Lade Inhalt...

Macht und Diskurs bei Michel Foucault

©2008 Diplomarbeit 124 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‘In den Diskurs, den ich heute zu halten habe, und die Diskurse; die ich vielleicht durch Jahre hindurch hier werde halten müssen, hätte ich mich gerne verstohlen eingeschlichen. Anstatt das Wort ergreifen zu müssen, wäre ich von ihm lieber umgarnt worden, um jedes Anfangens enthoben zu sein. […]
Ich glaube, es gibt bei vielen ein ähnliches Verlangen, nicht anfangen zu müssen; ein ähnliches Begehren, sich von vornherein auf der anderen Seite des Diskurses zu befinden und nicht von außen ansehen zu müssen, was er Einzigartiges, Bedrohliches, ja vielleicht Verderbliches an sich hat. Auf diesen so verbreiteten Wunsch gibt die Institution eine ironische Antwort, indem sie die Anfänge feierlich gestaltet, indem sie sie mit ehrfürchtigem Schweigen umgibt und zu weithin sichtbaren Zeichen ritualisiert.’
Paul-Michel Foucault wird am 15. Oktober 1926 in Potiers als das zweite von drei Kindern geboren. Sein Vater ist in der dritten Generation Arzt und gilt als ausgezeichneter Anatom. Die Kriegsjahre hinterlassen einen tiefen Eindruck bei dem Jungen, der den Wunsch hegt, einmal Geschichtslehrer zu werden. 1945 kommt er an das Lycée Henri-IV in Paris, wo er eine Vorbereitungsklasse für die zugangsbeschränkte École normale supérieure (ENS) besucht. Dort nimmt er am Philosophieunterricht von Jean Hippolyte teil, bevor er 1946 an der ENS aufgenommen wird, wo Louis Althusser lehrt. Jean Hippolyte, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Hegelschen Philosophie und Louis Althusser, einer der wichtigsten marxistischen Theoretiker der europäischen Philosophie, spielen eine prägende Rolle im weiteren Werdegang Foucaults. Nach Studien der Philosophie und Psychologie wird er 1955 Direktor des Maison de France an der Universität von Uppsala, 1958 leitet er das Centre de civilisation française an der Universität von Warschau, 1959 das Institut français in Hamburg. Anschließend kehrt er nach Frankreich zurück, wo er in Paris lebt und an der Universität von Clermont-Ferrand lehrt.
An dieser Stelle wird die vorliegende Arbeit einsetzen und sich mit den Themen Macht und Diskurs bei Foucault beschäftigen. Die Ausarbeitung orientiert sich an der Fragestellung nach Stellenwert und Zusammenhang dieser beiden Konzepte im Gesamtwerk. Dessen Bibliographie umfasste schon vor seinem Tode 729 Titel und es lässt sich als äußerst mannigfaltig beschreiben – um einen von Foucaults bevorzugten Begriffen zu verwenden. Der vielschichtige Inhalt des Werkes bewegt sich […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Melanie Preusker
Macht und Diskurs bei Michel Foucault
ISBN: 978-3-8366-4042-8
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Hochschule für Politik München (HfP), München, Deutschland, Diplomarbeit, 2008
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und der Verlag, die Autoren oder
Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl.
verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Inhalt
Seite
Einleitung ... 5
Zum Aufbau der Arbeit ... 8
I.
Der Diskurs
1.
Ein Student mit Fragen an den Diskurs ... 9
1.1
Foucaults Geschichtsauffassung und sein Wahrheitsbegriff ... 10
1.2
Die Methode der Archäologie ... 11
2.
"Wahnsinn und Gesellschaft" ... 12
2.1
Die Archäologie des Schweigens und die Geschichte der Grenzen ... 12
2.2
Der Wahnsinn und seine Wahrheit ... 13
2.3
Die Vernunft und ihr Mitleid ... 14
3.
"Die Geburt der Klinik" ... 17
3.1
Der Tod als Ende und Anfang ... 17
3.2
Der Strukturalismus und die Diskursanalyse ... 20
4.
"Die Ordnung der Dinge" ... 24
4.1
Ein tragisches Buch ... 24
4.2
Die Geschichte der Zeichen und ihrer Ordnung ... 26
4.3
Der erste epistemologische Bruch und das Zeitalter der Repräsentation ... 29
4.4
Der zweite epistemologische Bruch und das Zeitalter der Humanwissenschaft ... 32
4.5
Der Tod des Menschen ... 36
4.6
Die Reaktionen auf das Werk ... 39
5.
"Archäologie des Wissens" ... 41
5.1 Die
serielle
Geschichte
...
41
5.2
Das Aussagensystem und die Diskursformation ... 43
5.3
Das Archiv des historischen Apriori und der nicht-diskursive Raum ... 46
6.
"Die Ordnung des Diskurses" ... 48
6.1
Ein Wendepunkt im Leben und Werk Foucaults ... 48
6.2
Ausschließungssysteme und Verknappungssysteme ... 51
6.2.1
Ausschließungssysteme des Diskurses von Außen ... 51
6.2.2
Verknappungssysteme des Diskurses von Innen ... 52
6.2.3
Verknappungssysteme der sprechenden Subjekte ... 53
6.3
Foucaults Programm und die Erschöpfung der Ideengeschichte ... 55

II. Die
Macht
7.
Ein Professor mit Wissen und Macht ... 58
7.1
Foucaults Seelenauffassung und sein Machtbegriff ... 59
7.2
Nietzsche, Foucault und die Genealogie ... 62
8.
"Die Macht der Psychiatrie" ... 64
8.1 Dispositive
der
Macht
...
64
8.2
Der Irre als sozialer Feind ... 66
8.3 Individualität
und
Wahrheitsdiskurs ... 68
9. "Die
Anormalen" ... 71
9.1
Die Vorfahren der Anomalie ... 71
9.2
Der Anormale als sozialer Feind ... 75
10.
"Überwachen und Strafen" ... 77
10.1
Die sieben Spielarten der Macht ... 78
10.1.1
Die feudal souveräne Macht ... 79
10.1.2
Die neue Politik des Körpers ... 80
10.1.3 Die
Disziplinarmacht
...
83
10.1.3.1
Die Geburt des Gefängnisses ... 83
10.1.3.2
Die ,,gelehrigen Körper" und die ,,Mittel der guten Abrichtung" ... 85
10.1.4 Der
Panoptismus
...
88
10.2
Die Funktions-Trias: Gefängnis, Polizei und Delinquenz ... 90
10.3
Der Rechtsstaat und sein Kerker-Archipel ... 93
11. "Sexualität
und
Wahrheit
I: Der Wille zum Wissen" ... 94
11.1
Die Repressionshypothese und die Biomacht ... 94
11.2
Die Pastoralmacht und das Sexualitätsdispositiv ... 98
12. "Geschichte
der
Gouvernementalität" ... 102
12.1
Band 1: "Sicherheit, Territorium, Bevölkerung" ... 102
12.1.1
Die Probe der Machttheorie auf das Exempel ... 102
12.1.2 Gouvernementalität
im 17. Jahrhundert ... 104
12.1.3 Gouvernementalität
im 18. Jahrhundert ... 105
12.1.4 Gouvernementalität
im 19. Jahrhundert ... 108
12.2
Band 2: "Die Geburt der Biopolitik" ... 110
Schlussbemerkung ... 115
Literaturverzeichnis ...
Anhang
...

Verwendete Abkürzungen
A:
Die Anormalen
AW:
Archäologie des Wissens
DE I: Schriften 1954 ­ 1969
DE II: Schriften 1970 ­ 1975
DE III: Schriften 1976 ­ 1979
DE IV: Schriften 1980 ­ 1988
GdK: Die Geburt der Klinik
GG I: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung
GG II: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2: Die Geburt der Biopolitik
LiM:
Das Leben der infamen Menschen
MM:
Mikrophysik der Macht
MP:
Die Macht der Psychiatrie
ODis: Die Ordnung des Diskurses
OD:
Die Ordnung der Dinge
SW I: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen
ÜuS:
Überwachen und Strafen
VdG: In Verteidigung der Gesellschaft
WG:
Wahnsinn und Gesellschaft
WK:
Was ist Kritik?

