelle Verkörperung dieser Idee nicht
unterschieden wird. Die Konsequenz erklären sie in der folgenden Textpassage:
"As a result, the term ,Euroscepticism' is, in our view wrongly, ascribed to parties and
ideologies that are in essence pro-European as well as those that are outright anti-
European. In practice, this may result in the over- and underestimation of the strength of
the phenomenon in any (party) political system and lead us to see either more or less
Euroscepticism than there actually is."(Kopecky und Mudde 2002: 300)
2.2 Euroskeptizismus nach Kopecky und Mudde
Mit einer Rückkehr zum ursprünglichen Konzept von Taggart (1998), das den Schwerpunkt
eher auf die Haltung gegenüber der europäischen Integration legte, erstellen Kopecky und
Mudde eine zweistufige Differenzierung. Sie berufen sich auf David Eastons bahnbrechende
Differenzierung der verschiedenen Formen bezüglich der Unterstützung des politischen
Regimes (Easton 1965: 124ff. zit. nach Kopecky und Mudde 2002: 300) und unterscheiden
zwischen diffuser und spezifischer Unterstützung der europäischen Integration. Mit der
diffusen Unterstützung meinen sie die Unterstützung für die grundlegenden Ideen der
europäischen Integration. Mit der spezifischen Unterstützung deuten sie die Praktik der
europäischen Integration an. Dies deutet auf den aktuellen Stand der EU hin.

13
Tabelle 2: Das vierfache Modell des parteibasierten Euroskeptizismus
(Kopecky und Mudde 2002)
Support for idea of European Integration
Kopecky und Mudde schlugen eine neue Typologie vor: Wie in der Tabelle veranschaulicht
wird, besteht der Euroskeptizismus aus zwei Dimensionen (Kopecky und Mudde 2002).
Erstens die ideologische Dimension, die sich mit der Frage der Unterstützung der
europäischen Integration beschäftigt. Hier wird zwischen ,,Europhilen" und ,,Europhoben"
unterschieden. Auf der einen Seite akzeptieren Europhile prinzipiell die Idee der europäischen
Integration, die aus zwei Elementen besteht: Institutionalisierte Kooperation auf der Basis der
verteilten Souveränität (politisches Element) und integrierte liberale Marktwirtschaft
(ökonomisches Element). Auf der anderen Seite lehnen die Europhobe die grundlegenden
Ideen der europäischen Integration ab. Zweitens die strategische Dimension, die sich mit der
Akzeptanz der EU beschäftigt. Sie teilt sich auf in EU-Optimisten, die sowohl die EU als
Institution, als auch die Funktionsweise der EU befürworten und in die EU-Pessimisten, die
die aktuelle Form und Funktionsweise der EU nicht unterstützen oder ihr zumindest kritisch
gegenüberstehen. Dies bedeutet aber nicht, dass alle EU-Pessimisten unbedingt gegen die EU-
Mitgliedschaft opponieren. Diese beiden Dimensionen führen zu einer vierfachen Typologie
der Parteien in getrennten Gruppen nach ihrer Haltung zu europäischen Themen. EU-
Enthusiasten (europhile Optimisten) kombinieren die ideologische Unterstützung für die
Europäische Integration mit einer Akzeptanz der EU selbst. EU-Skeptiker (europhile
EUROENTHUSIASTS
EUROPRAGMATISTS
EUROSCEPTICS
EUROREJECTS
E
U
-P
es
si
m
is
t
E
U
-O
p
ti
m
is
t
S
u
p
p
or
t f
or
E
U
Europhile
Europhobe

14
Pessimisten), auf der anderen Seite unterstützen die europäische Integration grundsätzlich,
sind aber gegen die EU, weil sie nicht daran glauben, dass die EU die Ideen der europäischen
Integration umsetzt. Eine dritte Gruppe bilden die EU-Pragmatiker (europhobe Optimisten),
die die Idee der europäischen Integration nicht unterstützen (aber gleichzeitig nicht unbedingt
dagegen sind) und die EU als einen notwendigen Bestandteil der europäischen
Wirtschaftsstruktur sehen und sie positiv bewerten, weil sie es profitabel für ihr Land finden.
