Lebensstile der Armen
©2009
Magisterarbeit
120 Seiten
Zusammenfassung
Inhaltsangabe:Inhaltsangabe:
In den letzten 20 Jahren wurde innerhalb der soziologischen Forschung debattiert, mit welchen Konzepten soziale Ungleichheit am besten zu erfassen sei. Grob gesehen verlaufen die Diskussionsfronten zwischen Anhängern klassen- und schichttheoretischer Modelle sowie Befürwortern von Milieu- und Lebensstilkonzepten.
Den theoretischen Überbau für die Milieu- und Lebensstilforschung bildet Ulrich Becks Risikogesellschaft. Beck beschreibt den sozialen Wandel als Fahrstuhl- Effekt, welcher die gesamte Gesellschaft eine Etage höher gefahren hat. Materieller Wohlstand, Bildung, Freizeit, Konsum und sozialstaatliche Absicherung nahmen zu, und dies galt nicht für einige wenige, sondern für einen Großteil der Gesellschaft. Die vertikale Ungleichheitsforschung sei nicht mehr in der Lage soziale Ungleichheit adäquat zu erfassen, daher seien [ ] soziokulturelle Unterschiede als eigenständige Faktoren sozialer Ungleichheit zu thematisieren.
Doch wenn dieser Fahrsuhl- Effekt einen Großteil der Gesellschaft mehr Freizeit, Einkommen und Konsum zugesichert hat, was ist dann mit den Armen geschehen? Gibt es sie noch? Wie wird Armut in Wohlstandsgesellschaften überhaupt definiert? Und welche Rolle spielen die Armen in der Milieu- und Lebensstilforschung? Die zentrale Fragestellung dieser Magisterarbeit lautet: Haben Arme spezifische eigenständige Lebensstile, die sich von anderen Gesellschaftsgruppen unterscheiden?
In Kapitel 2 soll die gängige Klassen- und Schichtforschung dargestellt werden. Dies ist relevant, um einen Einblick in die gängigsten Konzepte der Ungleichheitsforschung zu erhalten und deren Probleme thematisieren zu können. Kapitel 3 hat dann die neueren Ansätze der Sozialstrukturanalyse zum Inhalt. Wichtig sind hier die Milieu- Studien von Vester, Sinus und Schulze. Ein Schwerpunkt bilden die Erlebnismilieus von Gerhard Schulze, die einen Schnittpunkt zwischen der Milieu- und Lebensstilforschung darstellen. In Kapitel 4 wird die Lebensstilforschung im speziellen thematisiert. Der Unterschied zwischen Entstrukturierungs- und Strukturansätzen soll dabei herausgearbeitet und der allgemeine Forschungsstand abgebildet werden. Kapitel 5 stellt die Armutsforschung dar, wichtig sind hier multidimensionale Ansätze und die neue Armut, hier insbesondere die Themen Prekarisierung und Exklusion. Wie die Lebensstilforschung bisher das Thema Armut thematisiert hat, soll exemplarisch anhand von drei Studien in Kapitel 6 […]
In den letzten 20 Jahren wurde innerhalb der soziologischen Forschung debattiert, mit welchen Konzepten soziale Ungleichheit am besten zu erfassen sei. Grob gesehen verlaufen die Diskussionsfronten zwischen Anhängern klassen- und schichttheoretischer Modelle sowie Befürwortern von Milieu- und Lebensstilkonzepten.
Den theoretischen Überbau für die Milieu- und Lebensstilforschung bildet Ulrich Becks Risikogesellschaft. Beck beschreibt den sozialen Wandel als Fahrstuhl- Effekt, welcher die gesamte Gesellschaft eine Etage höher gefahren hat. Materieller Wohlstand, Bildung, Freizeit, Konsum und sozialstaatliche Absicherung nahmen zu, und dies galt nicht für einige wenige, sondern für einen Großteil der Gesellschaft. Die vertikale Ungleichheitsforschung sei nicht mehr in der Lage soziale Ungleichheit adäquat zu erfassen, daher seien [ ] soziokulturelle Unterschiede als eigenständige Faktoren sozialer Ungleichheit zu thematisieren.
Doch wenn dieser Fahrsuhl- Effekt einen Großteil der Gesellschaft mehr Freizeit, Einkommen und Konsum zugesichert hat, was ist dann mit den Armen geschehen? Gibt es sie noch? Wie wird Armut in Wohlstandsgesellschaften überhaupt definiert? Und welche Rolle spielen die Armen in der Milieu- und Lebensstilforschung? Die zentrale Fragestellung dieser Magisterarbeit lautet: Haben Arme spezifische eigenständige Lebensstile, die sich von anderen Gesellschaftsgruppen unterscheiden?
In Kapitel 2 soll die gängige Klassen- und Schichtforschung dargestellt werden. Dies ist relevant, um einen Einblick in die gängigsten Konzepte der Ungleichheitsforschung zu erhalten und deren Probleme thematisieren zu können. Kapitel 3 hat dann die neueren Ansätze der Sozialstrukturanalyse zum Inhalt. Wichtig sind hier die Milieu- Studien von Vester, Sinus und Schulze. Ein Schwerpunkt bilden die Erlebnismilieus von Gerhard Schulze, die einen Schnittpunkt zwischen der Milieu- und Lebensstilforschung darstellen. In Kapitel 4 wird die Lebensstilforschung im speziellen thematisiert. Der Unterschied zwischen Entstrukturierungs- und Strukturansätzen soll dabei herausgearbeitet und der allgemeine Forschungsstand abgebildet werden. Kapitel 5 stellt die Armutsforschung dar, wichtig sind hier multidimensionale Ansätze und die neue Armut, hier insbesondere die Themen Prekarisierung und Exklusion. Wie die Lebensstilforschung bisher das Thema Armut thematisiert hat, soll exemplarisch anhand von drei Studien in Kapitel 6 […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Karim Taibi
Lebensstile der Armen
ISBN: 978-3-8366-4027-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Universität Duisburg-Essen, Standort Duisburg, Duisburg, Deutschland,
Magisterarbeit, 2009
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1
Inhaltverzeichnis
1. Einleitung ...5
Theoretischer Teil ... 7
2. Das Schicht- und Klassenkonzept in der Sozialstrukturanalyse ...7
2.1 Einleitung ...7
2.2 Klassen- und Schichtmodelle ...8
2.2.1 Klasse und Stand ...8
2.2.2 Das Konzept der nivellierten Mittelstandsgesellschaft...10
2.2.3 Weitere Schichtmodelle...10
2.3 Zusammenfassung und Kritik an den Modellen...12
3. Neue Ansätze in der Sozialstrukturanalyse ...14
3.1 Einleitung ...14
3.2 Die Vester-. Sinus- und Schulze- Milieus ...15
3.2.1 Die sozialen Milieus bei Vester...15
3.2.2 Die Sinus- Milieus ...16
3.2.3 Die Erlebnismilieus bei Schulze...18
3.2.3.1 Strukturelle Basis der Erlebnisgesellschaft...18
3.2.3.2 Von der Außen- zur Innenorientierung...19
3.2.3.3 Die Dynamik der Erlebnisgesellschaft ...20
3.3 Zusammenfassung ...22
4. Das Lebensstilkonzept...23
4.1 Einleitung ...23
4.2 Verschiedene Ansätze in der Lebensstilforschung...25
4.2.1 Entstrukturierungsansatz: Ansatz nach Lüdtke ...25
4.2.2 Strukturansatz: Ansatz nach Spellerberg...27
4.3 Zusammenfassung ...32
4.4 Kritik und Forschungsstand...33
4.4.1 Kritische Auseinandersetzung mit der Lebensstilforschung ...33
4.4.2 Künftige Ausrichtung der Lebensstilforschung...37
4.4.3 Zusammenfassung ...40
2
5. Armut ...41
5.1 Einleitung ...41
5.2 Armutsdefinitionen...41
5.2.1 Absolute und relative Armut ...41
5.2.2 Der Ressourcenansatz ...43
5.2.3 Das Armutskonzept von Amartya Sen ...45
5.2.4 Der Lebenslagenansatz ...46
5.2.5 Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Konzepte ...46
5.3 Neue Armut ...48
5.3.1 Prekarität...48
5.3.2 Exklusion ...52
5.3.3 Prekariat, Exklusion und Sozialstruktur ...55
5.3.4 Zusammenfassung ...57
5.4 Armut oder Exklusion ...58
6. Lebensstile und Armut...60
6.1 Einleitung ...60
6.2 Kultur der Armut ...62
6.2.1 Spellerberg...62
6.2.2 Schulze...63