5
Einleitung
,,In den Diskurs, den ich heute zu halten habe, und die Diskurse; die ich vielleicht durch Jahre
hindurch hier werde halten müssen, hätte ich mich gerne verstohlen eingeschlichen. Anstatt
das Wort ergreifen zu müssen, wäre ich von ihm lieber umgarnt worden, um jedes Anfangens
enthoben zu sein. [...]
Ich glaube, es gibt bei vielen ein ähnliches Verlangen, nicht anfangen zu müssen; ein ähnli-
ches Begehren, sich von vornherein auf der anderen Seite des Diskurses zu befinden und nicht
von außen ansehen zu müssen, was er Einzigartiges, Bedrohliches, ja vielleicht Verderbliches
an sich hat. Auf diesen so verbreiteten Wunsch gibt die Institution eine ironische Antwort,
indem sie die Anfänge feierlich gestaltet, indem sie sie mit ehrfürchtigem Schweigen umgibt
und zu weithin sichtbaren Zeichen ritualisiert."
1
Paul-Michel Foucault wird am 15. Oktober 1926 in Potiers als das zweite von drei Kindern
geboren. Sein Vater ist in der dritten Generation Arzt und gilt als ausgezeichneter Anatom.
Die Kriegsjahre hinterlassen einen tiefen Eindruck bei dem Jungen, der den Wunsch hegt,
einmal Geschichtslehrer zu werden. 1945 kommt er an das Lycée Henri-IV in Paris, wo er
eine Vorbereitungsklasse für die zugangsbeschränkte École normale supérieure (ENS) be-
sucht. Dort nimmt er am Philosophieunterricht von Jean Hippolyte teil, bevor er 1946 an der
ENS aufgenommen wird, wo Louis Althusser lehrt. Jean Hippolyte, eine Koryphäe auf dem
Gebiet der Hegelschen Philosophie und Louis Althusser, einer der wichtigsten marxistischen
Theoretiker der europäischen Philosophie, spielen eine prägende Rolle im weiteren Werde-
gang Foucaults. Nach Studien der Philosophie und Psychologie wird er 1955 Direktor des
Maison de France an der Universität von Uppsala, 1958 leitet er das Centre de civilisation
française an der Universität von Warschau, 1959 das Institut français in Hamburg. Anschlie-
ßend kehrt er nach Frankreich zurück, wo er in Paris lebt und an der Universität von Cler-
mont-Ferrand lehrt.
2
An dieser Stelle wird die vorliegende Arbeit einsetzen und sich mit den Themen Macht und
Diskurs bei Foucault beschäftigen. Die Ausarbeitung orientiert sich an der Fragestellung nach
Stellenwert und Zusammenhang dieser beiden Konzepte im Gesamtwerk. Dessen Bibliogra-
1
ODis, S. 9.
2
Vgl. DE I, Zeittafel nach Daniel Defert, S. 15- 105, hier: S. 15 ­ 32.

6
phie umfasste schon vor seinem Tode 729 Titel
3
und es lässt sich als äußerst mannigfaltig
beschreiben ­ um einen von Foucaults bevorzugten Begriffen zu verwenden.
4
Der vielschich-
tige Inhalt des Werkes bewegt sich durch seine verästelte Struktur und manchmal hört er ab-
rupt auf oder wächst in ungeahnte Tiefen.
Foucault belehrt nicht, weil er nicht davon ausgeht, dass das was richtig ist, auch wahr sein
muss. Es scheint als lerne er, während er schreibt und als Leser nimmt man Teil an diesem
Prozess. Schwer verständlich, wie man ihm das immer wieder zum Vorwurf machen konnte:
Es fehle der rote Faden, es fehle die Kontinuität, es fehle die Einheit. Mit seiner Antwort ent-
larvt er den Fragenden auf eine für ihn typisch subtile Weise als jenen, der um der Gleichform
willen auch stehen bleiben würde. ,,Glauben Sie, dass ich während all dieser Jahre so viel
gearbeitet habe, um dasselbe zu sagen, und nicht verwandelt zu werden?"
5
Und seine Ver-
wandlungen sind von derselben eruptiven Natur, wie die Welt, die er beschreibt.
Die Angst, dass diese eine Chance, die wir in ihr haben, keine Spuren hinterlassen könnte,
beherrscht laut Foucault das moderne Subjekt, das sich mit Kant und den Humanwissenschaf-
ten zum vernunftbegabten Zentrum allen Werdens und zum Prinzip seiner Geschichte erklärt
hat. ,,Wer sind wir jetzt, in diesem zerbrechlichen Augenblick, von dem wir unsere Identität
gar nicht zu trennen vermögen und der sie mit sich fortnehmen wird?"
6
Das kann auch Foucault nicht erschöpfend beantworten. Aber er stellt dar, wie wenig wir da-
mit zu tun haben. Damit er sich und seine Leser überzeugen kann, holt er die Allgemeinplätze
Macht und Diskurs dort ab, wo die Subjekte sie erwarten. Dann aber häutet er die vertraute,
verhärtete Schale ab und entdeckt uns Strukturen, die weder unserer Zeitlichkeit entsprechen,
noch sich von unserer vergänglichen Existenz beeindrucken lassen. Was wir sagen, wie wir es
sagen und warum wir überhaupt davon wissen entspringt nicht der Kraft unseres Urteils, son-
dern den Mechanismen des Diskurses. Er stellt gemäß Foucault die Bedingungen, unter denen
dieser oder jener Gegenstand zu möglichem Wissen aufsteigt. Erst an diesem Punkt kommt
das Subjekt ins Spiel und nimmt das ihm angebotene Wissen in die Gesellschaft auf, ohne
sich der zugrunde liegenden Strukturen bewusst zu sein.
Mit dem Subjekt erhält aber auch die menschliche Schwäche und mit ihr die Macht Einzug in
den sozialen Raum. Bei Foucault hat sie einen strategischen Charakter, den sie ihrer vielges-
3
Vgl. Fink-Eitel Hinrich: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2002, S. 7, verweist nach Clark, M.: Mi-
chel Foucault. An annotated Bibliography. Tool kit for a New Age, New York 1983.
4
Zur Prägung des Begriffes der Mannigfaltigkeiten (mulitplicités) bei Bernhard Riemann, Husserl und Bergson,
vgl. Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a. M. 1992, S. 25.
5
DE IV, S. 654.
6
DE III, S. 978.

7
taltigen Herkunft aus den Tiefen sozialer Verkettungen verdankt. Keiner und alle besitzen
diese Macht. Sie geht leise und maskiert vor, seit Jahrhunderten unbemerkt, durchzieht sie
den gesamten Gesellschaftskörper ohne Ausnahme. Dass wir sie noch heute in Chefsesseln
vermuten und unser Argwohn den garstigen Schreckgespenstern der Repression und der Ge-
walt gilt, ist ein Teil ihrer Taktik. So lenkt sie davon ab, wie sie gleich einem Mühlrad jenes
Wissen abschöpft und instrumentalisiert, welches das Subjekt aus Angst vor dem Vergessen-
werden so eifrig weiterverarbeitet. Jedoch bedarf es einer gewissen Ordnung, um des Diskur-
ses ,,unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu
umgehen."
7
Demnach regelt die Macht den Diskurs, um ihn unter Kontrolle zu halten: zu rep-
ressiven, aber auch zu produktiven Zwecken.
Ohne den Diskurs, keine Macht und ohne Macht, kein Diskurs. Je komplexer die Gesellschaf-
ten, desto dringender braucht dieses duale System gemeinsame Schaltstellen, als welche in
Foucaults Theorie die Disziplin, die Sexualität und die Sicherheit fungieren. Sie schaffen dem
Diskurs und der Macht jene Korridore zum Subjekt, die man als unvergängliches Fundament
bezeichnen könnte. Denn so lange wir leben werden wir Ordnung schaffen, Befriedigung su-
chen und gefahrlose Freiheit begehren.
Unter diesen Umständen scheint der Kampf um die vermeintliche Individualität schon verlo-
ren, bevor wir das erste Mal die Augen öffnen. Foucault rät deshalb, ihn schlicht aufzugeben.
Der Wunsch das eigene Wesen durch die Festigung und Vereinheitlichung der Identität um
jeden Preis über das physische Dasein hinaus zu verlängern, hieße seine Einmaligkeit opfern
zu wollen.
,,Ich halte es nicht für erforderlich, genau zu wissen, was ich bin. Das Wichtigste im Leben
und in der Arbeit ist, etwas zu werden, was man am Anfang nicht war. Wenn sie ein Buch
beginnen und wissen schon am Anfang was sie am Ende sagen werden, hätten sie dann noch
den Mut es zu schreiben? Was für das Schreiben gilt und für eine Liebesbeziehung, das gilt
für das Leben überhaupt. Das Spiel ist deshalb lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende
dabei herauskommen wird."
8
Als eines der ersten Opfer von AIDS starb Paul-Michel Foucault
am 25. Juni 1984 in Paris.
7
ODis, S. 11.
8
DE IV, S. 960.

8
Zum Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit besteht aus zwei Teilen. Im ersten soll der Themenkomplex Diskurs,
im zweiten derjenige der Macht behandelt werden. Dass der Titel eine umgekehrte Reihenfol-
ge ankündigt, erklärt sich anhand der diskursiven Implikationen im Konzept der Macht. An
entsprechender Stelle findet sich die Erläuterung dieser Zusammenhänge.
Es wird versucht, die zwei Konzepte so weit als möglich aus dem Foucaultschen Text heraus
zu betrachten. Zu diesem Zweck orientiert sich der Aufbau der Arbeit an der Chronologie
ausgesuchter Hauptwerke der beiden Schaffensphasen. Dass es dabei trotz gegenteiliger Be-
mühungen zu Wiederholungen kommt, ist durch die bereits erwähnte Vielschichtigkeit des
Gesamtwerkes bedingt. Ferner ist diese Form des Insistierens an vielen Stellen auch als ein
Stilmittel Foucaults zu verstehen, um die Wichtigkeit der oft unscheinbaren Untersuchungs-
gegenstände seiner kleinteiligen Analysen zu betonen.
Es finden sich in den Übersetzungen Foucaultscher Werke gelegentlich Fehler in Grammatik
und Zeichensetzung. Die Autorin der vorliegenden Arbeit wird diese aber bis auf zwei Aus-
nahmen nicht markieren, um eine lesefreundliche Form zu gewährleisten. Hierzu wird auch
größtenteils auf die indirekte Rede verzichtet, da es sich im Folgenden ausschließlich um die
Schriften des Michel Foucault handelt.
Solange es nicht anders angezeigt wird, beziehen sich die Ausführungen Foucaults überwie-
gend auf Frankreich. Selbstredend wird sich um die Einbettung in einen europäischen Kontext
bemüht.
Die Zitierweise folgt dem Grundsatz, dass jeder Titel der Sekundärliteratur bei seiner Ester-
wähnung vollständig belegt wird. Jeder weitere Verweis beinhaltet den Nachnamen des Au-
tors, den eventuell gekürzten Titel und die Seitenzahl. Bei häufig verwendeter Literatur wer-
den nur noch Nachname und Seitenzahl angegeben. Die Angabe "a.a.o." bleibt in jedem Fall
aus. Zitate aus der Primärliteratur sind mit den Abkürzungen versehen, die dem Siglenver-
zeichnis entnommen werden können.
Alle Kursive sind dem Original entnommen und die Definition von Begriffen wird nötigen-
falls an entsprechender Stelle vorgenommen werden.

