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Mehrheitsdemokratie versus Konsensdemokratie

Eine komparative Analyse der Demokratiemodelle von Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay

©2008 Bachelorarbeit 62 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Lateinamerikanische Demokratien gleichen einem Luxusliner: Die Gewinner können sich wie in einem Supermarkt bedienen, die große Mehrheit muss jedoch als Mannschaft das Schiff in Fahrt halten. Diese Aussage trifft der Politikwissenschaftler und Lateinamerikaexperte Detlef Nolte und beklagt damit den Mangel an Rechtstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit in den Demokratien des südamerikanischen Kontinents. Noch immer fehlt es an Schutz vor Ausbeutung, Korruption und Unterdrückung. Doch einige Regionen verzeichnen Fortschritte. Harald Barrios konstatiert: ‘Noch nie in der lateinamerikanischen Geschichte wurden so viele Länder so lange so demokratisch regiert’ und kommt zu dem Schluss, dass die jungen Demokratien im Vergleich zu den meist katastrophalen Politikergebnissen der vorangegangenen Militärdiktaturen und trotz oft dürftiger wirtschaftlicher und sozialer Leistungen nach wie vor gut abschneiden. Die extreme soziale Polarisierung in Lateinamerika lässt daran Zweifel aufkommen, ob nachhaltige demokratische Verhältnisse etabliert werden können und in den Andenländern, besonders in Venezuela, Ekuador und Bolivien, sieht es weiterhin düster aus. Doch in der Vergangenheit haben junge lateinamerikanische Demokratien wie Chile und Uruguay besondere Entwicklungserfolge erzielt. Uruguay beispielsweise, lange die Folterkammer Südamerikas genannt, ist nach dem Ende der Militärdiktatur zum demokratischen Alltag zurückgekehrt und befindet sich seither im obersten Drittel der stabilsten Demokratien der Welt. Auch Chile konnte die autoritären Vermächtnisse der Diktatur unter Pinochet ablegen und bildet, gemeinsam mit Uruguay, das demokratischste Land des Kontinents. Auch Argentinien und Brasilien scheinen einen demokratischeren Weg eingeschlagen zu haben und lassen sich nach krisenreichen Zeiten wieder als relativ freie Demokratien einstufen.
Doch welches institutionelle Gerüst haben die Demokratien gewählt? Lassen sie sich eher als Konsens- oder eher als Mehrheitsdemokratien klassifizieren? Wo liegen Parallelen, wo Unterschiede vor und welche gemeinsamen Entstehungsursachen lassen sich finden? Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Für die vergleichende Demokratiestudie von Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay liefert Arend Lijphart die adäquateste methodische Grundlage. In seinem Werk Patterns of Democracy hatte er 36 Demokratien, die Vertreter aller drei Demokratisierungswellen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung

Lateinamerikanische Demokratien gleichen einem Luxusliner: Die Gewinner können sich wie in einem Supermarkt bedienen, die große Mehrheit muss jedoch als Mannschaft das Schiff in Fahrt halten. Diese Aussage trifft der Politikwissenschaftler und Lateinamerikaexperte Detlef Nolte und beklagt damit den Mangel an Rechtstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit in den Demokratien des südamerikanischen Kontinents (Nolte 2002: 171). Noch immer fehlt es an Schutz vor Ausbeutung, Korruption und Unterdrückung. Doch einige Regionen verzeichnen Fortschritte. Harald Barrios konstatiert: „Noch nie in der lateinamerikanischen Geschichte wurden so viele Länder so lange so demokratisch regiert“ und kommt zu dem Schluss, dass die jungen Demokratien im Vergleich zu den meist katastrophalen Politikergebnissen der vorangegangenen Militärdiktaturen und trotz oft dürftiger wirtschaftlicher und sozialer Leistungen nach wie vor gut abschneiden. Die extreme soziale Polarisierung in Lateinamerika lässt daran Zweifel aufkommen, ob nachhaltige demokratische Verhältnisse etabliert werden können und in den Andenländern, besonders in Venezuela, Ekuador und Bolivien, sieht es weiterhin düster aus. Doch in der Vergangenheit haben junge lateinamerikanische Demokratien wie Chile und Uruguay besondere Entwicklungserfolge erzielt (Barrios/Boeckh 2000: 10). Uruguay beispielsweise, lange die Folterkammer Südamerikas genannt, ist nach dem Ende der Militärdiktatur zum demokratischen Alltag zurückgekehrt und befindet sich seither im obersten Drittel der stabilsten Demokratien der Welt (Wagner 1997: 19-20). Auch Chile konnte die autoritären Vermächtnisse der Diktatur unter Pinochet ablegen und bildet, gemeinsam mit Uruguay, das demokratischste Land des Kontinents. Auch Argentinien und Brasilien scheinen einen demokratischeren Weg eingeschlagen zu haben und lassen sich nach krisenreichen Zeiten wieder als relativ freie Demokratien einstufen (Freedom House 2008 a-d).