EU-Gegner (europhobe Pessimisten) kombinieren europhobe und EU-pessimistische
Positionen und unterstützen weder die Idee der europäischen Integration noch die EU
(Kopecky und Mudde 2002). Kopecky und Mudde drücken den Vorteil der Klassifizierung in
der folgenden Passage klar aus:
"The breakdown of the concept of Euroscepticism into two analytical dimensions
contributes to the clarification of the fundamental difference between parties that are
critical only of the EU, and those that are also negative about the ideas underlying the
general process of European integration." (Kopecky und Mudde 2002: 318)
Im Allgemeinen scheint es so, dass Kopecky und Muddes Klassifizierung einen wichtigen
Schritt zu einer aussagekräftigen Definition und Klassifizierung des parteibasierten
Euroskeptizismus bedeutet. Der grösste Vorteil dieser Typologie besteht darin, dass sie sich
nicht nur auf die Unterstützung bzw. den Widerstand gegen die EU beschränkt, sondern auch
eine breitere Perspektive von den Einstellungen der Parteien gegenüber dem Projekt der
europäischen Integration als Ganzes bietet. Kopecky und Mudde betonen, dass die Haltung
der Parteien gegenüber der EU-Mitgliedschaft eine kurze oder mittelfristige opportunistische
Positionen sein kann, welche auf der Grundlage inländischer strategischer Entscheidungen
eingenommen wird; im Gegensatz zu einer langfristigen Position, die aus einer ideologischen
Haltung gegenüber dem europäischen Projekt entsteht (Szczerbiak und Taggart 2002b: 35).
Die Unterscheidung zwischen den kurzfristigen strategischen Entscheidungen und
ideologischen Positionen zur europäischen Integration ermöglicht Kopecky und Mudde, die
Verflechtung der Beziehungen zwischen diesen zwei Elementen zu analysieren. Dies führt sie
zu dem Ergebnis, dass im Fall von Zentral- und Osteuropa die Ideologie eine Schlüsselrolle
bei der Bestimmung der Parteipositionen gegenüber Europa spielt (Szczerbiak und Taggart
2002b: 35).
Allerdings wurde Kopeckys und Muddes vierfaches Modell auch heftig kritisiert. Flood und
Usherwood (2005: 4) weisen darauf hin, dass diese Klassifizierung zu einem Fortschritt

15
gelangte, weil sie betont, dass die Ideologie bei der Haltung der Parteien zu europäischen
Themen eine zentrale Rolle spielt. Obwohl sie dieses Modell für weiter entwickelt als die
weich/hart Typologie halten, behaupten sie, dass es den Nachteil hat, die Ideologie in einem
reduktiven Weg zu reflektieren, indem die Rolle der Ideologie in ein einfache binäre
Klassifizierung von Europhile und Europhobe beschränkt wird. Szczerbiak und Taggart
(2003: 7) stimmen im Allgemeinen mit Floods und Usherwoods Kritik überein und betonen
zudem die inkonsistente Nutzung der Terminologie bei den beiden Autoren. Sie weisen darauf
hin, dass sich Kopecky und Mudde von der bestehenden gemeinsamen Nutzung des Begriffs
,,euroskeptisch" distanzieren und die wichtigsten Gegner der europäischen Integration
entweder als Europhobe oder, wenn die Ablehnung der Integration in Verbindung mit der
Kritik an dem zukünftigen und aktuellen Kurs der EU steht, als EU-Gegner definieren.
