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Minderheitsregierungen in Deutschland

Zukunftsmodell oder nur eine Alternative ohne Realisierungsperspektive

©2009 Bachelorarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das deutsche Parteiensystem ist mit dem Einzug der Linkspartei in den Bundestag, ihrer Etablierung in den westdeutschen Ländern und dem Rückgang der Anzahl der Wählerstimmen für die Union und SPD, im Begriff sich zu wandeln. Zum ersten Mal hat sich dieser Wandel im Ergebnis der letzten Bundestagswahl 2005 niedergeschlagen. Die Bildung einer mehrheitsfähigen Koalition nach gewohntem Muster konnte nicht länger realisiert werden, sodass sich die beiden großen Parteien auf das ungeliebte Modell der großen Koalition einigen mussten. Aufgrund dieser aus demokratietheoretischen Gründen unglücklichen Situation stellt sich die Frage nach möglichen Alternativen, um eine erfolgreiche zukünftige Regierungsbildung zu gewährleisten. Wenn die Koalitionsproblematik weiterhin bestehen bleibt, existiert eine mögliche Alternative in der Konstituierung von Minderheitsregierungen, wie sie in den skandinavischen Ländern üblich ist und seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert wird. Mit diesem Regierungsformat konnten sich jedoch die politischen Akteure und die Öffentlichkeit in Deutschland bisher nicht anfreunden. Dass sich aber die Regierungsbildung und die Koalitionsmuster grundlegend ändern werden, ist nahezu unausweichlich, denn die Etablierung der Linkspartei in den westlichen Bundesländern kann immer wieder zu einer parlamentarischen Pattsituation, wie es 2008 in Hessen geschehen ist, führen, aus der – wenn dauerhaft eine große Koalition vermieden werden soll – Minderheitsregierungen, zumindest in der Theorie, als Alternative bereit stünden. Trotz der negativen Erfahrungen mit Regierungen ohne parlamentarischer Mehrheit aus der Weimarer Zeit hat der Parlamentarische Rat die Bildung von Minderheitsregierungen als ‘Ultima Ratio’ in das Grundgesetz eingebaut. Bezeichnend für die Möglichkeit sind die Modalitäten zur Bundeskanzlerwahl: Wenn nach zwei Wahlgängen kein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewählt wird, reicht im dritten die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen.
In die öffentliche Debatte rückte das Thema Minderheitsregierungen durch die hessischen Landtagswahlen, nachdem bereits Heide Simonis (SPD) 2005 mit einem ähnlichem Versuch in Schleswig-Holstein scheiterte. Letztlich haben sich Minderheitsregierungen in der Bundesrepublik nicht – mit der Ausnahme von zwei Legislaturperioden in Sachsen-Anhalt (1994-2002) – durchsetzen können.
Im Rahmen dieser Arbeit soll herausgefunden werden, ob dieses Regierungsformat lediglich als […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Minderheitsregierungen in Deutschland
Zukunftsmodell oder nur eine Alternative ohne Realisierungsperspektive
ISBN: 978-3-8366-4017-6
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland,
Bachelorarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Minderheitsregierungen
in Deutschland
Zukunftsmodell oder nur eine
Alternative ohne Realisierungsperspektive?
I. Einleitung
1-4
II.Minderheitsregierungen in Theorie und Praxis
4-25
2.1 Minderheitsregierungen in der Theorie
5
2.1.1 Theoretische Grundannahmen
5
2.1.2 Nachteile von Minderheitsregierungen
9
2.1.3 Vorzüge von Minderheitsregierungen
13
2.2 Minderheitsregierungen in der Praxis
18
2.2.1 Die Verbreitung von Minderheitsregierungen
18
2.2.2 Das Skandinavische Modell. Beispiel: Dänemark
21
III.
Minderheitsregierungen in Deutschland
25-41
3.1 Typologie des deutschen Parteiensystems
26
3.1.1 Vom Zweieinhalbparteiensystem zum Fünfparteiensystem
26
3.1.2 Koalitionslandschaft im Bund und in den Ländern
3
2
3.2 Minderheitsregierungen: Grenzen und Möglichkeiten
3
4
3.2.1 Die informelle Koalition in Berlin 1981-1983
3
4
3.2.2 Das ,,Magdeburger Modell"
35
3.2.3 Die gescheiterten Versuche: Schleswig-Holstein und Hessen
3
9
IV. Schlussbetrachtung
4
3-45
V. Literaturverzeichnis
4
6-50
2

1
Minderheitsregierungen
in Deutschland
Zukunftsmodell oder nur eine
Alternative ohne Realisierungsperspektive?
