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Die 'Jabezgeneration' - Auswirkungen sozialer Ungleichheit und die Folgen für einen Teil der nachfolgenden Generation

©2009 Diplomarbeit 155 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Ein kugelförmiger, künstlicher, sowjetischer Satellit namens ‚Sputnik‘ (russ. ‚Weggefährte‘) setzte den Westen 1957 unter Schock. Dieses Ereignis erhielt sogar einen Namen: ‚Sputnik-Schock‘. Die westliche Welt war erschüttert und bestürzt. Wie konnte ein so rückständiges Land wie die damalige Sowjetunion diese technologische Höchstleistung vollbringen?
Fast fünfzig Jahre später kommt es wieder zu einem Schock-Erlebnis – dem ‚PISA-Schock‘, obwohl es kein Schock hätte sein müssen, weil Bildungsexperten nicht aufgehört haben, auf Defizite im Bildungswesen hinzuweisen. Dieses Mal sind es deutsche Schüler/innen, die mit ihren Testleistungen, die Bildungs- und Erziehungsfachwelt, Eltern und sogar die Regierung schockieren. Deutschland liegt beim Bildungsranking auf den hintersten Plätzen, obwohl dieses Land seit ungefähr vierzig Jahren Bildungsexpansion betreibt, seine wirtschaftlichen Erfolge beachtlich sind. Wie konnte ein so fortschrittliches Land wie die Bundesrepublik Deutschland im Bildungssektor nur Mittelmaß und schlechter sein? Was läuft schief, woran krankt unsere Gesellschaft?
Auf der Suche nach Erklärungen hat sich mir ein Argument, eine mögliche Erklärung erschlossen, die ebenso vom Deutschen PISA-Konsortium bestätigt wurde. Es sind die Bedingungen des Aufwachsens, die den Stand der erworbenen Kompetenzen beeinflussen.
Nun sind die ‚Bedingungen des Aufwachsens‘ ein weit gefasster Begriff, der jedoch eines impliziert – es geht um eine bestimmte Phase im Leben eines Menschen, die ihren Anfang mit der Geburt in eine Familie nimmt und mit dem Übergang in eine selbständige, von den Eltern unabhängige, souveräne Lebensphase zu Ende geht. Die Familie ist sozusagen der zentrale Ort, der Ausgangs- und Mittelpunkt des Aufwachsens, welcher jedoch mit dem Älterwerden des Menschen an Einfluss, nicht unbedingt an Wichtigkeit, verliert. ‘Mit der Familie fängt für fast alle Kinder alles an. Sie ist das Betreuungszentrum, sie ist die basale Lernwelt, in der Kinder aufwachsen, in der sie jenes Urvertrauen entwickeln und jene elementaren Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangen können, die sie befähigen, sich zunehmend eigenständig in der Welt zu bewegen. Damit kommt der Familie mit Blick auf die Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder eine ebenso zentrale wie lebensbegleitende Schlüsselfunktion zu.’ Mit dem Eintritt in den ‚öffentlichen‘ Bereich des Lebens, beginnend mit frühkindlicher Betreuung und Bildung sowie Erziehung in […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Manuela Trenkler
Die 'Jabezgeneration' - Auswirkungen sozialer Ungleichheit und die Folgen für einen
Teil der nachfolgenden Generation
ISBN: 978-3-8366-4092-3
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland, Diplomarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

/
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Teil
1. Einleitung
...
2
2. Ungleichheit und Chancenverteilung ­ Begrifflichkeiten ...
9
2.1 Soziale Ungleichheit ...
9
2.2 Chancengleichheit
...
12
2.3 Die Sozialstruktur und ihre Veränderungen ...
13
2.3.1 Das Soziale Klassen- und Schichtenmodell ...
13
2.3.2 Soziale Lagen ...
16
2.3.3 Soziale Milieus und Lebensstile
...
17
2.3.4
Klassen/Schichten vs. Milieu/Lebensstil
...
18
2.4 Theorie der sozialen Ungleichheit nach BOURDIEU
­ Habitustheorie
...
21
2.5 Die
Individualisierungsthese von BECK
...
23
3. Dimensionen sozialer Ungleichheit ...
26
3.1 Bildung
...
27
3.1.1 Chancen(un)gleichheit ­ Bildungs(un)gerechtigkeit ...
29
3.1.2 Soziale Herkunft
...
30
3.1.3 Geschlechtsspezifischen Ungleichheit
...
36
3.1.4 Verhältnis Migration ­ Bildung
...
37
3.2 Einkommen, Vermögen und Besitz ...
41
3.3 Macht ...
42
3.4 Prestige
...
43
3.5 Arbeits-, Wohn­ und Freizeitbedingungen ...
44
4. Benachteiligte Randgruppen ...
46
5. Zusammenfassung: Soziale Ungleichheit
...
48

//
II.Teil
1. Vorbemerkung ...
49
2. Vom Jüngling zum Jugendlichen ­ ein historischer Blick
...
50
3. Strukturwandel der Jugendphase
...
54
3.1 Vom ,normalen` zum ,außergewöhnlichen` Lebenslauf
...
55
3.2 Entstrukturierung und Individualisierung als Folge der
Abwendung vom Normallebenslauf ...
56
3.3 Sonnen- und Schattenseiten der Strukturveränderungen ...
58
4. Jugendliche und ihre Zukunftsperspektiven ...
61
4.1 Hindernisse, Hürden und Begrenztheiten
...
62
4.2 Eingeschränkte ,Mitfahrgelegenheiten'
...
64
4.2.1 Die Herkunftsfamilie als Basis für Zukunftschancen
...
65
4.2.2 Selektionsentscheidungen im Bildungssystem
...
68
4.2.3 Hauptschule - Restschule für ,Zurückgelassene
.
71
4.3 Kumulative Chancenungleichheit nach der Sekundarstufe I
...
75
4.3.1 Je höher die Qualifizierung, desto besser die Perspektive ...
75
4.3.2 Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für Hauptschüler/innen
..
77
5. Hilfesysteme allgemein und konkret ...
79
6. Zusammenfassung - Veränderungen der Jugendphase und deren
Auswirkungen auf sie ... .
82

///
III. Teil
1. Vorbemerkung ...
85
2. BBQ ­ Berufliche Bildung gGmbH
...
86
2.1 Starthilfe ins Berufsleben
...
87
2.2 Bilanzen zum Reutlinger Integrationsmodell ...
90
IV. Schlussbetrachtung - Möglichkeiten realistischer Zukunftschancen
..
93
Literaturverzeichnis ...
100
Abkürzungsverzeichnis
...
114

1
Vorwort
Die ,Jabezgeneration` ­ wer oder was ist ,Jabez`?
,Jabez` ist eine Person aus der Bibel. Keine herausragende Persönlichkeit. Die meisten
Menschen haben vielleicht schon von ,Mose` (aus dem Wasser gezogen) oder ,Salomo`
(Frieden) gehört. Aber ,Jabez` ist sicher den wenigsten bekannt. Es steht auch nicht viel über
ihn in der Bibel, gerade mal zwei Verse (1. Chronik 4, 9-10) inmitten einer langweiligen
Aufzählung des Familienstammbaumes der Stämme Israels, angefangen bei Abraham
(Vater der Menge). Warum entlehne ich für den Titel dieser Diplomarbeit einen Namen aus
der Bibel? ,Jabez` hat ein Gebet gesprochen, was nachhaltig sein Leben veränderte. Aber
das ist nicht der Grund für die Wahl des Titels, wenngleich es sich lohnt, die kurze Stelle
einmal zu lesen. In der Zeit des ,Jabez` war der Name etwas sehr Entscheidendes für den
Lebensweg des Menschen. Zu Zeiten des Salomo gab es beispielsweise keinen Krieg,
Salomo bedeutet Frieden. Die Übersetzung für ,Jabez` ist Schmerz. Wann immer der Name
,Jabez` fiel, wurde der Junge daran erinnert, dass er seiner Mutter besonders viel Schmerz
bei der Geburt, vielleicht auch schon während der Schwangerschaft zugefügt hatte. Das
Leben des kleinen ,Jabez` stand unter keinen guten Vorzeichen. Der Verlauf würde immer
nur mit Schmerzen verbunden sein, ob nun physisch oder psychisch. Die Bedingungen
seines Aufwachsens würden ihn und seine Umwelt immer an etwas Nachteiliges, etwas
Leidiges, etwas Unangenehmes erinnern. ,Jabez` war durch seinen Namen benachteiligt.
Und trotzdem bekam sein Leben eine Wende, er schaffte es, ein Mann von Ansehen zu
werden. Er hatte eine Chance und die ergriff er mit nachhaltiger Wirkung.
In der Moderne, der Zeit des rasanten technischen Fortschritts, der sozialen Wohlfahrt und
der Bildungsexpansion ist es nicht mehr der Name der stigmatisiert, ausgrenzt, Lebens- und
Zukunftschancen zuschreibt und beeinflusst. Vielmehr sind es vorrangig die soziale
Herkunft und die Position in der Gesellschaft sowie die Ethnie, die Lebens- und
Zukunftschancen beeinflussen.
Hat, bekommt und will die junge Generation eine Chance, den Konsequenzen, die sich mit
ihrer Herkunft, ihrer gesellschaftlichen Position verbinden, zu entgehen? ,Jabez` hatte,
bekam und wollte eine.

Teil I
2
1. Einleitung
Ein kugelförmiger, künstlicher, sowjetischer Satellit namens ,Sputnik` (russ. ,Weggefährte`)
setzte den Westen 1957 unter Schock. Dieses Ereignis erhielt sogar einen Namen: ,Sputnik-
Schock`. Die westliche Welt war erschüttert und bestürzt. Wie konnte ein so rückständiges
Land wie die damalige Sowjetunion diese technologische Höchstleistung vollbringen?
Fast fünfzig Jahre später kommt es wieder zu einem Schock-Erlebnis ­ dem ,PISA-Schock`,
obwohl es kein Schock hätte sein müssen, weil Bildungsexperten nicht aufgehört haben, auf
Defizite im Bildungswesen hinzuweisen. Dieses Mal sind es deutsche Schüler/innen, die mit
ihren Testleistungen, die Bildungs- und Erziehungsfachwelt, Eltern und sogar die Regierung
schockieren. Deutschland liegt beim Bildungsranking auf den hintersten Plätzen, obwohl
dieses Land seit ungefähr vierzig Jahren Bildungsexpansion betreibt, seine wirtschaftlichen
Erfolge beachtlich sind. Wie konnte ein so fortschrittliches Land wie die Bundesrepublik
Deutschland im Bildungssektor nur Mittelmaß und schlechter sein? Was läuft schief, woran
krankt unsere Gesellschaft?
Auf der Suche nach Erklärungen hat sich mir ein Argument, eine mögliche Erklärung
erschlossen, die ebenso vom Deutschen PISA-Konsortium bestätigt wurde. Es sind die
Bedingungen des Aufwachsens, die den Stand der erworbenen Kompetenzen beeinflussen.
Nun sind die ,Bedingungen des Aufwachsens` ein weit gefasster Begriff, der jedoch eines
impliziert ­ es geht um eine bestimmte Phase im Leben eines Menschen, die ihren Anfang
mit der Geburt in eine Familie nimmt und mit dem Übergang in eine selbständige, von den
Eltern unabhängige, souveräne Lebensphase zu Ende geht. Die Familie ist sozusagen der
zentrale Ort, der Ausgangs- und Mittelpunkt des Aufwachsens, welcher jedoch mit dem
Älterwerden des Menschen an Einfluss, nicht unbedingt an Wichtigkeit, verliert. ,,Mit der
Familie fängt für fast alle Kinder alles an. Sie ist das Betreuungszentrum, sie ist die basale
Lernwelt, in der Kinder aufwachsen, in der sie jenes Urvertrauen entwickeln und jene
elementaren Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangen können, die sie befähigen, sich
zunehmend eigenständig in der Welt zu bewegen. Damit kommt der Familie mit Blick auf die
Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder eine ebenso zentrale wie lebensbegleitende
Schlüsselfunktion zu."
1
Mit dem Eintritt in den ,öffentlichen` Bereich des Lebens, beginnend
mit frühkindlicher Betreuung und Bildung sowie Erziehung in öffentlichen Einrichtungen, wie
z. B. der Kindergarten (Elementarbereich) und anschließend die Grundschule
(Primarbereich), der Sekundarbereiche I und II und des Tertiären Bereichs der beruflichen
Ausbildung, gewinnen verschiedene Institutionen größere Bedeutung und Einfluss. Mit dem
Übertritt in die Berufs- bzw. Erwerbsphase und der allmählichen Ablösung von den Eltern,
der Gründung einer eigenen Familie und der Autonomie als vollwertiger Staatsbürger mit
1
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) 2005, CD.