Weiterhin betonen Szczerbiak und Taggart (2003: 7), dass die Kategorie der EU-Pragmatiker
intern nicht kohärent zu sein scheint, da sie auf der einen Seite die grundsätzliche Ablehnung
der europäischen Integration verlangt, aber gleichzeitig eine Akzeptanz der Institution EU
voraussetzt, unabhängig davon, ob diese die integrativen Ideen in Europe verkörpern kann
oder nicht. Das Problem hierbei ist allerdings, dass Kopecky und Mudde auf eine kohärente
Definition der EU-Pragmatiker zu verzichten. Sie argumentieren, dass ,,the fact that there will
be certain parties that are difficult to fit neatly into any typology is something that we simply
have to accept rather than inventing separate and illogical categories for them" (2002: 5). Laut
Szczerbiak und Taggart muss eine Partei, die als EU-Pragmatiker kategorisiert wird, den
weiteren Ausbau der EU-Souveränität und die Vertiefung des laufenden Integrationsprozesses
unterstützen. Es scheint, dass die Kategorie EU-Pragmatiker intern unlogisch ist und für die
Parteien, die in Wirklichkeit schwer zu klassifizieren sind, da ihre Position unklar und
wechselhaft ist, verwendet wird. Man kann davon ausgehen, dass einige Parteien zu
opportunistisch sind, um eine einheitliche Position gegenüber der EU und der europäischen
Integration zu vertreten und keine eigene Kategorie bilden. Schliesslich muss darauf
hingewiesen werden, dass die Kategorie EU-Enthusiasten sehr umfassend ist, und deswegen
das gleiche Problem wie bei der weich/hart Klassifizierung auftritt.
2.3 Die Klassifizierung des Euroskeptizismus nach Flood und Usherwood
Eine der umfassendsten Klassifizierungen, die versucht, die verschiedenen Schattierungen
von Eurooptimismus und Euroskeptizismus zu unterscheiden, ist die Typologie von
Christopher Flood und Simon Usherwood (2005). Diese beiden Wissenschaftler vermeiden

16
Begriffe wie Euroskeptizismus und greifen auf die Begriffe der konventionellen
Politikwissenschaft zurück. Ihre Klassifizierung umfasst sechs Kategorien:
Maximalist: Position, die die Integration so weit und so schnell wie möglich betreiben will.
Reformist: Position, die das Fortschreiten der Integration verbunden mit konstruktiver Kritik
akzeptiert. Unterstützung der Integration ist abhängig von der Behebung der Mängel.
Gradualist: Position, die das Fortschreiten der Integration akzeptiert, so lange es langsam
und schrittweise ist.
Minimalist: Akzeptanz des Status quo, aber Ablehnung eines weiteren Fortschreiten der
Integration.
Revisionist: Position, die die Rückkehr zu einem früheren Zustand befürwortet.
Rejectionist: Position gegen die EU-Mitgliedschaft und die Integration selbst.
Floods und Usherwoods Konzeptualisierung des parteibasierten Euroskeptizismus bietet eine
recht umfassende Klassifizierung und unterscheidet zwischen den verschiedenen Graden der
Unterstützung für die EU und der europäische Integration, von der uneingeschränkten
Unterstützung der Integration bis hin zu ihrer langsamen und schrittweise funktionierenden
Entwicklung. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es drei Kategorien, die verschiedene
Typen von Euroskeptizismus reflektieren: von der Ablehnung der Integration bis hin zur
versuchten Beibehaltung des Status quo. Das besondere an Floods Versuch ist, dass
ideologische Vermutungen in der Kategorisierung fehlen. Flood argumentiert (2005: 7), dass
beide Modelle eine zu reduktive und restriktive Sicht auf den Einfluss der Parteiideologie auf
die europäische Frage haben. Ideologische Positionen der Parteien sind mehrdimensionale
Phänomene, die mit der simplen zweifachen Unterscheidung in Annahme und Ablehnung der
europäischen Integration nicht fassbar sind. Die früheren Modelle fokussieren eher
Positionen, so dass wichtige ideologische Gründe und institutionelle Faktoren nicht
berücksichtigt werden. Um diese grundlegenden Faktoren zu analysieren, benutzen Flood und
Usherwood das Konzept des Habitus, welches ein Produkt der Geschichte ist und versucht
individuelle und kollektive Verhaltensweisen in Einklang mit den Schemata, die von der
Geschichte generiert werden, zu bringen versucht. Wie Flood und Usherwood weiter an
diesem Punkt sagen (2005: 15):
"...as regards ideology, the location and salience of the EU [...]within the group's
specific configuration will be conditioned by the institutional history of handling,
producing, sustaining, deepening, broadening ideological belief and communication, or
neglecting them."