I. Einleitung
Das deutsche Parteiensystem ist mit dem Einzug der Linkspartei in den Bundestag, ihrer
Etablierung in den westdeutschen Ländern und dem Rückgang der Anzahl der
Wählerstimmen für die Union und SPD, im Begriff sich zu wandeln. Zum ersten Mal hat sich
dieser Wandel im Ergebnis der letzten Bundestagswahl 2005 niedergeschlagen. Die Bildung
einer mehrheitsfähigen Koalition nach gewohntem Muster konnte nicht länger realisiert
werden, sodass sich die beiden großen Parteien auf das ungeliebte Modell der großen
Koalition einigen mussten. Aufgrund dieser aus demokratietheoretischen Gründen
unglücklichen Situation stellt sich die Frage nach möglichen Alternativen, um eine
erfolgreiche zukünftige Regierungsbildung zu gewährleisten.
1
Wenn die
Koalitionsproblematik weiterhin bestehen bleibt, existiert eine mögliche Alternative in der
Konstituierung von Minderheitsregierungen, wie sie in den skandinavischen Ländern üblich
ist und seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert wird. Mit diesem Regierungsformat konnten
sich jedoch die politischen Akteure und die Öffentlichkeit in Deutschland bisher nicht
anfreunden. Dass sich aber die Regierungsbildung und die Koalitionsmuster grundlegend
ändern werden, ist nahezu unausweichlich, denn die Etablierung der Linkspartei in den
westlichen Bundesländern kann immer wieder zu einer parlamentarischen Pattsituation, wie
es 2008 in Hessen geschehen ist, führen, aus der ­ wenn dauerhaft eine große Koalition
vermieden werden soll ­ Minderheitsregierungen, zumindest in der Theorie, als Alternative
bereit stünden. Trotz der negativen Erfahrungen mit Regierungen ohne parlamentarischer
Mehrheit aus der Weimarer Zeit hat der Parlamentarische Rat die Bildung von
1 Vgl. Frank Decker: Die Bundesrepublik auf der Suche nach neuen Koalitionen, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte 35-36 (2007), S. 26-33, S. 32.

2
Minderheitsregierungen als ,,Ultima Ratio"
2
in das Grundgesetz eingebaut. Bezeichnend für
die Möglichkeit sind die Modalitäten zur Bundeskanzlerwahl: Wenn nach zwei Wahlgängen
kein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewählt wird, reicht im dritten die relative Mehrheit der
abgegebenen Stimmen.
In die öffentliche Debatte rückte das Thema Minderheitsregierungen durch die hessischen
Landtagswahlen, nachdem bereits Heide Simonis (SPD) 2005 mit einem ähnlichem Versuch
in Schleswig-Holstein scheiterte. Letztlich haben sich Minderheitsregierungen in der
Bundesrepublik nicht ­ mit der Ausnahme von zwei Legislaturperioden in Sachsen-Anhalt
(1994-2002) ­ durchsetzen können.
Im Rahmen dieser Arbeit soll herausgefunden werden, ob dieses Regierungsformat lediglich
als theoretische Alternative zu betrachten ist, oder ob es tatsächlich eine realisierbare Option
sein kann. Hierfür soll zunächst ein theoretischer Teil in die Thematik einführen, indem die
Minderheitsregierung als solche definiert wird und die Vor- und Nachteile vorgestellt werden.
Der theoretische Teil wird durch einen empirischen Teil ergänzt. Anhand verschiedener
Studien wird die Verbreitung von Minderheitsregierungen in parlamentarischen Demokratien
gezeigt. Das Ergebnis ist, dass Minderheitsregierungen häufiger als angenommen gebildet
werden und, dass sich die Minderheitsregierungen auf die skandinavischen Länder (vor allem:
Dänemark, Schweden und Norwegen) konzentrieren. In Dänemark werden
Minderheitsregierungen am häufigsten gebildet, deswegen wird im folgenden Kapitel das
dänische System vorgestellt, um mögliche Gründe, die die Bildung von
Minderheitsregierungen begünstigen, festzustellen.