6.2.3 Georg ...64
6.2.4 Zusammenfassung ...64
Empirischer Teil...66
7. Empirische Armutsforschung ...66
7.1 Messbarkeit relativer Armutsdimensionen...66
7.2 Operationalisierung von Armut...68
7.2.1 Individuelle Potenziale ...68
7.2.1.1 Einkommen ...68
7.2.1.2 Gesundheit und Behinderung...68
7.2.1.3 Bildung ...69
7.2.2 Instrumentelle Freiheiten...70
7.2.2.1 Politische Chancen ...70
3
7.2.2.2 Ökonomische Chancen ...71
7.2.2.3 Soziale Chancen...72
7.2.2.4 Sozialer Schutz ...74
7.3 Operationalisierung von Lebensstilen ...75
8. Empirische Untersuchung ...77
8.1 Datenbasis...77
8.2 Auswahl der Variablen ...78
8.2.1 Individuelle Potenziale ...78
8.2.2 Instrumentelle Freiheiten...79
8.2.3 Lebensstile ...80
8.3 Deskriptive Statistiken...81
8.4 Definition der zu vergleichenden Gruppen ...85
8.5 Datenreduktion ...88
8.6 Einfaktorielle Varianzanalysen (ANOVA) ...92
8.6.1 Lebensstile der Einkommensarmen...92
8.6.2 Lebensstile der Armen...94
8.7 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse...96
9. Abschließende Diskussion...98
Literaturverzeichnis... 101
Anhang 1: Tabellen zur Faktorenanalyse... 106
Anhang 2: Tabellen zur Varianzanalyse... 109
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Mangel an individuellen finanziellen und nichtfinanziellen Potenzialen ...82
Tabelle 2: Mangel an instrumentellen Freiheiten...83
Tabelle 3: Einkommensarmut ...86
Tabelle 4: Ausmaß der Mehrfachbelastungen auf der Gesamtindikatorenebene
(finanzielle und nichtfinanzielle Potenziale sowie instrumentelle Freiheiten) ...87
Tabelle 5: Freizeitaktivitäten (Faktoren)...90
4
Tabelle 6: Fernsehinteressen (Faktoren) ...91
Tabelle A1.1: KMO- und Bartlett- Test für die Variablen der Freizeitaktivitäten ... 106
Tabelle A1.2: Erklärte Gesamtvarianz für die Variablen der Freizeitaktivitäten ... 106
Tabelle A1.3: Rotierte Komponentenmatrix für die Variablen der Freizeitaktivitäten ... 107
Tabelle A1.4: KMO- und Bartlett- Test für die Variablen der Fernsehinteressen... 108
Tabelle A1.5: Erklärte Gesamtvarianz für die Variablen der Fernsehinteressen... 108
Tabelle A1.6: Rotierte Komponentenmatrix für die Variablen der Fernsehinteressen... 109
Tabelle A2.1: Deskriptive Statistiken für Lebensstile und Einkommensarmut mit den
abhängigen Variablen ,,Freizeit1" bis ,,Freizeit7" und ,,Fernsehen1" bis ,,Fernsehen3"
sowie der Faktorvariable ,,Einkommensarmut" ... 109
Tabelle A2.2: Ergebnisse der einfaktoriellen ANOVA ... 111
Tabelle A2.3: Deskriptive Statistiken für Lebensstile und Einkommensarmut mit den
abhängigen Variablen ,,Freizeit1" bis ,,Freizeit7" und ,,Fernsehen1" bis ,,Fernsehen3"
sowie der Faktorvariable ,,Armut" ... 112
Tabelle A2.4: Ergebnisse der einfaktoriellen ANOVA ... 114
Tabelle A2.5: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Freizeit1"... 115
Tabelle A2.6: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Freizeit2"... 115
Tabelle A2.7: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Freizeit3"... 115
Tabelle A2.8: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Freizeit4"... 116
Tabelle A2.9: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Freizeit5"... 116
Tabelle A2.10: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Freizeit6"... 116
Tabelle A2.11: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Freizeit7" ... 116
Tabelle A2.12: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Fernsehen1"... 117
Tabelle A2.13: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Fernsehen2"... 117
Tabelle A2.14: Student- Newman- Keuls- Prozedur zur Variable ,,Fernsehen3"... 117
5
1. Einleitung
In den letzten 20 Jahren wurde innerhalb der soziologischen Forschung debattiert, mit
welchen Konzepten soziale Ungleichheit am besten zu erfassen sei. Grob gesehen verlaufen
die Diskussionsfronten zwischen Anhängern klassen- und schichttheoretischer Modelle sowie
Befürwortern von Milieu- und Lebensstilkonzepten.
1
Den theoretischen Überbau für die Milieu- und Lebensstilforschung bildet Ulrich Becks
Risikogesellschaft
2
. Beck beschreibt den sozialen Wandel als ,,Fahrstuhl- Effekt", welcher die
gesamte Gesellschaft eine Etage höher gefahren hat. Materieller Wohlstand, Bildung, Freizeit,
Konsum und sozialstaatliche Absicherung nahmen zu, und dies galt nicht für einige wenige,
sondern für einen Großteil der Gesellschaft. Die vertikale Ungleichheitsforschung sei nicht
mehr in der Lage soziale Ungleichheit adäquat zu erfassen, daher seien ,,[...] soziokulturelle
Unterschiede als eigenständige Faktoren sozialer Ungleichheit zu thematisieren."
3
Doch wenn dieser ,,Fahrsuhl- Effekt" einen Großteil der Gesellschaft mehr Freizeit,
Einkommen und Konsum zugesichert hat, was ist dann mit den Armen geschehen? Gibt es sie
noch? Wie wird Armut in Wohlstandsgesellschaften überhaupt definiert? Und welche Rolle
spielen die Armen in der Milieu- und Lebensstilforschung? Die zentrale Fragestellung dieser
Magisterarbeit lautet: Haben Arme spezifische eigenständige Lebensstile, die sich von
anderen Gesellschaftsgruppen unterscheiden?
In Kapitel 2 soll die gängige Klassen- und Schichtforschung dargestellt werden. Dies ist
relevant, um einen Einblick in die gängigsten Konzepte der Ungleichheitsforschung zu
erhalten und deren Probleme thematisieren zu können. Kapitel 3 hat dann die neueren
Ansätze der Sozialstrukturanalyse zum Inhalt. Wichtig sind hier die Milieu- Studien von
Vester, Sinus und Schulze. Ein Schwerpunkt bilden die Erlebnismilieus von Gerhard
Schulze, die einen Schnittpunkt zwischen der Milieu- und Lebensstilforschung darstellen. In
Kapitel 4 wird die Lebensstilforschung im speziellen thematisiert. Der Unterschied zwischen
Entstrukturierungs- und Strukturansätzen soll dabei herausgearbeitet und der allgemeine
Forschungsstand abgebildet werden. Kapitel 5 stellt die Armutsforschung dar, wichtig sind
hier multidimensionale Ansätze und die ,,neue Armut", hier insbesondere die Themen
,,Prekarisierung" und ,,Exklusion". Wie die Lebensstilforschung bisher das Thema Armut
thematisiert hat, soll exemplarisch anhand von drei Studien in Kapitel 6 dargestellt werden.
1
Vgl. Volkmann, Ute: Soziale Ungleichheit: Die ,,Wieder- Entdeckung" gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten.
In: Schimank, Uwe und Ute Volkmann (Hrsg.): Soziologische Gegenwartdiagnosen II. Vergleichende
Sekundäranalysen, 2002. Opladen: Leske + Budrich, S. 227.
2
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
3
Volkmann 2002, S. 227.
6
Mit Kapitel 7 beginnt der empirische Teil der Arbeit. Mit dem multidimensionalen
Armutskonzept von Amartya Sen als theoretische und der Machbarkeitsstudie Arndt et al. als
empirische Grundlage, soll ein eigenes empirisches Konzept entwickelt werden, mit dem die
Ausgangsfrage beantwortet werden soll. Die eigentliche empirische Untersuchung erfolgt in
Kapitel 8. Hier soll untersucht werden, inwiefern bei Armen von eigenen Lebensstilen
gesprochen werden kann. In Kapitel 9 erfolgt letztlich die abschließende Diskussion.
Empirisch beschränken sich die Untersuchungen ausschließlich auf die Bundesrepublik
Deutschland, eine Differenzierung nach Ost- und Westdeutschland soll nicht vorgenommen
werden.