Doch welches institutionelle Gerüst haben die Demokratien gewählt? Lassen sie sich eher als Konsens- oder eher als Mehrheitsdemokratien klassifizieren? Wo liegen Parallelen, wo Unterschiede vor und welche gemeinsamen Entstehungsursachen lassen sich finden? Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Für die vergleichende Demokratiestudie von Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay liefert Arend Lijphart die adäquateste methodische Grundlage. In seinem Werk Patterns of Democracy (1999) hatte er 36 Demokratien, die Vertreter aller drei Demokratisierungswellen beinhalten, zwischen 1945 und 1998 untersucht und sie anhand von 10 dichotomen Vergleichsvariablen auf einer zweidimensionalen Skala als eher mehrheits- oder eher konsensdemokratisch klassifiziert. Darüber hinaus ermittelte Lijphart Erklärungsfaktoren, die die Entstehung einer bestimmten Demokratieform begünstigten. Die Demokratiemodelle Argentiniens, Brasiliens, Chiles und Uruguays fanden in Lijpharts Demokratieuntersuchung keine Berücksichtigung, da sie sich erst nach 1977 redemokratisierten. In dieser Arbeit werden die politischen Systeme der vier Länder auf Basis der Methodik Lijpharts komparativ analysiert. Hinsichtlich ihrer historischen, geografischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weisen die ausgewählten Länder eine hohe Schnittmenge und relativ ähnliche Merkmale auf. Somit bestehe nach Lijphart eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie sich auch in der Ausprägung des Demokratiemodells gleichen. Anhand eines most similar systems design werden die vier Länder auf der zweidimensionalen Skala verortet und getestet, ob sich Lijpharts Thesen bestätigen lassen. Dabei wird ein Analyserahmen von ca. 10 Jahren abgesteckt, um eine valide Einordnung über mehrere Legislaturperioden hinweg geben zu können

Den ersten Teil dieser Arbeit bildet eine Vorstellung von Lijpharts Demokratieuntersuchung und seiner Methodik. Darauf folgt die Begründung der Fallauswahl, die einen Demokratietest und die Ausprägung der lijphartschen Erklärungsvariablen in den vier Ländern beinhaltet. Die anschließende Operationalisierung von Lijpharts Methodik ist eine Mischform aus quantitativer und qualitativer Forschung. In weiten Bereichen wird nomothetisch mit Hilfe von Indizes die Ausprägung der Variablen bestimmt. Darüber hinaus wird aber auch detailliert auf äußere Rahmenbedingungen sowie interne und externe Einflussgrößen und Zusammenhänge eingegangen. Die Methodik zur Bestimmung einer jeden Variablen wird zu Beginn eines jeden Kapitels erklärt und dann an den einzelnen Ländern angewandt. Im Anschluss wird getestet, welche der lijphartschen Hypothesen sich für die demokratietheoretischen Modelle beider Ländern bestätigen lassen und welche nicht zutreffen. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und einer daraus abgeleiteten Handlungsempfehlung.