9
I. Der Diskurs
1. Ein Student mit Fragen an den Diskurs
Der in der Literatur oft als "diskursive Phase" bezeichnete Abschnitt im Leben und Werk
Foucaults umfasst einen Zeitraum von 1961 bis etwa 1971. Darin entstanden neben zahlrei-
chen kleineren Publikationen die Hauptwerke "Wahnsinn und Gesellschaft"(1961), "Die Ge-
burt der Klinik"(1963), "Die Ordnung der Dinge"(1966), "Archäologie des Wissens"(1969)
und "Die Ordnung des Diskurses"(1972).
9
1961 ist das Jahr, in dem Michel Foucault seine Dissertation mit dem Titel "Folie et Déraison.
Histoire de la folie à l'âge classique" und die Übersetzung von Immanuel Kants "Anthropolo-
gie" als philosophische Doktoratsthesen an der Sorbonne verteidigt. Als man ihn später fragt,
inwiefern sein Werk auch ein autobiographisches sei, bezieht er sich beispielhaft auf die Ent-
stehung von "Wahnsinn und Gesellschaft.
Die Geschichte des Wahnsinns im klassischen
Zeitalter":
,,In den fünfziger Jahren habe ich in einem psychiatrischen Krankenhaus gearbeitet. [...] Da-
mals war die Blütezeit der Neurochirurgie, die Psychopharmaka kamen gerade auf, die tradi-
tionelle Institution herrschte unangefochten. [...] Drei Jahre später habe ich die Stelle aufge-
geben, und bin nach Schweden gegangen; ich fühlte mich persönlich sehr unwohl und begann,
eine Geschichte dieser Praktiken zu schreiben."
10
Seine erste Erfahrung mit der institutionali-
sierten Psychiatrie hatte Foucault allerdings schon früher: Nach einem Selbstmordversuch
brachte sein Vater den damals 22-jährigen Schüler der renommierten École normale supérieu-
re zu Professor Jean Delay, einem großen, französischen Psychiater und späteren Lehrer Fou-
caults im Hôpital Sainte-Anne.
11
Diese Kombination aus persönlichem Erleben und wissenschaftlichem Interesse birgt einen
Schlüssel zur Diskurstheorie Foucaults: Es ist die Frage, die Frage als Analyseinstrument, die
Frage nach dem herrschenden Zustand und seiner scheinbaren Alternativlosigkeit, die sich
ihm aufdrängt und die zum Teil seiner Methode wird: Warum diese Ordnung und keine ande-
re? Warum wird das gesagt und nicht jenes? Warum wird der Wahnsinn einmal als beliebter
Gegenstand der Literatur gehandelt und zu einem anderen Zeitpunkt als eine soziale Gefahr?
12
9
Diese chronologische Ordnung richtet sich nach dem Erscheinungsjahr der Originalfassungen.
10
DE IV, S. 961 f.
11
Vgl. Eribon, Didier: Michel Foucault und seine Zeitgenossen, München 1998, S.71.
12
Vgl. DE I, S. 775.

10
1.1 Foucaults Geschichtsauffassung und sein Wahrheitsbegriff
Der Einfluss der französischen Annales-Schule und ihrer strukturgeschichtlichen Historiogra-
phie prägt Foucaults Methoden. Eine Forschungsrichtung, die davon ausgeht, dass Geschichte
sich aufgrund determinierender Strukturen abrollt, auf die das subjektive Handeln keinen Ein-
fluss hat. Diese Art der Geschichtsschreibung betont die Bedeutung von Religion, Mentalität,
Geographie und anderen weitgehend unzeitlichen Konstellationen, für die konkrete Gestalt
des geschichtlichen Ereignisses.
13
Foucault lehnt sich an diese Geschichtsauffassung an und entwickelt in seiner Theorie den
Begriff der "seriellen Geschichte", die nicht den Menschen, sondern das singuläre Ereignis in
den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Obgleich diese Art der historischen Auslegung an
anderer Stelle näher untersucht werden wird, soll hier bereits festgehalten werden, dass sie
den historiographischen Unterbau zu einem zentralen Punkt im Werk Foucaults bildet. Denn
es steht darin nichts weniger, als das moderne Subjekt zur Debatte.
14
Neue, mehrdimensionale
Denkweisen fordern seine Dezentrierung und die Relativierung der vermeintlich unumstößli-
chen, rationalen Wahrheit, die als das Ergebnis der Autonomie des aufgeklärten Subjektes gilt.
Dessen Entmachtung ist eine ­ wenn nicht sogar die einzige ­ gemeinsame Forderung der
durchaus unterschiedlichen strukturalistischen Denkrichtungen im Frankreich der 1960er und
70er Jahre, und man findet sie auch im Marxismus und der Kritischen Theorie dieser Zeit
betont.
15
Wie im weiteren vertieft dargestellt, führt der Strukturalismus eine Methode ein, deren Ziel es
ist, Strukturen vernehmbar zu machen, die hinter oder unter unserer Geschichte, unserer Spra-
che, unserer Wirklichkeit als eine Art Bedingungsraster, auch unserer Gegenwart fungieren.
Das Subjekt ist hierbei eine Variable in einem System. Wenn aber nicht der schöpferische
Mensch, wer oder was beeinflusst dann das Wissensausmaß einer Zeit?
Dieses Wissen ist Produkt und Produzent einer wechselhaften Wahrheit. Einer Wahrheit, die
im Diskurs der Zeit ihren Ausdruck findet und die es zu einem bestimmten Zeitpunkt erlaubt,
Urteile nach gesellschaftlich akzeptierten Kriterien zu fällen. Wahrheit ist bei Foucault eine
,,zeitgenössische Begründung"
16
, was sowohl in der Diskurs-, als auch in der Machttheorie
eine tragende Rolle spielt. Gesellschaftliche Praktiken und die Wissenschaften der Zeit errich-
13
Vgl. Der Brockhaus: Geschichte. Personen, Daten, Hintergründe, Mannheim 2003, Stichwort: "Annales".
14
Die Moderne beginnt nach Foucault etwa 1790-1820 und endet um 1950, vgl. dazu DE I, S. 767.
15
Vgl. Eribon, S. 24.
16
DE I, S. 1069.

11
ten vergängliche Wahrheiten, sie betreiben ,,Veridiktion"
17
, das heißt die sprechen wahr. Die-
ser Selbstbezug macht sie manipulierbar und die Problematisierung dieser Praktiken ist ein
Gegenstandsbereich der "diskursiven Phase".
Foucault fragt diesbezüglich nach den Bedingungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in
der Geschichte geherrscht haben müssen, um etwas als Irrtum oder Wahrheit akzeptabel zu
machen. Das hat zur Vorraussetzung, dass er die eigentliche, philosophische Frage nach dem
Gehalt der Wahrheit ,,suspendiert"
18
, um sich der Analyse von Wissen zu widmen.
1.2 Die Methode der Archäologie
In einer Besprechung seines Buches "Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Human-
wissenschaften" erläutert Foucault die Untersuchungsmethode der diskursiven Phase selbst:
,,Mit Archäologie möchte ich eigentlich nicht einfach [sic!], sondern einen Forschungsbereich
bezeichnen und zwar den folgenden: Die Kenntnisse, die philosophischen Ideen, die alltägli-
chen Meinungen, aber auch die Institutionen, die Praktiken des Handelns und der Polizei so-
wie die Sitten einer Gesellschaft ­ das alles verweist auf ein bestimmtes, implizites Wissen,
das dieser Gesellschaft eigentümlich ist. Dieses Wissen ist grundlegend verschieden von den
Kenntnissen, die man in den wissenschaftlichen Büchern, den philosophischen Theorien, den
religiösen Rechtfertigungen finden kann, aber es macht in einem gegebenen Augenblick das
Auftreten einer Theorie, einer Meinung, einer Praxis möglich. [...] und dieses Wissen wollte
ich hinterfragen als die Bedingung der Möglichkeit der Kenntnisse, der Institutionen, der
Praktiken. Anders gesagt muss man das Generalarchiv einer Epoche in einem bestimmten
Augenblick zur Verfügung haben. [...] Die Archäologie ist genau genommen, die Wissen-
schaft von diesem Archiv."
19
Foucault spürt im Zuge seiner archäologischen Studien nicht
wie Kant, die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, sondern von Kenntnis auf. Also
von Institutionen und Praktiken, die innerhalb ihres Diskurses das besagte Wissen und dessen
Wahrheit produzieren.
Nachdem nun bereits einige Bezüge zu "Wahnsinn und Gesellschaft" hergestellt sind, werden
im Folgenden die Werke der diskursiven Phase anhand der dargelegten Ausgangspunkte nä-
her beleuchtet: Der Versuch, dem in dieser Zeit entwickelten Diskurskonzept einen klaren
Umriss zu geben.
17
GG II, S. 62.
18
LIM (Nachwort), S. 56 f.
19
Reif, Adalbert (Hrsg.): Antworten der Strukturalisten, Hamburg 1973, S. 149 f.