7
Theoretischer Teil
2. Das Schicht- und Klassenkonzept in der Sozialstrukturanalyse
Bevor auf das eigentliche Thema, die Lebensstilforschung eingegangen werden kann, sollen
vorerst die gängigsten Methoden und Konzepte der Ungleichheitsforschung im Detail
vorgestellt werden. Insbesondere die Schichtmodelle haben innerhalb der Soziologie einen
hohen Bekanntheitsgrad und werden daher besonders berücksichtigt.
2.1 Einleitung
Normen, Wertgefüge und Handlungsmuster sowie Institutionen und Organisationen bilden in
ihrer Gesamtheit die Sozialstruktur einer Gesellschaft ab. Die Sozialstrukturanalyse hat die
Aufgabe, jene strukturrelevanten Elemente hervorzuheben, die für die Charakteristik des
gesellschaftlichen Systems von Bedeutung sind. Folgende Analyseebenen werden in der
Sozialstrukturanalyse untergliedert:
4
- sozialstatistische Aspekte der Sozialstruktur,
- einzelne Bereiche der Sozialstruktur, darunter Haushalte, Familien,
Lebensgemeinschaften,
- strukturelle
Auswirkungen
sozialer Differenzierung und Ungleichheit,
- Zusammenfassung dominanter Strukturmerkmale,
- Einflüsse auf die nationale Sozialstruktur durch Europäisierung und Globalisierung.
Eine weitere Unterteilung erfolgt durch die Differenzierung in makro-, meso- und
mikrosoziale Ebene. Die Makroebene bezieht sich auf die alle gesellschaftlichen Elemente
wie Rechtsordnung, Bildungssysteme oder Wirtschaftsverfassung sowie Normen und Werte,
Sitten und Bräuche. Organisationen, Vereine und Verbände sind Untersuchungsgegenstand
der Mesoebene. Die Mikroebene befasst sich mit den kleinsten sozialen Einheiten, also den
Zweierbeziehungen und den vielfachen Formen des sozialen Handelns in der Öffentlichkeit
und der Menge.
5
Zur Analyse der Sozialstruktur bieten sich verschiedene Modelle an; die Soziologie hat dazu
drei verschiedene Modelle entwickelt:
- das traditionelle Modell der sozialen Klassen und Schichten,
- das Modell der sozialen Lagen,
- und das Modell der sozialen Milieus.
4
Vgl. Schäfers, Bernhard: Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 8. Auflage 2004. Stuttgart: Lucius
und Lucius, S. 3.
5
Vgl. ebd., S. 4.
8
Die Klassen- und Schichtmodelle stellen in der Sozialstrukturanalyse die traditionellen
Modelle in der Sozialstrukturanalyse dar und sollen im Folgenden erläutert werden.
6
2.2 Klassen- und Schichtmodelle
2.2.1 Klasse und Stand
Karl Marx
7
und Max Weber
8
sind die beiden Klassiker der Theorie der sozialen
Ungleichheit.
9
Marx begriff die Geschichte menschlicher Gesellschaften als ,,Geschichte von
Klassenkämpfen"
10
, wobei Klassen Ausdruck von Produktionsverhältnissen sind und die
Klassenzugehörigkeit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder durch ihre Stellung zu den
Produktionsmitteln widerspiegeln. Die ökonomische Lage ist so eindeutig bestimmt. In
kapitalistischen Gesellschaften steht den Grund- und Kapitaleigentümern die Klasse der
Lohnabhängigen gegenüber. Diese Gegensätze sind objektiv gegeben, unabhängig von der
subjektiven Betrachtungsweise der Gesellschaftsmitglieder.
Die Marx'sche Theorie bezieht sich somit nur auf eine Dimension der sozialen Ungleichheit,
im Gegensatz zu den Konzepten der sozialen Schicht, in denen von verschiedenen
Dimensionen der sozialen Ungleichheit die Rede ist. Der ökonomische Status fällt mit dem
Status in anderen Ungleichheitsdimensionen zusammen.
Max Weber hingegen wendet sich gegen diese Eindimensionalität des Marx'schen
Klassenkonzeptes und gilt als Urheber der Mehrdimensionalität sozialer Ungleichheit. Für
Weber galt es zwischen ökonomischer, sozialer und politischer Ungleichheit zu
unterscheiden, allerdings steht ,,Macht" für Weber nicht gleichberechtigt neben ,,Klasse" und
,,Stand", sondern ist der Oberbegriff.
11
Weber verwendet den Begriff ,,Klasse" auf Grundlage
des Begriffes ,,Vergesellschaftung", der auf einem rational motiviertem Interessenausgleich
beruht. Nach Weber können die Klasse der Besitzenden und auch die Klasse der Besitzlosen
weiter ausdifferenziert werden.
12
Allerdings werden die Unterschiede der Marx'schen und Weber'schen Klassentheorie jedoch
erst im Hinblick auf die Bestimmung von Klasseninteressen deutlich. Für Marx ist das
Klasseninteresse eindeutig aus ökonomischen Situation einer Klasse, unabhängig vom
6
Vgl. Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands, 5. durchgesehene Auflage 2008. Wiesbaden: Verlag für
Sozialwissenschaften, S. 93.
7
Karl Heinrich Marx ,* 5. Mai 1818 in Trier; 14. März 1883 in London.
8
Maximilian Carl Emil Weber,* 21. April 1864 in Erfurt; 14. Juni 1920 in München.
9
Vgl. Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, 1992. Frankfurt am Main/ New York:
Campus Verlag, S. 52.
10
Ebd., S. 53.
11
Vgl. ebd., S. 54.
12
Vgl. ebd., S. 58.
9
subjektiven Klasseninteresse der Betroffenen, ableitbar. Weber hingegen bestimmt das
Klasseninteresse empirisch, in dem er das durchschnittliche Klasseninteresse misst, welches
letztlich nicht eindeutig aus einer ökonomischen Klassenlage ableitbar ist.
13
Das Klasseninteresse der ,,modernen Proletariats" zum Beispiel, hat nach Weber wenig mit
der revolutionären Politisierung, wie Marx sie versteht, zu tun. Für Weber sind
Klassenverhältnisse Marktverhältnisse und die Arbeiter verhalten sich marktgerecht und nicht
revolutionär, da sie die Spielregeln des freien Marktes anerkennen und durch marktgerechtes
Verhalten ihre Chancen wahrnehmen. Marx hingegen geht davon aus, dass die Arbeiterklasse
diese Regeln mit revolutionären Mitteln aufheben will.
Für Weber bedeutet Markt- Rationalität also kein ,,Ausgeliefertsein gegenüber den Mächten
des Marktes, sondern [...] begründet Klassenlagen und Klasseninteressen, das ist die
Weber'sche Sicht."
14
Gesellschaft ist für Weber aber nicht ausschließlich Vergesellschaftung,
sondern auch Vergemeinschaftung. Soziale Ungleichheit lässt sich also nicht nur auf
Marktungleichgewichte zurückführen; das Prinzip der ständischen Ordnung wirkt sich
hemmend auf die ,,freie Entfaltung des Markts- und somit auch des Klassenprinzips"
15
aus.
Stände sind im Gegensatz zu Klassen, Gemeinschaften, die sich im Gegensatz zur rein
ökonomisch bestimmten Klassenlage, durch Komponenten des Lebensschicksals
unterscheiden.
16
Diese Komponenten sind Geburt, akademischer Grad, Gewerbe usw. und
erzeugen ein Wir- Gefühl, welches Diskriminierungen gegen Ausgeschlossene zur Folge
haben kann. Um die Zugehörigkeit, bzw. den Ausschluss von bestimmten Verkehrskreisen
aufrechtzuerhalten, gibt es die standesgemäße Partnerwahl. Neben dem Heirats- und
Beziehungsmarkt verzerrt die ständische Ordnung aber auch alle anderen Märkte.
17
So
werden so genannte ,,Emporkömmlinge" und ,,Neureiche" von den alten Eliten mit
Misstrauen beäugt und damit ,,ökonomische Realitäten"
18
geleugnet.
Letzten Endes ergibt sich daraus eine Zweidimensionalität sozialer Ungleichheit, zum einen
das auf Privateigentum basierende Marktprinzip und zum anderen, das auf sozialer
Distanzierung und Ausschluss operierende ständische Prinzip.
19
Die Marx'sche Konzeption
13
Vgl. ebd., S: 59.
14
Ebd., S. 60.
15
Ebd., S. 60.