Zudem führte ein Wandel des dänischen Parteiensystems zu einer stärkeren Tendenz
Minderheitsregierungen zu bilden, was die Frage nach Gemeinsamkeiten mit dem
Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland aufwirft. Im dritten Teil dieser Arbeit werden
Minderheitsregierungen in Deutschland thematisiert. Für die Entstehung von Regierungen
ohne eigene parlamentarische Mehrheit ist das Parteiensystem von entscheidender Bedeutung,
deswegen wird der Entwicklung des deutschen Parteiensystems ein ganzes Kapitel gewidmet.
Wichtige Fragen sind hierbei, inwieweit das deutsche Parteiensystem fragmentiert, polarisiert
und segmentiert ist, da diese drei Faktoren die Regierungsbildung stark beeinflussen. Die
Analyse des Parteiensystems führt automatisch zu einem Blick auf die verschiedenen
2 Klaus von Beyme: Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa. München 1970, S. 570.

3
Koalitionen auf Länder- und Bundesebene. Schließlich sollen die bisherigen Erfahrungen der
Bundesrepublik mit Minderheitsregierungen dargestellt werden. Nicht nur das zwei
Legislaturperioden lang praktizierte ,,Magdeburger Modell" in Sachsen-Anhalt, sondern auch
die gescheiterten (Schleswig-Holstein 2005 und Hessen 2008) und die ersten Versuche (Berlin
1981-1983) sollen in dieser Arbeit Erwähnung finden. Im abschließenden Teil soll der
Versuch unternommen werden die Ausgangsfrage zu beantworten und ein Ausblick auf die
Realisierungschancen von Minderheitsregierungen in Deutschland gewagt werden.
Die Auswahl der Beispiele hinsichtlich praktizierter Minderheitsregierungen in der
Bundesrepublik ist begrenzt. Die Bildung des ,,Magdeburger Modells" 1994 ist die erste und
einzige Minderheitsregierung in Deutschland, die von den politischen Akteuren bewusst
gebildet wurde und 1998 in einer anderen Konstellation fortgesetzt werden konnte. Eine
Arbeit über Minderheitsregierungen in Deutschland ohne die Erwähnung des ,,Magdeburger
Modells" ist wohl kaum möglich. Unter dem Kapitel 3.2.1 hätten noch die Regierungen in
Hessen (1982) und in Hamburg (1982)
3
erwähnt werden können, doch eine
Auseinandersetzung mit diesen Beispielen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zudem
ist das Beispiel des Berliner Minderheitssenats aus zweierlei Gründen interessanter: zum
einen ist es das einzige Beispiel in der Bundesrepublik, in der das ,,bürgerliche Lager" die
Protagonisten sind und zum anderen wird dargestellt, wie die Bildung von
Minderheitsregierungen zur Lösung einer parlamentarischen Pattsituation dienen kann.
In der wissenschaftlichen Diskussion fand das Thema Minderheitsregierung, vor allem in der
deutschen, nicht allzu viel Beachtung. Dies änderte sich mit dem Standardwerk von Kaare
Strøm ,,Minority Governments and Majority Rule", welches 1990 erschienen ist. Zuvor wurde
diese Thematik lediglich am Rande von Arbeiten mit einem anderen Fokus erwähnt, da die
Auseinandersetzung mit Regierungssystemen oder Koalitionstheorien zwangsläufig zu
Minderheitsregierungen führt. In der deutschsprachigen Literatur ist zunächst Klaus von
Beyme zu erwähnen, der in seinen Werken häufig Stellung zu Minderheitsregierungen
bezogen hat. Nach 1994 wurde, aufgrund der Entwicklungen in Sachsen-Anhalt, im Vergleich
zu vorher viel zu diesem Thema veröffentlicht, wobei sich die Publikationen größtenteils auf
Essays in Fachzeitschriften beschränken. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die
3 Vgl.
Eberhard
Schütt-Wetschky:
Verhältniswahl und Minderheitsregierungen. Unter besonderer
Berücksichtigung Großbritanniens, Dänemarks und der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für
Parlamentsfragen, Jg. 18, Heft 1 (1987), S. 94-109, S. 94.