Neben Lijpharts Werk Patterns of Democracy (1999), welches als theoretische Grundlage dieser Arbeit dient, bilden die Hauptquellen zur Analyse der politischen Systeme Democracies in Development – Politics and Reform in Latin America (2007) von Payne u.a. sowie Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika – Eine Einführung (2008) von Rinke/Stüwe. Darüber hinaus diente eine hohe Zahl an Aufsätzen aus Zeitschriften und Sammelbänden der Recherche. In einigen Fällen musste zudem auf Internetquellen zurückgegriffen werden, um Datensätze von Organisationen, Institutionen oder einzelnen Forschern abrufen zu können. Dabei wurde streng darauf geachtet nur sichere Quellen zu nutzen, um die Reliabilität und Validität der Ergebnisse nicht zu gefährden. Aufgrund der teilweise mangelhaften Bibliotheksausstattung wurden zahlreiche Wissenschaftler in der BRD und den USA persönlich kontaktiert, die oft bereitwillig Daten beisteuerten.

2. Methodik

2.1. Was ist Demokratie?

Unter Demokratien versteht Lijphart, anlehnend an Robert A. Dahls Demokra­tieverständnis, Staatsformen, die folgende Kriterien erfüllen: Das Recht zu wäh­len, das Recht gewählt werden zu können, das Recht der Führer politischer Parteien um Unterstützung und Stimmen zu kämpfen, freie und faire Wahlen, Vereinsfreiheit, Meinungsfreiheit, alternative Informationsquellen zu den staatlichen und die Abhängigkeit der Politikinhalte ausarbeitenden Institutionen von Wahlstimmen und anderen Ausdrucksmöglichkeiten der Präferenz (Lijphart 1999: 48-49).

Zusammenfassend entspricht Lijpharts Demokratieverständnis Abraham Lincolns Definition von demokratischen Systemen von 1863, also dem „government of, by and for the people“ (Lijphart 1999: 49).

2.2. Mehrheitsdemokratie versus Konsensdemokratie – Lijpharts Unterschei-dungskriterien

Das Werk Patterns of Democracy von Arend Lijphart ist eine vergleichende Studie von 36 Demokratien, die von ihm zwischen 1945 und 1996 untersucht wurden, um sie als eher mehrheits- oder konsensdemokratisch klassifizieren zu können (Lijphart 1999: 55).

Der lange Analysezeitraum resultiert aus Lijpharts Anspruch, jede Demokratie mindestens 19 Jahre zu untersuchen, damit er keine kurzlebigen Einheiten, sondern nur stabile und gefestigte Demokratien sowie eine große Anzahl von Merkmalen in seine Analyse mit einbeziehen kann. Somit kann er sicher sein, dass seine Messungen reliabel und valide sind (Lijphart 1999: 48). Aus seinen Beobachtungen der formellen und informellen Institutionen der 36 Länder bestimmte Lijphart zehn unabhängige Vergleichsvariablen (Lijphart 1999: 243-248), deren jeweilige Ausprägungen als Definitionsmerkmale dienen, um Konsensdemokratien von Mehrheitsdemokratien zu unterscheiden (Kropp/Minkenberg 2005: 235). Dabei unterscheidet er zwischen sechs institutionell-strukturalistischen[1] und vier prozessorientierten Faktoren[2] (Jahn 2006: 300). Im Mehrheitsmodell wirkt hauptsächlich die Mehrheit am politischen Entscheidungsprozess mit, Minderheiten werden ausgeschlossen. Das Konsensmodell sucht demgegenüber nach Kompromissen, da der Ausschluss von Minderheiten als undemokratisch angesehen wird (Lijphart 1999: 31). Auf einem Diagramm, dessen horizontale Achse die Föderalismus-Unitarismus Dimension und de­ren vertikale Achse die Exekutive-Parteien Dimension darstellt, kann jede Demokratie nach ihrem strukturellen Variablenwert zwischen den beiden Dimensionen als eher mehrheits- oder konsensdemokratisch verortet werden. Einen Überblick gibt Tabelle 1:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[3] [4] [5] [6] [7]

Quelle: (Lijphart 1999: 62-242), (eigene Recherchen, siehe Kap 4.).