Teil I
3
allen Rechten und Pflichten, kann vom Erwachsenen gesprochen werden. Die Phase des
Aufwachsens ist vorbei.
Welchen Einfluss und welche Wichtigkeit die Sozialisationsfelder der Aufwachsphase für
Kinder und Jugendliche haben, wird Teilthema dieser Arbeit sein. Dem vorangestellt sind
gesellschaftliche Gegebenheiten und Bedingungen, die in Verbindung mit den
Sozialisationsbedingungen nach der Analyse der PISA-Ergebnisse einen erheblichen
Einfluss auf die Integration der nachkommenden Generation haben.
Wie kann es sein, dass es in einer demokratischen, freien, sozial- und rechtsstaatlichen, auf
Wohlfahrt ausgerichteten Gesellschaft nur einem Teil der Mitglieder gelingt, das Beste für
sich aus diesen Bedingungen machen zu können? Einem anderen Teil aber bleiben nur
Illusionen, bzw. realistische Zukunftspläne können gar nicht erst entstehen. Wie ist es
möglich, dass sich zwar der Großteil der Jugendlichen an der Abfolge Pflichtschulbesuch ­
Berufsausbildung orientiert, aber einem Teil bleibt dieser Weg vorenthalten? Warum drehen
immer mehr Jugendliche in Übergangsmaßnahmen ihre Warteschleifen, um mit einer
mehrjährigen Verspätung eine Ausbildung oder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen?
Mit Blick auf diese Fragen wird im ersten Teil dieser Arbeit auf Strukturen sozialer
Ungleichheit eingegangen. Dabei wird der Tatsache Aufmerksamkeit geschenkt, dass es
einen Unterschied zwischen sozialer Differenzierung, Verschiedenartigkeit und sozialer
Ungleichheit gibt. Mit letzterer sind ungleiche Lebens- und Arbeitsbedingungen verbunden,
die durch die differente Entwicklung bzw. dem ungleichen Vorhandensein von Bildung,
Einkommen/Vermögen, Macht und Prestige zu unterschiedlichen Lebenschancen, zu ,,mehr
oder minder vorteilhaften Lebens- und Handlungschancen"
2
führen. Es wird deutlich
gemacht, dass soziale Ungleichheit (2.1) dann zur sozialen Ungerechtigkeit führt, wenn
Chancengleichheit (2.2) ausbleibt bzw. vernachlässigt wird, wenn Gelegenheiten ungenutzt
bleiben (müssen), Fähigkeiten und Wünsche zu fördern.
Die gesellschaftlich vorgegebene Sozialstruktur und ihre Veränderung (2.3) im Verlauf der
Entwicklung von einer vorindustriellen zu einer hochmodernen, medialen Wissens-,
Informations- und Leistungsgesellschaft bringt ein sich immer wieder veränderndes
Zusammenspiel
von
gesellschaftlichen
Bedingungen
und
Stellungen
der
Gesellschaftsmitglieder mit sich. Mit der Sozialstruktur verbinden sich Konzepte von sozialen
Lagen, sozialen Schichtungen, Klassenmodellen, die sich ,,auf die Strukturen sozialer
Ungleichheit in einer Gesellschaft und auf die Position von Personen in der Statushierarchie
[
beziehen]."
3
Um die Mehrdimensionalität der Ungleichstruktur besser erfassen zu können,
werden traditionelle vertikale Ungleichheiten (Klasse/Schicht ­ 2.3.1) durch horizontale
2
Hradil 1987, S. 141.
3
Habich/Noll 2008, S. 173.

Teil I
4
Ungleichheiten erweitert. Eine Berufszentriertheit zur Kennzeichnung der sozialen Position
der Menschen wird mittels Lagenmodelle ergänzt bzw. vervollständigt. Durch zusätzliche
Determinanten sozialer Ungleichheit (Alter, Wohnregion, Geschlecht, familiäre Lebensform
sowie ethnischen Zugehörigkeit) kann die soziale Lage (2.3.2) in achtzehn verschiedene
Lagen eingeteilt werden (z. B. leitende Angestellte/höhere Beamte, Facharbeiter, Arbeitslose
usw.).
4
Werden Menschen zudem noch nach ihrer
Lebensauffassung und Lebensweise -
Wertorientierungen, Lebenszielen, Einstellungen zur Arbeit, Freizeit, Familie, pol.
Grundüberzeugungen etc. -
untersucht und eingeordnet, kann ein sehr verfeinertes Bild ihrer
Stellung in einem sozialen Milieu (2.3.3) ausgemacht werden. Aus diesem heraus gestalten
sie ihren Alltag, denken, fühlen, handeln und interagieren sie
mehr oder weniger bewusst.
Sie leben einen ihren Gesamtverhältnissen angepassten Lebensstil
(2.3.3)
.
Inwieweit und ob sich Klassen und Schichten auflösen oder von Milieu und
Lebensstilstrukturen abgelöst wurden bzw. diese ergänzen, wird in einer Gegenüberstellung
deutlich (2.3.4).
Es ist der Alltag, die Position in der Gesellschaft, die sozialen Gruppen Grenzen aufzeigen,
die ihr Handeln bestimmen. ,,Das Handeln der Akteure im sozialen Raum, ihr gesamter
Lebensstil ­ so die zentrale These Bourdieus (2.4) ­ ist von ihrer jeweiligen Position im
sozialen Raum bestimmt. Was aus der Perspektive der Handelnden das Ergebnis freier
individueller Entscheidungen, Vorlieben und Anstrengungen ist, ist aus der
Beobachterperspektive Bourdieus Ausdruck eines sozialen ,Schicksals`, das wir nur in engen
Grenzen beeinflussen können, das Ergebnis einer schichtenspezifischen Sozialisation."
5
Eine schichtenspezifische Sozialisation begründet sich demnach nach der
Stellung des
Subjektes innerhalb eines sozialen Raumes, also innerhalb der Position in der Gesellschaft.
Im Kontext dieser Arbeit wird der Zusammenhang zwischen Handlungsformen, Verhaltens-
strategien der Subjekte und der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und
Chancen
bei gleichzeitigem Vorhandensein sozialer Ungleichheit aufgezeigt. Soziales ,Schicksal` geht
u. a. in Bildungsungleichheiten auf, da Ressourcen an ökonomischem, kulturellem (auch
Bildungs-) und sozialem Kapital nicht jedem Menschen in gleichem Maße zur Verfügung
gestellt werden.
Die Individualisierungsthese von BECK (2.5) hat für den Kontext dieser Arbeit insofern
Bedeutung, als dass durch die
gesellschaftliche Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat
Individualisierungsprozesse in Gang gesetzt wurden, die zum Einen aus traditionellen
Bindungen entlassen und zu mehr Mobilität und Wahlfreiheiten, aber auch zu mehr
Unsicherheiten und Risiken führen können, zum Anderen Entscheidungsmöglichkeiten durch
gesellschaftliche Institutionen dagegen wieder eingefordert werden. Der Zwang sich für
4
Vgl. Habich/Noll 2008, S. 174.
5
Baumgart 1997, S. 199 (Hervorhebung und Einschub ­ M-T.)

Teil I
5
etwas entscheiden zu müssen, bleibt trotzdem bestehen. Gleichwohl spielt bei vermehrten
Individualisierungsmöglichkeiten soziale Ungleichheit als Einschränkung und
Begrenztheit
eine Rolle. Dies gilt umso mehr, als dass j
eder die Konsequenzen seiner Entscheidungen
und seines Handelns selbst tragen, seine Lebensplanung und -organisation selbst
übernehmen muss.
Auf eine der m. E. bedeutungsvollsten, nachhaltigsten und grundlegendsten Dimension
sozialer Ungleichheit (3.) ­ der Bildung (3.1) ­ wird in dieser Arbeit der besondere Wert
gelegt.
,,Ein wichtiges Ziel moderner Bildungssysteme besteht in der optimalen Förderung aller
Angehörigen einer nachwachsenden Generation unabhängig von deren sozialer, ethnisch-
kultureller
und
regionaler
Herkunft
sowie
der
Ermöglichung
vergleichbarer
Entwicklungschancen."
6
Entsprechen unsere Gesellschaft respektive unsere Bildungspolitik
diesem Ziel? Es werden soziale Disparitäten im Bildungsverlauf aufgezeigt, denen Kinder
und Jugendliche ausgesetzt sind und die sich auf Chancen- und Bildungs(un)gerechtigkeit
(3.1.1), soziale Herkunft (3.1.2) und Geschlecht (3.1.3) beziehen. Mit besonderer
Aufmerksamkeit wird das Verhältnis Migration - Bildung (3.1.4) betrachtet. Die bereits
erwähnten Bedingungen des Aufwachsens finden in diesem Abschnitt insofern besondere
Berücksichtigung, als dass sie in Bezugnahme auf entsprechende Ressourcen an
ökonomischem und kulturellem Kapital, die Bildungsentscheidung der Eltern für ihre Kinder
im Wesentlichen mitbestimmen. Die Weichenstellung für die Bildungslaufbahn der Kinder
beginnt mit der sozialen Stellung der Familie in der Gesellschaft. Die großen sozialen
Unterschiede bedingen eine Bildungsbenachteiligung ,,...der immer schon Benachteiligten
gegenüber den immer schon Privilegierten ..."
7
Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen stehen in engem
Zusammenhang mit Einkommen, Vermögen und Besitz (3.2) der Eltern, welche natürlich
mit ihrer Berufsposition verbunden sind. Hierin ist eine weitere Dimension sozialer
Ungleichheit zu erkennen. Einkommen, Vermögen und Besitz sind zentrale Ressourcen für
die Erreichung nicht nur von unmittelbaren Lebensbedürfnissen, sondern auch einer
erweiterten Bedürfnisbefriedigung und somit der Sicherung eines gewünschten
Lebensstandards. Dies wirkt sich auf das Niveau der wahrgenommenen Lebensqualität aus.
8
Einkommen, Macht (3.3) und Prestige (3.4) geben Auskunft über Arbeits-, Wohn­ und
Freizeitbedingungen (3.5) und verweisen auf die gesellschaftliche Teilhabe der
benachteiligten Randgruppen (4.) in unserer Gesellschaft.
6
Maaz/Watermann/Baumert 2007, S. 444.
7
Lersch 2001, S. 231.
8
Vgl. Goebel/Habich/Krause 2008, S. 163.

Teil I
6
Der zweite Teil dieser Diplomarbeit befasst sich mit dem Teil unserer Gesellschaft, den die
Folgen sozialer Ungleichheit am härtesten und nachhaltigsten trifft ­ die Jugend, die jungen
Erwachsenen, die jede Entscheidung, die sie selbst oder andere für sie treffen, verantworten
müssen. Dieser Teil benötigt ein stabiles Lebensfundament, vor allem Beständigkeit,
Zuverlässigkeit sowie Sicherheit. Aber gerade diese Bevölkerungsgruppe ist im hohen Maß
den strukturellen Veränderungen der Gesellschaft ausgesetzt, weil dieses Lebensfundament
an Stabilität verloren hat.
Nach einem historischen Blick auf die Entwicklung vom Jüngling zum Jugendlichen (2.)
und dem gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und pädagogischen Anerkenntnis der
,Lebensphase Jugend` als eigenständige Lebensphase, wird auf den Strukturwandel der
Jugendphase (3.) eingegangen. Neben einer nach HURRELMANN soziokulturellen
Selbständigkeit der Jugend der heutigen Zeit spricht er von gleichzeitiger sozioökonomischer
Abhängigkeit von den Eltern oder dem Staat. Der ebenso zeitlich ausgedehnte Verbleib in
der Herkunftsfamilie bzw. die mögliche oder notwendige Rückkehr in diese spielen eine
entscheidende Rolle bei der Entwicklung vom ,normalen` zum ,außergewöhnlichen`
Lebenslauf (3.1). Die zeitlich normierte Drei-Phasen-Struktur Ausbildung-Erwerbsphase-
Rente, die den Normallebenslauf noch vor 40 bis 50 Jahren bestimmte
9
, wurde ablöst von
einem
unsicheren,
brüchigen
und
,,...zunehmend
individuell
verlaufenden
Übergangsprozess..."
10
. Der ,Normallebenslauf` ist zum Auslaufmodell geworden, zum
,außergewöhnlichen Lebenslauf`. Demnach konvertiert das Außergewöhnliche mittlerweile
zur Normalität. Die Strukturveränderung eines viele Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte
praktizierten und gelebten standardisierten Lebenslaufs kann nicht ohne Folgen bleiben. Die
,Normalbiographie` wird zu einer ,Bastelbiographie`, jeder ,bastelt` und ,montiert` sich sehr
individuell sein Leben aus den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Gelegenheiten
zusammen. Entstrukturierung und Individualisierung sind Folgen der Abwendung vom
Normallebenslauf (3.2). Sie setzen zugleich einen chancenreichen wie risikovollen Prozess
der Gestaltung der Handlungs- und Lebenschancen sowie ein Abwägen der Lebensrisiken in
Gang. Wie jede Veränderung so hat auch dieser Prozess Sonnen- und Schattenseiten
(3.3). Neben vermehrten Wahl- und Handlungsmöglichkeiten der Subjekte mit Blick auf die
Individualisierung
müssen die
Folgekosten
- mehr Unsicherheiten und Risiken - ebenso vom
Einzelnen getragen und verantwortet werden. Es können in diesem Zusammenhang
sowohl
,Individualisierungsgewinner` als auch ,Individualisierungsverlierer` unter den Jugendlichen
ausgemacht werden.
9
Vgl. Walther/Stauber 2007, S. 23.;Vgl. Berger 1998. S. 20.
10
Heitmeyer/Olk 1990, S. 22.