17
Die Entstehung der Position zur EU innerhalb einer Gruppe in einer spezifischen
Konfiguration ist abhängig von der institutionellen Geschichte der Herstellung, der
Aufrechterhaltung, der Vertiefung und der Erweiterung ideologischer Ansichten und der
Kommunikation innerhalb dieser Gruppe. Es ist daher wichtig, auf die lange Tradition der
politischen Gruppen zu achten. Die politischen Parteien haben ein bestimmtes Set von
ideologischen Werten, die durch die Geschichte determiniert und eine gewisse Flexibilität
aufzeigen. Ebenso darf man den Inter- und Intragruppenwettbewerb nicht außer Acht lassen.
Ein offensichtlicher Vorteil der Klassifizierung von Flood und Usherwood ist die
Unterscheidung zwischen den verschiedenen Graden der Unterstützung für die EU und der
Opposition zu ihr. Der Vorschlag einer anderen Analyseebene über die einfache Betrachtung
der Parteipositionen zur EU hinaus nach dem Konzept des Habitus ist eine Alternative zu
Kopecky und Mudde. Diese Klassifizierung enthält das epistemologische Problem, dass sich
die Kategorien nicht unbedingt gegenseitig ausschliessen und manche Parteien in mehrere
Kategorien eingeordnet werden können. Zudem weisen Taggart und Szczerbiak (2003: 6)
darauf hin, dass es, je komplexer die Typologie ist, umso schwerer wird, die Parteien zu
operationalisieren und zu kategorisieren.
Wie dieser kurze Überblick über die laufende Diskussion über den Euroskeptizismus zeigt, ist
die Forschung immer noch in der Phase der Entwicklung einer kohärenten und nicht zu
umfassenden Definition des Euroskeptizismus und einer Typologie, die die verschiedenen
Parteipositionen gegenüber der Europäischen Union und der europäischen Integration zu
klassifizieren hilft. Am Anfang wurde die einfachste und zugleich einflussreichste
Klassifizierung des parteibasierten Euroskeptizismus betrachtet, nämlich die zweifache
Typologie von Taggart und Szczerbiak. Diese Typologie war nützlich und erfolgreich für
viele Studien über den Euroskeptizismus in Europa. Kopecky und Mudde haben ein
vierfaches Modell entwickelt, das die ideologischen und strategischen Dimensionen der
Parteipositionen gegenüber der EU und der europäischen Integration unterscheidet. Ihr
Modell bietet eine umfassende theoretische Basis für die Analyse des parteibasierten
Euroskeptizismus. Schliesslich wurde die noch weiter fortgeschrittene Typologie von Flood
und Usherwood betrachtet. Sie haben eine neutrale Typologie entwickelt, die ideologische
Faktoren aussen vor lässt, da die Ideologie zu komplex ist, um in der zweifachen
Unterscheidung von Kopecky und Mudde adäquat dargestellt werden zu können. Wie
erwähnt, hat diese Typologie das Problem, dass sie schwer anwendbar ist. Außer dem

18
Versuch den parteibasierten Euroskeptizismus zu definieren und zu kategorisieren, bildet eine
wichtige theoretische Frage für die Forscher die Frage der Kausalität des Euroskeptizismus.
2.4 Die Frage der Kausalität: Gründe des Euroskeptizismus
Es ist wichtig zu verstehen, warum die Parteien eine kritische oder ablehnende Haltung
gegenüber der EU und der europäischen Integration haben. Die Literatur identifiziert
allgemein ideologisch-programmatische oder strategisch-taktische Faktoren. Viele Forscher
(Taggart 1998; Taggart und Szczerbiak 2001; Sitter 2001b; 2002; 2003) argumentieren, dass
Euroskeptizismus vornehmlich mit strategischen Faktoren, die von der Position der Partei im
Parteiensystem abhängig sind, erklärt werden kann. (Zum Beispiel ob sich die Partei im
Zentrum oder in der Peripherie des politischen Spektrums befindet oder ob sie in der
Regierung oder in der Opposition ist). Diese einflussreiche Strömung sieht den parteibasierten
Euroskeptizismus als eine Frage der strategischen Positionierung und stellt sie in
Zusammenhang mit der sogenannten ,,Politik der Opposition". Diese Ansicht betrachtet
politische Parteien als "organizations that seek to propel candidates to elected office in pursuit
of policy goals" (Sitter 2002: 5). Die Betonung ist hier bei der ,,quest for office", das das
wichtigste Ziel einer politischen Partei ist. Die Muster des Wettbewerbs zwischen den
Parteien strukturiert die Transformation der Europa-Frage in die Parteipolitik. Sitter (2002: 5)
drückt dies folgendermassen aus:
,,The process of European integration represents one of the more significant challenges,
and the parties' responses have been shaped by a combination of their positions on related
issues (and ideology), their strategies for electoral competition, and strategies and the
dynamics of competition between the government and opposition."