4
Debatte zwischen Wolfgang Renzsch und Stefan Schieren auf der einen und Wilfried Steffani
auf der anderen Seite, die sich auf jeweils zwei Beiträge in der Zeitschrift für
Parlamentsfragen ausdehnte und in der das ,,Magdeburger Modell" kontrovers diskutiert
wurde. Eine wichtige deutschsprachige Monographie zu diesem Thema ist von Sven Thomas
unter dem Titel Regierungspraxis von Minderheitsregierungen. Das Beispiel des
,,Magdeburger Modells" verfasst worden und 2003 erschienen. Des Weiteren sind in jüngster
Vergangenheit die Aufsätze von Frank Decker und Uwe Jun erwähnenswert, die sich mit dem
Wandel im deutschen Parteiensystem und möglichen Regierungskoalitionen bzw.
Konstellationen auseinandersetzen. Für diese Arbeit können dementsprechend die genannten
Autoren, die Kontroverse und die beiden Monographien als Literaturbasis bezeichnet werden.
II. Minderheitsregierungen in Theorie und Praxis
Um eine Einführung in die Thematik zu bieten wird in dem folgenden Teil der Arbeit die
theoretische Dimension näher beleuchtet und ein internationaler Vergleich angestrebt. Damit
das Phänomen Minderheitsregierung zunächst verständlich wird, ist eine Begriffsdefinition
erforderlich. Des Weiteren gilt es im theoretischen Teil folgende Fragen zu beantworten: Gibt
es verschiedene Typen von Minderheitsregierungen, wie funktionieren diese im Vergleich zu
Mehrheitsregierungen und unter welchen Bedingungen entstehen sie? Neben diesen Fragen
soll auf die wissenschaftliche Diskussion und in diesem Zusammenhang auf die
vermeintlichen Vor- und Nachteile eingegangen werden. Der Versuch Minderheitsregierungen
in der theoretischen Dimension zu verstehen, wird durch einen Blick auf die Praxis ergänzt.
Interessant wird es sein, inwieweit die theoretischen Überlegungen bzw. Annahmen bestätigt
oder widerlegt werden können. Aus diesem Grund soll in einem ersten Schritt die Verbreitung
und die Häufigkeit von Minderheitsregierungen in parlamentarischen Demokratien gezeigt
werden, ehe das politische System Dänemarks ­ als das Land mit den meisten Erfahrungen
bezüglich Minderheitsregierungen ­ näher betrachtet wird.

5
2.1 Minderheitsregierungen in der Theorie
2.1.1
Theoretische
Grundannahmen
Der Begriff der Minderheitsregierung impliziert eine Regierung, die im Parlament keine
eigene Mehrheit besitzt, sondern lediglich auf eine Minderheit der Mandate im Parlament
zurückgreifen kann.
4
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass mehr als 50% der Sitze der
Opposition zuzurechnen sind.
5
Wenn der arithmetischen Definition gefolgt wird, weist die
Entstehung von Minderheitsregierungen auf eine Minderheitssituation im Parlament hin. Das
bedeutet, dass keine Partei die Mehrheit der Mandate auf sich vereinigen kann. Üblich in
einer solchen Situation ist die Bildung von mehrheitsfähigen Koalitionen. Wenn jedoch
koalitionsunwillige oder -unfähige Gruppierungen im Parlament vertreten sind, kann dieser
Versuch scheitern und es kommt keine Mehrheitsregierung zustande.
6
Daraus kann gefolgert
werden, dass eine Minderheitsregierung voraussetzt, dass die numerisch mehrheitsfähige
Opposition, aufgrund mangelnder politischer Kohäsion, nicht als Einheit auftreten wird.
7
Andernfalls wäre zu vermuten, dass sie die Regierung stellt. Diese Konstellation widerspricht
der gängigen Auffassung, dass in parlamentarischen Systemen die Regierung und die
Parlamentsmehrheit als eine Aktionseinheit agieren.
8
Außerdem wird die Annahme, dass ,,eine
Regierungsmehrheit der Grundgedanke eines parlamentarischen Systems"
9
sei, durch die
Existenz von Minderheitskabinetten in Frage gestellt.
Die Funktionslogik einer Minderheitsregierung ist von der Mehrheitsregierung in diversen
Punkten zu unterscheiden. Statt mit gesicherten Mehrheiten zu regieren, sind
Minderheitsregierungen darauf angewiesen, ihre Mehrheiten interfraktionell zu organisieren.