Teil I
7
Wer gehört im Kontext dieser Arbeit zu den Verlierern, den Enttäuschten, den
Benachteiligten, wer zu den Gewinnern, den Erfolgreichen? Wie sehen die
Zukunftsperspektiven der Jugendlichen (4.) in einer Realität aus, die auf Bildung und
Qualifikation ausgerichtet ist, die über Beruf und Einkommen den Sozialstatus ihrer
Gesellschaftsmitglieder reproduziert? Bildung, Einkommen/Vermögen, Macht, Prestige, also
Dimensionen sozialer Ungleichheit sind nach HRADIL wertvolle Güter, die in unserer
Gesellschaft sehr unterschiedlich verteilt sind und über die nicht jedes Gesellschaftsmitglied
gleichermaßen verfügen kann.
11
Die unterschiedliche Verteilung, Zuweisung und Ausstattung
von und mit wertvollen Gütern ,,...eröffnet oder begrenzt Handlungsspielräume zur
Verwirklichung von Interessen, Bedürfnissen und Lebensentwürfen."
12
Im Kontext dieser
Arbeit geht es um die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich mit Hindernissen,
Hürden und Begrenztheiten (4.1) auseinandersetzen müssen und dadurch nur auf
eingeschränkte ,Mitfahrgelegenheiten` (4.2) zurückgreifen können. An dieser Stelle wird
vertieft auf die Rahmenbedingungen des Aufwachsens, also die Herkunftsfamilie als Basis
für Zukunftschancen (4.2.1), ebenso auf institutionelle Gegebenheiten, konkret die
Schule,
und
in
dem
Zusammenhang
auf
ihre
rigiden
Segregationspraktiken
und
Selektionsentscheidungen (4.2.2) eingegangen.
Dies kann nicht ohne Konsequenzen für den Teil der Jugendlichen bleiben, die beim
systematischen ,Verlesen`, Kategorisieren und Einteilen nach Noten zu den weniger
leistungsfähigen Menschen, zu den ,Zurückgelassenen` (4.3) gehören. ,,Wer auf der
Hauptschule landet, gilt heute nicht selten als ,aussortiert`."
13
Nach dem sicher etwas
sarkastisch klingenden Spruch ,,Die guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen"
werden an dieser Stelle der Bildungslaufbahn die Weichen für die Zukunft gestellt, werden
Chancen vergeben oder verweigert. Es kommt beim Übergang in die Sekundarstufe I zu
einer Statusvorentscheidung für die Zukunft, zu einer zukünftigen ,Platzanweisung` im
gesellschaftlichen Gefüge. Das stark nach sozialer Herkunft selektierende Schulsystem
stützt auf diese Weise soziale Ungleichheit und kumuliert so Chancenungleichheit nach
der Sekundarstufe I (4.4). Ohne Ausnahme und nicht erst seit PISA kommen Fachliteratur,
Studien und Statistiken zu dem Ergebnis, dass je besser bzw. umfangreicher die
(Schul)Bildung ist, desto besser sind auch die Chancen eine Ausbildung zu bekommen bzw.
auf dem Arbeitsmarkt anzukommen. Anders ausgedrückt: je höher die Qualifizierung, desto
besser die Perspektive (4.4.1). Mit dieser Erkenntnis wird klar, dass der Ausbildungs- und
Arbeitsmarkt für Hauptschüler/innen (4.4.2) enorm begrenzt ist, die Hürden ins Erwerbsleben
sind höher. Die Ursachen sind vielschichtig und komplex. Unsere hoch technologisierte
11
Vgl. Hradil 2005 S. 30.
12
Achatz u.a. 2000, S. 16.
13
Belwe 2007, Editional.

Teil I
8
Wissens-, Informations- und Leistungsgesellschaft verlangt nach hoch qualifizierten
Arbeitskräften, weniger nach Absolvent/innen mit niedrigem oder gar keinem
allgemeinbildenden Schulabschluss. Daneben sind es vor allem Hauptschulabsolvent/innen,
die sich einem harten Verdrängungswettbewerb mit höher qualifizierten Jugendlichen und
jungen Erwachsenen stellen müssen, auch weil diese auf Berufe zugreifen wollen, die
ehemals Hauptschüler/innen vorbehalten waren. Schüler/innen ohne Abschluss oder einen
Förderabschluss haben es noch schwerer.
So verwundert es nicht, dass insbesondere Jugendliche der unteren Bildungsgänge auf
Hilfesysteme (5.) der Gesellschaft zurückgreifen müssen und können. Durch das
Zusammenwirken von Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) Grundsicherung für
Arbeitsuchende, Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch (III) Arbeitsförderung und
Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) Kinder- und Jugendhilfe sollen für Jugendliche
und junge Erwachsene mit besonderem Förderbedarf, Benachteiligungen ausgeglichen und
individuelle Beeinträchtigungen überwunden werden. Dabei bildet die Jugendberufshilfe
einen Schwerpunkt. Sie unterstützt Jugendliche mit Übergangsproblemen vom
Sekundarbereich I in eine Berufsausbildung oder eine Beschäftigung durch
berufsvorbereitende und ausbildungsbegleitende Maßnahmen. Unabhängig von einer
Bewertung der Sinnhaftigkeit des
Übergangssystems besteht hier die Möglichkeit der
Verbesserung individueller Kompetenzen sowie des Nachholens eines allgemeinbildenden
Schulabschlusses.
In einem dritten Teil der Diplomarbeit sollen an einem Beispiel aus der Praxis ein
Übergangsmodell und Übergangsproblematiken der Teilnehmer/innen im Übergangssystem
vorgestellt werden. Beim Bildungsträger BBQ ­ Berufliche Bildung gGmbH (2.) Reutlingen
startete im September 2006 das erste Reutlinger Integrationsmodell (RIMO). Das Besondere
und Neue bei dieser Starthilfe ins Berufsleben (2.1) zeichnet sich durch die regelmäßige,
sehr individuelle und intensive Teilnehmer/innenbetreuung und Unterstützung bei der
Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche durch ehrenamtliche Mentor/innen aus. Zum Abschluss
werden Bilanzen zum Reutlinger Integrationsmodel (2.2) gezogen.
Mit der Schlussbetrachtung werden im vierten Teil Möglichkeiten realistischer
Zukunftschancen der heutigen jungen Menschen und konkret derer betrachtet, die durch
begrenzte Möglichkeiten oft einen erschwerten Start ins eigenständige Leben haben, deren
Handlungs- und Lebenschancen durch beschränkte Ressourcen, insbesondere der
Ressource ,Bildung`, eingeschränkt oder teilweise gar nicht wahrnehmbar sind.

Teil I
9
2. Ungleichheit und Chancenverteilung - Begrifflichkeiten
Menschen leben in qualitativ unterschiedlichen Beziehungen zu anderen Menschen und
haben als Individuum eine entsprechende soziale Stellung im Gesamtgefüge der
Gesellschaft, in der sie leben. Diese Stellung richtet sich nach ihrer Zugehörigkeit zu einer
Sozialkategorie, welche gekennzeichnet ist durch gleiche demographische Merkmale wie
z. B. Beruf, Geschlecht, Alter, Familienstand und Konfession. Nach dem Zusammenwirken
von biologischen (Alter, Geschlecht) und erworbenen Merkmalen (Bildung, Beruf,
Familienstand, Nationalität) orientieren sich die Bedingungen des Zusammenlebens. Eine
wohlsituierte, kinderlose, verheiratete Universitätsprofessorin mittleren Alters gehört einer
anderen Sozialkategorie an als ein arbeitsloser, älterer, alleinerziehender Vater. Diese
Merkmale implizieren eine bessere bzw. schlechtere Situiertheit, schließen eine
Bevorzugung oder Benachteiligung innerhalb der Gesellschaft ein, ziehen ein
entsprechendes Prestige nach sich. Entsprechend sind die Lebenslagen, die Lebens- und
Arbeitsverhältnisse ungleich. Dies führt zur Begrifflichkeit der sozialen Ungleichheit und den
damit verbundenen Erklärungen der sozialen Struktur.
2.1 Soziale Ungleichheit
,,Soziale Ungleichheiten sind wichtige Aspekte menschlichen Zusammenlebens. Es handelt
sich dabei um zentrale menschliche Daseinsbedingungen, um Vorteile und Nachteile, die
das Leben der einzelnen und die Gesellschaft im Ganzen wesentlich beeinflussen."
14
Diese
Daseinsbedingungen werden in der heutigen postmodernen Gesellschaft im Wesentlichen
von den Dimensionen Bildung, Beruf, Einkommen/Vermögen, Macht und Prestige bestimmt.
Diesen Dimensionen unter- bzw. nachgeordnet ist die Gesamtheit der Arbeits- und
Lebensbedingungen (u. a. Freizeitmöglichkeiten, Umwelt- und Wohnbedingungen). Sie sind
umso wertvoller, je zuverlässiger damit die Chance verbunden ist, den Lebensstandard oder
die Lebensumstände zu verbessern.
Ungleich bedeutet bei HRADIL jedoch nicht gleich ungerecht. So unterscheidet er z. B.
zwischen absoluter und relativer, an anderer Stelle zwischen legitimer und illegitimer
Ungleichheit. Damit wird zwischen ,,...erwünschte(n) (z. B. Einkommensdifferenzierungen
infolge von Leistungsdifferenzierungen) und unerwünschte(n) (z. B. Armut), als gerecht
empfundene(n) (höhere Stundenlöhne für Qualifiziertere) und als ungerecht bewertete(n)
(ungleiche Entlohnung von Mann und Frau) Disparitäten..."
15
unterschieden. Eine weitere
Unterscheidung trifft er zwischen ,,... ,objektiven` und ,subjektiven` Erscheinungen sozialer
Ungleichheit."
16
So machen sich subjektive Ungleichheiten über das Bewusstsein des
14
Hradil 2005, S. 15/16.
15
Hradil 1987, S. 16 (Hervorhebungen im Original); Vgl. auch Hradil 2005, S.28f.
16
Hradil 1987, S. 16.

Teil I
10
Menschen breit (Macht, Prestige), hingegen sind die objektiven Ungleichheiten unabhängig
davon (Bildung, Einkommen). Mit der Erkenntnis zwischen ,attributiven` und ,relationalen`
Ungleichheiten zu unterscheiden, entspricht HRADIL der Möglichkeit, dass Macht und
Prestige immer im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen zu sehen (relational), jedoch
Vermögen und Bildung von diesem Zusammenhang befreit sind. Geld und/oder Bildung hat
der Mensch (attributiv) oder nicht, unabhängig von seinen sozialen Beziehungen. Mit der
vierten und letzten Unterscheidung weist HRADIL auf die Wechselbeziehung zwischen
vorhandenen Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten hin. Bildung, Einkommen, die damit
verbundene Stellung im Gesellschaftsgefüge beispielsweise können als vorhandene
Ressourcen genutzt und eventuell auch konvertiert bzw. wegen Fehlens zum Nachteil
werden. So beeinflussen Ressourcen die Lebensverhältnisse der Individuen, verbessern
entweder ihre Wahloptionen und Gestaltungsspielräume einer vorteilhafteren Lebensführung
oder verstärken durch ihr Fehlen die Risiken der Lebensführung und schränken damit die
Lebens- und Handlungschancen ein.
17
Als Zusammenfassung bzw. Definition sozialer Ungleichheit versteht HRADIL: ,,...die mehr
oder minder vorteilhaften Lebens- und Handlungschancen, die Menschen durch
gesellschaftlich hervorgebrachte Lebensbedingungen dauerhaft vorgegeben sind."
18
Oder:
,,Soziale Ungleichheit liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen
Beziehungsgefügen von den ,wertvollen Gütern` einer Gesellschaft regelmäßig mehr als
andere erhalten."
19
Gesellschaftliche Voraussetzungen oder gesellschaftlich hervorgebrachte
Handlungsbedingungen - mehr oder minder vorteilhaft - bestimmen also, ob
Gesellschaftsmitgliedern ihre Lebensplanung mehr oder weniger gut gelingt bzw. welche
Chancen sie haben, ihre Lebensziele zu erreichen.
Das Phänomen der sozialen Ungleichheit ist somit gesellschaftlich verankert und auch
negativ besetzt, demzufolge von der Verschiedenartigkeit (z. B. Augen- und Hautfarbe,
Geschlecht, Körpergröße) und der sozialen Differenzierung (z. B. berufliche Arbeitsteilung,
Zugehörigkeit zu Parteien und Religionen) als neutrale Begrifflichkeiten zu unterscheiden.
Auch wenn, wie schon erwähnt, Ungleichheit nicht zwangsläufig Ungerechtigkeit meint, so
wird sie doch als gesellschaftliches Problem gesehen und in der Ungleichheitsforschung als
solches determiniert.
Auch KRECKEL bezieht dazu Stellung und untermauert die gesellschaftliche Brisanz dieses
Themas. Er erklärt, dass soziale Ungleichheit überall dort vorliegt, ,,...wo die Möglichkeiten
des Zuganges zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder
sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten
17
Vgl. Hradil 1987, S. 16/17.
18
Hradil 1987, S. 141.
19
Hradil 2005, S. 30.