16
Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1964. Köln/Berlin:
Kiepenheuer & Witsch, S. 683.
17
Vgl. Kreckel 1992, S.61.
18
Ebd., S. 61.
19
Vgl. ebd., S. 62.
10
steht mit dem absoluten Vorrang gegenüber dem Marktprinzip der Weber'schen Konzeption
gegenüber, welche das ständische Prinzip als Gegengewicht versteht.
20
2.2.2 Das Konzept der nivellierten Mittelstandsgesellschaft
Helmut Schelsky
21
entwickelte in den 1950er Jahren die These von der ,,nivellierten
Mittelstandsgesellschaft" und lehnt sich damit an Geigers Kritik an der Klassengesellschaft
an, bzw. übertrifft diese noch. Schelsky geht in seinem Konzept von kollektiven Auf- und
Abstiegsprozessen aus und diese führen zu einer ,,[...] verhältnismäßig einheitlichen
Gesellschaftsschicht, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d. h. durch den Verlust
der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird."
22
Besitz- und
Bildungsbürgertum wurden deklassiert, aus Industriearbeitern, technischen Angestellten und
Verwaltungsangestellten formte sich eine breite Mittelschicht mit gleichen politischen
Rechten und ähnlichem Wohlstandsniveau.
23
Allerdings bedeutet dieser
,,Entschichtungsprozess" nicht den Abbau aller sozialen Ungleichheiten, auch weiterhin kann
die soziale Schichtung anhand der ,,alten Kriterien" analysiert werden. Dennoch stehen sich
keine verfeindeten Klassen gegenüber, wie Marx dies für die frühindustrielle Gesellschaft
sah.
24
Die wichtigste Erkenntnis Schelskys ist die ,,zahlenmäßige Ausdehnung der Mittellagen
in der Schichtungshierachie"
25
, die eine verbesserte Wohlstandssituation und bessere
Konsumchancen zur Folge hatte.
26
Diese Nivellierung bedeutet allerdings nicht den Wegfall
sozialer Unsicherheiten, da die Aufstiegsmöglichkeiten stark begrenzt sind.
27
Besonders kritisch ist an Schelskys Konzept anzumerken, dass die weiterhin bestehenden
sozialen Unterschiede aus dem Blickfeld geraten. Denn auch in der Bundesrepublik der
1960er Jahre waren die wichtigsten Ressourcen wie Einkommen, Bildung und Macht
ungleich verteilt.
2.2.3 Weitere Schichtmodelle
Die komplizierte Sozialstruktur der Bundesrepublik hat dazu geführt, dass viele
verschiedenen Schichtmodelle entwickelt wurden. Eines der bekanntesten Modelle ist das
20
Vgl. ebd., S. 63.
21
Helmut Wilhelm Friedrich Schelsky ,* 14. Oktober 1912 in Chemnitz; 24. Februar 1984 in Münster.
22
Geißler 2008, S. 96.
23
Vgl. Geißler 2008, S. 96.
24
Vgl. Burzan, Nicole: Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien, 3., überarbeitete
Auflage 2007. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 42.
25
Geißler 2008, S. 96.
26
Vgl. ebd, S. 96.
27
Vgl. Burzan 2007, S. 42.
11
Zwiebel-Modell von Karl Martin Bolte
28
, welches die bundesdeutsche Sozialstruktur der
1960er Jahre wiedergibt, in modifizierter Form auch die Gesellschaftsstruktur der 1980er
Jahre.
29
Die grafische Darstellung dieses Modells gleicht, wie der Name schon sagt, einer
Zwiebel. Der Oberschicht sind lediglich ca. 2 % der deutschen Bevölkerung zuzuordnen, der
oberen Mitte ca. 5%, der mittleren Mitte ca. 14 %, der unteren und untersten Mitte insgesamt
ca. 58 %, den unteren ca. 17 % und der Unterschicht bzw. den ,,sozial Verachteten" ca. 4 %.
So zeigt das Modell eine kleine Ober- und Unterschicht sowie eine breite Mittelschicht.
30
Ein anderes Modell der 1960er Jahre ist das Haus- Modell von Ralf Dahrendorf
31
. Dahrendorf
gliedert die bundesdeutsche Bevölkerung nicht nur nach Funktionen im Herrschafts- und
Wirtschaftssystem, sondern auch nach soziokulturellen Mentalitäten, die mit den
verschiedenen Soziallagen zusammenhängen.
An der Spitze der Gesellschaft stehen die Eliten und machen weniger als 1% der Bevölkerung
aus, der Dienstklasse und dem alten Mittelstand sind 12 % bzw. 20 % zuzuordnen, sie sind im
,,Obergeschoss" zu finden. Im Hauptgeschoss wohnen die große Arbeiterschicht und der
falsche Mittelstand und machen 45 % bzw. 12 % der Gesellschaft aus. Die Arbeiterelite
befindet mit 5 % sich zwischen Haupt- und Obergeschoss. Der ,,Keller" wird von der
Unterschicht bewohnt, sie machen ca. 5 % der Bevölkerung aus.
32
Auf der Grundlage der Sozioökonomischen Panels
33
(SOEP) hat Geißler das Dahrendorf'sche
Haus modernisiert. Auch sind hier Beruf, Qualifikation, Einkommen, Prestige und Einfluss
die wichtigsten Indikatoren, aber auch Mentalitäten und Lebenschancen spielen erneut eine
wichtige Rolle. Im Gegensatz des Wohnhauses der 1960er Jahre gibt es mehr Etagen, Decken
und Wände sind noch durchlässiger geworden, dennoch hat jede Schicht ihren eigenen
Wohnbereich.
34
Die Unterschicht bilden un- und angelernte Arbeiter sowie Dienstleistungsmitarbeiter.
Facharbeiter sowie die ausführende Dienstleistungsschicht bilden die untere Mittelschicht und
die Arbeiterelite sowie die mittlere Dienstleistungsschicht bilden die mittlere Mittelschicht.
Im Obergeschoss wohnt die höhere Dienstleistungsschicht, darüber findet sich nur noch die
Machtelite, welche weniger als 1 % der Bevölkerung ausmacht. Der selbstständige
28
Karl Martin Bolte, * 29. November 1925 in Wernigerode.
29
Vgl. Geißler 2008, S. 98.
30
Vgl. ebd., S. 98, siehe Abbildung 5.1.
31
Ralf Gustav Dahrendorf, Baron Dahrendorf, * 1. Mai 1929 in Hamburg; 17. Juni 2009 in Köln.
32
Vgl. Geißler 2008, S. 99, siehe Abbildung 5.2.
33
Das SOEP ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland und wird seit
1984 jährlich durchgeführt.
34
Vgl. Geißler 2008, S. 101/ 102.
12
Mittelstand bewohnt das mittlere- und das Obergeschoss, dass gleiche gilt für die Bauern,
welche noch einen Teil der Unterschicht bilden.
35
2.3 Zusammenfassung und Kritik an den Modellen
Zusammenfassend sieht Geißler drei ,,analytische Begrenzungen", welche Schichtmodelle
ausmachen und er zugleich kritisch betrachtet. Zum Ersten konzentrieren sich Schichtmodelle
auf vertikale Dimensionen der sozialen Ungleichheit, wie Berufprestige, Einkommen und
Bildung. Horizontale Ungleichheiten wie Geschlecht, Generation, Alter und private
Lebensform spielen eine untergeordnete Rolle.
36
Mit diesen drei maßgeblichen Indikatoren
werden häufig drei Schichten in einer vertikalen Abstufung gebildet, die Schichtübergänge
stellen keine feste Grenze dar, sondern sind fließend.
37
Zum Zweiten erfassen Schichtmodelle
Mentalität, Lebensstile, Milieus, Interessen usw. kaum, die kulturelle Vielfalt findet also
nicht die nötige Beachtung, dass gleiche gilt für kulturelle Gemeinsamkeiten. Und zum
Dritten orientieren sich Schichtmodelle immer noch stark am ,,männlich geprägten
Erwerbsmodell"
38
; Nichterwerbstätige Ehefrauen/ Hausfrauen werden nach dem Berufsstatus
ihres Ehepartners eingeordnet, Auszubildende nach den Status ihrer Eltern, bei Arbeitslosen,
Rentnern und Invaliden ist die letzte Berufsposition entscheidend.
39
Allen Schichtmodellen ist
gemeinsam, dass sie ungleiche Lebensbedingungen beschreiben und Angehörige einer
Schicht auch bestimmte Einstellungen und Normen verinnerlicht haben. Dennoch stehen sich
die Schichten nicht wie Klassen mit jeweils eigenen Interessengruppen gegenüber.