12
2. "Wahnsinn und Gesellschaft"
2.1 Die Archäologie des Schweigens und die Geschichte der Grenzen
Im Französischen bezeichnet "le discours" das Zusammenspiel von Sprache und Denken und
im Bezug auf den Diskurs des Wahnsinns ist der Name Programm:
,,Die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des achtzehnten Jahrhun-
derts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs. [...] Die Sprache der Psychiatrie,
die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schwei-
gen errichten können. Ich habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache zu schreiben,
vielmehr die Archäologie dieses Schweigens."
20
Ein Schweigen, das von gesellschaftlichen
Tabus erzählt, also von moralischen Schranken, die ein Innen von einem Außen abgrenzen
und letztendlich Denkbares von Undenkbarem. Die Unordnung und das Unbekannte definie-
ren sich zuvorderst durch ihr Dasein in jenem Außen, abseits der Bastionen von Sitte und
Vernunft. Dass sich die zwei Seiten notwendig bedingen ist eine Gegebenheit, die in der
Freude über das Dasein auf der "richtigen" Seite erfahrungsgemäß an Bedeutung verliert.
Jedoch die Schwere des Außen, die unabwendbare Koexistenz des chronisch Gemiedenen
birgt eine ,,Geschichte der Grenzen"
21
, die wertvollste Aufschlüsse über das Entstehen des
modernen Identitätskorpus gibt ­ möglicherweise die einzige Parallelgeschichte. Nach Art des
Genealogen und geistigen Vorbilds Foucaults, Friedrich Nietzsche, soll der jeweilige Unter-
suchungsgegenstand von den Grenzen unserer Kultur her erhellt werden: Die Vernunft vom
Wahnsinn her denken, das Leben vom Tode her, die Ordnung vom Chaos her, das Normale
vom Anormalen her, die bürgerliche Moral von der frevelhaften Delinquenz her und die Dis-
ziplin von der Regellosigkeit her.
Eine Beweisführung, der es um die Betonung einer zwingenden Zweiwertigkeit geht, die die
gesellschaftliche Rollenverteilung nach wechselhaften Maßstäben der Moral bestimmt. Ein
enormer Analysebedarf den schon Nietzsche erkannte, als er bezüglich vergleichender Moral-
studien feststellte: ,,Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen-Bauten noch nicht gebaut;
auch dafür wird die Zeit kommen."
22
20
WuG, S. 8.
21
WuG, S. 9.
22
Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: Colli, Giorgio und Montinari, Mazzino (Hrsg.): Nietz-
sche Werke, Kritische Gesamtausgabe, Berlin und New York 1973, Abt. 5, Bd. 2, S. 13-321, hier S. 53 f. Zu-
sammen mit Gilles Deleuze übernimmt Foucault die Verantwortung für die französische Ausgabe dieser Ge-
samtausgabe (vgl. DE I, S. 40).

13
2.2 Der Wahnsinn und seine Wahrheit
In seinem Werk hinterfragt Foucault die jeweils herrschenden ,,moralischen Klimazonen"
23
,
in denen man die vermeintlich geistige Umnachtung seit dem Mittelalter betrachtete und be-
handelte. Dabei stellt sich ihm vor allem die Zeit der französischen Klassik als ein Abschnitt
dar, in dem sich folgenreiche Veränderungen vollzogen, welche noch heute unser Bild vom
Wahnsinn prägen. Dieser Beobachtungszeitraum entspricht der Aufklärung von etwa 1650 bis
1800 und sein Stellenwert im Gesamtwerk Foucaults ist überaus hoch. Die mutmaßlich größte
Errungenschaft jener Zeit wird von Foucault einer Art Ermittlungsverfahren unterzogen:
,,Was auf dem Spiel steht, ist die Legitimität der abendländischen Vernunft"
24
. In diesem Be-
zugsrahmen wird auch deutlicher, warum Foucault die Rolle des vernunftbegabten, aufgeklär-
ten Subjekts hinterfragt.
Mittels einer vergleichenden Betrachtung will Foucault begreiflich machen, wie es in einer
noch relativ jungen Vergangenheit unserer eigenen Kultur eine Wahrnehmung des wahnsin-
nigen Mitmenschen gab, die zwar von der unsrigen grundlegend verschieden und doch nicht
weniger vertretbar war. Diese Wahrnehmung ist nach Foucault ein Produkt des Zeitgeistes
und seiner jeweiligen ,,lokalen Diskursivitäten"
25
.
Obwohl er in der Renaissance eine gewisse Leichtigkeit im Dualismus von ,,unvernünftiger
Vernunft und vernünftiger Unvernunft"
26
diagnostiziert, die sich von der bedrohlichen Schwe-
re des Wahnsinns im Mittelalter unterscheidet, wo er noch ,,mit den großen tragischen Kräften
der Welt"
27
verbunden war, so stellt er doch gleichermaßen fest, dass die Narretei in beiden
Fällen als wesentlicher Moment der Natur, als eine ,,komplementäre Erfahrung"
28
anerkannt
wurde. In seltenen Fällen zwar auch als eine Art göttlicher Inspirationsgabe beurteilt, wird der
Wahnsinn häufiger auf so genannten Narrenschiffen ohne Zielort zu Wasser gelassen und den
Launen der Winde anheim gegeben.
29
Bis schließlich René Descartes im Jahre 1641 in den "Meditationes de Prima
Philosophia" ("Meditationen über die Erste Philosophie") argumentiert, dass er selbst, als eine
physische Tatsache, Ausdruck einer Wahrnehmung ist, die Vernunft voraussetzt. Wäre dem
nicht so, ,,ich müsste mich denn mit gewissen Verrückten vergleichen, deren Gehirn ein hart-
23
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 53 f.
24
Marti, Urs: Michel Foucault, München 1999, S. 16. Vgl. aber auch die veränderte Haltung des ,,späten Fou-
cault" zu diesem Punkt, DE IV, S. 166.
25
VdG, S. 26.
26
WuG, S. 70 f.
27
WuG, S. 43.
28
Marti, S. 17.
29
Vgl. WuG, S. 47.

14
näckiger melancholischer Dunst so schwächt, dass sie unbeirrt versichern, [...] sie hätten ei-
nen Kopf von Ton oder seien ganz Kürbisse oder aus Glas geblasen. Allein das sind Wahn-
sinnige, und ich würde ebenso verrückt erscheinen, wenn ich auf mich anwenden wollte, was
von ihnen gilt."
30
Bereits vier Jahre zuvor, in der französischen Fassung des "Discours de la
méthode", hatte er sich ergänzend dazu allen Zweifel an der existenzbedingenden Fähigkeit
zum Zweifeln verboten: ,,Und als ich bemerkte, dass diese Wahrheit, ,Ich denke, also bin ich'
so fest und gesichert steht, dass alle noch so verrückten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu
erschüttern vermögen, urteile ich, dass ich sie ohne Vorbehalt als das erste Prinzip der Philo-
sophie annehmen durfte, die ich suchte."
31
Eine Vernunft, die so radikal rational argumentiert, hat nur wenige Integrations- oder Tole-
ranzmöglichkeiten für ihre irrationale Seite, die mit diesem Auftakt zur Ära der Vernunftherr-
schaft einen neuen Platz zugewiesen bekommt ­ von wo aus keine Komplementarität mehr zu
erkennen sein wird. Denn nach Foucault sagt Descartes im Grunde, dass der vernünftige
Mensch den Wahnsinn nicht denken kann, ohne selbst wahnsinnig zu sein. Wer aber wahn-
sinnig ist, kann weder sich selbst als real existent wahrnehmen, noch rational denken oder
zweifeln. Eine Trennlinie ist gezogen und ,,plötzlich steht der Wahnsinn in einem Gebiet des
Ausschlusses, aus dem er erst mit der Phänomenologie des Geistes befreit wird."
32
2.3 Die Vernunft und ihr Mitleid
Der "frühe Foucault", ein Schüler von Louis Althusser seit der Zeit an der École normale su-
périeure und ein Kenner heideggerscher Literatur
33
, der Verfasser des 1954 erschienenen ers-
ten Teils der "Maladie mentale et personnalité" ("Psychologie und Geisteskrankheit") und der
Übersetzter von Ludwig Binswangers "Traum und Existenz", beabsichtigt anhand dieses ers-
ten großen Werkes zu seinem vertrauten Thema Seelenkunde zu zeigen, was hinter der Fassa-
de psychiatrischer Objektivität steht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Foucault
dort eine im Grunde moralisch argumentierende Zurückweisung von Werten entdeckt, die es
im zweckdienlichen Kräftespiel mit der vermeintlich stärkeren, weil objektiven, wissenschaft-
lichen Wahrheit als Abnormalitäten abzusondern gilt. Ein Thema, das in der Theorie zu den
Technologien der Macht des "mittleren Foucault" nochmals ausgiebig behandelt wird.
30
Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia, Stuttgart 2005, S. 65.
31
Descartes, René : Discours de la Méthode & Essais, in : Adam, Charles/Tannery, Paul (Hrsg.): Ouvres de
Descartes, Nouvelle Présentation, 11 Bde., Paris 1982-91, Bd.VI, S. 32.
32
WuG, S. 70.
33
Foucault: ,,Meine ganze philosophische Entwicklung war durch meine Lektüre von Heidegger bestimmt. Ich
gebe zu, dass es Nietzsche war, mit dem sie dann durchgegangen ist [...] Nietzsche allein sagte mir aber gar
nichts! Wohingegen Nietzsche und Heidegger, das war der philosophische Schock." (Erdmann, Eva /Forst, Rai-
ner/Honneth, Axel (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1990, S. 140 f.