Teil I
11
ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen
der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt
werden."
20
Die zentralen Aussagen beziehen sich m. E. auf ,die Möglichkeit des Zugangs` als
erschwerte oder beschränkte bzw. begünstigte Voraussetzung für das Handeln und die
Handlungsmöglichkeiten der Menschen. Damit verbunden ist selbstverständlich auch die
ungleiche Möglichkeit der Erlangung begehrter ,sozialer Güter`.
21
Durch ,ungleiche Macht-
und/oder Interaktionsmöglichkeiten` gepaart mit ,dauerhafte(n) Einschränkungen` und damit
ungleichen Handlungsmöglichkeiten werden den Personen ebenso gelingende
,Lebenschancen` entzogen. Das heißt, diese Menschen haben einen eingeschränkten
Zugang zu gesellschaftliche Ressourcen und damit weniger Chancen am gesellschaftlichen
Leben teilzunehmen. Soziale Ungleichheit ist demnach gesellschaftlich gesetzt und bedingt
somit Benachteiligung und Vernachlässigung, ja sogar soziale Diskriminierung einerseits und
Vorteilsnahme und Privileg andererseits.
Mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung von einer ,Wohlstandsgesellschaft` ­
Massenkonsum - zu einer ,Wohlfahrtsgesellschaft` - soziale Sicherheit als individuelles
Grundrecht - verändern sich nicht nur die Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder und damit
die Dimensionen ungleicher Lebensbedingungen
22
, sondern ebenso die Forderungen an den
Staat, die als legitim anerkannten Lebensziele in ihrer Erreichbarkeit für alle entsprechend zu
gestalten. Ein neues Aufgabenfeld stellt sich dem Staat als Bedarf und Notwendigkeit:
Chancengleichheit verbunden mit der Möglichkeit zur sozialen Mobilität
23
herzustellen.
2.2 Chancengleichheit
Der Begriff Chancengleichheit steht in enger Verbindung mit sozialer Ungleichheit. Sie ist
somit als solche festgestellt und anerkannt. Chancengleichheit wird darum von der
Bundesregierung durch Gesetzestexte eingefordert und soziale Ungleichheit folglich
nivelliert. Dies ist damit zumindest als Ziel definiert.
Schon im Grundgesetz Artikel 3 hat die Bundesrepublik Deutschland eine
Ungleichbehandlung von Männern und Frauen, von Menschen anderer Abstammung,
20
Kreckel 1992, 2004, S.17 (Hervorhebungen im Original)
21
Unter sozialen Gütern sind die zu verstehen, ,,...die für die Gewährleistung menschenwürdiger
Lebensbedingungen oder sogar für die Sicherung des Lebens selbst von ausschlaggebender Bedeutung sind."
(Meyer 2005, S. 259)
22
Vgl. Hradil 1987, S. 147.
23
Unter sozialer Mobilität versteht man die Bewegung von Personen und Personengruppen aus einer sozialen in
eine andere Position (Statuswechsel). Damit ist z. B. die Veränderung des Berufs und der beruflichen Stellung,
also Bewegung und Veränderung im sozialen Beziehungsraum, gemeint. Dies kann als Auf- oder Abstieg
(vertikale Mobilität) gesehen werden. Horizontale Mobilität ist die Veränderung des Berufs oder der Tätigkeit,
ohne dass sich dabei die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht ändert. (Vgl. Lexikon zur Soziologie 1995, S.
444)
Berger definiert soziale Mobilität wie folgt: soziale Mobilitäten sind Bewegungen von Personen (als Individuen,
oder als Gruppe) zwischen sozialen Positionen, Kategorien und Lagen. Es wird zwischen räumlicher und sozialer
Mobilität unterschieden. (Berger 2001)

Teil I
12
anderer Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft und anderen Glaubens sowie aufgrund einer
Behinderung untersagt. Neben dem Grundgesetz ist das Recht auf Chancengleichheit in
vielen Einzelgesetzen verankert, so zum Beispiel im:
·
Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz (DGleiG)
·
Bundesgleichstellungsgesetz (BgleiG)
·
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
·
Chancengleichheitsgesetz (ChancenG) in Baden-Württemberg
24
,,Vielmehr verlangt Chancengleichheit, dass allen eine Gelegenheit eingeräumt wird, ihren
Fähigkeiten und Wünschen zu folgen, so gut diese eben tragen. Wer Chancengleichheit
herstellen will, muss auf den Zugang zu Belohnungen und zu hoch bewerteten Positionen
achten."
25
Mit der Forderung nach Chancengleichheit wird eine Gleichstellung und Gleichberechtigung
aller in einer Gesellschaft lebenden Personen notwendig. Jeder Mensch soll entsprechend
seiner Fähigkeiten, seiner Interessen und Wünsche Möglichkeiten erhalten, sowohl am
gesellschaftlichen Leben zu partizipieren als auch seine individuelle Position in der
Gesellschaft erreichen zu können. Den Entwicklungsmöglichkeiten und -fähigkeiten eines
Jeden sollten hinreichende Bedingungen zur Herausbildung seiner Persönlichkeit zur
Verfügung stehen. Auf diese Weise hat jeder Mensch gleichwertige Möglichkeiten auf
angemessene Lebenschancen. In diesem Zusammenhang ist der ,,...Zugang zu Bildung als
einem wichtigen gesellschaftlichen Gut ... ein Gebot sozialer Gerechtigkeit. Unter
Chancengleichheit wird in der Regel verstanden, dass alle ­ entsprechend ihren Fähigkeiten
und
Leistungen
-
gleiche
Chancen
zum
Erwerb
mittlerer
oder
höherer
Ausbildungsabschlüsse erhalten."
26
Da das Bildungssystem einen entscheidenden Einfluss
auf die Position eines Individuums in der Gesellschaft und damit verbunden auf seine
Lebenschancen hat, werde ich auf diese zentrale Dimension sozialer Ungleichheit (siehe
dazu Kap. 3) gesondert eingehen. Ungleichheits- und Chancengleichheitsanalysen und -
betrachtungen stehen im engen Zusammenhang mit Sozialstrukturanalysen
27
, wie sie von
den Soziologen HRADIL, BURZAN, BOURDIEU, VESTER, GEISSLER, KLOCKE,
KRECKEL und vielen anderen durchgeführt und aktualisiert wurden. Aus diesem Grund
werde ich im Anschluss an die Einführung von Begrifflichkeiten zur sozialen Ungleichheit
24
http://www.familie-heidelberg.de/index-a-264.html - Zugriff am 26.11.2008
(s. auch Anlage 1). Das Bündnis für
Familie Heidelberg wird gefördert durch das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, dem
Europäischen Sozialfonds für Deutschland sowie der Europäische Union.
25
Lexikon der Soziologie 1995, S. 114.
26
Geißler 2004, S. 49.
27
Unter Sozialstruktur versteht Schäfers, ,,...die Gesamtheit der relativ dauerhaften Grundlagen und
Wirkungszusammenhänge sozialer Beziehungen und der sozialen Gebilde wie Gruppen, Institutionen und
Organisationen in einer Gesellschaft." (Schäfers 2006, S. 270, Hervorhebung im Original) Sozialstrukturanalysen
beziehen sich auf gesamtgesellschaftliche Strukturen, die ausgehend von einer Kernstruktur bis hin in einzelne
Strukturbereiche die Mitglieder einer Gesellschaft in Sozialkategorien ordnet. (Vgl. Hradil 1987, S. 14)

Teil I
13
noch auf Klassen- und Schichtmodelle, Milieu und Lebensstile und auf die Anwendung bzw.
Aktualität in unserer heutigen Zeit eingehen.
2.3 Die Sozialstruktur und ihre Veränderungen
Jeder Mensch hat eine bestimmte Position in einer Gesellschaft. Diese ist sowohl vertikal als
auch horizontal (innerhalb einer vertikalen Ebene, z. B. anderer Beruf mit neuen sozialen
Beziehungen) determiniert. Mit dieser Positionierung im Gesellschaftsgefüge ist ferner ein
,Besser- oder Schlechter-Gestellt-Sein` verbunden. Das meint, mit einem Statuswechsel von
oben nach unten (z. B. Chefarztposition einer renommierten Klinik zu Betriebsarzt eines
mittelständischen Betriebes) kann sich der Status des Individuums verschlechtern.
Dimensionen der sozialen Ungleichheit könnten das Einkommen, die Arbeitsbedingungen,
das
Berufsprestige
sein.
Da
mit
diesem
Statuswechsel
auch
verbesserte
Freizeitbedingungen und mehr außerberufliche soziale Beziehungen gepaart sein können,
würde sich der ,Abstieg` möglicherweise relativieren.
Um sowohl Entwicklungstendenzen bei der Veränderung der Sozialstruktur aufzuzeigen als
auch den Begriff der sozialen Ungleichheit der Sozialstrukturanalyse zuzuordnen, soll
zunächst auf das Klassen- und Schichtmodell, danach auf das Modell der sozialen Lage und
das der Milieus und Lebensstile eingegangen werden. ,,Sie [die Modelle - M.T.] ermöglichen
es, die Struktur sozialer Ungleichheit in ihrem Gesamtzusammenhang zu analysieren und
die Gesamtheit der Gesellschaftsmitglieder innerhalb dieser Struktur zu lokalisieren."
28
2.3.1 Das Soziale Klassen- und Schichtenmodell
Die Bezeichnung der im 18./19. Jahrhundert charakterisierten Klassengesellschaft impliziert
die Entstehung und die Existenz von verschiedenen Klassen
29
. Ältere Klassen- und
Schichtmodelle stellen ökonomische Aspekte in den Vordergrund. In ihnen spiegelt sich das
Verhältnis der Menschen zu den Produktionsmitteln (z. B. Rohstoffe, Werkzeuge,
Maschinen), das heißt der Besitz (Bourgeoisie = Kapital) oder Nichtbesitz (Proletariat =
Arbeit) wider. Danach richten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen, die ,,...inneren
Haltungen der Individuen und ihr Handeln."
30
Weiterhin gehen sie von einem mehr oder
weniger scharfen Klassenkonflikt aus, der bis in die 60er/70er-Jahre des vorigen
Jahrhunderts wegen seiner Institutionalisierung jedoch an Schärfe verloren hat. Bei den
älteren Klassenmodellen geht es vordergründig um eine theoretische Darstellung sozialer
28
Hradil 1987, S. 59.
29
K. Marx und M. Weber sind Protagonisten der ersten Klassenbegriffe, die die Gesellschaft in eine Klasse der
Besitzenden, und eine Klasse derer die eine Leistung erbringen müssen, einteilt. Danach richten sich ihre
Ressourcen. Marx bestimmt zusätzlich noch die entsprechend Bewusstseinslage der Klasse an und für sich.
Weber betont die Lage innerhalb der Struktur sozialer Ungleichheit.
30
Burzan 2007, S. 64.