Sitter argumentiert, dass das zentrale Element bei der Bestimmung einer Parteiposition zu
Europa das Muster des Wettbewerbs zwischen der Regierung und des Opposition ist.
Infolgedessen können kurzfristige strategische Ziele der Parteien wichtiger als die langfristige
ideologische Basis sein. Sitter argumentiert, dass die Verknüpfung des Euroskeptizismus mit
dem Oppositionsmuster zu einem dynamischen Modell des parteibasierten Euroskeptizismus
führt. Sein zentrales Argument ist, dass die Parteien europäische Fragen in Parteiwettbewerb
umwandeln (Sitter 2002: 5). Obwohl langfristige politische Positionenen und die Ideologie
einen beachtlichen Einfluss auf die Position der Partei zu Europa haben, ist die Ausprägung
des Euroskeptizismus nach Sitters Auffassung primär abhängig von strategischen und
taktischen Entscheidungen. Die Position im jeweiligen Parteiensystem bestimmt den

19
Euroskeptizismus auf der Basis einer Abwägung von vier Zielen: dem organisatorischen
Überleben, der Stimmenmaximierung, der Ausübung der Regierungsgewalt und der
Umsetzung spezifischer programmatischer Ziele.
Szczerbiak und Taggart (2003: 12) geben eine Zusammenfassung der Kausalität des
Euroskeptizismus. Sie unterscheiden für analytische Zwecke zwischen der grundlegenden
Parteiposition gegenüber Europa und ob die Partei die Europafrage im Parteienwettbewerb
nutzt oder nicht. Diese beiden Phänomene folgen verschiedenen kausalen Mechanismen, die
erklären, unter welchen Bedingungen ideologisch-programmatische oder strategisch-taktische
Gründe eine Rolle in der Entstehung des Euroskeptizismus spielen. Sie argumentieren zudem,
dass die grundlegende Parteipositionen über die europäischen Integration von zwei Faktoren
determiniert werden: Erstens von breiteren ideologischen Profilen und Werten und zweitens
von den wahrgenommenen Interessen ihrer Anhänger. Die relative Wichtigkeit dieser
Faktoren hängt davon ab, ob die entsprechende Partei eine pragmatische ,,office-seeking
party" oder eine ideologische ,,goal-seeking party" ist. Darüber hinaus wird auch darauf
hingewiesen, dass, obwohl die Ideologie ein wichtiger Bestandteil für die Parteiposition zur
Europafrage ist, keine direkte lineare Beziehung zwischen der Ideologie einer Partei und
deren Europaposition festgestellt werden kann. Das hängt einerseits davon ab, dass die
Europaposition nicht von ideologischen Familien, zu denen die Parteien gehören, bestimmt
werden kann. Andererseits können die Parteien ihre Ideologie flexibel interpretieren und über
die EU und das europäische Projekt verschiedene Ansichten haben. Darüber hinaus betonen
sie, dass von der Kombination der strategischen und taktischen Faktoren bestimmt wird, ob
die Partei es als ein Element im Parteienwettbewerb sieht und wie viel Bedeutung der
Europafrage beigemessen wird. Es ist also wichtig für das Verständnis des Euroskeptizismus,
wie Parteien das Thema Europa im Parteienwettbewerb nutzen (Taggart und Szczerbiak 2003:
16).