15
Hier, wie in dem 1962 erschienenen, völlig überarbeiteten zweiten Teil der "Maladie mentale
et personnalité"
34
,,bringt [Foucault] die Zusammenhänge zwischen der pathologischen Ab-
weichung und der Kulturordnung, innerhalb welcher sie erkannt wird, zur Sprache, wobei er
im Gegensatz zu funktionalistischen Ansätzen die Geisteskrankheit nicht als Normverletzung
versteht, sondern umgekehrt die Normdefinition als Hinweis auf das Selbstverständnis einer
Gesellschaft."
35
Ähnlich begründet er, dass die frühmoderne Behandlung des Wahnsinnigen weniger eine Fol-
ge humanmedizinischen Mitgefühls war, als vielmehr eine kollektive Anstrengung, den
Wahnsinnigen wieder in das Joch der bürgerlichen Moral zurück zu zwingen.
36
Foucault stellt in diesem Zusammenhang eine Verbindung zwischen den epochalen Worten
Descartes' von 1637 und der Eröffnung des Pariser Hôpital générale im Jahre 1656 her. Letz-
teres war ein Zusammenschluss staatlicher Hospitäler und eine der ersten totalen Anstalten
des Abendlandes. Foucault: ,,Nahezu absolute Souveränität, Rechtssprechung ohne Berufung,
das Recht zur Exekution. [...] In seiner Funktion oder seinem Zweck nach gehört das Hôpital
générale zu keiner medizinischen Idee. Es ist eine Instanz der Ordnung, der monarchischen
und bürgerlichen Ordnung, die in Frankreich zur gleichen Zeit hergestellt wird."
37
Nach dem Dreißigjährigen Krieg grassierten Arbeitslosigkeit, Bettelei und Vagabondage ­
das gleiche Elend, welches Europa und seinen Seelen schon mit den Bauern- und Hugenot-
tenkriegen im 16. Jahrhundert stark zugesetzt hatte. Der Westfälische Friede von 1648 und die
Festigung der "superioritas territorialis" bestätigte die Unabhängigkeit der Reichstände, ihrer
Territorialstaaten und ihrer Konfessionswahl, obgleich die Auswirkungen der Gegenreforma-
tion, der dadurch erstarkende Katholizismus und der sich verbreitende Typ des absolutisti-
schen Herrschers von Gottes Gnaden, das auf die Wahrung und Mehrung des Nutzens des
Staates ausgerichtete Handeln verlangten. Der Müßiggang war in einem so gearteten Diskurs
nicht länger zu dulden und man begegnete ihm mit Arbeitszwang in geschlossenen Häusern,
um den homo oeconomicus zu restituieren. Die ,,machinale Thätigkeit" soll den Ausgang aus
der Depression erleichtern und diente auch zu jener Zeit schon als vielseitig einsetzbare Me-
dikation.
38
34
Erschienen unter dem Titel "Maladie mentale et psychologie".
35
Marti, S. 16.
36
Vgl. WuG, S. 11.
37
WuG, S.73.
38
Vgl. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, Stuttgart 1988, S. 18 ff.

16
Müßiggänger sind in den Begriffen der Zeit auch die Wahnsinnigen, die sich im Zuge einer
europaweiten Internierungswelle zusammen mit Landstreichern, Kleinkriminellen und ande-
ren gesellschaftlich inadäquaten Subjekten in den verschiedensten Zwangsinstitutionen wie-
derfinden ­ so ist ,,die Internierung missbräuchlich zum Amalgam heterogener Elemente ge-
worden."
39
In Deutschland öffneten etwa zeitgleich die so genannten "Zuchthäuser" ihre Pfor-
ten und in England die "houses of correction"
40
. Ein Phänomen, das das Gesicht vieler Nach-
kriegssituationen prägt: die Gemeinschaft konnte ihre Kooperation auch unter extremem
Druck bewahren und vollzieht nun ihren Wiederaufbau mit zerknirschtem Eifer, bei dem die
Empfindungen zu schonen sind und die Sehnsucht nach Ordnung dem dringenden Wunsch
nach Orientierung entspringt. ,,Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor
den 'Ansteckungen', [...] vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei,
vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und
sterben."
41
Der Wahnsinnige, in seinem ganzen infamen Dasein und seinem undurchdringlich
wirren Verhalten, verkörpert im Diskurs der französischen Klassik eben jene Unordnung, die
es seit Ende des Krieges auszumerzen galt. Das Anketten der personifizierten Anarchie in den
Schweinekoben und Kerkern der Internierungsanstalten erschien als die adäquate Lösung,
einer sittlichen Ordnung den Weg zu bereiten, in der jedes und jeder seine ästhetische Rich-
tigkeit hat, damit ein Neuanfang gelingen kann.
Die für die Internierung verwendeten Immobilien sind größtenteils ehemalige Leprosorien,
die seit Ende des Mittelalters weitgehend verlassen standen und zumeist noch in klerikalem
Güterbesitz waren. Auch wenn die Lösung bezüglich dieser Liegenschaften auf den ersten
Blick eine praktische zu sein scheint, weckt sie alte Ängste. Die Leprakranken des Mittelalters
waren eine Heimsuchung, deren Verbannung selbstverständlich auch eine Reaktion auf Ans-
teckungsängste war. Der wilde Wahnsinn in den alten Leprosorien wurde mit Gefahr asso-
ziiert
42
­ ein Stigma, das die Psychiatrie schon bald für sich zu nutzen wusste, wie Foucault in
seinem Werk "Die Macht der Psychiatrie" ausführlich darstellt.
Fehlende medizinische Kenntnis oder die Ignoranz gegenüber Methoden aus dem Mittelalter,
welche wiederum der arabischen, griechischen oder römischen Medizin entstammten
43
, legten
den Verdacht nahe, dass der Wahnsinnige sich dem Bösen willig hingibt. Ein nicht geduldetes
39
WuG, S. 79.
40
WuG, S. 77.
41
ÜuS, S. 254.
42
Vgl. WuG, S. 25, 77, 358-391.
43
Pinel, Philippe: Philosophisch-medicinische Abhandlung über die Geistesverirrungen oder Manie, Wien 1801,
S. IV ff.

17
Verhalten, dass es zu Bestrafen galt ­ gerade weil der Irre keiner ordentlichen Arbeit nachzu-
gehen weiß und ein müßiges, anormales Ungeheuer bleibt.
Aus den Kerkern und Koben sollten die Wahnsinnigen in Frankreich und England am Ende
des 18. Jahrhunderts erstmals von dem Pariser Arzt Jean Baptiste Pinel und seinem britischen
Kollegen William Tuke befreit werden, die die so genannte "moralische Behandlung" ein-
führten. Die lückenlose Dokumentation und pedantische Verwaltung der Ergebnisse einer
unablässigen Beobachtung der Wahnsinnigen, sind das Resultat einer als Befreiung gelobten
Reinternierung unter nur teilweise veränderten Vorzeichen.
44
Für Foucault handelt es sich
hierbei also weniger um Impulse menschlicher Anteilnahme, als vielmehr um den Beginn
einer langen Geschichte der psychopolitischen Dressur in Disziplinarinstitutionen.
Was nach dieser ­ für Foucault trügerischen ­ "Humanisierung" der Irrenhäuser durch Pinel
und Tuke bleibt, ist die alte neue Grenze zur Unvernunft, durch die sich das Subjekt fortlau-
fend seiner Selbst auf der "gesunden" Seite der Vernunft versichert und sich ab jetzt auch des
ehrbaren Mitleides den armen Geistesgestörten gegenüber rühmen kann. Dem schweigsamen
Wahnsinn wird so eine Wahrheit verliehen, die endlos mit dem auf ihr aufbauenden spezifi-
schen Wissen verteidigt werden kann. Im Grunde ein in sich geschlossenes System, dessen
selbstgerechte Eigenmächtigkeit aufzudecken zu Foucaults ersten Aufgaben in dem Buch
"Wahnsinn und Gesellschaft" gehört. Es sind Fjodor M. Dostojewskis Worte, die Foucault
seinem Werk voranstellt und die seinen Grundgedanken treffend zusammenfassen: ,,Man wird
sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, dass man
seinen Nachbarn einsperrt."
45
3. "Die Geburt der Klinik"
3.1 Der Tod als Ende und Anfang
Der Untertitel dieses Werkes, dessen Niederschrift Foucault im Winter 1961 und damit nur
ein halbes Jahr nach Verteidigung seiner Dissertation beendet, lautet "Eine Archäologie des
ärztlichen Blicks" und er bezeichnet es selbst als ein ,,Abfallprodukt" von "Wahnsinn und
Gesellschaft".
46
Vermutlich Auswirkungen der erhöhten Aufmerksamkeit, die seine Disserta-
tion in der Fachwelt erregt hat.
47
Tatsächlich ist der Umfang von "Naissance de la clinique.
44
Vgl. WuG, u.a. S. 391-435.
45
WuG, S. 7.
46
DE I, S. 33.
47
Die "Histoire de la Folie" wird seitens der Annales-Schule als bedeutender Beitrag zur Geschichte der Menta-
litäten gewürdigt. (Vgl. DE I, S.33) Kritische Stimmen: ,,Das Buch ist von vielen als Absage an die Psychiatrie
überhaupt bzw. als Dokument der Antipsychiatrie verstanden worden." (Marti, S. 23).