Es besteht eine Abhängigkeit zwischen Regierung und Parlament und führt zu einem Modus
der Mehrheitsbeschaffung, welcher der Systemlogik eines präsidentiellen Regierungssystems
4 Vgl. Sven Thomas: Regierungspraxis von Minderheitsregierungen. Das Beispiel des ,,Magdeburger
Modells". Wiesbaden 2003, S. 7.
5 Vgl. Robert Elgie: What is Divided Government?, in: Ders. (Hers.): Divided Government in Comparative
Perspective. New York 2005, S. 1-20, S. 5.
6 Vgl. Winfried Steffani: Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt? Grundsätzliche Bedenken. Bemerkung zum Beitrag
von Wolfgang Renzsch und Stefan Schieren in Heft 3/97, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 28, Heft 4
(1997), S. 717-722, S.718.
7 Vgl.Budge und Hermann: Coalitions and Government Formations: An Empirically Relevant Theory, in
British Journal of Political Science Vol. 8, No. 4 (1978), S. 459-477. S. 7.
8 Vgl. Jürgen Hartmann: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland im Kontext. Eine Einführung.
Wiesbaden 2004, S. 18.
9 Von Beyme. Die parlamentarischen Regierungssysteme. S. 566.

6
ähnelt. Hier muss sich die Exekutive die benötigten Mehrheiten ebenfalls von Fall zu Fall in
der Legislative durch Kooperation zu organisieren. Die Fähigkeit im Parlament mit anderen
Fraktionen konsensorientiert zu kooperieren, ist deshalb enorm wichtig, da so die
Realisierung von parlamentarischen Mehrheiten erheblich erleichtert wird.
10
Entscheidend für das Funktionieren einer Minderheitsregierung sei ,,die Entwicklung eines
kooperativen Dreiecksverhältnisses zwischen Regierung und Regierungs- bzw.
Oppositionsfraktionen"
11.
Die parlamentarische Kooperation der Minderheitsregierung mit
Nichtregierungsfraktionen kann zwei unterschiedliche Formen aufweisen: Zum einen gibt es
die situationsabhängige Form, die sich in wechselnden Mehrheiten ausdrückt und zum
anderen eine auf Dauer angelegte Zusammenarbeit, also eine feste Tolerierung durch eine
bestimmte Fraktion oder bestimmte Anzahl von Abgeordneten.
12
In beiden Fällen entsteht
durch die parlamentarische Kooperation, die keine Koalition ist, eine Mehrheit im Sinne der
Regierung. Den Modus der festen Tolerierung bezeichnet Christian Starck als heimliche
Mehrheitsregierung, da die Minderheitsregierung fortwährend mit einer festen Kooperation ­
auch wenn sie nicht immer erfolgen muss ­ rechnen kann und präferiert diese, da sie eine
größere Stabilität garantiere.
13
Neben diesen zwei verschiedenen Typen der
Mehrheitsbeschaffung gibt es eine weitergehende Typologisierung. Valentine Herman und
John Pope unterscheiden zwischen einer Einparteien-Minderheitsregierung und einer
Vielparteien-Minderheitsregierung. Diese haben dann wiederum jeweils zwei weitere
Dimensionen, denn beide können die Form einer festen Tolerierung aufweisen oder von
wechselnden Mehrheiten abhängig sein.
14
Demnach gibt es vier verschiedene
Erscheinungsformen von Minderheitsregierungen. Eine weitere Form der
Minderheitsregierung, die jedoch für diese Arbeit nicht von Bedeutung und somit hier nur der
Vollständigkeit halber erwähnt werden soll, ist die geschäftsführende Minderheitsregierung
auf Zeit. Diese tritt bei der vorzeitigen Auflösung einer Koalition oder des Parlaments auf, um
die Geschicke vorübergehend zu leiten. In der Regel überlebt sie, solange bis sich ein neues
10 Vgl. Thomas. Regierungspraxis von Minderheitsregierungen. S. 7.
11 Ebd., S. 46.
12 Vgl. Ebd., S. 7.
13 Vgl. Christian Starck: Stabile Minderheitsregierung als heimliche Mehrheitsregierung ­ zum ,,Magdeburger
Modell", in: Jörn Ipsen/Edzard Schmidt-Jortzig (Hrsg.): Recht ­ Staat ­ Gemeinwohl. Festschrift für Dietrich
Rauschning. Köln 2001, S. 157-172, S. 170.
14 Vgl. Valentine Herman/John Pope: Minority Governments in Western Democracies, in: British Journal of
Political Science, Vol. 3, No. 2 (1973), S. 191-212, S. 192.