Die Strömungen, die oben analysiert wurden, betreffen eher die strategisch-taktischen als die
ideologisch-programmatischen Faktoren. Auf der anderen Seite gibt es Forscher, die die
Parteienpositionen eher mit den ideologischen-programmatischen Faktoren erklären. Marks
et. al (2002) geht zum Beispiel davon aus, dass die wichtigsten Ursachen für eine
euroskeptische Haltung bei Parteien in historischen Spaltungen zu finden sind, welche zu den
ideologischen Partei-Familien nach Lipset und Rokkan geführt haben: liberal,
sozialdemokratisch, konservativ oder christdemokratisch (Taggart und Szczerbiak 2003: 12).

20
Eine der einflussreichsten Thesen in der Diskussion über die Gründe des Euroskeptizismus
war Kopeckys und Muddes Typologie (2002). Kopecky und Mudde betonen die Auswirkung
der Ideologie auf die Haltungen von Parteien zur EU-Frage. Sie kommen zu dem Ergebnis,
dass die Ideologie die Haltung gegenüber der europäischen Integration grundsätzlich
determiniert, während die Strategie die Unterstützung der gegenwärtigen Programme der EU
bestimmt. Die Analyse von Kopecky und Mudde (2002: 319) weist also darauf hin, dass die
Ideologie die dominante Rolle spielt. Die komplexe Beziehung zwischen Ideologie und
Strategie sei mit der mehrschichtigen Natur des Konzepts Euroskeptizismus direkt verbunden.
Fundamentale Änderungen der Position einer Partei können nach den Befunden von Kopecky
und Mudde nur in der vertikalen Dimension ihrer Typologie auftreten. Dies bedeutet, dass
Parteien die EU-Skeptiker sind, EU-Enthusiast werden oder umgekehrt, aber sich nicht
horizontal in die Kategorien EU-Pragmatiker oder EU-Gegner bewegen. Die Parteien ändern
ihre Position bei der Dimension "Unterstützung für die EU", aber nicht bei der Dimension
,,Unterstützung für die europäische Integration". Die Unterstützung der grundlegenden Ideen
der europäischen Integration hängt also von der Parteiideologie ab, während die Strategie eine
wichtige Rolle für die Unterstützung für die EU spielt (Kopecky und Mudde 2002:
320).Gleichzeitig wird aber nicht ausgeschlossen, dass sich die Parteien auf der horizontalen
Dimension bewegen können. So eine Veränderung würde aber eine totale ideologische
Änderung oder eine fundamentale Neubewertung des ganzen Prozess der europäischen
Integration implizieren. Kopecky und Mudde kommen zu dem Ergebnis, dass individuelle
Parteipositionen gegenüber der europäischen Integration mit der Zugehörigkeit zu
Parteifamilien zusammenhängen: ,,If party ideology plays an important role in determining
party positions on the dimension ,support for European integration', we would except al
parties belonging to one party family to have the same position on that dimension" (Kopecky
und Mudde 2002: 320).
Flood und Usherwood (2005) bewerten die Gründe des Euroskeptizismus auf einer
historischen Basis und argumentieren, dass die Parteipositionen zur europäischen Integration
mit ideologischen Dispositionen gestärkt werden, die als kollektiver Habitus der einzelnen
Parteien verstanden werden kann. Das Programm und die Position einer Partei sind nicht
allein durch die Ideologie entstanden, sondern sind auch ein Ergebnis der Kontinuität der
Organisation und des historischen Hintergrundes, welche den Habitus einer Partei formen.
Nach Floods Konzept des Habitus ist die lange Tradition der politischen Gruppen, welche
durch die Geschichte geprägt wird, von größter Bedeutung für die Analyse der Positionen der

21
Parteien zur EU und der europäischen Integration. Daher ist eine eingehende Analyse der
entsprechenden politischen Parteien notwendig, indem einige wesentliche Merkmale und
historische Spaltungen im Parteiensystem betrachtet werden. Diese Dispositionen umfassen
ideologische und institutionelle Faktoren, die die Parteien zu bestimmten Positionen führen.
Im Hinblick auf die Ideologie: Ihr Einfluss auf die Partei wird abhängig davon sein, ob die
Gruppe eine lange Tradition bestimmter ideologischen Werte hat oder Flexibilität aufzeigt
und ihre Disposition verändern kann.