Teil I
14
Ungleichheit und den sozialen Wandel, weniger um die Beschreibung der
Lebensbedingungen. Schichtmodelle stellen hingegen ungleiche Lebensbedingungen und
Lebenschancen in den Vordergrund. Auch die Zugehörigkeit zu einer Schicht impliziert
bestimmte Einstellungen, Verhalten und Handeln. ,,Eine ... wichtige Grundannahme ist, dass
das Zusammenwirken von schichttypischen Lebensbedingungen und schichttypischen
Mentalitäten und Verhaltensweisen schichttypische Lebenschancen zur Folge hat."
31
Jedoch
stehen sich Schichten nicht zwangsläufig antagonistisch gegenüber. Äußere
Lebensbedingungen wie der Beruf bzw. Berufsposition verbunden mit einem
entsprechenden
Berufsprestige,
Einkommen
und
Vermögen,
Bildung
und
Qualifikationsniveau, Einfluss oder Macht werden als Kriterien einer bestimmten Schicht
herangezogen. Die Gesellschaft wird damit hierarchisch in ein ,oben und unten
geschichtet`.
32
Einen Klassiker der bildlichen Interpretation sozialer Schichtung stellt das
,Hausmodell` von DAHRENDORF aus den 60er-Jahren dar. Damit widerspricht er der
Nivellierungsthese von SCHELSKY wonach die ,,... kollektiven Auf- und Abstiegsprozesse in
einer hochmobilen Gesellschaft die Klassen und Schichten aufgelöst und zu einer sozialen
Nivellierung in der gesellschaftlichen Mitte geführt haben."
33
(siehe dazu Anlage 2)
Im Deutschland der Nachkriegszeit veränderten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen
der Bevölkerung rasant. Prozesse sozialen Wandels, ausgelöst durch den wirtschaftlichen
Wiederaufbau in den 50er- und 60er-Jahren bringen ,,...ein kollektives Mehr an Einkommen,
Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum [mit sich].
34
BECK bezeichnet diese
allgemeine Erhöhung des Lebensstandards als ,Fahrstuhl-Effekt` für eine Mehrheit des
Volkes. Hinzu kommen die soziale Absicherung des Wohlfahrtsstaates und die
Bildungsexpansion, die Veränderungen der Familien- und Haushaltsformen und der
zunehmende Wegfall der Identifizierung und Verbindlichkeit mit und zu einer Großgruppe.
Somit werden laut BECK ,,... subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt
oder aufgelöst."
35
All dies betrifft die Mehrheit der Bevölkerung, so dass man nicht von einer
Auflösung oder Aufhebung von Ungleichheitsstrukturen sprechen kann. Im Gegenteil:
Pluralisierung und Differenzierung von Arbeits- und Lebensbedingungen nehmen zu. BECK
spricht in diesem Zusammenhang von Individualisierung der Lebensformen (siehe dazu Kap.
2.5) es ,,... ergeben sich zudem ,neue` Ungleichheiten bzw. eine neue Aufmerksamkeit für
bestimmte Aspekte sozialer Ungleichheit in der öffentlichen und wissenschaftlichen
Diskussion."
36
Nicht mehr nur vertikale (z. B. Einkommen und Bildung), sondern auch
31
Geißler 2004, S. 69.
32
Vgl. Burzan 2007, 64-66.
33
Geißler 2004, S. 70.
34
Beck 1986, S. 122 (Hervorhebung im Original)
35
Beck 1986, S. 122.
36
Burzan 2007, S. 67 (Hervorhebung im Original)

Teil I
15
horizontale Ungleichheiten (z. B. Geschlecht, Alter, Nationalität, Wohn- und Arbeitsregionen)
bestimmen das Ausmaß des Ungleichheitsgefüges.
Die Klassen- und Schichtmodelle der ,alten Generation` werden von ihren Kritikern als ,,zu
abstrakt" und ,,zu statisch" betrachtet.
37
Der Status oder Stand eines Individuums kann nicht
mehr nur an ökonomischen Dimensionen festgemacht, auch kann dieser nicht mehr als
feststehend oder gleichbleibend bewertet werden (Statuskonsistenz)
38
. ,,Nicht nur Strukturen
der industriegesellschaftlichen Arbeitswelt, sondern auch der staatlichen Daseinsvorsorge
und der persönlichen Interaktion gehen in die genannten Dimensionen ein."
39
Auch wenn
HRADIL später feststellen wird, dass die Berufshierarchie sicher weiter den ,,harten Kern"
des Ungleichheitsgefüges darstellt, so ,,...spielen außerökonomische Ursachen,
außerberufliche Determinanten, ,neue` Dimensionen, komplexe Soziallagen und
nichtdeterminierte Milieu- und Lebensstilbedingungen eine zu wichtige Rolle."
40
In der Literatur wird auf eine Modifizierung von Klassen- und Schichtmodellen verwiesen. Als
Annäherung an zeitgemäße Sozialstrukturen kann m. E. das ,modernisierte Hausmodell` von
GEIßLER herangezogen werden (siehe dazu Anlage 3). Jedoch bleibt als Kritikpunkt der
neueren Schichtungs- und Klassenansätze die große Nähe zur Berufsstruktur und damit zum
wirtschaftlichen Bereich und ihren Erwerbspersonen.
41
,,Sie sind weitgehend blind für
,horizontale` Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, zwischen Alt und Jung,
zwischen verschiedenen Generationen oder auch Regionen, zwischen Verheirateten und
Ledigen, Kinderreichen und Kinderlosen."
42
Mit den Modellen der ,Sozialen Lage` ,,...treten
neben objektiven Merkmalen der Benachteiligung auch subjektive Merkmale [sozialer
Ungleichheit ­ M.T.] in den Mittelpunkt der Betrachtung
43
.
2.3.2 Soziale Lagen
,,Lagenmodelle markieren die Erweiterung der traditionellen Schicht- und Klassenanalyse zur
mehrdimensionalen Ungleichheitsforschung. Sie vermeiden die Beschränkung auf die
vertikale Dimension und beachten neben den traditionellen vertikalen auch ,horizontale`
Ungleichheiten, um die Mehrdimensionalität der Ungleichstruktur besser zu erfassen."
44
Der
wohl wichtigste Unterschied zu den vorangegangenen Analysen der Sozialstruktur ist die
Abwendung
von
einer
Berufszentriertheit
für
soziale
Ungleichheit
hin
zu
Handlungsbedingungen und -voraussetzungen, die dem Individuum unterschiedliche
37
Schicht- und Klassenmodelle sind Versuche, in das unübersichtliche Durcheinander der sozialen
Ungleichheiten eine gewisse Ordnung zu bringen. Ihnen haften die Vor- und Nachteile aller Modellkonstruktionen
an: Sie vereinfachen die komplexe Wirklichkeit..." (Geißler 2002, S. 116)
38
Vgl. Burzan 2007, S. 68.
39
Hradil 1987, S. 148.
40
Hradil 1992, S. 162.
41
Vgl. Burzan 2007, S. 87/88.
42
Geißler 2004, S. 72.
43
Datenreport 2006, S. 585.
44
Geißler 2002, S. 123.

Teil I
16
Chancen der Bedürfnisbefriedigung ermöglichen. Das Lagenmodell, entwickelt in der
Wohlfahrtsforschung, geht davon aus, dass bestimmte materielle Ressourcen zu einer
Lebenszufriedenheit
45
und letztlich zu einer Soziallage führen (veränderte Ziel- und
Wertevorstellungen). HRADIL stellt fest, dass es für Menschen noch mehr Determinanten
sozialer Ungleichheit gibt, als sie in den Klassen- und Schichtmodellen Beachtung finden.
Vor- und Nachteile, die einem Individuum zum Beispiel durch sein Alter, seine Wohnregion,
sein Geschlecht, seine familiäre Lebensform sowie seiner ethnischen Zugehörigkeit
entstehen, spielen in unserer postmodernen Gesellschaft eine entscheidende Rolle.
46
Ausgangspunkt ist zwar noch der Berufsstatus mit allen verbundenen Merkmalen,
hinzukommen jedoch die ,horizontalen` Kriterien Geschlecht, Region (Ost/West) und Alter
(unter/über 60 Jahre).
47
Ausgehend von den sich daraus ergebenen Handlungs- und
Lebensbedingungen, konkretisiert in den neuen Dimensionen sozialer Ungleichheit wie
soziale Sicherheit (Risiken und Absicherungen), der Arbeits-, Freizeit- und
Wohnbedingungen, der Partizipationschancen, der integrierenden und isolierenden sozialen
Rollen sowie der Diskriminierungen und Privilegien, gelingt es Menschen besser oder
schlechter, so zu handeln, dass allgemein anerkannte Lebensziele für sie in Erfüllung gehen
können (siehe dazu. Anlage 4).
48
,,Als ,soziale Lage` bezeichnet man die Situation einer
Bevölkerungsgruppe, deren Lebensbedingungen maßgeblich durch eine bestimmte soziale
Position (Determinante) geprägt und ähnlich gestaltet werden."
49
Um eine allseitige
Erkenntnis von der Situation der Menschen zu bekommen, bedarf es ebenso der
Betrachtung der ,Lebenslage`, welche sich auf ,,... die Gesamtheit ungleicher
Lebensbedingungen eines Menschen ..." bezieht (
Einkünfte, Freizeit, Wohnung, Integration
in die Gemeinde, Arbeitsbedingungen, Qualifikation).
50
Lagen bilden unter Berücksichtigung von mannigfaltigen Ungleichheitsmerkmalen in erster
Linie die ,objektiven` Lebensbedingungen ab. Sie berücksichtigen im Gegensatz zu den
Schichtmodellen nicht nur vertikale Ungleichheitsdeterminanten. Merkmale wie das Alter,
Geschlecht, Wohnort oder Ethnie finden Berücksichtigung.
51
Neuere - seit den 80er-Jahren -
sozialstrukturelle Untersuchungen beziehen neben diesen objektiven Lebensbedingungen
45
,,So lassen sich etwa Arbeitslose sowie Un- und Angelernte als Problemgruppen mit geringen Ressourcen,
niedriger Selbsteinstufung, vielen Sorgen und einem hohen Grad an Unzufriedenheit identifizieren, wobei dies in
den neuen Ländern stärker ausgeprägt ist als in den alten. Den Gegenpol dazu bilden die Leitenden Angestellten
und höheren Beamten in Westdeutschland; mit guten materiellen Ressourcen können sie ein relativ sorgenfreies
und zufriedenes Leben führen, und sie stufen sich auf der Oben-Unten-Skala mit Abstand am höchsten ein.
(Geißler 2004, S. 72)
46
Hradil 2005, S. 43.
47
Vgl. Geißler 2002, S. 123; Geißler 2004, S. 72.
48
Vgl. Hradil 1987, S. 10, 145 f.
49
Hradil 2005, S. 43 (Hervorhebung M.T.); Bevölkerungsgruppen sind z. B. Studierende, Höhere Angestellte,
Beamte, Facharbeiter, Arbeitslose, Hausfrauen, Teile der Bevölkerung, die nicht mehr im Arbeitsleben stehen.
50
Hradil 2005, S. 44 (Hervorhebung M.T.)
51
Vgl. Burzan 2007, S. 142.

Teil I
17
ebenso gruppentypische ,subjektive` Lebensweisen mit ein. Hier setzen Milieu- und
Lebensstilmodelle an.
2.3.3 Soziale Milieus und Lebensstile
Im Zuge der Untersuchung der Sozialstruktur unserer Gesellschaft sind Soziologen und
Analysten immer umfassender darum bemüht, das Ungleichheitsgefüge angemessen zu
erfassen. Es wird davon ausgegangen, dass alle Menschen durch gestiegene materielle
Optionen (,Fahrstuhleffekt`) ihrer Lebensgestaltung mehr Raum geben können und wollen. In
dem Zusammenhang kommt auch die Individualisierungsthese (BECK
­ Kap. 2.5
) und die
Pluralisierung von Lebensstilen ins Gespräch.
Im Mittelpunkt einer Milieu- und Lebensstilanalyse steht die Handlungspraxis der Menschen,
wobei ,,...nach Max Weber Handeln als subjektiv sinnhaftes Tun der Menschen definiert
wird."
52
Weniger die objektive Klassenlage, als vielmehr ,dauerhafte Lebensbedingungen`,
HRADIL nennt sie ,horizontale` Randbedingungen, die ein Erreichen der Lebensziele durch
bessere oder schlechtere Chancen ermöglichen oder behindern, sind die Basis für eine
Einteilung der Gesellschaftsmitglieder in unterschiedliche Gruppen. Lebensstile entstehen
durch soziale Lagen und durch entsprechende Handlungen der Personen. PEUCKERT fasst
unter ,,Soziale(n) Milieus ... vielmehr Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung
und Lebensweise (Wertorientierungen, Lebenszielen, Einstellungen zur Arbeit, Freizeit,
Familie, politische Grundüberzeugungen etc.) ähneln. Die Mitglieder eines sozialen Milieus
haben oft ein gemeinsames (materielles, kulturelles, soziales) Umfeld."
53
Demnach sind
gleichgesinnte Menschen mit ähnlichen Werthaltungen und Grundeinstellungen,
Lebensführungen, Beziehungen zu den Mitmenschen und Mentalitäten unter einem sozialen
Milieu zu verstehen, die ebenso ihre Umwelt in ähnlicher Weise gestalten und sehen. Die Art
und Weise wie die Menschen ihren Alltag gestalten, ihr Denken, Verhalten und Handeln, ihre
Meinungen und Interaktionen ausrichten, geht im Begriff des Lebensstils auf. Dabei geht es
v. a. um äußerlich beobachtbare Verhaltensroutinen, die mehr oder weniger bewusst und
routiniert sind.
54
Die Milieu- und Lebensstilforschung gehört seit den 80er Jahren zu den neueren Ansätzen
der deutschen Sozialstrukturanalyse und damit zur Untersuchung der sozialen Ungleichheit.
Sie wurde vom Sinus-Institut für die kommerzielle Markt- und Wahlforschung entwickelt und
u. a. von Marketing- und Kommunikationsstrategen genutzt. Es werden Menschen mit
ähnlicher Lebensauffassung und Lebensweise zu ,subkulturellen` Einheiten
zusammengefasst. ,,Sinus-Milieus rücken ... den Menschen und das gesamte Bezugssystem
52
Schäfers 2004, S. 247 (Hervorhebung im Original)
53
Peuckert 2006, S. 251; Geißler 2004, S. 73.
54
Vgl. Hradil 2006, S. 199,161; Hradil 2005, S. 45.