2.3. Die Entstehungsursachen für Konsens- und Mehrheitsdemokratien

Lijphart identifiziert vier Erklärungsvariablen, deren Ausprägungen die Entstehung des jeweiligen Demokra­tietyps beeinflussen.

Zunächst spielt der Grad des Pluralismus einer Gesellschaft eine wichtige Rolle bei der Wahl des Demokratiemodells. Je ausdifferenzierter die Gesellschaft eines Landes ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Konsensdemokratie entsteht. Um die Intensität des Pluralismus der 36 Länder zu messen, untersuchte er die Anzahl und den Organisationsgrad differierender ethnischer Gruppen, religiöser Konfliktlinien, unterschiedlicher Sprachen und anderer Gruppierungen innerhalb der Länder. Anhand dieser Merkmale teilte er die untersuchten Länder in drei Kategorien ein: Pluralistische, halb-pluralistische und nicht-pluralistische Gesellschaften (Lijphart 1999: 56-58). Von den 18 pluralen und semipluralen Gesellschaften werden 12 als stark konsensdemokratisch auf der Exekutive-Parteien Dimension verortet (Lijphart 1999: 251).

Auch die Größe der Bevölkerung hat einen Einfluss auf das Demokratiemodell: Lijphart ermittelte, dass nur 10 der 18 plu­ralen und semipluralen Demokratien auf der Föderalismus-Unitarismus Dimension konsensdemokratische Züge aufweisen. Der Grund dafür ist, dass kleinere Staaten eher eine zentralistische Staatsform wählen und in größeren Staaten Aufgaben an Subinstitutionen übertragen werden. Lijpharts Hypothese lautet: Je größer ein Land, desto dezentralisierter ist seine Regierung, egal ob föderal organisiert oder nicht (Lijphart 1999: 252).

Der geschichtliche Hintergrund eines Landes ist ein weiterer Einflussfaktor. Die ehemaligen Kolonialherren vererbten den Kolonien oftmals ihr institutionelles Modell. Dies erklärt der historische Institutionalismus damit, dass Institutionen, die über einen längeren Zeitraum hinweg in einer Gesellschaft verankert sind an Legitimität gewinnen und trotz Defizite beibehalten werden (Steinmo/Thelen 1992: 2).

Als letzte Variable wird der geographische Standort genannt, da sich geographisch nah beieinander liegende Länder in ihren Demokratieformen ähneln. Lateinamerikanische Länder beispielsweise. stellen auf beiden Dimensionen Mischformen dar, in denen mehrheitsdemokratische Merkmale die konsensdemokratischen geringfügig dominieren (Lijphart 1999: 255).

3. Begründung der Fallauswahl

3.1. Most similar systems design

Ziel meiner Arbeit ist es, anhand eines most similar systems designs, die unterschiedlichen Demokratieausprägungen einer relativ homogenen Ländergruppe komparativ zu untersuchen. Das most similar systems design in der vergleichenden Systemforschung bezieht sich auf relativ homogene Ländergruppen. Anhand der unterschiedlichen Ausprägungen der für die Forschungsfrage relevanten abhängigen Variablen können allgemeingültige Aussagen für die einzelnen Länder getroffen werden (Kropp/Minkenberg 2005: 66/67). Hierfür müssen die Fälle bewusst und begründet ausgewählt werden. Die Kriterien lauten Vollständigkeit und Homogenität. Das heißt es müssen möglichst alle existierenden Länder, die den gewünschten Merkmalsausprägungen entsprechen, untersucht werden. Nur so kann die Repräsentativität der Ergebnisse gewährleistet werden (Jahn u.a. 2006). Neben vielen hybriden Demokratieformen mit teils autoritären Merkmalen, lassen sich in Süd- und Mittellateinamerika 4 Länder ausmachen, die die Kriterien stabiler Demokratien erfüllen und im Hinblick auf die lijphartschen Erklärungsvariablen ähnliche Merkmale aufweisen. Das sind Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay. Außerdem bildet Lateinamerika eine interessante Region für eine solche Analyse, da viele der Länder erst seit wenigen Jahrzehnten ihre militärdiktatorische Herrschaft beendet haben und deshalb von Arend Lijphart nicht untersucht wurden. Im folgenden Abschnitt wird die Fallauswahl begründet, indem die vier Länder einem Demokratietest unterzogen werden. Im Anschluss werden die Ausprägungen der lijphartschen Erklärungsvariablen in den vier Ländern begründet und veranschaulicht, um anschließend eine Vermutung anstellen zu können, welchem demokratietheoretischen Modell die Länder nach Lijphart tendenziell entsprechen könnten. Ein weiteres Land, das zu Beginn der Recherchen als ein geeigneter Fall für das most similar systems design in Betracht gezogen wurde, ist Peru. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, warum es den Ansprüchen an eine stabile Demokratie nicht genügen und somit nicht in die Analyse mit einbezogen werden konnte.