7
Parlament konstituiert hat, oder eine andere Mehrheitsregierung gewählt wird.
15
Ein weiterer Bereich, der in parlamentarischen Systemen bei der Konstituierung von
Regierungen beachtet werden sollte, ist die Koalitionstheorie. Sie geht von minimal winning
coalitions aus. Diese Theorie geht von ,,office-seeking Parteien aus, deren primäres Ziel es
demnach ist die Regierung zu bilden. Nach diesem Ansatz ist die wahrscheinlichste Variante
einer Regierungsbildung, wenn keine einzelne Partei die absolute Mehrheit erreichen kann,
ein Zusammenschluss mehrerer Parteien zu einer Koalition. Die Theorie der minimal winning
coalitions liegt die Bildung einer Koalition nahe, die die Mehrheit der Mandate auf sich
vereinigen kann und mit dem Wegfallen eines beliebigen Koalitionspartners diese verlieren
würde. Als Konsequenz aus dieser Annahme kann gefolgert werden, dass die Bildung einer
Minderheitsregierung die unwahrscheinlichste Variante der Regierungsbildung sein wird.
16
Die Definition der minimal-winning coalition, die nur eine winning coalition ist, wenn sie die
Mehrheit der Mandate auf sich vereinigt, wird von Hermann und Pope modifiziert. Die beiden
Wissenschaftler bezeichnen die Koalition als winning, die im Endeffekt auch die Regierung
stellt. Dies bedeutet, dass auch Minderheitsregierungen winning coalitions hervorbringen
können.
17
Bei der Bildung von Minderheitsregierungen spielt das Wahlsystem zwar keine
entscheidende, aber doch eine wichtige Rolle. Während das reine Mehrheitswahlrecht in der
Regel für klare Mehrheiten sorgt, kann das Verhältniswahlrecht die Bildung von Mehrheiten
erschweren. Der Grund liegt darin, dass durch das letztere Wahlrecht eine Vielzahl von
Parteien in das Parlament einziehen kann und somit ein hoher Grad der Fragmentierung des
Parlaments, die Bildung von Mehrheitsregierungen erschwere und gleichzeitig die
Wahrscheinlichkeit für Minderheitsregierungen erhöhe.
Des Weiteren werden Minderheitsregierungen der Verhandlungsdemokratie zugeordnet, da sie
nicht nach wettbewerbsdemokratischen Regeln Entscheidungen hervorbringen, sondern
versuchen müssen ihre Mehrheiten im Parlament kooperativ zu realisieren.
18
Diese
theoretische Besonderheit führt zu einer anderen Funktionslogik im Parlament und
unterscheidet die Minderheitsregierung von der Mehrheitsregierung.
19
Mehrheitsregierungen
15 Vgl. Von Beyme: Die parlamentarischen Regierungssysteme. S. 568.
16 Vgl. Kaare Strøm: Minority Government and Majority Rule. Cambridge 1990, S. 41.
17 Vgl. Hermann/Pope: Minority Governments. S. 204.
18 Vgl. Sven Thomas: Regierungspraxis von Minderheitsregierungen. S. 8f.
19 Vgl. Ebd., S. 9.

8
besitzen eine eigene Mehrheit im Parlament und müssen ­ vorausgesetzt, Fraktionszwang
herrscht ­ kaum um die Realisierung von Gesetzesbeschlüssen fürchten, während
Minderheitsregierungen um ihre Mehrheiten jedes Mal neu bangen müssen. Zudem können
sich Regierung mit eigener parlamentarischer Mehrheit der Vertrauensfrage bedienen, um die
eigene Fraktion bzw. die Koalition zu disziplinieren. Nach Arend Lijpharts Definition ist eine
Vielparteien-Minderheitsregierung dem konsensuallen Typus zuzuordnen, da diese ein hohes
Maß an Konsens erfordert.
20
Die Funktionslogik eines parlamentarischen Systems ist im Allgemeinem die Produktion von
Mehrheiten seitens der Regierung. Mehrheiten sind zum einen wichtig, um Gesetze zu
beschließen und zum zweiten um im Amt zu bleiben. Zudem wird von einer Regierung
erwartet, dass sie mit der Mehrheit im Parlament auch personell identisch ist.