18
Une archéologie du regard médical", wie das Werk im Französischen heißt, wesentlich gerin-
ger und der Inhalt knüpft teilweise an die Analysen aus dem vorangegangen Werk an.
Bei näherer Betrachtung des Gesamttitels fällt auf, dass hier eine Korrelationsgeschichte un-
terstellt wird. Foucault tut dies, um erneut zu zeigen, inwiefern der Diskurs einer Zeit soziale
Tatsachen und sich wandelnde Perspektiven auf dasselbe Interessenobjekt schafft, was auch
und gerade wissenschaftliche Bereiche tiefgreifend zu verändern vermag. In diesem Fall fin-
det ein diskursiver Bruch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert statt. Der im Zuge der
Umwälzungen dieser Zeit einschneidende Wandel des menschlichen Selbstbildes, findet sei-
nen Niederschlag zuerst in der Medizin und ihren Institutionen, hat sie ihn doch maßgeblich
bedingt.
Zum Ausdruck kommen soll damit aber auch, dass das Phänomen der Klinik kein Ergebnis
einer ununterbrochenen, von Einfühlungsgabe und Wohlwollen getragenen Entwicklung seit
Hippokrates ist. Sondern dass erst das ,,konkrete Apriori"
48
, das hier die Französische Revolu-
tion darstellt, einen Diskurs möglich machte, der diese wissenschaftliche Verschiebung her-
vorrief. Um seine These zu stützen, rekonstruiert er die medizinhistorische Situation von etwa
1780 bis 1820.
49
Vor dieser Zeit waren das so genannte Spital, das Asyl oder aber bevorzugt die Familie, Insti-
tutionen, in denen die medizinische Behandlung vor allem mit den Mitteln der Nosologie,
also der Medizin der Arten, betrieben wurde. Eine Krankheitslehre, bei der das Wesen der
Leiden im Vordergrund steht. Von der Krankheit wurde angenommen, dass sie gewisserma-
ßen als unabhängiges Phänomen auftrete und der Körper als reine Materie und ,,äußerliches
Faktum"
50
sie lediglich trage. Ihre Symptome waren der einzige pathologische Ausdruck, den
diese, den natürlichen Verlauf der Krankheit abwartende und beobachtende Wissenschaft, vor
der praktischen Verallgemeinerung der anatomischen Lehre kannte.
51
Die Symptome wurden
auf einem deskriptiven Tableau als feste Zeichen zusammengefasst, den Krankheiten gegen-
übergestellt und beide aufgrund der Ähnlichkeiten und Unterschiede klassifiziert. Diese An-
lehnung an botanische Methoden ,,bringt die fast pflanzenhafte Ordnung ihres Wesens zur
Erscheinung"
52
. Man hat die Krankheit, dem Diskurs der Zeit gemäß, vor allem rational zu
48
GdK, S. 13. In OdD, S. 29 heißt es dann noch genauer ,,historisches Apriori".
49
Vgl. DE I, S. 646.
50
GdK, S. 24.
51
Vgl. GdK, S. 19 ff.
52
GdK, S. 33.

19
durchdringen versucht. Das Sichtbare war auf die Möglichkeiten des Sagbaren begrenzt, die
das Tableau erfassen konnte ­ ,,der flache Raum des Immerwährend-Gleichzeitigen"
53
.
Obwohl nach Foucault bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts anatomische Sezierstudien
möglich waren und legal stattfanden, werden sie erst in dem Diskursraum Klinik zu medizini-
schen Ehren kommen.
54
Und im Zuge einer reorganisierten medizinischen Ausbildung in der
Klinik, am Krankenbett und am Seziertisch, wird die Arbeit über dem Tableau von der Auf-
merksamkeit des ,,erspähenden Blick[s]"
55
abgelöst. Die Möglichkeit, die Krankheit nun ohne
die Zwischenschaltung des Tableaus in eine Aussage zu verwandeln, birgt aber eines der we-
sentlichen Probleme: Die Klinik träumt den ,,epistemologischen Traum"
56
vom sprechenden
Blick und der sehenden Sprache, von dem multisensoriellen Gefüge aus Sichtbarkeit und
Sagbarkeit, das die Wirklichkeit des Betrachters soweit als möglich wiederzugeben vermag.
Denn sie weiß: ,,Die Kunst der Beschreibung der Tatsachen ist die höchste Kunst in der Me-
dizin; vor ihr verblasst alles."
57
Foucaults Anliegen ist nun zu zeigen, wie sich diese Klinik insofern noch nicht von den Be-
schränkungen des nosologischen Tableaus lösen konnte, als dass sie in den Möglichkeiten der
Sprache gefangen war. Viele von den Dingen, die sie in den ungeahnten Tiefen der Körper
vorfindet, haben weder Namen noch Wesen. Die Worte, die man zu diesem Zweck bildet,
entstehen größtenteils als eine Neukombination aus bereits bekannten Bezeichnungen. Eine
solche Analyse ist an ein linguistisches Fundament gebunden.
Erst vermittels der Entdeckung und Benennung verschiedener Gewebetypen durch den Ana-
tomen Xavier Bichat und die Einführung des experimentellen Versuchs als Ausgangspunkt
medizinischer Kenntnisse am Ende des 18. Jahrhunderts, kann sich die Analyse von diesem
Fundament lösen, weil sie ohne die Begrenzung der Sprache ,,in der Tiefe der Dinge die Ord-
nung der Schichten an den Tag gebracht"
58
hat. Foucault meint hier die Methode Bichats,
verschiedene Gewebetypen als schichtartige Entitäten zu isolieren und getrennt zu klassifizie-
ren, um sie anschließend im Lichte eines räumlichen Blicks wieder der Ganzheit des patholo-
gischen Vorgangs im Organ und damit im Körper zuzuordnen. Die Abstraktion ist der Preis,
53
GdK, S. 22.
54
Vgl. GdK, S. 138. Foucault berichtet von legalen Seziersälen in Bologna, Paris, London und Wien. Dass die
Klinik des 19. Jahrhunderts die Methoden des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt ist ein Rekurs, der seine These
einer nicht-linearen, diskontinuierlichen Geschichte beispielhaft stützt.
55
GdK, S. 178.
56
Deleuze, S. 88. Deleuze zeigt in seinem Buch, wie sich anhand der Kategorien "Sichtbarkeit" und "Sagbar-
keit" das Gesamtwerk Foucaults strukturieren lässt.
57
GdK, S. 128, zitiert nach Amard, L.V.F.: Association intellectuelle, 2 Bde., Paris 1821, Bd. 1, S. 65.
58
GdK, S. 144.

20
den die Anatomie nach Bichat für ihre Loslösung vom linguistischen Fundament zu zahlen
hat. Die abstrahierten Gewebe ,,sind aber nichtsdestoweniger real und konkret [...]"
59
.
So wird der zweidimensionalen, mittelbaren Ebene des distanziert deskriptiven Tableaus über
das Wesen der Krankheiten eine diagonale Dimension entgegengesetzt, die ,,dem Auge die
Tiefe zurückgibt und dem Leiden ein Volumen"
60
. Der geöffnete Körperraum überträgt seine
Dreidimensionalität auf die Systematik des medizinischen Wissens: ein offener, weitläufiger
Raum, in den die divergierenden Einsichten einfließen, die sich aus der klinischen Beobach-
tung der Serien von pathologischen Vorgängen unmittelbar ergeben.
61
Der lebende Mensch
geht aus diesem Prozess als ein sein Leben lang Sterbender hervor. Die Untersuchung von
Leichen kommt einem Rückwärtsspielen des Krankheitsverlaufes gleich. Wo der Nosologe
noch die "Heilung" vom Tode zum Ziel hatte, dient dem klinischen Anatom des 19. Jahrhun-
derts der Tod zur Heilung von Leben.
,,Es ist von entscheidender und bleibender Bedeutung für unsere Kultur, dass ihr erster wis-
senschaftlicher Diskurs über das Individuum seinen Weg über den Tod nehmen musste. Um
in seinen eigenen Augen zum Gegenstand der Wissenschaft zu werden, um in seiner eigenen
Sprache eine diskursive Existenz zu gewinnen, musste sich der abendländische Mensch seiner
eigenen Zerstörung stellen [...] "
62
3.2 Der Strukturalismus und die Diskursanalyse
1972 erschien eine von Foucault völlig überarbeitete Neuausgabe dieses Werkes: ,,[O]hne die
Ausdrücke, Begriffe und Wendungen, die eine strukturalistische Interpretation nahe legen,
und mit einer deutlichen Aufmerksamkeit für die Analyse der Diskursformationen."
63
Diese
Korrektur gibt Auskunft über den Widerwillen, den Foucault bezüglich der philosophischen
Einordnung seiner Gedanken und der gesellschaftlichen Klassifizierung seiner Person emp-
fand: ,,Man frage mich nicht, wer ich bin und man sage mir nicht, ich solle der gleiche blei-
ben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei
lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben."
64
Eine Zuordnung zu einer bestimmten
Denkrichtung würde den Inhalten seiner Theorien widersprechen, geht es doch gerade darum
zu zeigen, dass die Ideengeschichte ihre subjektzentrierte, lineare Historiographie aufgeben
muss, damit Wahrheiten in Vielzahl auftreten und unabhängig vom Autor wahrgenommen
59
GdK, S. 144.
60
Deleuze, S. 83.
61
Vgl. GdK, S. 162-185.
62
GdK, S. 207 f.
63
DE I, S. 63.
64
AW, S. 30.