40
Der von Beck beschriebene ,,Individualisierungsschub" bezeichnet den verbesserten
allgemeinen Lebensstandard, die Vielfalt der Familien- und Haushaltsformen, die
Bildungsexpansion und die Absicherung durch den Sozialstaat. Dies führt zur weitreichenden
sozialen Differenzierung innerhalb der Gesellschaft.
41
Daher wird die traditionelle
Ungleichheitsforschung mit ihren Modellen dieser gesellschaftlichen Pluralisierung kaum
noch gerecht, da sie die Vielfalt der Lebensweisen und Werthaltungen nur unzureichend
berücksichtigt. ,,Eine einfache Zuordnung von einigen wenigen ,,objektiven" Merkmalen- wie
z. B. dem formalen Bildungabschluss- zu einer bestimmten Schicht oder Gruppierung oder zu
subjektiven Zugehörigkeiten und Verhaltensweisen trifft hiernach den Kern der Sozialstruktur
35
Vgl. ebd., S. 100, siehe Abbildung 5.3.
36
Vgl. ebd., S. 103.
37
Vgl. Burzan 2007, S. 65
38
Geißler 2008, S. 103.
39
Vgl. ebd., S. 103.
40
Vgl. Burzan 2007, S. 65.
41
Vgl. ebd., S. 66.
13
heute nicht mehr."
42
Die Betrachtung weiterer, ,,horizontaler" Ungleichheitsmerkmale wie
Nationalität, Geschlecht oder Alterskohorte, führt zu Statusinkonsistenzen. Dies bedeutet,
dass der Status einer Person in den verschiedenen Lebensbereichen aufgrund der vielfältigen
Kombinationsmöglichkeiten nicht mehr gleich ist.
43
Insgesamt setzt sich unter den meisten Forschern die Erkenntnis durch, dass der von Beck
beschriebene ,,Fahrstuhl- Effekt" zu ,,einer Entkoppelung der subjektiven Lebensführung von
der sozialen Lage"
44
führe; daher sei die vertikale Ungleichheitsforschung durch eine
Ungleichheitsforschung zu ergänzen, welche die soziokulturellen Unterschiede in den
Vordergrund stelle.
45
42
Ebd., S. 67.
43
Vgl. ebd., S. 68.
44
Volkmann 2002, S. 227.
45
Vgl. Volkmann 2002, S. 227.
14
3. Neue Ansätze in der Sozialstrukturanalyse
Im Folgenden sollen weitere Ansätze und Konzepte der Sozialstrukturanalyse vorgestellt
werden, die sich nicht ausschließlich auf ökonomische Grundlagen beziehen. Dies trifft
insbesondere auf die verschiedenen Milieu- Modelle zu.
3.1 Einleitung
Die Erhöhung des allgemeinen Wohlstandsniveaus, die Bildungsexpansion, das Mehr an
Freizeit, die enorme technisch- ökonomische Entwicklung und die damit einhergehenden
,,Rationalisierungs- und Differenzierungsprozesse"
46
haben relevante spürbare Effekte auf die
gesamte Gesellschaft und damit auch auf die subjektiven Lebenslagen. Der
,,Bedeutungskomplex" der Berufsarbeit und damit die materielle Existenzsicherung geraten
aus dem zentralen Blickfeld, somit verliert auch einer der zentralen Indikatoren der
Schichtungssoziologie an Bedeutung.
47
Die Grundannahme der Schichtungssoziologie ist, dass sich die ,,objektiv-
sozioökonomischen Ungleichheitsverhältnisse auf der Ebene der subjektiven Lebensführung
und Mentalitäten widerspiegeln"
48
, diese Annahme widerspricht allerdings der Beck'schen
Individualisierungsthese und damit der Entkopplung der menschlichen Subjektivität von
objektiven Strukturen.
49
Die Menschen nutzen ihnen das zur Verfügung stehenden Mehr an
Zeit, Geld und Bildung und investieren diese Ressourcen in Freizeit- Kultur- und
Konsumaktivitäten. Kultur und Konsum gewinnen an Bedeutung, damit geht eine
Stilisierung durch die ästhetischen Attribute einher und setzt somit zum Teil neue
Bewertungsmaßstäbe.
50
Zur Erfassung dieser Pluralisierung und Individualisierung sind die ,,alten"
Schichtungsmodelle kaum mehr in der Lage, demzufolge sind neue Methoden, Begriffe und
Modelle zu finden, welche diese ,,Ausdifferenzierung individueller Lebenslagen"
51
adäquat
erfassen und abbilden können.
52
46
Wieland, Dirk: Die Grenzen der Individualisierung. Sozialstrukturanalyse zwischen objektivem Sein und
subjektiven Bewusstsein, 2004. Opladen: Leske + Budrich, S. 71.
47
Vgl. ebd., S. 71.
48
Vgl. ebd., S. 76.
49
Vgl. Otte, Gunnar: Sozialstrukturanalysen mit Lebensstilen, 2004. Wiesbaden: Verlag für
Sozialwissenschaften, S. 19.
50
Vgl. ebd., S. 21.
51
Wieland 2004, S. 251.
52
Vgl. ebd., S. 251.
15
3.2 Die Vester-. Sinus- und Schulze- Milieus
3.2.1 Die sozialen Milieus bei Vester
Der Ansicht, dass äußere Einflüsse das ,,menschliche Dasein" prägen, waren bereits Auguste
Comte
53
und Emile Durkheim
54
und stellten dementsprechend Überlegungen zum Milieu an.
Der Schwerpunkt der Schichtmodelle in der Soziologie in den ersten Jahrzehnten nach dem
zweiten Weltkrieg lag jedoch auf objektiven Aspekten und so wurden Milieukonzepte erst
wieder in den 1980er Jahren stärker beachtet.
55
So überprüften Michael Vester
56
und sein
Team in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren im Auftrag der Volkswagen- Stiftung
die These, dass sich die Großgruppen der früheren Klassengesellschaft durch Wertewandel
und Individualisierung aufgelöst hatten.
57
Während bekannte Schichtungs- und Klassenkonzepte lediglich die vertikale Achse der
,,sozialer Über- und Unterordnung"
58
kennen, beschreibt das Konzept des mehrdimensionalen
Feldes die ,,widerschreitenden Achsen, Ebenen und Dynamiken"
59
einer Gesellschaft. Bereits
Pierre Bourdieu
60
entwickelte aus diesen Achsen ein Konzept von Feldachsen, welche den
theoretischen Grundkonzepten der Soziologie entsprechen: Arbeitsteilung, Herrschaft,
Institutionen und Geschichte. Weiter versucht Vester die Akteure, anders als in den
Konzepten von Klassen und Schichten, mit den Konzepten Habitus, Milieu und Lager,
realitätsnäher zu erfassen.
61
Drei gesellschaftliche Stufen lassen sich vertikal unterscheiden: Das führende Milieu, das
mittlere Milieu und das unterprivilegierte Milieu. Während die soziale Grenze, welche die
Milieus der ,,höheren Kultur" von anderen Milieus unterscheidet eher implizit ist, grenzen
sich die Besitz- und Machteliten deutlich von den anderen Milieus ab. Die Akteure der
mittleren und unteren Milieus nehmen diese Distinktion zumeist eher negativ wahr und
verbinden mit den Eliten eher negative Attribute wie Weltfremdheit oder
Rücksichtslosigkeit.
62
Die mittleren Milieus grenzen sich gegenüber den unterprivilegierten
53
Auguste Comte, 19. Januar 1798 in Montpellier; 5. September 1857 in Paris.
54
Emile Durkheim, * 15. April 1858 in Épinal, Frankreich; 15. November 1917 in Paris.
55
Burzan 2007, S. 103.
56
Michael Vester ,* 1939 in Berlin.
57
Vester, Michael et al.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und
Ausgrenzung, vollständig überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Fassung der 1993 erschienenen Ausgabe,
2001. Frankfurt am Main.: Suhrkamp, S. 11.
58
Ebd., S. 23.
59
Ebd., S. 23.
60
Pierre Félix Bourdieu ,* 1. August 1930 in Denguin 23. Januar 2002 in Paris.
61
Vester 2001, S. 24.
62
Vgl. ebd., S. 26.
16
Milieus durch eine verdiente, gesicherte und anerkannte soziale Stellung ab
(,,Respektabilität"). Die unteren Milieus gelten als unzuverlässig und bildungsarm, sie selbst
versuchen durch ihre positiven Eigenschaften wie sportliches und körperliches Können,
Anerkennung zu gewinnen.