21
Dieses
Merkmal kann von der Minderheitsregierung nicht erfüllt werden, da sie per definitionem
nicht eine Mehrheit im Parlament stellen kann. Somit erfüllen die Minderheitsregierungen
nicht die normative Erwartung, die die parlamentarische Demokratie an ihre Regierungen
stellt, obgleich sie fähig sein kann die nötigen Erwartungen zu befriedigen, indem sie
parlamentarische Mehrheiten generiert.
22
Genau wie Mehrheitsregierungen sind auch
Minderheitsregierungen gezwungen parlamentarische Mehrheiten zu produzieren.
Die theoretische Betrachtung des Phänomens der Minderheitsregierung führt zum Schluss,
dass diese nicht in das gewöhnliche Schema der parlamentarischen Demokratien passen.
Dennoch ist die Bildung von Minderheitskabinetten nicht ausgeschlossen, da sie
funktionieren können. Festzuhalten ist auch, dass Minderheitsregierungen in der Theorie in
politischen Systemen entstehen können, die ein hohes Maß an konsensuallen
Konfliktlösungsmodi besitzen und in denen die Bildung von Mehrheiten erschwert wird.
20 Vgl. Arend Lijphart: Patterns of Democracy. Government Forms and Performances in Thirty-Six Countries.
New Haven 1999, S. 91.
21 Vgl. Kaare Strøm: Minority Government. S. 4f.
22 Vgl. Ebd., S. 7f.

9
2.1.2
Nachteile
von
Minderheitsregierungen
In der vergleichenden Regierungslehre werden Minderheitsregierungen eher negativ
betrachtet. Vor allem in der Bundesrepublik trifft die Skepsis auf einen nahrhaften Boden.
Sven Thomas spricht von einem politikwissenschaftlichem Mainstream, der
Minderheitsregierungen kritisch betrachte und ihr die politische Leistungs- und
Handlungsfähigkeit abspreche.
23
Er weist auf die in der Bundesrepublik vertretene Auffassung
hin, dass Minderheitsregierungen als handlungsunfähig charakterisiert werden.
24
Uwe Jun
behauptet, dass sich Minderheitsregierungen aus diversen Gründen bei politischen Akteuren
und den Wählern nur einer geringen Popularität erfreuen können.
25
Ihnen werde vorgeworfen,
sie seien nicht stabil und erschweren dadurch ein reibungsloses Regieren. Es ist sogar von der
Gefährdung der Stabilität des ganzen Landes die Rede.
26
Minderheitsregierungen entsprechen
­ wie weiter oben festgestellt ­ nicht den normativen Erwartungen der parlamentarischen
Demokratie, die eine Mehrheitsregierung voraussetzt. Klaus von Beyme stellt klar, dass eine
Mehrheitsregierung einer Minderheitsregierung immer vorzuziehen sei.
27
Daraus lässt sich
schließen, dass gegenüber dieser Form der Regierungsbildung Vorbehalte existieren. Im
Folgenden soll versucht werden, diese Vorbehalte aufzuzeigen.
Die Regierungsbildung ohne eigene Mehrheit wird von vielen Politikwissenschaftlern als ein
Versuch, der mit vielen negativen Implikationen verbunden ist, dargestellt. Dementsprechend
bezeichnet Klaus von Beyme Minderheitsregierungen in parlamentarischen Systemen als ein
unerwünschtes Krisensymptom, die nur bedingt handlungsfähig sein können.
28
Eine lang
anhaltenden Phase solcher Regierungsformate würde zu politischem Immobilismus führen, da
für ein reibungsloses Regieren schlicht die Mehrheit bzw. die Mittel fehlen. Folglich könne
das Parlament unter diesen Mehrheitsverhältnissen nicht auf Regierungskurs gebracht werden.
Die Bundesrepublik bietet hierfür die Vertrauensfrage, welche von einer Minderheitsregierung
in seiner eigentlichen Funktion nicht benutzt werden könne.
29
23 Vgl. Thomas. Regierungspraxis von Minderheitsregierungen. S. 15.
24 Vgl. Sven Thomas: Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des ,,Magdeburger
Modells", in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 34, Heft 4 (2003), S. 792-806, S. 792.
25 Vgl. Uwe Jun: Auf dem Weg zur Großen Koalition: Regierungsbildung in Deutschland 2005, in: Jens
Tenscher & Helge Batt (Hrsg.): 100 Tage Schonfrist. Bundespolitik und Landtagswahl im Schatten der
Großen Koalition. Wiesbaden 2009, S. 27-53, S. 27.