21
werden können. Aber auch der Größte steht auf Schultern von Riesen. Was also versucht
Foucault hier abzuschütteln?
Die französische Linke der 1960er und 70er Jahre verstand Nietzsche als ,,Ahnherrn linksra-
dikaler Kulturkritik"
65
. Dessen Metaphysikkritik ging einher mit einer Abwendung von der
Phänomenologie und dem Existenzialismus. Eine Entwicklung, die sich auf den intellektuel-
len Werdegang Foucaults übertragen lässt ­ auch er ist vom Diskurs seiner Zeit determi-
niert.
66
Aber auch eine Entwicklung, die gewiss als einer der Gründe genannt werden kann, warum zu
dieser Zeit in vielen Bereichen die Dezentrierung des Subjektes und die Diskontinuität und
Differenzierung von Geschichte deutliche Akzente wider die Bemühungen der Ideengeschich-
te um Einheitsbildung setzten. Das dadurch entstandene interdisziplinäre Netzwerk kann unter
dem Begriff des Strukturalismus gefasst werden und bleibt dementsprechend dehnbar. ,,Sagen
wir es offen: wenn man uns nach dem Strukturalismus fragt, verstehen wir meist nicht, worü-
ber man mit uns sprechen will. Denn zunächst läuft das große Gerücht unter den Fröschen,
dass der Strukturalismus so etwas wie eine Philosophie sei und viele schöne Dinge abschaffen
möchte, darunter insbesondere den Menschen. Die Aufregung der Frösche ist verständlich:
gleich Narziss halten sie sich gerne an den Ufern des Wassers auf. Doch wenn man einen
Schluss aus der Einführung der Strukturen in die Geschichte des Narziss ziehen kann, so ge-
rade den, dass es ihn überhaupt nicht gäbe, wenn er nicht seine eigene Repräsentation vor sich
im Wasser fände [...]."
67
Zu den Protagonisten des Strukturalismus zählt der Ethnologe Claude Lévi-Strauss. Die Wei-
terentwicklung zum Poststrukturalismus wird mit dem Semiologen und Literaturkritiker Ro-
land Barthes, dem Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem ,,Historiker des Denkens"
68
Mi-
chel Foucault verbunden. Louis Althusser hat Marx unter strukturalistischen Vorzeichen gele-
sen.
Allen diesen Theorien liegen die sprachwissenschaftlichen Errungenschaften des Genfer Lin-
guisten Ferdinand de Saussure zu Grunde, der bei der Entstehung des europäischen Struktura-
lismus bereits seit einem halben Jahrhundert tot war.
65
Fink-Eitel, S. 69.
66
Vgl. dazu Baudrillard, Jean: Oublier Foucault, München 1983.
67
Wahl, François (Hrsg.) : Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt a. M. 1973, S. 9.
68
DE IV, S. 960.

22
Nach Saussures struktureller Linguistik ist Sprache ("langue") ein System von Zeichen, die
miteinander in Beziehung stehen. Als vorwiegend unbewusste soziale Gegebenheit struktu-
riert dieses Zeichensystem das konkrete, individuelle Sprechen ("parole").
Das einzelne Zeichen vereint in sich das Bezeichnende und das Bezeichnete, also den Signifi-
kanten und das Signifikat ­ im Original "signifiant" und "signifié". Sie sind in jedem Fall
arbiträr, das heißt zwischen ihnen besteht kein kausaler Zusammenhang, obgleich sie im Zei-
chen als eine untrennbare Einheit im Sinne der zwei Seiten einer Medaille auftreten. Allein es
herrscht das Primat des Signifikats, den der Signifikant immer nur repräsentiert. Daraus ergibt
sich ein geschlossenes System von Zeichen.
Das Zeichen erhält seine Bedeutung und seinen Wert nur innerhalb des Systems Sprache, in
Relation zu anderen Zeichen, die derselben Struktur unterliegen. Der Sprecher kann Wortwahl
und Aussprache abwandeln, hat aber betreffs der Bedeutung der Zeichen keinen Einfluss.
Die Theorie de Saussures ist wesentlich komplexer, als die hier dargestellten Auszüge. Es
lässt sich festhalten, dass der Strukturalismus sich vor allem um die theoretische Fundierung
der These von der Systemhaftigkeit der Sprachen bemüht hat und entsprechende Analyseme-
thoden entwickelt hat.
69
Der Poststrukturalismus wendet sich gegen die Annahme eines geschlossenen Systems von
Sprache. Dazu nehmen seine Vertreter eine kleine, aber entscheidende Korrektur im Zeichen-
begriff vor: Sie postulieren das Primat des Signifikanten. Erklären lässt sich diese These im
Rückblick auf das weiter oben beschriebene Dilemma, das sich für die Anatomen des 18.
Jahrhunderts vor Bichat ergeben hat. Deren Wortschöpfungen waren betroffen von dem
,,schlichte[n], für die Sprache grundlegende[n] Sachverhalt, dass es weniger bezeichnende
Vokabeln als zu bezeichnende Dinge gibt"
70
, schreibt Foucault in einem am selben Tag er-
schienenen literaturkritischen Buch über Raymond Roussel, einen Wegbereiter des literari-
schen Surrealismus. Die Signifikanten sind gezwungen sich in Kreisbewegungen immer neu
zu erfinden und mit Hilfe von Metaphern das bereits Vorhandene umzuformulieren: ,,Elend
und Fest des SIGNIFIKANTEN [...] "
71
, der sich in einer Überfülle gegenüber dem Signifi-
katen präsentiert und infolgedessen das Primat in einer nun überwiegend als symbolisch be-
trachteten Ordnung bildet. Ein wesentliches Merkmal des Poststrukturalismus.
69
Alle Angaben zum Strukturalismus: Vgl. Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissen-
schaftsgeschichte, 4 Bde., Stuttgart und Weimar 1996, Bd.4, S. 109 ff.
70
RR, S. 20.
71
RR. S. 190. Großschreibung im Original.

23
Und mit der Erwähnung Raymond Roussels, kann an dieser Stelle auch festgehalten werden,
dass die moderne surreale Literatur und deren Umgang mit Sprache großen Einfluss auf Fou-
caults linguistische Untersuchungen haben. Es zählen dazu neben dem genannten und unter
wenigen anderen George Bataille, Maurice Blanchot, Antonin Artaud und Stéphane Mallar-
mé.
72
Foucault teilt zwar mit dem Strukturalismus die Abkehr von der hermeneutischen Geschichts-
schreibung, geht aber in einem zweiten Schritt wesentlich weiter. So behauptet er, dass ein
Signifikantennetzwerk, das von unzeitlichen Strukturen determiniert wird und sich als symbo-
lische Ordnung in der Fläche erstreckt, eben nicht zeitlos ist. Weil die Analyse einer Sprache,
von der angenommen wird sie zirkuliere aufgrund des Primats des Signifikanten und gebäre
sich dabei aus sich selbst immerfort, laut Foucault nichts anderes tut, als den zeitlichen Ab-
stand zwischen den differierenden Signifikanten in der Fläche zu befragen und sie infolgedes-
sen zu kommentieren. Das ist die deutliche Verwandtschaft, die Foucault zwischen Struktura-
lismus und Hermeneutik entdeckt und der Grund, warum er beide Analysemethoden ab-
lehnt.
73
,,Ist es [...] ein unwiderrufliches Verhängnis, dass wir keinen anderen Umgang mit
dem Wort kennen, als den kommentierenden?"
74
, fragt er zu Beginn seiner medizinhistori-
schen Abhandlung, als deren Höhepunkt Bichat auftritt. Dessen Methode wurde weiter oben
als eine Analyse vorgestellt, ,,die sich von ihrem linguistischen Fundament gelöst hat und eher
die räumliche Teilbarkeit der Dinge als die sprachliche Syntax der Ereignisse und Phänomene
definiert."
75
Daran orientiert sich Foucault, und das Buch über "Die Geburt der Klinik" kann denn auch als
die ,,Geburt der Diskursanalyse"
76
bezeichnet werden. Foucault verlässt die Analyseebene und
begibt sich in einen Analyseraum.
77
Damit verschafft er sich einen theoretischen Zugang zum
Diskurs, der die Methoden seiner archäologischen Analyse von denen der Hermeneutik und
denen des Strukturalismus unterscheidet.
78
In der "Archäologie des Wissens" wird deutlich
werden, wie dieser Schritt dazu führt, dass die nicht linguistisch fassbaren Aussagen, welche
die Grundlage des Diskurses bilden, in einem positivistischen Sinne ihre Zeitlosigkeit als Zei-
chensysteme zurückgewinnen. Das Resümee: Eine Abkehr vom hermeneutischen Kommentar
72
Vgl. Marti, 59.
73
Sarasin, Philipp: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2006, S. 63-69.
74
GdK, S. 14.
75
GdK, S. 144.
76
Sarasin, S. 42.
77
Zur ,,räumlichen Obsession" Foucaults vgl. DE III, S. 43 ff.
78
Vgl. Dreyfus, Hubert/Rabinow, Paul: Michel Foucault. Beyond structuralism and hermeneutics, Chicago 1982.