Teil I
18
seiner Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld."
55
Es gibt keine scharfen Abgrenzungen
zwischen den einzelnen Milieus, Übergänge sind fließend und überlappend. ,,Viele
Menschen gehören so mehreren Milieus an oder stehen zwischen ihnen."
56
Wie bei der Darstellung des Sinus-Milieus 2007 (siehe dazu Anlage 5) zu erkennen, sind
Milieus ,,...keinesfalls unabhängig von sozioökonomischen und soziodemographischen
Bedingungen."
57
Es gibt durchaus eine Verknüpfung von ,objektiven` Merkmalen, erkennbar
in der vertikalen Gliederung (Soziale Lage) und den auf der horizontalen Ebene
angeordneten verschiedenen Milieus (Grundorientierungen). Mehrere Milieus und
Lebensstile finden sich demzufolge in verschiedenen Schichten bzw. Lagen wieder. Es
erfolgt sozusagen eine Ergänzung der Lagemodelle. ,,Verschiedene Milieu- und
Lebensstilkonzepte suchen einen Mittelweg zwischen einer Strukturiertheit nach dem nicht
mehr adäquaten Muster traditioneller Klassen und Schichten auf der einen Seite und einer
völlig entstrukturierten Vielfalt individuellen Wahlhandelns auf der anderen Seite."
58
2.3.4
Klassen/Schichten versus Milieu/Lebensstil
Seit dem Aufkommen neuer Erklärungsmodelle sozialer Ungleichheit in den 80er-Jahren
wird kontrovers darüber diskutiert, ob sich Klassen und Schichten im Zuge der
Modernisierung der Gesellschaft auflösen. Schlagworte wie ,Entstrukturierung',
,Pluralisierung',
,Individualisierung'
oder
,Risikogesellschaft'
(BECK)
oder
,Erlebnisgesellschaft' (SCHULZE) stehen für die Separation. Dafür werden folgende
Argumentationen herausgestellt:
·
Durch steigenden Wohlstand und entsprechenden Massenkonsum haben alle
Schichten die Möglichkeit, Besitz zu erlangen (z. B. Auto, Wohnung) oder
Urlaubsreisen zu unternehmen. Statussymbole haben ihre Attraktivität verloren, da
sie jeder haben kann. Bildung steht allen offen, jeder hat Zugang.
·
Die Risiken der Gesellschaft kennen keine Grenzen. Jeder ist von Umwelt-
katastrophen gleichermaßen bedroht und kann arbeitslos werden. In Klassen-
gesellschaften (die es nach BECK ja nicht mehr gibt s.o.) herrscht die Gemeinsamkeit
der Not. In der Risikogesellschaft regiert die Gemeinsamkeit der Angst.
59
·
Schichttypische Milieus haben sich auf Grund einer sehr hohen Komplexität
60
von
Strukturen sozialer Ungleichheit aufgelöst. Außerdem hat der ökonomische, soziale
55
Sinus 2000, S. 2; zit. in Geißler 2002, S. 130.
56
Hradil 2006, S. 200.
57
Burzan 2007, S. 104.
58
Burzan 2007, S. 124.
59
Vgl. Beck 1986, S. 66.
60
Faktoren von differenzierten und diversifizierten Lebensverhältnissen sind: Geschlecht, Alter, Region,
Familienverhältnisse (z. B. Kinderzahl, Doppelverdiener, Alleinerziehende, Scheidungen), Generation (z. B.

Teil I
19
und kulturelle Wandel zu einem ,Individualisierungsschub` geführt, ,,...der die
Menschen aus ihren bisherigen Bindungen löst und ihre Verhaltensspielräume
erheblich erweitert."
61
Solidaritäten lockern sich, Freizeit und Mobilität (sozial und
räumlich) nehmen zu, das Bildungsniveau steigt, Individualitäten vervielfachen sich.
·
Die gesellschaftliche Sozialstruktur ist derart plural geworden, dass sich die
Menschen mit keiner Schicht, Klasse oder Lage mehr identifizieren. Die Gesellschaft
ist sozusagen ,entschichtet`.
62
,,Wir leben trotz fortbestehender und neu entstehender Ungleichheiten heute in der Bundesrepublik bereits in
Verhältnissen jenseits der Klassengesellschaft, in denen das Bild der Klassengesellschaft nur noch mangels einer
besseren Alternative am Leben erhalten wird ... In der Konsequenz werden subkulturelle Klassenidentitäten und -
bindungen ausgedünnt oder aufgelöst. Gleichzeitig wird ein Prozess der Individualisierung und Diversifizierung
von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten
unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt."
63
Außer Frage steht ebenso für die Kritiker der Auflösungsthese, dass es einen allgemeinen
Anstieg des Existenzniveaus, der Lebenschancen, eine Vielzahl von Lebensbedingungen
und -möglichkeiten, Individualisierungstendenzen und eine gesteigerte Mobilität unter der
Bevölkerung gibt. Jedoch besteht ihrer Meinung nach weiterhin eine Schichtstruktur, die
,,dynamischer, mobiler und pluraler" geworden ist. ,,Kennzeichen einer modernen
Gesellschaft ist nicht die Auflösung der sozialen Schichtung, sondern ein dynamisches,
pluralisiertes Schichtgefüge, das wegen seiner Vielfalt auch unübersichtlicher und auf den
ersten Blick schwerer erkennbar geworden ist. (...) Die Tendenzen zur Entstrukturierung der
vertikalen sozialen Ungleichheit, zur Auflösung der Klassen und Schichten werden erheblich
überzeichnet."
64
Für eine weiter bestehende Schichtungstheorie werden folgende
Argumente angegeben:
·
Lebenschancen, wie z. B. Bildungs- und Aufstiegschancen, eine damit verbundene
ansprechende und erwünschte Stellung in einer Firma respektive der Gesellschaft,
und Lebensrisiken wie z. B. arbeitslos, arm, krank oder deviant zu werden, sind nach
wie vor schichtabhängig.
·
Ebenso sind Wertorientierungen, Interaktionen, Lebensstile und Milieus sowie
Interaktionen und Verhaltensweisen schichtmotiviert und -begründet. Dies zeigt sich
Zugehörigkeit zu den benachteiligten geburtenstarken Jahrgängen), Teilhabe an den wohlfahrtsstaatlichen
Umverteilungen bzw. Betroffenheit von sozialen Lasten. (Vgl. Geißler 2002, S. 136)
61
Geißler 2004, S. 75.
62
Vgl. Geißler 2002, S.134 ff.; 2004, S. 75/76.
63
Beck 1986, S. 121/122.
64
Geißler 2004, S. 76; 2002, S. 139 (Hervorhebung im Original)

Teil I
20
u. a. im Erziehungs-, Heirats- und Wahlverhalten sowie in der Nutzung von Medien
und Sportangeboten.
65
·
Individualisierung und Pluralisierung vollzieht sich nicht gleichmäßig in allen
gesellschaftlichen Gruppen. Mit größerem Wohlstand, demzufolge in den oberen
,Etagen` des Schichtgefüges, sind materielle Zwänge meistens kein Thema. Der
höhere Bildungsabschluss führt zu einem höheren Maß an Selbstreflexion und zu
mehr Gelegenheiten zur Loslösung aus traditionellen Bindungen.
·
Im Alltagsbewusstsein der Bevölkerung sind Schichtvorstellungen fortgesetzt präsent.
Es dominiert weiterhin die Vorstellung von einer Aufteilung in ein ,Unten-Mitte-Oben`.
·
Traditionelle Konflikte zwischen Arbeitnehmer ­ Arbeitgeber (Repräsentativumfrage
2000, empirische Studie WEBER-MENGES 2003), zwischen ethnischen
Minderheiten ­ Deutsche (siehe Hausmodell v. Geißler 2000), zwischen
Ostdeutschen ­ Westdeutschen (Beispiel Arbeitslosenquote) sind weiterhin
nachweisliche Tatsachen in der Sozialstruktur. Auch ein ,Generationskonflikt` oder ein
,Geschlechterkampf` sind in unserer Gesellschaft gegenwärtig.
66 67
Ferner betont SCHÄFERS die unüberwindliche Bedeutung der Dimensionen Beruf und
Arbeit für die soziale Lage bzw. Schicht der Individuen, gerade wegen der kapitalistischen
Wirtschaftsstruktur
und
die
daraus
resultierenden
Auswirkungen
für
ihre
Gesellschaftsmitglieder.
68
Als einen interessanten Ansatz, klassen- und schichtbefürwortende Interpretationen der
Sozialstruktur mit der Auflösungsthese von Klassen und Schichten zu vereinen, ist m. E. mit
dem agis-Modell West 2000 von VESTER u. a. 2001 gelungen
69
. Hier werden ,,...die Sinus-
Milieus mit der Klassenanalyse und den sozialkritischen Fragestellungen der traditionellen
Ungleichheitsforschung verknüpft"
70
. Dies geschah mit starker Anleihe und Nutzung der
Gesellschaftstheorie BOURDIEUS. ,,Dieser hatte Lebensstilforschung und Klassentheorie
eng miteinander verzahnt."
71
65
,,So sind zum Beispiel nur 1,5 Prozent der Frauen mit Hauptschulabschluss mit einem Akademiker verheiratet,
und von den Männern mit Hauptschulabschluss hat nur jeder 300. eine Ehepartnerin mit Universitätsabschluss.
(Geißler 2004, S. 76).
66
Siehe dazu Anlage 6.
67
Vgl. Geißler 2002, S.139 ff.; 2004, S. 76.
68
Schäfers 2004, S. 248.
69
Siehe dazu Anlage 7.
70
Geißler 2004, S. 75.
71
Geißler 2004, S. 75.

Teil I
21
2.4 Theorie der sozialen Ungleichheit nach BOURDIEU ­ Habitustheorie
Bei BOURDIEU
(1930 ­ 2002)
geht es um die ,relative Stellung` des Subjektes innerhalb
eines sozialen Raumes (Rang/Status in der Gesellschaft). Dem angepasst bzw. dieser
Stellung entsprechend sind Handlungsformen, Verhaltensstrategien und das Denken der
Subjekte, die sich am Lebensstil (Sprache, Kleidung, Geschmack) ­ dem ,Habitus`
verdeutlichen bzw. erklären. Es geht um das Aufzeigen einer Dialektik der den sozialen
Raum konstruierenden Eigenschaften bzw. Merkmalen (Macht oder Kapital) sowie der sich
diesen Raum ungleich zunutze machenden Akteuren, was sich im ,Habitus` zeigt. Dabei ist
davon auszugehen, dass die Konditionen (Möglichkeiten) innerhalb einer Klasse ähnlich
sind.
72
Die soziale Stellung eines Individuums ist nach BOURDIEU durch sein Verhältnis zu seinen
Ressourcen an ökonomischem, kulturellem (auch Bildungs-) und sozialem Kapital
gekennzeichnet. Hierbei werden die gesellschaftlichen Personen sozusagen ,sozial
kategorisiert`, die Zugänglichkeit zu bestimmten Lebensbedingungen und Lebenschancen
erweitert oder eingeschränkt.
73
Unter ökonomischem Kapital werden geldwerte Mittel wie
Eigentum, Einkommen und Vermögen verstanden. Das kulturelle Kapital
74
(inkorporiertes,
objektiviertes und institutionalisiertes kulturelles Kapital) steht in enger Beziehung zur
erworbenen, angewandten, verinnerlichten Bildung bzw. derer Nutzung. Soziales Kapital
meint soziale Beziehungen, die Merkmal von sozialen Klassen, Schichten und Institutionen
sowie wichtig zum Erreichen bestimmter Ziele (z. B. Kreditwürdigkeit) sind. Zwischen den
einzelnen Kapitalarten besteht ein anhaltender Zusammenhang. ,,Das ökonomische Kapital
in einer Familie beeinflusst z. B., wie viel Zeit und Geld Eltern in die Ausbildung ihrer Kinder
investieren können."
75
Darüber hinaus benennt BOURDIEU noch das ,symbolische Kapital`,
welches sich beim Prestige bzw. Ansehen einer Person zeigt und als ,,...wahrgenommene
und legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien"
76
gilt. Um die Position des
Individuums im sozialen Raum bestimmen zu können, genügt es nicht, die quantitative Fülle
des Gesamtkapitals zu betrachten, sondern gleichermaßen die Kapitalstruktur, das heißt das
Verhältnis der Kapitalarten untereinander.
77
Als letzter einflussreicher Faktor ist die (zeitliche)
Entwicklung im sozialen Raum zu beobachten, sozusagen die soziale Laufbahn.
78
BOURDIEU kommt so zu einer vertikalen Klassenzuordnung (Statusposition) in drei Klassen
(Arbeiterklasse, Kleinbürgertum, Bourgeoisie) und einer horizontalen Einteilung, welche die
72
Vgl. Bourdieu 1985, S. 10 ff.
73
Vgl. Brock 1998, S. 91.
74
Siehe dazu Anlage 8.
75
Burzan 2007, S. 128.
76
Bourdieu 1985, S. 11.
77
,,Der erfolgreiche Profifußballer mit niedrigem Bildungsabschluss würde nach diesem zweiten Kriterium anders
eingeordnet als die promovierte Historikerin, die in Teilzeitanstellung in einem Museum Ausstellungen organisiert,
der Ingenieur (mit einem größeren Anteil an ökonomischen Kapital) anders als der Lehrer (mit einem größeren
Anteil an kulturellem Kapital). (Burzan 2007, S. 129)
78
Vgl. Burzan 2007, S. 127 ff.