3.2. Demokratietest

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Berechnungen, Daten: (Human Development Index 2008c-f), (Freedom House 2008b-f), (Worldbank 2008).

Um Lijpharts Methodik an den Ländern anwenden zu können, ist es wichtig, dass sie gefestigte Demokratien sind, die über einen längeren Zeitraum hinweg untersucht werden können. Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay und auch Peru erfüllen dieses Kriterium, da sie zwischen 19 und 25 Jahren redemokratisiert sind (Tab. 2). Neben der Lebensdauer muss überprüft werden, ob die Länder den Anforderungen an eine funktionierende Demokratie entsprechen. Dies kann mit Hilfe des Freedom in the World Indexes, des Stabilitätsindexes nach Kaufmann und des Human Development Indexes nachgeprüft werden. Der wichtigste Index zur Demokratiemessung ist der Freedom in the World Index von Freedom House [8] , da auch Lijphart diese Messung als Auswahlkriterium übernahm, um funktionierende Demokratien von hybriden oder nicht funktionierenden Demokratien zu unterscheiden. Die Freedom in the World Untersuchung ist eine alljährliche Evaluation die den Status von globaler Freiheit – so wie sie individuell wahrgenommen wird – ermittelt. Der Freiheitsgrad ergibt sich aus einem wesentlichen Punkt: Die Möglichkeit der Bürger in weiten Feldern spontan zu handeln ohne darin durch die Regierung oder andere mögliche Kontrollinstanzen beschränkt zu werden. Dabei wird zwischen zwei Kategorien unterschieden: Die politischen Rechte (PR) und die bürgerlichen Freiheiten(BF).[9] Jedem Land und jedem Gebiet wird auf jeweils beiden Achsen ein Wert zwischen 1 und 7 zugewiesen. 1 bedeutet den höchsten Wert an Freiheit, 7 den niedrigsten. Diese Werte klassifizieren die Länder als frei, teilweise frei oder nicht frei [10] (Freedom House 2008a). Lijpharts Messungen können nur an Demokratien durchgeführt werden, die den Status „frei“ aufweisen. Hinsichtlich des Demokratiegrades verzeichnen Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay Werte zwischen 1 und 2 auf der Achse der Bürgerlichen Freiheiten und der Politischen Rechte und können somit als freie Demokratien eingestuft werden (Tab.2). Wichtig ist dabei, dass die Länder schon für einen längeren Zeitraum als freie Demokratien gelten, damit eine valide Messung nach Lijpharts Kriterien möglich ist. Dies ist ebenfalls für die vier Länder zutreffend. Peru hingegen kann nach dem Freedom in the World Index auf der Dimension der Bürgerlichen Freiheiten nur als teilweise frei eingestuft werden (Freedom House 2008b-f).

Zur Demokratiemessung eignet sich des Weiteren der Kaufmann Index. Er misst 6 Dimensionen der Regierungsperformanz der Länder der Welt zwischen 1996 und 2007. Die Dimensionen lassen sich anhand folgender Kategorien unterscheiden:

1. Mitsprache und Verantwortung, 2. Politische Stabilität und Abwesenheit von Gewalt, 3. Regierungseffektivität, 4. die Qualität der Rechtsordnung, 5. Rechtstaatlichkeit und 6. Kontrolle der Korruption.