63
Die horizontalen Trennlinien verlaufen in begrifflichen Gegensätzen wie progressiv-
konservativ, traditionell- modern und konventionell- individuell. Lebensstil und Mentalität
unterscheiden sich auch innerhalb der gleichen vertikalen Rangstufe und lassen sich in erster
Linie an den unterschiedlichen Wertvorstellungen, bzw. den Einstellungen zur Autorität
festmachen. Die Orientierungen auf der horizontalen Achse reichen bis hierarchisch/ autoritär
(rechts) bis eigenverantwortlich/ avantgardistisch (links).
64
Unterscheiden lassen sich so fünf
unterschiedliche Milieus:
- die führenden Milieus in humanistische und dienstleistende Elite- Milieus
(eigenverantwortlich) und die wirtschaftliche und hoheitliche Elite- Milieus
(hierarchiegebunden),
- die mittleren Milieus in respektable Volksmilieus: Traditionslinie der Facharbeit und
der praktischen Intelligenz (eigenverantwortlich) und respektable Volksmilieus:
ständisch- kleinbürgerliche Traditionslinie (hierarchiegebunden) und
- die unterprivilegierten Volksmilieus, welche sich auf der gesamten Achse verteilen
und keiner Wertvorstellung direkt zuzuordnen sind.
65
Diese fünf großen Milieus sind weiter in sich unterteilt. Insbesondere die jüngeren Milieus
haben durch neue Erfahrungen und Berufe ihren Habitus verändert und so verschiedene
Submilieus gebildet (Milieumobilität).
66
3.2.2 Die Sinus- Milieus
Auch Ulrich Becker und Horst Nowak sind der Ansicht, dass die ,,gebräuchlichen
Verfahrenweisen der Schichtungssoziologie"
67
nur noch unzureichend sind, um
gesellschaftliche Strukturen der Postmoderne adäquat abzubilden.
68
Die Autoren stellten 1982
erstmals die Sinus- Milieus vor, welche ursprünglich für die Marketing-, Meinungs- und
Konsumforschung konzipiert wurden, allerdings auch die Pluralisierung sozialer Ungleichheit
widerspiegeln.
69
Das Hauptaugenmerk der Studie liegt weniger auf der theoretischen Ausgangslage als mehr
auf die methodische Umsetzung und die praktischen Verwendungsmöglichkeiten der
63
Vgl. ebd., S. 27/28.
64
Vgl. ebd., S. 29.
65
Vgl. ebd., S. 31, siehe Abbildung 3.
66
Vgl. ebd., S. 33.
67
Wieland 2004, S. 79.
68
Vgl. ebd., S. 79.
69
Vgl. ebd., S. 78.
17
Ergebnisse.
70
Die Bevölkerung wird in ,,Subkulturen" gegliedert, also werden
Wertorientierungen, Lebensziele, Einstellungen zu Arbeit, Freizeit, Familie, Konsum und
politischen Grundüberzeugungen betrachten. Das Sinus- Institut gruppiert die deutsche
Bevölkerung in zehn Milieus. Die horizontale Achse zeigt, ähnlich bei Vester, die
Wertorientierung an; auf der linken Seite die traditionellen Werte (Pflichterfüllung, Ordnung),
in der Mitte die Modernisierung (Individualisierung, Selbstverwirklichung, Genuss) und
rechts die Neuorientierung (Multioptionalität, Experimentierfreude, Leben in Paradoxien).
Die vertikale Achse verortet die Milieus in der unteren Mittelschicht/ Unterschicht, mittleren
Mittelschicht oder der Oberschicht/ oberen Mittelschicht. Ähnlich wie bei Vester, gibt diese
Achse die objektive ökonomische Lage wieder.
71
Die zehn Sinus- Milieus in Deutschland sind
72
:
- Etablierte (selbstbewusstes Establishment)
- Postmaterielle (aufgeklärtes 68er- Milieu)
- Moderne Performer (junge, unkonventionelle Leistungselite)
Diese Milieus gehören zu den gesellschaftlichen Leitmilieus (29%)
- Konservative
Milieus
(altes,
deutsches Bildungsbürgertum)
- Traditionsverwurzelte
(Sicherheit und Ordnung liebende Nachkriegsgeneration)
- DDR- Nostalgische (resignierte Wendeverlierer)
Diese Milieus gehören zu den traditionellen Milieus (25%)
- Bürgerliche
Mitte
(statusorientierter moderner Mainstream)
- Konsum- Materialisten (stark materialistisch geprägte Unterschicht)
Diese Milieus gehören zu den Mainstream- Milieus (27%)
- Experimentalisten (extrem individualistische neue Bohéme)
- Hedonisten (spaß- orientierte moderne Unterschicht/ untere Mittelschicht)
Diese Milieus gehören zu den hedonistischen Milieus (18%)
Der Anteil des traditionellen Milieus schrumpft beständig, dafür wächst das ,,moderne
Segment", insbesondere die ,,moderne Mitte" etabliert sich zunehmend. Diese Veränderungen
sind durchaus als Spiegelbild gesellschaftlicher Veränderungen zu sehen, die einen
allgemeinen Werteverlust und damit Orientierungslosigkeit sowie eine Auseinanderdriften der
Lebenswelten zur Folge haben.
73
70
Vgl. ebd., S. 79.
71
Vgl. Geißler 2008, S. 110/111, siehe Abbildung 5.7.
72
Vgl. Sinus- Milieus 2005, Heidelberg 2005, S. 12.
73
Vgl. ebd., S. 14.
18
3.2.3 Die Erlebnismilieus bei Schulze
3.2.3.1 Strukturelle Basis der Erlebnisgesellschaft
Gerhard Schulzes verfasste sein Werk ,,Die Erlebnisgesellschaft"
74
1992 und gibt mit diesem
eine Antwort auf die Frage, ,,[...] wie sich soziale Ordnung in einer hochgradig
individualisierten Gesellschaft konstituiert"
75
. Aufgrund des von Ulrich Beck beschriebenen
Fahrstuhl- Effektes haben sich die allgemeinen Lebensbedingungen enorm gebessert, so dass
ein subjektiv schönes und interessantes Leben auch für Angehörige der mittleren und unteren
Gesellschaftsschichten möglich wurde. Innenorientiertes bzw. erlebnisorientiertes Denken
und Handeln wird aufgrund der wachsenden Subjektivität immer wichtiger für den Großteil
der Akteure.
Zwei Entwicklungen hebt Schulze hervor, die miteinander verzahnt, die strukturelle Basis für
die Erlebnisgesellschaft bilden.
76
Zum einen die steigenden Einkommen und zum anderen die
Reduzierung der Arbeitszeit, dieses Mehr an Zeit und Einkommen führt zu einer Steigerung
der Erlebnisnachfrage. Das Wirtschaftssystem hat sich auf diese vermehrte Erlebnisnachfrage
eingestellt und mit einer Vervielfältigung von Angeboten an Waren und Dienstleistungen
reagiert.
Schulze analysiert diesen sozialen Wandel auf der Basis des Subjekt- Situation- Verhältnisses.
Ist eine Situation durch Ressourcenmangel gekennzeichnet, wird der Akteur versuchen, diese
Situation zu verbessern und seinen Lebensstandard anzuheben, in dem dieser versucht
beruflich aufzusteigen oder seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Der
gestiegene allgemeine Lebensstandard hat dieses Verhältnis gewandelt und dazu geführt, dass
die Akteure nun die ,,freie Auswahl"
77
haben.
78
Dieses veränderte Verhältnis bedeutet nicht nur die Zunahme an Konsummöglichkeiten,
sondern auch, dass bestimmte Situationen werden frei wählbar sind. Darunter zum Beispiel
die freie Entscheidung, wie Freizeitaktivitäten gestaltet werden. Die Möglichkeiten gerade im
Freizeitbereich sind vielfältig und erlauben es den Individuen, sich bestimmten Situationen
gar nicht erst auszusetzen.
74
Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 3. Auflage 1993. Frankfurt am
Main: Campus Verlag.
75
Vgl. Volkmann, Ute: Das Projekt des schönen Lebens- Gerhard Schulzes ,,Erlebnisgesellschaft", in:
Schimank, Uwe und Ute Volkmann: Soziologische Gesellschaftsdiagnosen I, 2000. Opladen: Leske + Budrich,
S. 75.
76
Volkmann 2000, S. 76.
77
Ebd., S. 77.