Teil I
22
verschiedenen Kapitalanteile in ihrer unterschiedlichen Zusammensetzung widerspiegelt
(z. B. Besitz- oder Bildungsbürgertum).
79
Entsprechend dieser Einteilung
verknüpft BOURDIEU die Klassenzugehörigkeit (soziale
Position) über einen entsprechenden Habitus
80
(Verhaltensweisen, Gedanken, Gefühle
entstanden aus Erfahrungen) mit dem passenden Lebensstil (Praxis), wobei ,,man ... ihn
keinesfalls so frei [wählt], wie man es vielleicht angenommen hat."
81
Diese
klassenspezifischen Habitusformen (Handlungsrepertoire) entwickeln sich demnach während
des Aufwachsens unter bestimmten Lebensbedingungen ,automatisch` und weitgehend
unbewusst. ,,Dies sind latente Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster der
Menschen, die einerseits ihre Möglichkeiten alltäglichen Verhaltens begrenzen, andererseits
in diesem Rahmen eine Fülle von Handlungsformen hervorbringen.
82
So entsteht ein Habitus
der Arbeiterklasse (Funktionsdenken, Haltbarkeit, Nutzen), ein Habitus des Kleinbürgertums
(Streben nach sozialem Aufstieg, Erfüllung kultureller Normen) sowie ein Habitus der
Bourgeoisie (Sicherheit, Selbstbewusstsein, Erfüllung gesellschaftlicher Normen). So sind
nach
BOURDIEU Handlungen durch die soziale Positionierung der Individuen vorgeprägt,
jedoch nicht starr determiniert.
,,Bourdieu strukturiert den sozialen Raum zweidimensional, indem er die soziale Position von Personen in der
Sozialstruktur aus ihrem verfügbaren ökonomischen und kulturellen Kapital ableitet. In horizontaler
Differenzierung ergeben sich dabei drei herrschende Gruppen, die sich entweder durch den Besitz von
kulturellem oder ökonomischem Kapital oder durch eine mittlere Verteilung der beiden Ressourcen definieren.
Diese horizontale Differenzierung lässt sich auch in der vertikalen Achse bis zu den unteren sozialen Schichten
verfolgen. Aufgrund seiner Analyse ergibt sich eine Drei-Klassen-Gesellschaft: Die herrschenden Gruppen sind in
ihrem Lebensstil um Distinktion, das heißt um eine mehr oder weniger bewusste Abgrenzung von Angehörigen
bestimmter sozialen Gruppen bemüht, die mittleren Gruppen wollen den überlegenen Gruppen nacheifern, und
der Lebensstil der Arbeiterschaft ist dem Diktat der Notwendigkeit unterworfen. Bourdieu betont zwar wie die
Klassen- und Schichtanalyse die Bedeutung des ökonomischen Kapitals, erfasst jedoch über seinen
kulturtheoretischen Zugang auch die Ausdifferenzierung von Lebensstilen. Es handelt sich um eine Erweiterung,
nicht um eine Infragestellung der traditionellen Klassen- und Schichttheorie."
83
Erst durch die Verbindung der sozialen Positionen der Personen auf Strukturebene mit der
Praxisebene der Lebensstile ergibt sich das vollständige Bild des sozialen Raumes.
84
79
Siehe dazu Anlage 9a/b.
80
Der Habitus prägt die Sprache und den Ausdruck, die Garderobe, den kulturellen Geschmack, die
Ernährungsformen, das Kunstverständnis, die soziale Kompetenz, welche Literatur wird gelesen, welches
Restaurant, welche Kultureinrichtungen werden besucht etc..
81
Burzan 2007, S. 132.
82
Hradil 2005, S. 90.
83
Tippelt/Hippel 2005, S. 39.
84
Vgl. Burzan 2007, S. 132.

Teil I
23
So gelingt es auch VESTER u. a. für Deutschland, soziale Milieus in ihrer Einbindung in
soziale Strukturgruppen mit ähnlichem Habitus und ähnlicher Alltagskultur zu
differenzieren.
85
Als eine weitere Position zur sozialen Ungleichheit wird in einem Großteil der Fachliteratur
die ,Individualisierungsthese` von BECK benannt. BECK weist die Existenz von Klassen und
Schichten für eine heute bestehende Gesellschaft zurück und spricht von Entstrukturierung,
Auflösung bestimmter gesellschaftlicher Strukturen und Individualisierung. Wie unter
2.3.4
bereits erwähnt, anerkennen die meisten Autoren Grundzüge einer Individualisierung und
Entstrukturierung als Gesellschaftsentwicklung. Sie ,,...bezweifeln jedoch den oft
selbstverständlich hergestellten Zusammenhang von Individualisierung als Ursache
einerseits und Pluralisierung und Ausbildung von Lebensstilen als Folge andererseits."
86
Da
im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch auf Entstrukturierungsprozesse bzw.
Destandardisierung im Lebenslauf von Jugendlichen eingegangen werden wird, soll im
Folgenden die Individualisierungsthese von BECK näher beleuchtet werden.
2.5 Die
Individualisierungsthese von BECK
Die These bezieht sich auf gesellschaftliche Entwicklungen der Wohlfahrtsstaaten des
Westens seit den 60er-Jahren, die nach FRIEDRICHS jedoch ,,weder hinreichend explizit,
noch hinreichend empirisch untersucht"
87
wurde. BECK geht davon aus, dass durch
steigende Modernisierung auch die Individualisierung zunimmt. Oder anders formuliert:
Durch einen gestiegenen materiellen Lebensstandard und soziale Sicherheiten für alle
Gesellschaftsmitglieder werden die Menschen aus den traditionellen Klassenbedingungen
und
Versorgungsbezügen
der
Familie
herausgelöst.
Um
das
individuelle
Arbeitsmarktschicksal, verbunden mit der individuellen Existenzsicherheit, muss sich jeder
selbst kümmern. Mögliche Arbeitslosigkeit, obwohl zumeist ein Systemproblem und ebenfalls
ein allgemeines Risiko, wird als persönliches Versagen und als individuelle Krise
wahrgenommen. Jeder trägt die Konsequenzen seiner Entscheidungen und seines Handelns
selbst, muss seine Biographieplanung und
-organisation selbst übernehmen. Trotz dieser
Selbstverantwortung können die Individuen nur bedingt autonom und unabhängig sein und
handeln. So sind diese z. B. arbeitsmarktabhängig, damit bildungsabhängig, sie sind
konsumabhängig und abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen. Die
Folge ist eine institutionelle Abhängigkeit und ein Einsetzen einer Art von
85
Siehe dazu Anlage 10.
86
Burzan 2007, S. 164.
87
Friedrichs 1998, S. 33.

Teil I
24
Kontrollmechanismus.
88
Nach BECK kommt es durch die Modernisierung der Gesellschaft
zum Individualisierungsschub, der durch drei Dimensionen gekennzeichnet ist:
89
·
Freisetzung aus traditionellen Bindungen zu mehr Mobilität und Wahlfreiheiten (z. B.
müssen Arbeiterkinder nicht wieder Arbeiter werden). Handlungsorientierungen,
angeeignet während der Sozialisation in der Familie oder verfestigt durch eine soziale
Lage, sind geringer geworden.
,,Anscheinend sind ­ vor allem als Folge der
Bildungsexpansion und der Tertiärisierung der Berufsstruktur ­ immer mehr junge
Männer und Frauen aus ihren Herkunftsmilieus herausgelöst und in wachsende,
,,modernere" Milieus hineingeführt worden. Und zu vermuten ist, dass dabei die
Lebensführungsmodelle und Wertorientierungen der Eltern für einen Teil dieser
Männer und Frauen ihre Verbindlichkeit verloren haben, und sie zunehmend darauf
angewiesen waren und sind, ihre Biographien selbst zu gestalten."
90
·
Entzauberung als negative Auswirkung der vorangegangenen Dimension. Somit birgt
die ,gewonnene` Freiheit mehr Unsicherheiten und Risiken (z. B. ist eine Frau durch
die Heirat nicht mehr sicher ein Leben lang ökonomisch abgesichert. Die gestiegenen
Scheidungsraten deuten hier auf große Unsicherheiten hin). ,,Die handlungsleitenden
,Meso-Sicherheiten` sozialer Milieus schmelzen weg, und die Individuen müssen
auch innerhalb weiter bestehender Einkommenshierarchien und innerhalb weiter
existierender Familien ihre Biographie durch aufbrechende Entscheidungszwänge
und Entscheidungsrisiken hindurch selbst planen, organisieren, zusammenhalten, in
einem kontinuierlichen Versuch-und-Irrtum-Verfahren."
91
Risiken werden individuell
zugeschrieben. Individualisierung bedeutet zwar mehr Freiheit, aber auch mehr
Unsicherheit.
·
Freiheit ist jedoch nicht unendlich. Die Begrenztheit der Entscheidungsmöglichkeiten
führt zu einer neuen Art der Wiedereinbindung bzw. Reintegration in die Gesellschaft.
Außer dem Zwang sich für etwas zu entscheiden (z. B. welcher Beruf), sind die
Entscheidungsmöglichkeiten durch gesellschaftliche Institutionen auch noch begrenzt
(z. B. Arbeitsmarkt, Besuch bestimmter Bildungseinrichtungen für entsprechende
Berufsziele).
92
88
Vgl. Beck 1986, S. 115 ff.
89
Vgl. Beck 1986, S. 206 ff.; Buzan 2007, S. 158 ff.; Friedrichs 1998, S. 37 ff.
90
Berger 1997, S. 89.
91
Beck/Beck-Gernsheim 1993, S. 179.
92
Metapher zur Beschreibung und Bestätigung der Individualisierungsthese:
,,Während bis in die 50er- und 60er-Jahre hinein ein Mobilitäts- und Lebenslaufregime vorzuherrschen schien, das
die Menschen wie beim Eisenbahnverkehr in eine überschaubare Anzahl vordefinierter Lebensbahnen lenkte und
den Reisenden nur wenige Umstiegsmöglichkeiten ließ, beginnen sich seither zunehmend kompliziertere
Bewegungsmuster herauszubilden, die eher dem Autoverkehr ähneln, bei dem zwar ebenfalls breit ausgebaute
Hauptstraßen die Verkehrsströme in bestimmte Richtungen lenken, die Vielzahl von Verzweigungen es jedoch
erlaubt, manchmal reizvolle, bisweilen aber auch gefährliche Umwege zu wählen. Individualisierung würde im
Rahmen dieser Metaphorik dann bedeuten, dass sich die Muster von Lebensläufen - oder zumindest von