Das wichtigste Kriterium zur Auswahl der Länder ist hierbei die politische Stabilität. Chile kann die Anforderungen an eine stabile Demokratie von 1996 bis 2007 zu 50-75 % sowie zu 75-90% erfüllen. Uruguay changiert ebenfalls für diesen Zeitraum zwischen den beiden Werten. Argentinien weist bis auf das Jahr 2002 mit einem Ausreißer von 17,3 Prozent durchgehend einen Stabilitätswert von 25-50 Prozent auf und befindet sich seit 2004 in einem deutlichen Aufwärtstrend, der 2007 in einem Wert von 49,5 % kulminierte. Brasilien stellt gegenüber den anderen Demokratien dieser Analyse das politisch instabilste Land dar. Im Jahr 2000 konnte es mit 50% den Maximalwert an Stabilität erzielen, seitdem nahmen die Werte kontinuierlich ab und haben mit 36,5 % im Jahr 2007 den Tiefststand der politischen Stabilität seit 2000 erreicht (Tab.2.). Die Bewertung nach Freedom House erlaubt es jedoch Brasilien in die Analyse mit ein zu beziehen. Peru kann in Sachen Stabilität nur einen durchschnittlichen Index von 17,1 Prozent aufweisen und besitzt somit für die letzten 10 Jahre ein sehr instabiles politisches System (Worldbank 2008).

Ein weiterer Indikator für eine gefestigte Demokratie ist der Human Development Index. Der HDI ermittelt seit 1990 die Ausprägung des Wohlbefindens, als breit definierte Kategorie, in den Ländern der Welt. Dafür werden drei Dimensionen, die sich aus vier Indikatoren zusammensetzen gemessen:

1. Der Lebensstandard: Ein langes und gesundes Leben führen zu können; 2. Bildung: Die Alphabetisierungsrate und die Anzahl der eingeschriebenen Schüler; 3.Der Lebensstandard: BIP pro Kopf (Jahn 2006: 49); (Human Development Report 2008).

Auf einem zwischen 0 und 1 skalierten Index sagen hohe Werte einen hohen Lebensstandard, niedrige einen schlechten Lebensstandard aus. Alle vier Länder können als „high human developed“[11] eingestuft werden (Tab.2) (Human Development Index 2008a-d). Peru hingegen ist nur mittelmäßig entwickelt (Human Development Index 2008e).

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Chile und Uruguay gemeinsam seit 2007 die beiden demokratischsten Länder des Kontinents bilden. Brasilien und Argentinien können als relativ stabile Demokratien eingestuft werden. Peru hingegen stellt für die Untersuchung kein geeignetes Land dar, da es den Anforderungen an eine funktionierende Demokratie nicht gerecht wird.

3.3. Die Ausprägung der lijphartschen Erklärungsvariablen in Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay

Hinsichtlich der lijphartschen Erklärungsvariablen zeigen die Länder dieser Studie große Parallelen auf.