78
Vgl. ebd., S. 77.
19
3.2.3.2 Von der Außen- zur Innenorientierung
Die Möglichkeit, sein Leben freier zu gestalten, verändert auch die ,,Bewertungs- und
Einstellungsmuster"
79
der Akteure. Bis die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, war der
Fokus der Akteure in allen Bereichen des Lebens außenorientiert. Im Mittelpunkt standen die
materielle Absicherung und damit die Erwerbsarbeit, bei Kaufentscheidungen waren Qualität
und Gebrauchwert entscheidend.
80
Das stetig steigende Wohlstandsniveau und die damit
einhergehende Verbreitung der Angebotspalette hatte eine Orientierungskrise zur Folge.
Auf Seite der Konsumenten führte dieses Überangebot an Waren und Dienstleistungen dazu,
dass nicht eindeutig war, welches Produkt nun das richtige ist. Auf der anderen Seite wussten
die Produzenten nicht, welche Produkte sie künftig anbieten sollten. Schulze spricht hier von
einem ,,Orientierungsdruck": ,,Andererseits trifft die Alltagserfahrung auf immer größere
Möglichkeitsräume. Unter dem neuen Orientierungsdruck, der gerade dadurch entsteht, daß
der ökonomische Druck nachlässt, entwickelte sich die normale existenzielle
Problemdefinition der Innenorientierung, machtvoll stimuliert durch das Wachstum des
Erlebnismarktes."
81
Grundsätzliche ökonomische Kriterien, zum Beispiel, ob ein Produkt eine
gute Qualität ausweist und ob dieses Produkt überhaupt notwendig ist, spielen nur noch eine
untergeordnete Rolle. Von zentraler Bedeutung ist der ,,Erlebnischarakter"
82
des Produktes,
ein Gesichtspunkt, der ehemals von sekundärer Bedeutung war.
83
Die Akteure verfahren bei ihren Kaufentscheidungen weiterhin nach dem Kosten- Nutzen-
Prinzip, allerdings beschreibt Schulze diese Rationalität als ,,Erlebnisrationalität"
84
, da dass
Handeln der Akteure auf einen subjektiven Prozess zielt.
85
Die große Auswahl an Produkten stellt den innenorientierten Akteur vor neue
Schwierigkeiten, da die vielen Möglichkeiten der Konsumenten dazu führen, dass keine
klaren Bedürfnisse mehr definieret werden können. Des Weiteren kann der Akteur nie sicher
sein, dass seine Kaufentscheidung auch zum gewünschten Erlebnis führt, es besteht ein hohes
Risiko, enttäuscht zu werden. Gesteigert wird diese Enttäuschungsgefahr durch den Wunsch,
ständig etwas Neues erleben zu wollen, da die stetige Angebotssteigerung einen
Gewöhnungseffekt zur Folge hat.
86
79
Ebd., S. 78.
80
Vgl. ebd., S. 78.
81
Schulze 1993, S. 258.
82
Volkmann 2000, S. 79.
83
Vgl. ebd., S.79.
84
Ebd., S.80.
85
Vgl. ebd., S. 80.
86
Vgl. ebd., S. 80/81.
20
So tendieren innenorientierte Akteure aufgrund ihrer Entscheidungsunsicherheit dazu, auf
bewährte Konsummuster zurückzugreifen, was wiederum zu Enttäuschungen führt, da schnell
eine gewisse Routine aufkommt und damit die ,,Erlebnisintensität" sinkt. Die Akteure müssen
sich letztlich also wieder nach neuen Erlebnissen umschauen und laufen erneut Gefahr,
enttäuscht zu werden.
87
3.2.3.3 Die Dynamik der Erlebnisgesellschaft
Auf dem Erlebnismarkt treffen Erlebnisangebot und Erlebnisnachfrage aufeinander, dieser
umfasst Angebote aus dem wirtschaftlich, kulturellen und massenmedialen Segment und stellt
die Schnittstelle ,,innenorientierter und außenorientierter Rationalitätstypen"
88
dar.
Schulze bezieht die Erlebnisorientierung ausschließlich auf das Konsum- und
Freizeithandeln, die Produzenten hingegen beziehen ihre Strategien auf eine außengerichtete
Interessenlage, da außengerichtetes Handeln aufgrund berechenbarer Wirkungen, leichter zu
optimieren ist.
89
Der Erlebnismarkt hat sich aufgrund seiner ,,Produktionskapazität,
Nachfragepotentials, politischer Energie, gedanklicher Aktivität und Lebenszeit"
90
zu einem
beherrschend Bereich des täglichen Lebens entwickelt. Produzenten und Nachfrager sind
routiniert und ein eingespieltes Team. Auf der einen Seite handhaben die Produzenten die
,,ungeschriebenen Regeln des Erlebnismarketings"
91
auf der anderen, haben die Nachfrager
bereits alles ausprobiert und sind an das Neue gewöhnt.
92
Und so ist es möglich, dass die
unüberschaubare Menge an neuen Produkten, die auf den Markt kommen, tatsächlich auch
immer Abnehmer finden.
93
Allerdings ersetzt der Erlebnismarkt auch das frühere kollektive Klassenbewusstsein, denn
die Erwerbsarbeit als Quelle eines ,,milieuspezifischen Kollektivbewusstseins"
94
verliert mehr
und mehr an Bedeutung. Soziale Gruppen gibt es natürlich noch immer, doch definiert sich
die jeweilige Zugehörigkeit nicht mehr nach sozialer Lage, sondern durch den persönlichen
Stil, welcher sich durch den ,,Akt des Konsumierens spezifischer Erlebnisangebote"
95
bestimmt. Das alte hierarchisch strukturierte Gesellschaftsbild ist mit dem Wechsel von der
Außen- zur Innenorientierung weitestgehend obsolet geworden. Die Lebensbedingungen
spielen für die soziale Einordnung eine nur noch untergeordnete Rolle, in der
87
Vgl. ebd., S. 81.
88
Ebd., S. 81.
89
Vgl. ebd., S. 82.
90
Schulze 1993, S. 542.
91
Ebd., S. 542.
92
Vgl. ebd., S. 542.
93
Vgl. ebd., S. 543.
94
Volkmann 2000, S. 82.
95
Ebd., S. 83.
21
Erlebnisgesellschaft sind vielmehr die zentralen ,,Denk- und Handlungsmuster"
96
ausschlaggebend.
Die Akteure verorten sich in den soziale Milieus anhand verschiedener leicht dekodierbarer
Zeichen:
- der persönliche Stil,
- das
Alter,
- die
Bildung
und
- die Art und Weise des Situationsmanagements.
97
,,Soziale Milieus bilden sich in unserer Gesellschaft durch Beziehungswahl, Öffnung
oder Abgrenzung in der Alltagsinteraktion, Angleichung oder Distanzierung von
Persönlichkeiten und subjektiven Standpunkten, Gefühle von Vertrautheit oder Nähe,
Akklamation des Passenden und Missbilligung von Stilbrüchen all diese
milieuerzeugenden Handlungstendenzen setzen voraus, daß sich Menschen
gegenseitig einordnen."
98
Die Milieuzugehörigkeit ermittelt Schulze anhand der Nähe oder Distanz zum Hochkultur-
Trivial- und Spannungsschema und gelangt so zu fünf verschiedenen sozialen Milieus:
- Niveaumilieu
- Harmoniemilieu
- Integrationsmilieu
- Selbstverwirklichungsmilieu
- Unterhaltungsmilieu
Im Niveaumilieu sind die meisten in der Hochkulturszene beteiligt und verbringen ihre
Freizeit mit dem Besuch von Konzerten, Museen und verschiedenen Ausstellungen.
Musikalisch ist man eher der Klassik zugewandt; Parallelen zum Bildungsbürgertum sind
klar ersichtlich.
Das Harmoniemilieu ist dem Trivialschema nahe, die Akteure sind eher der Arbeiterschicht
zugehörig und verbringen ihre freie Zeit mit dem Konsum von Unterhaltungs- und
Volksmusik. Die Akteure sind eher gemeinschaftsorientiert.
Im Integrationsmilieu sind die Akteure dem Hochkultur- und Trivialschema nahe und weisen
keine eigenen Stilelemente auf, sondern kombinieren Stile anderer Milieus.
Im Selbstverwirklichungsmilieu sind die Akteure dem Hochkultur- und Spannungsschema
nahe. Der Konsum von Rockmusik ist ebenso wie von klassischer Musik üblich, auch der
Besuch von Museen und Diskotheken ist charakteristisch.