Nach der Vorstellung verschiedener Strömungen in der Literatur zur Kausalität des
Euroskeptizismus folgt in diesem Teil die Entwicklung der Hypothesen der Arbeit. Zurück zu
den Befunden von Nick Sitter: Folgt man Sitter (2001a-b), so kann sowohl bei den rechten als
auch linken politischen Parteien in West- und Osteuropa eine grundsätzlich oder bedingt
ablehnende Position gegenüber der europäischen Integration festgestellt werden. Diese
Beobachtung lässt sich damit erklären, dass ein Zusammenhang zwischen der euroskeptischen
Haltung einer Partei und ihrer Rolle als Oppositionspartei existiert. So tendieren die
Oppositionsparteien, die geringe Chancen auf die Regierungsübernahme haben, zu einer
euroskeptischen Haltung. Die Distribution des Euroskeptizismus in westeuropäischen
Parteiensystemen kann nach Sitter nicht als links gerichtet oder rechts gerichtet charakterisiert
werden. Euroskeptizismus kann bei Parteien von beiden Enden des Spektrums festgestellt
werden. In Anlehnung an Taggart und Szcerbiaks These (2001b: 11) kann behauptet werden,
dass Euroskeptizismus sogar verschiedene ideologische Richtungen zusammenbringen kann.
Taggarts (2002: 11) Studie über die Parteifamilien und die Positionenen zur EU in den 14
Mitgliedsstaaten hat gezeigt, dass die blosse Zuordnung der Parteien zu einer Parteifamilie
nicht ausreicht, um ihre Position zu Europa festzustellen. Nach seinen Ergebnissen wird
Euroskeptizismus von Parteien, die verschiedenen ideologischen Gruppen angehören,
vertreten. Nach seinem zweiten Befund kann argumentiert werden, dass eine euroskeptische
Position auch von den Parteien, die nicht in der Regierung sind und keine Chance darauf
haben, vertreten wird. Die Forscher Hooghe, Marks und Wilson (2001) haben versucht, die
Beziehung zwischen der links-rechts Position einer Partei und deren Euroskeptizismus zu
zeigen, wobei sie feststellten, dass diese Beziehung nichtlinear und kompliziert war. Aus
diesen Befunden folgt die erste Hypothese:
Hypothese 1: Die sozialdemokratische, linksgerichtete Republikanische Volkspartei (CHP)
und die nationalistische, rechtsgerichtete Nationalistische Bewegungspartei (MHP) nehmen

22
euroskeptische Haltungen ein, weil sie nicht in der Regierung sind und somit geringe Kosten
beim für ihren Euroskeptizismus zu erwarten haben.
Wie vorher erwähnt wurde, unterscheidet Yilmaz (2006: 217) zwischen einem
Identitätseuroskeptizismus, welcher abstrakte und symbolische Themen, vor allem das
Problem der nationalen Identität hervorhebt, und einem politischen Euroskeptizismus, der
pragmatische politikorientierte Probleme akzentuiert. In Anlehnung an die Behauptung von
Yilmaz, dass im türkischen politischen Parteiensystem sowohl der westeuropäische politische
Euroskeptizismus als auch der osteuropäische Euroskeptizismus zu finden sei, folgt die zweite
Hypothese:
Hypothese 2: Der Euroskeptizismus bei der CHP basiert auf dem politischen
Euroskeptizismus, weil sie politikorientierte Probleme hervorhebt, während der
Euroskeptizismus bei der MHP auf dem Identitätseuroskeptizismus basiert, weil sie die
nationale Identität und nationale Souveränität betont.