Einen zentralen Punkt bildet das Gesellschaftssystem: Der Behauptung, die vier Länder würden heterogene Gesellschaftssysteme aufweisen, steht eine einheitliche Amtssprache[12] und eine gemeinsame Religion, der Katholizismus, diametral entgegen. Dennoch hat sich in allen vier Ländern eine gesellschaftliche Heterogenität besonders durch naturgeographische Gegebenheiten heraus gebildet. Sie verhinderten eine flächendeckende Besiedlung und die städtische Punktkolonisation. Dies führte zu einer ungleichmäßigen Bevölkerungsverteilung und einer starken Isolierung der urbanen Regionen. Besonders durch klientelistische Herrschaftsstrukturen zur Zeit der Kolonisation wurden die sozialen Schichtungsmuster der einzelnen Gesellschaften zunehmend fragmentiert und regionalisiert (Rinke/Stüwe 2008: 10). Einen letzten zentralen Faktor, der zur Polarisierung der Gesellschaft beiträgt, bildet die große Kluft zwischen den privilegierten Schichten und der armen Bevölkerung in Lateinamerika (Nolte 2003: 167). Nach Lijpharts Erklärungsfaktoren hätten die heterogenen Gesellschaftssysteme der vier Länder die Entwicklung von konsensdemokratischen Institutionen begünstigen können. Dem steht jedoch ihre koloniale Vergangenheit entgegen. Spanien, als ehemaliger Kolonialherr von Chile, Argentinien und Uruguay stellt auf der zweidimensionalen Skala nach Lijphart eine Mischform auf beiden Achsen dar (Lijphart 1999. 248). Es hätte den drei Ländern als Vorbild bei der Wahl des Demokratiemodells gedient und somit die Entwicklung von rein konsensdemokratischen institutionellen Strukturen verhindert haben können. Brasilien, als ehemals portugiesische Kolonie, hat eventuell einem Land im Demokratisierungsprozess nachgeeifert, welches auf der Föderalismus-Unitarismus Dimension hauptsächlich mehrheitsdemokratische Merkmale aufweist und auf der Exekutive-Parteien-Dimension einen Hybrid darstellt (Lijphart 1999. 248). Einen weiteren Punkt bildet der geografische Standort. Lijphart ermittelte, dass sich Nachbarländer hinsichtlich der Demokratieformen ähneln. In Lateinamerika entstehen eher Mischformen, in denen mehrheitsdemokratische Merkmale dominieren. Die Größe der Länder hätte begünstigen können, dass in Uruguay, einem relativ kleinen Land, eine eher zentralistische Staatsform entstand, in Argentinien, Chile und Brasilien hingegen die Macht auf Subinstitutionen aufgeteilt wird.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die möglichen Erklärungsfaktoren nach Lijphart nur schlecht eine Vermutung zulassen, welchem Modell die Länder entsprechen könnten, da sich die Erklärungsfaktoren gegenseitig aufheben. Zu vermuten bleibt jedoch, dass sich die Demokratiemodelle der Länder aufgrund von ähnlichen Rahmenbedingungen ähneln könnten.

4. Zehn Unterscheidungsvariablen – Die Demokratiemodelle von Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay im Vergleich

4.1. Die Kabinettskomposition

Als erstes Unterscheidungsmerkmal von Konsens- und Mehrheitsdemokratien gibt Lijphart die Kabinettskomposition an. Eine Einparteienmehrheitsregierung ist ein klassisches Element der Mehrheitsdemokratie, wohingegen die Aufteilung der Exekutivmacht auf ein Multiparteienkabinett dem Modell der Konsensdemokratie entspricht. Insgesamt können 6 Typen von Koalitionskabinetten unterschieden werden (Tab.3).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: (Lijphart 1999: 91-96).

Für präsidentielle Kabinette, wie in Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien, kann man die 6 Koalitionsformen nicht ohne Einschränkungen übernehmen, denn die Exekutive benötigt nicht zwingend eine Mehrheit im Parlament bzw. geht nicht aus dem Parlament hervor. Die jeweiligen Ausprägungen können nicht genau errechnet werden, da die Datenlage lückenhaft ist. Dennoch kann eine relativ sichere Einschätzung getroffen werden.

4.1.1. Argentinien – Einparteienmehrheitsregierung

Die argentinische Regierung besteht seit der Redemokratisierung 1983 aus Einparteienkabinetten. Lediglich eine Ausnahme bildet der Zusammenschluss der beiden Parteien UCR und FREPASO zu dem Wahlbündnis Alianza, dass von 1999-2001 die Regierung stellte.[13] Allerdings war dies keine Koalition aufgrund programmatischer Vereinbarungen zwischen den Parteien, sondern ein Zusammenschluss mit dem Ziel, die Vorherrschaft der Peronisten zu beenden (Bodemer u.a. 2002: 328-329). Ohnehin kommt es in Argentinien selten zu Wahlbündnissen. Allein die FREPASO kann als ein wirkliches Wahlbündnis angesehen werden, schaffte es aber bisher nicht, eigenständig die Regierung zu bilden