Das Unterhaltungsmilieu weist Nähe zum Spannungsschema auf, die Akteure konsumieren
hauptsächlich Erlebnisangebote, welche hauptsächlich ,,Action" beinhalten.
99
96
Ebd., S. 83.
97
Vgl. ebd., S. 83.
98
Schulze 1993, S. 277.
99
Vgl. Volkmann 2000, S. 84/85.
22
Mit den Variablen Bildung und Alter, entwickelte Schulze die Milieustruktur der
Bundesrepublik Deutschland der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Es besteht zwar
eine hohe Korrelation zwischen Lebensstil, Alter und Bildungsniveau, dennoch können die
Akteure die sozialen Kontakte frei wählen, da zum einen die Ressourcen verfügbar und zum
anderen die technologischen Möglichkeiten vorhanden sind; so ist es möglich, auch Kontakte
über eine große räumlich Distanz aufrechtzuerhalten.
100
3.3 Zusammenfassung
Die Milieu- Konzepte sollen soziale Ungleichheit mehrdimensional erfassen und sowohl
strukturelle Indikatoren, wie Beruf, Bildung und Einkommen, als auch Einstellungen und
Grundorientierungen in die Analyse sozialer Ungleichheit mit einbeziehen. Die Sinus- und
Vester- Milieus sind ganz ähnlich konstruiert, die vertikale Achse gibt die objektive
ökonomische Lage, die horizontale Achse die Wertorientierung wieder. Bei den Sinus-
Milieus kommen noch Lebensziele und Einstellungen hinzu. Schulze hingegen etabliert auf
der vertikalen Achse lediglich Alter und Bildung als strukturelle Indikatoren, auf der
horizontalen Achse die alltagsästhetischen Schemata. Anhand des Alters, der Bildung und des
persönliches Stils verortet Schulze die Akteure in den fünf Milieus und unterscheidet sich
damit deutlich von den anderen Milieu- Konzepten. Inwieweit Schulze eher dem Konzept
Milieus oder dem der Lebensstile zuordnen ist, darauf sollen im weiteren Verlauf noch
eingegangen werden.
100
Vgl. Schulze 1993, S. 73.
23
4. Das Lebensstilkonzept
Ein weiteres Konzept zur Analyse sozialer Ungleichheit stellt die Lebensstilforschung dar, in
der die Bedeutung der ökonomischen Lage zum Teil hinter jener des Milieu- Konzeptes
zurückfällt, dies gilt insbesondere für den Entstrukturierungsansatz. Im Folgenden sollen
sowohl dieser als auch der Strukturierungsansatz vorgestellt werden.
4.1 Einleitung
Lebensstile stellen neben den Milieus eine weitere Möglichkeit dar, das Ungleichheitsgefüge
moderner Gesellschaften zu erfassen. Ähnlich dem Milieukonzept hat das Lebensstilkonzept
seine ,,materielle und kulturelle Basis"
101
im gestiegenen Lebensstandard, mehr freier Zeit,
der Vervielfältigung der Konsummöglichkeiten, in der allgemeinen Pluralisierung der
Lebensformen.
Für Postel bilden Lebensstile ,,gemeinsame Verhaltensweisen und Werthaltungen von
Großgruppen in der Gesellschaft ab und basieren nicht wie Klassen- und Schichtkonzepte auf
,,ökonomischen Sphären".
102
Der Begriff ,,Stil" wurde bis in das 17. Jahrhundert hinein für
Sprache, Schrift und bildende Kunst verwendet. Bei Max Weber und Georg Simmel
103
erhielt
der Begriff erstmals soziologische Bedeutung. Weber verwendet den Begriff Lebensführung
und meint damit die typischen Formen des Konsums und Wertorientierungen eines Standes.
So führten Protestanten ein eher asketisches Leben und vergeudeten möglichst wenig Geld
und Zeit. Zugleich machten Mitglieder eines Standes durch die spezifische Lebensführung
ihre Zugehörigkeit deutlich und erhoben Anspruch auf soziale Anerkennung.
104
Simmel spricht die Identitätsgefährdung im Zuge der Modernisierung an und damit
zusammenhängend den Versuch, durch seinen Lebensstil eine Identität zu finden. Die
vielfältigen Wahlmöglichkeiten haben zur Folge, dass sich die Lebenswelt nicht mehr
einheitlich darstellt und Identitätsgefährdungen zur Folge haben können.
Moderne Lebensstilansätze finden eher in der Marktforschung als in der soziologischen
Forschung Anwendung. ,,Lifestyle"-Analysen sollen für bestimmte Käufertypen bestimmte
Produkte ausfindig machen. Auch für die Konsum- und Wahlforschung spielen Lebensstile
eine wichtige Rolle.
105
In der Ungleichheitsforschung werden Lebensstile allerdings anders
101
Postel, Berit: Charakterisierung von Lebensstilen durch Wertorientierungen. In: Potsdamer Beiträger zur
Sozialforschung Nr. 23, 2005. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät: Universität Potsdam, S.2.
102
Ebd., S. 2.
103
Georg Simmel, * 1. März 1858 in Berlin; 26. September 1918 in Straßburg.
104
Vgl. Burzan 2007, S. 89.
105
Vgl. ebd., S. 90.
24
verwendet, als in der Marktforschung. In erster Linie sollen Lebensstilmodelle soziale
Ungleichheit differenzierter analysieren, als die ,,alten" Schicht- und Klassenmodelle.
106
Die These von Michailow
107
ist, ,,dass mit ,,Lebensstil" eine neu entstandene soziale
Formation zu bezeichnen ist, die wie Klasse, Stand, Clan und Milieu ein eigenständiges
Niveau der sozialen Integration bezeichnet".
108
Lebensstile gründen sich auf der Aneignung
gesellschaftlicher Lebensumstände, welche sich wiederum in der Art und Weise der Nutzung
von Ressourcen, des Konsums, der kulturellen Präferenzen etc. äußern. Die soziale
Abgrenzung von Lebensstilen kommt durch die wahrnehmbare Gestalt der Lebensäußerungen
sowie Ausdrucks- und Deutungsmuster zustande.
109
Zu den symbolisch bedeutsamen und
stilisierungsfähigen Alltagsbereichen gehören Esskultur und Kleidungspräferenzen sowie
soziale Netzwerke, Freizeitaktivitäten etc., in denen persönliche Identität und Status zum
Ausdruck kommen. Das Erwerbsleben ist hingegen zumeist fremdbestimmt und damit kaum
stilisierungsfähig.
110
Pauschal sind zwei Richtungen der Lebensstilforschung zu unterscheiden. D. Konietzka
111
spricht hier von Strukturierungs- und Entstrukturierungsmodellen. Strukturierungsmodelle
konzentrieren sich in erster Linie auf strukturelle Kriterien wie Alter, Geschlecht und
Bildung. Diese Modelle sollen konventionelle Schichtungsmodelle lediglich ergänzen und
nicht vollständig überflüssig machen.
112
Entstrukturierungsmodelle hingegen haben den
Anspruch, soziale Ungleichheit unabhängig von der bisherigen Sozialstrukturanalyse zu
analysieren. In diesen Modellen spielen strukturelle Kriterien eine nur noch untergeordnete
Rolle, vielmehr erklären allein die Lebensstile soziale Differenzierung.
113
Im den folgenden Kapiteln soll exemplarisch ein Entstrukturierungs- sowie ein
Strukturierungsansatz vorgestellt werden.
106
Vgl. ebd., S. 91.
107
Michailow, Matthias: Lebensstil und soziale Klassifizierung. Zur Operationsweise einer Praxis sozialer
Unterscheidung. In: Dangschat, Jens und Jörg Blasius: Lebensstile in den Städten, 1994. Opladen: Leske +
Budrich.
108
Ebd., S. 35.
109
Vgl. ebd., S. 35.
110
Vgl. Postel 2005, S. 3.
111
Konietzka, Dirk: Lebensstile im sozialstrukturellen Kontext. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zur
Analyse soziokultureller Ungleichheiten, 1995. Opladen: Westdeutscher Verlag.
112
Vgl. Burzan 2007, S. 93.
113
Vgl. ebd., S. 94.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2009
- ISBN (eBook)
- 9783836640275
- Dateigröße
- 723 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Duisburg-Essen – Gesellschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften
- Erscheinungsdatum
- 2014 (April)
- Note
- 1,7
- Schlagworte
- lebensstil armut sozialstruktur exklusion milieu
- Produktsicherheit
- Diplom.de