3. METHODISCHES VORGEHEN
Für die Zwecke dieser Arbeit werden vor allem Analysen des politischen Diskurses in
Betracht gezogen. Erstens: Eine Analyse der Parteiprogramme und der öffentlichen Auftritte
der Parteifunktionäre soll einen Rahmen für das Verständnis der Art des Euroskeptizismus bei
den entsprechenden politischen Parteien schaffen. Für die Analyse werden die
Sitzungsprotokolle des türkischen Parlaments, die Veröffentlichungen der entsprechenden
Parteien bezüglich ihrer Haltung zum Thema und die wichtigsten repräsentativen
Pressemitteilungen der Parteispitzen in dem erwähnten Zeitraum herangezogen. Zweitens
werden die Artikel der Politologen in der Türkei und der Türkeispezialisten in Europa als
wertvolle Quellen für die Analyse verwendet, um das Thema tiefgreifend und umfassend zu
betrachten zu können. Die Methoden, die bei der Arbeit verwendet werden, sind im
Folgenden dargestellt:
3.1 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
Die qualitative Inhaltsanalyse ermöglicht eine systematische, theorie- und regelgeleitete
Analyse der Parlamentsprotokolle, der Veröffentlichungen der CHP und MHP und der
Äußerungen ihrer Akteure in den Medien zum Euroskeptizismus. Die systematische

23
Auswertung der Texte erfordert klare Interpretationsregeln, um die intersubjektive
Überprüfbarkeit zu gewähren.
Mayring erklärt das Verfahren qualitativer Inhaltsanalyse in folgenden Punkten: Bei der
qualitativen Inhaltsanalyse wird erstens der Text in seinem speziellen Kontext interpretiert
und deren Entstehung und Wirkung betrachtet. Zweitens muss ein Ablaufmodell bestimmt
werden, das an den jeweiligen Gegenstand und Fragestellung angepasst sein muss. Dabei
werden die Analyseschritte und Analyseregeln explizit festgelegt. In der Inhaltsanalyse nach
Mayring (2008: 43) soll im Gegensatz zur freien Interpretation gelten, ,,dass jede Analyse,
jeder Analyseschritt, jede Entscheidung im Auswertungsprozess, auf eine begründete und
getestete Regel zurückgeführt werden kann." Die systematische Betrachtung der Texte wird
auch durch die Definition von inhaltsanalytischen Einheiten (Kodiereinheit, Kontexteinheit,
Auswertungseinheit) beibehalten. Drittens müssen Kategorien im Zentrum der Textanalyse
stehen. Durch das Erstellen eines Kategoriensystems werden die Vergleichbarkeit der
Ergebnisse und die Überprüfung der Reliabilität gewährleistet (Mayring 2008: 44). Viertens
ist zentral, dass diese Verfahren auf die jeweilige Studie hin angepasst werden müssen. Die
Qualitative Inhaltsanalyse stellt somit nicht nur eine standardisierte Technik dar, sondern
muss für jeden Forschungsgegenstand modifiziert werden. Fünftens sollten die Verfahren in
einer Pilotstudie getestet werden. Sechstens muss das Material mit einem Vorverständnis
analysiert werden, wobei theoretische Hintergründe, Fragestellungen und implizite
Vorannahmen ausgefertigt werden müssen. Nicht nur der evidente Oberflächeninhalt sondern
auch die vielschichtige Sinnstrukturen im Material werden herausgearbeitet (Mayring 2008:
45). Siebtens kann die Einbeziehung quantitativer Analyseschritte notwendig sein, wenn es
um eine Verallgemeinerung der Ergebnisse geht. Als letzten Punkt betont Mayring die
Wichtigkeit der Gütekriterien wie der Objektivität, Reliabilität und Validität.
Zusammenfassend will die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring Texte systematisch
analysieren, indem sie das Material schrittweise mit theoriegeleiteten, am Material
entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet. Das allgemeine inhaltsanalytische Ablaufmodell
nach Mayring (2008: 54) ist im folgenden Abschnitt dargestellt:
1. Festlegung des Materials: Dieser Analyseschritt entspricht weitgehend der Definition des
zu analysierenden Materialumfanges. In vielen Fällen muss eine Auswahl aus einem großen
Materialvorkommen getroffen werden, welches für die Forschungsfrage von Bedeutung ist.
Es muss darauf geachtet werden, dass diese Auswahl repräsentativ ist.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836641241
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bern – Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Politkwissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
2
Schlagworte
euroskeptizismus türkei republikanische volkspartei nationalistische bewegungspartei
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Titel: Euroskeptizismus in der Türkei
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