26 Vgl. Kaare Strøm. Minority Government. S. 19.
27 Vgl. Von Beyme: Die parlamentarischen Regierungssysteme. S. 570f.
28 Vgl. Klaus von Beyme: Die parlamentarische Demokratie. Entstehung und Funktionsweise 1789-1999.
Dritte, völlig neubearbeitete Auflage. Opladen/Wiesbaden 1999, S. 479.
29 Vgl. Ebd.

10
Der Hauptkritikpunkt lautet, dass die Stabilität einer Minderheitsregierung nicht gewährleistet
ist. Es wird behauptet, dass durch instabile Verhältnisse Minderheitsregierungen entstehen
oder andersherum, dass, wo häufig Minderheitsregierungen vorkommen, die Stabilität gering
sei.
30
Exekutive und Legislative stellen in diesem Regierungsformat keine Aktionseinheit dar
und so kann zwischen der Regierungsmehrheit und der Gesetzgebungsmehrheit unterschieden
werden. Oppositionsfraktionen können zwar eine Minderheitsregierung wählen, jedoch kann
bereits hier die Kooperationsbereitschaft der Unterstützer aufhören, denn die Bereitschaft eine
Minderheitsregierung mittels der eigenen Stimmen in das Regierungsamt zu befördern,
bedeutet nicht, dass auch jedes Gesetz mit der Unterstützung bestimmter
Oppositionsfraktionen umgesetzt wird. Die Stützung durch einen Teil der Opposition beziehe
sich also nicht zwangsläufig auf die Unterstützung bei der Gesetzgebung, sondern in erster
Linie auf die Amtsinhabe.
31
Die Regierung sei einer permanenten Gefahr ausgesetzt
handlungsunfähig zu werden, das es keine Garantie dafür gibt, dass keine Blockaden
entstehen. Folglich wird die Minderheitsregierung in ihrer Gestaltungsmacht und in ihrer
Handlungsfähigkeit erheblich eingeschränkt, da sie auf die Folgebereitschaft eines Teils der
Opposition angewiesen ist. So wie Steffani es ausgedrückt hat, besteht aufgrund des
Unterstützungserfordernisses die Möglichkeit, dass der ,,Schwanz mit dem Hund wedelt"
32.
Folglich sei es ein großes Problem von Minderheitsregierungen, dass sie sich nie einer
Mehrheit sicher sein können und sich somit erpressbar machen ließen. Dies führe wiederum
zu einer Phase der politischen Instabilität.
33
Ebenso betrachtet Ernst Friesenhahn die Bildung
einer Minderheitsregierung, aufgrund ihrer immer fortwährenden Suche nach einer Mehrheit,
nur als eine Notlösung und als Indikator für eine politische Krise.
34
Minderheitsregierungen
führen jedoch nicht nur, aufgrund ihrer mangelnden Stabilität zu Krisen, sondern ihre
Entstehung sei Krisensituationen geschuldet. Demzufolge seien sie nicht das Ergebnis von
rationalen Entscheidungen der politischen Akteure. Dieser Vorwurf wird von Giovanni Sartori
konkretisiert, der den politischen Akteuren jegliche Rationalität bei der Bildung von
Minderheitskabinetten abspricht. Rational sei es, in Anlehnung an die minimum-winning-
30 Vgl. Klaus von Beyme: Parteien in westlichen Demokratien. München 1982, S. 390.
31 Vgl. Steffani. Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt. S. 718.
32 Ebd., S. 720.
33 Vgl. Hans-Joachim Veen: Stabilisierung auf dünnem Eis. Entwicklungstendenzen des Parteiensystems nach
der zweiten gesamtdeutschen Wahl, in: Heinrich Oberreuter (Hrsg.): Parteiensystem am Wendepunkt?
Wahlen in der Fernsehdemokratie. München und Landsberg 1996, S. 201f.
34 Vgl. Ernst Friesenhahn: ,,Parlament und Regierung im modernen Staat", in: Kurt Kluxen (Hrsg.):
Parlamentarismus. Dritte Auflage, Köln 1971, S. 307-320, S. 312.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836640176
Dateigröße
661 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn – Philosophische Fakultät, Politik und Gesellschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
parteiensystem magdeburger modell weizsäcker-senat ypsilanti koalition
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