24
und damit eine Abkehr vom strukturalistischen Primat des Signifikanten, führt zu einer Dis-
kursanalyse, in deren ,,Kern" man ,,nicht Saussure, sondern Bichat"
79
erkennt. Eine Dimensi-
on, die auf medizinhistorischem Gebiet sowohl die Geburt der Klinik, als auch das Ende der
Nosologie markiert. Aber auch eine Dimension, die die Diskursanalyse bei ihrer Geburt mit
einem wichtigen Denkinstrument ausstattet: dem Raum, von dem aus sich zwar ein Außen
definieren lässt, aber nicht dessen Umfang. ,,Die Linie des Außen, von der Melville sprach,
ohne Anfang und Ende, die ozeanische Linie [...]."
80
Sein nächstes Werk wird an viele der nun vorliegenden Ergebnisse anknüpfen.
4. "Die Ordnung der Dinge"
4.1 Ein tragisches Buch
Damit ist diese Untersuchung bei Foucaults beeindruckender Studie zur "Archäologie der
Humanwissenschaften" angelangt, wie "Die Ordnung der Dinge" im Untertitel heißt. Auch in
diesem außergewöhnlich gedankenvollen Werk steht die für das abendländische Selbstver-
ständnis bedeutungsschwangere Rolle der Aufklärung auf dem Prüfstand. Foucault fragt nach
den Grenzen, den Grenzen unseres Denkens und dem, was dahinter liegt. Im Vorwort bittet
Foucault seinen Leser auf einen Pfad, den er selbst als Anstoß zum Verfassen des Buches
erfahren hat.
Es ist dies ein Ausschnitt aus einem Text von Jorge Luis Borges, einem argentinischen
Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, dessen fantastische Erzählungen durchaus dem Surrealis-
mus zugeordnet werden können: ,,Dieser Text zitiert ,eine gewisse chinesische Enzyklopädie',
in der es heißt, dass ,die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b)
einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, [...] h) in diese Gruppierung gehörige, i)
die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet
sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Flie-
gen aussehen.' Bei dem Erstaunen über diese Taxinomie erreicht man mit einem Sprung, was
in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird ­
die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken. Was ist eigentlich für
uns unmöglich zu denken?"
81
Eine Frage, die in gewisser Weise die gesamte folgende Unter-
suchung trägt. Die Legitimation des Fundaments, auf dem unser mögliches Denken entstan-
79
Sarasin, S. 69.
80
Deleuze, S. 66.
81
OdD, S. 17, zitiert nach: Borges, Jorge Luis: Die analytische Sprache John Wilkins', in: ders.: Das Eine und
die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, S. 212. Vgl. dazu auch Illich, Ivan: Entschulung der Gesell-
schaft, München 2003, S. 100 ff.

25
den ist und in unserer Sprache fortbesteht, durchläuft nun eine Prüfung nach Foucaultscher
Diktion.
,,Wir haben vergeblich den Eindruck einer fast ununterbrochenen Bewegung der europäischen
Ratio seit der Renaissance bis zu unseren Tagen [...]"
82
. Aber wir haben den Eindruck. Das
setzt mentale Automatismen in Gang, die einem Transmissionsriemen gleich den europä-
ischen Identitätskorpus zusammenhalten, der erhärtend auf diesen Eindruck zurückwirkt. Um
also nicht lediglich eine affirmative Definition des Status Quo zu liefern, muss man den Mut
haben, diesen Riemen zu öffnen oder doch zumindest zu lockern. Eine Eigenschaft, die Fou-
cault und Nietzsche verbindet. Auch dieser strenge Kulturkritiker wollte die idealisierten und
damit gleichsam generalisierten Vorstellungen von Vernunft und Moral einer kritischen Prü-
fung unterziehen. Dabei sollten die Nebel gelichtet werden, die ihre historischen Vorausset-
zungen verdecken und den meist ruhmlosen Anfang vergessen machen. Das Betrachten sol-
cher Begriffe kommt einem Umrunden gleich, bei dem man sie von allen Seiten abklopft und
sich neue Blickwinkel erschließt. Und doch bleibt jeder Blickwinkel nur der eigene, dessen
Begrenztheit man sich laut Nietzsche und Foucault bewusst zu sein hat. Dieser Perspektivis-
mus ist löblich, aber ausgesprochen schwer umsetzbar. So setzt die nötige Distanzgewinnung
doch auch immer eine Art der Lösung vom Selbst und seiner geschichtlichen Situation voraus.
Und ,,[T]atsächlich: Foucault legt hier [in "Die Ordnung der Dinge", M.P.] auch sein eigenes
Denken, seine eigenen theoretischen Möglichkeiten, [...] ins Säurebad der historischen Ana-
lyse. Es gab für ihn keinen Rückzug auf gesicherte Grundannahmen und keine Basis-Theorien
mehr, mit denen die Gesellschaftsanalyse beziehungsweise die Wissenschaftsgeschichte ope-
rieren könnte, keine Theorie der Sprache oder gar 'des' Menschen, die sich nicht einrücken
ließe in die bodenlose Historizität aller Formen des Wissens. [...] Dieser ­ an sich klassisch
philosophische ­ Selbstanwendungstest ist die Herausforderung, der sich Foucault wirklich
stellte, die die Radikalität seines Denkens ausmacht ­ und vielleicht auch seine 'Tragik', weil
sie wenig übrig lässt."
83
Es war sein väterlicher Freund und Lehrer Jean Hyppolite, der "Die Ordnung der Dinge" als
,,ein tragisches Buch" bezeichnete. Foucault dazu: ,,Er ist der einzige, der das bemerkt hat."
84
Die folgenden Untersuchungen werden zeigen, wie weit diese Tragik reicht.
82
OdD, S. 25.
83
Sarasin, S. 73.
84
DE I, S. 42.

26
4.2 Die Geschichte der Zeichen und ihrer Ordnung
Beinahe hätte Foucault im Oktober des Jahres 1963 die von ihm schon lange begehrte Stelle
als Leiter des "Institut français" in Tokio angenommen. Aus persönlichen Gründen bleibt er
aber in Paris und entscheidet sich, ein halbes Jahr nach Erscheinen von "Die Geburt der Kli-
nik", gegen eine eigentlich geplante Fortsetzung der Geschichte des Wahnsinns, um sich ei-
nem ,,Buch über die Zeichen" zu widmen.
85
Eine folgenreiche Entscheidung, die einen un-
vorhergesehenen Umfang annimmt und ihm intensive archäologische Arbeit abverlangt. Im-
mer wieder unterbricht er die Arbeit, die ihn zwar offenbar beschwert: ,,Ich habe das Gefühl,
ich nähere mich einer Rückwendung zum totalen Nichtschreiben. Dann würde ich mich freier
fühlen", aber ihn doch nicht loslässt: ,,Den ganzen Tag arbeite ich an meinen verflixten Zei-
chen."
86
Und dann schließlich, am 4. April 1965: ,,Endlich fertig. [...] Nicht schlecht und nicht lang-
weilig. [...] Eine allgemeine Theorie der Archäologie, mit der ich ganz zufrieden bin."
87
1966,
ein Jahr später, erscheint die erste Auflage von "Les mots et les choses. Une Archéologie des
sciences humaines"
88
, wie der Titel im Original lautet, und ist nach sechs Wochen vergriffen.
Was unter anderem daran gelegen haben mag, dass es nicht zuletzt in Frankreich ein gesell-
schaftspolitisch brisantes und geisteswissenschaftlich höchst produktives Jahr war. Der Struk-
turalismus avancierte über seine Pariser Grenzen hinaus zu einer viel beachteten und umstrit-
tenen Kulturtheorie.
Anders sieht das Foucault, der ,,Dandy der Theorie"
89
, der einer Zuordnung zu dieser Denk-
richtung noch im letzten Abschnitt seines Vorwortes zur 1971 erschienen deutschen Ausgabe
eine hochfahrende Absage erteilt und seinen Unmut über diesbezügliche Versuche kundtut:
,,Dieser letzte Punkt ist eine Bitte an die deutschsprachigen Leser. In Frankreich beharren
gewisse halbgewitzte 'Kommentatoren' darauf, mich als einen 'Strukturalisten' zu etikettieren.
Ich habe es nicht in ihre winzigen Köpfe kriegen können, dass ich keine der Methoden, Be-
griffe oder Schlüsselwörter benutzt habe, die die strukturale Analyse charakterisieren. [...] Es
mag bestimmte Ähnlichkeiten zwischen den Werken der Strukturalisten und meinen geben.
85
DE I, S. 36. ,,Wahnsinn und Gesellschaft sollte ein erster Band sein, ich liebe es, erste Bände zu schreiben, und
ich hasse es, am zweiten zu arbeiten." (DE IV, S. 962).
86
DE I, S. 37.
87
DE I, S. 38.
88
Übersetzt heißt das abweichend vom deutschen Titel: "Die Wörter und die Dinge".
89
Sarasin, S. 64, zitiert nach: Raulff, Ulrich: Der Souverän des Sichtbaren. Foucault und die Künste ­ eine Tour
d'horizon, in: Gente, Peter (Hrsg.): Foucault und die Künste, Frankfurt a. M. 2004, S.9-22, hier: S. 11.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836640428
Dateigröße
902 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Politik München – Politikwissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
foucault diskursanalyse panoptismus gouvernementalität biopolitik
Zurück

Titel: Macht und Diskurs bei Michel Foucault
Cookie-Einstellungen