Teil I
25
Die soziale Ungleichheit ist nach BECK mit einem Mehr an Wohlstand, Bildung, Mobilität,
Rechten, sozialstaatlicher Absicherung, finanzieller Möglichkeiten, Konsum, Freizeit nicht
verschwunden. Alle Gesellschaftsmitglieder sind in der Sozialstruktur eine Etage höher
,gefahren`. Reichtümer sammeln sich nach wie vor oben und Risiken unten, daran hat sich
nichts geändert.
93
Durch o. g. Dimensionen und dem ,generellen Mehr` für alle ist der
Prozess der Individualisierung mit seinem Dualismus in Bewegung gekommen. Auf der einen
Seite steht die Freiheit mit eigener Gegensätzlichkeit und auf der anderen Seite führen
Restriktionen etwa zum Ausschluss vom Arbeitsmarkt oder einer Berufsausbildung. Eine
Freisetzung aus bestimmten sozialen Bindungen wird dabei also begleitet durch Risiken,
Unsicherheiten und zudem neue Einbindungen. In längerfristiger Perspektive ergibt sich
durch diese Wahlfreiheiten der Einzelnen eine ,Bastelbiographie`, die mehr Varianten
aufweist als frühere ,Normalbiographien`.
94
,,Individualisierung
[
meint]
ein
Leben,
das
sich
aus
einer
Vielzahl
an
Situationen
von
Entscheidungsmöglichkeiten, aber auch von Entscheidungsnotwendigkeiten ergibt. (...) Das heißt, wir gehen
davon aus, dass die Menschen heutzutage typischerweise für ihr alltägliches Dasein selbst zuständig, dass sie
aber gleichwohl nicht etwa Konstrukteure ihres Lebens sind, dass sie dabei nicht z. B. wie Ingenieure vorgehen,
welche systematisch technische Probleme lösen. Wir haben eher den Eindruck, dass sie sich wie Heimwerker
oder Hobby-Bastler betätigen. Sie montieren aus dem, was ihnen gerade so zur Verfügung steht bzw. sich ohne
allzu hohe ,Kosten` besorgen lässt, ,irgendwie` das zusammen, was ihnen je nötig erscheint. Manche Menschen
zeigen hierbei großes Geschick, andere hingegen pfuschen ihr Lebtag lang an ihrem Leben herum."
95
Nach dieser allgemeinen Betrachtung sozialer Ungleichheit möchte ich nachfolgend auf die
damit zusammenhängenden Dimensionen sozialer Ungleichheit eingehen. Hierbei werde ich
mich mit Bildung, Einkommen und Vermögen, Macht, Prestige und anschließend mit Arbeits-
, Wohn- und Freizeitbedingungen beschäftigen.
einzelnen Teilsträngen oder Abschnitten daraus ­ immer schlechter nach einem Eisenbahnmodell beschreiben
lassen, das eine hohe Standardisierung voraussetzt und Biographien `berechenbar` macht. Vielmehr drängt sich
eben immer öfter das Bild des Autoverkehrs auf, bei dem zwar viele Verkehrsströme ebenfalls ganz gut
kalkulierbar sind, jedoch zugleich die Vielfalt befahrbarer Wege und Umwege rapide zunimmt ­ bis hin zu jenen
Bastlern `ausgeflippter` Biographien, die sich gar nicht mehr an vorgebahnte Wege halten wollen, sondern am
liebsten dauernd querfeldein fahren würden." (Berger 1997, S. 90)
93
Vgl. Beck 1986, S. 46.
94
Vgl. Burzan 2007, S. 160.
95
Hitzler 1997, S. 56/57.

Teil I
26
3. Dimensionen sozialer Ungleichheit
Soziale Ungleichheit spiegelt sich in den Lebensbedingungen der Menschen, die die
Rahmenbedingungen ihres Daseins sind. Diese Lebensbedingungen werden im
Wesentlichen durch Ressourcen oder Besitz (z. B. Einkommen, Vermögen, Bildung)
bestimmt. Durch ein Mehr oder Weniger dieses Potentials gelingt es besser oder mäßiger im
,,...alltäglichen Leben allgemein geteilte Ziele eines ,guten Lebens` (wie z. B. Gesundheit,
Sicherheit, Wohlstand, Ansehen) ... zu erreichen."
96
Soziale Ungleichheiten beziehen sich
auf ,wertvolle Güter`. Wertvoll sind diese ,Güter`, wenn sie sich entweder besonders zur
Gestaltung eines ,guten Lebens` eignen oder sie knapp sind. Des weiteren sind ,Güter`
außerordentlich wertvoll, wenn sie nur bestimmten Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung
stehen. ,,Und drittens beziehen sich soziale Ungleichheiten auf jene wertvollen, ungleich
verteilten ,Güter`, die Menschen auf Grund ihrer gesellschaftlichen Positionen und ihrer
sozialen Beziehungen, also aus sozialstrukturellen Gründen besser oder schlechter, höher
oder tiefer als andere Stellen ­ und nicht etwa aus individuellen, aus natürlichen oder aus
zufällig zustande gekommenen Gründen."
97
Ungleiche Lebensbedingungen lassen sich ,umformen oder umgestalten` bzw. bedingen sich
wechselseitig, sodass z. B. einem hohen Bildungsstand auch ein entsprechender Beruf, ein
entsprechendes Einkommen und Machtposition etc. folgen können. Somit schaffen
bestimmte Bildungswege Voraussetzungen für gewisse Positionen innerhalb der
Gesellschaft und auch einen bestimmten Grad an Lebenszufriedenheit.
Bildung kann m. E. als Basisdimension sozialer Ungleichheit betrachtet werden. Sie nimmt
daher in den folgenden Ausführungen zu den Dimensionen sozialer Ungleichheit einen
zentralen Platz ein.
96
Hradil 2006, S. 195.
97
Vgl. Hradil 2006, S. 196.

Teil I
27
3.1 Bildung als Schlüssel für ein gelingendes Leben
,,Heute ist Bildung für die meisten Menschen das wichtigste ,Kapital`, um ihr Leben
erfolgreich führen zu können. Und für moderne postindustrielle Gesellschaften ist Bildung
und das hierin vermittelte ,Wissen` so bedeutend geworden, das sie als
,Wissensgesellschaften` bezeichnet werden."
98
Bildung und zeitgemäßes Wissen sind
demnach Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung
99
einerseits und Bestimmung eines
individuellen Status´ andererseits. ,,Das Bildungssystem hat durch die Vermittlung von
Wissen und die Vergabe von Zertifikaten einen entscheidenden Einfluss auf die soziale
Platzierung seiner Absolventen und daran geknüpfte Lebenschancen."
100
Das heißt, je höher
der Bildungsgrad eines Individuums (Schul- und Ausbildung), desto größer die Chance auf
eine vorteilhafte Position auf dem Arbeitsmarkt (bezogen auf Einkommensmöglichkeiten,
Macht und Prestige). ,,Bildung ist zur wichtigsten Grundlage für den materiellen Wohlstand
moderner Gesellschaften geworden. Umgekehrt ermöglicht es gesellschaftlicher Reichtum
erst, große Bevölkerungsteile viele Jahre lang aus dem unmittelbaren Wirtschaften
herauszunehmen und in teuren Bildungseinrichtungen mit Wissen zu versorgen."
101
Durch Bildung gewinnt der Mensch neben fachlichen Qualifikationen ebenso Kenntnisse
über seine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten sowie einen Zugang zur kulturellen
Teilhabe an der Gesellschaft: ,,Kompetenzen, die für die Teilhabe am sozialen Geschehen
und die Verarbeitung gesellschaftlicher Vorgaben erforderlich sind."
102
Damit schaffen sich
die einzelnen Gesellschaftsmitglieder eine Basis für Lebensqualität und -zufriedenheit.
Vollzog sich Bildung in vorindustriellen Gesellschaften noch weitgehend in der Familie und
bei der Arbeit, wird in modernen Industriegesellschaften die Grundbildung für alle
Gesellschaftsmitglieder durchgesetzt.
103
Unsere heutige postindustrielle Wissens- und
Informationsgesellschaft benötigt Menschen, die die immer komplexer werdenden
technischen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge verstehen und auf diese
reagieren können. Die gegenwärtige globale Weltwirtschafts- und Finanzkrise ist ein
98
Hradil 2006, S. 129.
99
,,Die Qualifikation der Bevölkerung ist von großer gesamtwirtschaftlicher Bedeutung, da neben der Ausstattung
mit Bodenschätzen und Produktionsanlagen vor allem die Qualität der menschlichen Arbeitskraft
(´Humankapital´) das Leistungsvermögen einer Volkswirtschaft bestimmt." (Statistisches Bundesamt 2006, S. 76)
100
Becker 2008, S. 79.
101
Vgl. Hradil 2005, S. 149.
102
Becker 2008, S. 74.
103
Mit der Schulung der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen), der sittlichen Unterweisungen (Normen,
Werte, Ethos) und einer religiösen Erziehung und Bildung beginnt der Staat sich für das einzelne Individuum zu
interessieren und organisiert in den Grundzügen ein Schulsystem. 1848 ist die Einführung der gesetzlichen
Schulpflicht abgeschlossen. 1846 waren bereits 82% der schulpflichtigen Kinder an öffentlichen Schulen
registriert, die meisten von ihnen an den Elementarschulen oder Volksschulen wie sie später genannt wurden. Es
bedurfte jedoch noch Reformen und Entwicklungen, um wirklich von einer Schule zu sprechen, welche auf
Bildung hungrig machte und den Bedürfnissen des Einzelnen ebenso entgegen kam und nicht nur dem
wissenschaftlich-technischen Fortschritt in Industrie und Wirtschaft von Nutzen sein sollte. In diesem
Zusammenhang sei vor allem auf die Zeit der Reformpädagogik (1900 ­ 1933) verwiesen, die sich gegen die
Formalisierung des Unterrichts und gegen Beeinflussung und Vereinnahmung der Schülerschaft durch den Staat
währte. Ebenso sei erwähnt, dass sich nicht nur Entwicklungen auf der Ebene der Volksschule vollzogen,
sondern ebenso auf den Stufen von Universitäten, Gymnasien und Realschulen.

Teil I
28
aktuelles Beispiel dafür. Ein differenziertes Bildungswesen entsteht, bei dem ,,...immer mehr
Menschen immer länger die Schulen und Hochschulen [besuchen] und ... dabei immer
höherwertige Abschlüsse [absolvieren]."
104
In diesem Zusammenhang wird seit Ende der
50er-, zu Anfang der 60er-Jahre und bis heute anhaltend von einer ,Bildungsexpansion`
105
gesprochen. Spricht PICHT 1964 noch von einer ,Deutschen Bildungskatastrophe`, die
Deutschland auf Grund des Bildungsnotstandes zum wirtschaftlichen Notstand führen
wird
106
, kommt es im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu einer zunehmenden
Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten. Bildung wird im 21. Jahrhundert zu einer der
wichtigsten sozialen Fragen erklärt.
107
Da formale Bildungsvoraussetzungen, mit
entsprechenden Zertifikaten belegt, zu ,,...absolut notwendigen, dennoch nicht immer
zureichenden Voraussetzungen geworden [sind], um einträgliche und ansehnliche
Stellungen zu erreichen..."
108
, ist dies auch unentbehrlich geworden. BELLENBERG/KLEMM
konstatieren: ,,Noch nie gab es in der deutschen Geschichte eine in diesem Umfang lernende
junge Generation."
109
Aus der Arbeit zur Bildungsfinanzierung in Deutschland, die das ,,Netzwerk Bildung" der
Friedrich-Ebert-Stiftung unter Leitung von Prof. Dr. Klaus Klemm (Universität Essen) vorlegt,
geht hervor, dass 2002 17 Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene betreut,
unterrichtet und gebildet und dafür 103 Milliarden Euro öffentliche Gelder bereit gestellt
wurden. Das sind 4,9% des Bruttoinlandproduktes (BIP). Der Durchschnitt aller OECD-
Länder liegt bei 5,1%. Deutschland widmet einen eher geringen Teil seines nationalen
Wohlstandes dem Aufgabenfeld Bildung; Deutschland konzentriert seine Bildungsaufgaben
stärker als andere Länder auf Personalausgaben ­ und dies weniger zu Gunsten eines
großen Personalvolumens und mehr zu Gunsten vergleichbar günstiger Gehälter."
110
Von 27
aufgeführten OECD-Staaten belegt Deutschland 1999 den 7. Platz (4,3 Prozent) beim Anteil
der öffentlichen Bildungsausgaben am BIP, wogegen der Erstplatzierte Japan mit 3,5% und
der 27. Platz mit Schweden (6,5%)
111
deutlich zeigen, welche Bedeutung den
Bildungsausgaben im Wirtschaftshaushalt zugestanden wird. Allgemein festzustellen bleibt,
dass zwar die Bildungsausgaben jährlich steigen, jedoch unproportional zum BIP. Das
bedeutet, dass unangepasst an die Notwendigkeiten von Investitionen ins Bildungssystem
die Bildungsausgaben viel zu gering sind. Dies ist auch Ergebnis einer vom Deutschen
Gewerkschaftsbund (DGB) präsentierten Untersuchung. Dem deutschen Bildungssystem
104
Hradil 2006, S. 133.
105
Siehe Anlage 11
106
,,Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht." (Picht 1964, S. 17)
107
Vgl. Becker/Lauterbach 2007, S. 9.
108
Hradil 2005, S. 152.
109
Bellenberg/Klemm 1995, S. 220.
110
Klemm 2005, S. 7.
111
Vgl. Schmidt 2003, S. 6.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836640923
Dateigröße
4.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen – Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
2
Schlagworte
soziale ungleichheit benachteiligung zukunftsperspektive jugendphase selektion
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Titel: Die 'Jabezgeneration' - Auswirkungen sozialer Ungleichheit und die Folgen für einen Teil der nachfolgenden Generation
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