4.1.2. Brasilien – Minimale Mehrheitskoalition

In der Fachliteratur spricht man angesichts des brasilianischen Modells von einem Koalitionspräsidentialismus. Aufgrund des fragmentierten Parteienangebots im Parlament mussten die brasilianischen Präsidenten bisher breite Koalitionen bilden, um regierungsfähig zu sein. Im Rahmen der lijphartschen Koalitionsmodelle können die brasilianischen Kabinette als Minimale Mehrheitskoalitionen eingestuft werden, da programmatische Verbindungen weniger im Vordergrund standen. Den Präsidenten ging es maßgeblich darum, eine Mehrheit im Parlament zu bilden, was zur Folge hatte, dass widersprüchliche Parteiinteressen im Kabinett auf einander prallten. Ein Beispiel für diese „politische Tauschbörse“ bildet die Regierung Lulas, denn er war auf die Unterstützung von bis zu 8 Parteien angewiesen (Costa 2008: 119).

4.1.3. Chile – Minimale Mehrheitskoalition mit programmatischer Verbindung

Das chilenische Kabinett setzt sich aus dem Präsidenten und den von ihm er­nannten Ministern zusammen (Imbusch u.a. 2004: 346). Auch Chile ist ein Beispiel für den Koaliti­onspräsidentialismus, denn seit der Redemokratisierung stand jeder Präsident einer Koalitionsregierung vor (Imbusch u.a. 2004: 360-361). Der Umstand, dass ein Präsidentschaftskandidat mindestens die Hälfte aller Stim­men auf sich vereinen muss[14], um ins Amt gewählt zu werden (Imbusch u.a. 2004: 345), begünstigt die Bildung von Koalitionen. Doch nicht nur wahlstrategische Überlegungen, sondern auch die programmatische Nähe der Par­teien eines Blocks[15] begünstigen Wahlallianzen und Regierungskoalitionen (Imbusch u.a. 2004: 360-361).[16] Durch ein System des reziproken Ausgleichens über Regierungsämter und durch eine hohe Kompromissbereitschaft, herrscht in Chile ein gut funktionierender Koalitionspräsidentialismus, der die Kohäsion zwischen Koalitionspartnern erhöht und die Abstimmung zwischen dem Präsidenten und seiner parlamentarischen Unterstützungsbasis erleichtert (Imbusch u.a. 2004: 361).

[...]


[1] Variable 4, 6, 7, 8, 9, 10 (Tab.1).

[2] Variable 1, 2, 3, 5 (Tab.1).

[3] Einige Indikatoren weichen von denen ab, die Lijphart zur Bestimmung der Merkmalsausprägung vorschlägt. Begründungen dafür werden bei der Anwendung der Indizes in Kap. 4 gegeben.

[4] Von zentralisierter Unitarismus bis dezentralisierter Föderalismus

[5] Von Unikameralismus bis starker Bikameralismus

[6] Von einfachen Mehrheiten bis absoluten Mehrheiten zur Verfassungsänderung

[7] Keine Überprüfung bis stark ausgeprägte Überpüfung

[8] Freedom House ist eine gemeinnützige und unabhängige Organisation, die sich für Demokratie und Freiheit in der ganzen Welt einsetzt. Seit 1972 veröffentlicht Freedom House jährlich eine Bestandsaufnahme über Demokratie und Frieden in 193 Ländern (Freedom House 2008).

[9] Politische Rechte umfassen das Recht der Bürger zwischen klaren Alternativen in legitimierten Abstimmungsverfahren zu wählen, die Möglichkeit sich für öffentliche Ämter zur Wahl zu stellen, sich politischen Parteien und Organisationen anzuschließen und Repräsentanten zu wählen, die eine maßgebliche Bedeutung für die „public policies“ haben und die gegenüber den Wählern Rechenschaft ablegen müssen. Bürgerliche Freiheiten erlauben freie Meinungsäußerung und freien Glauben, geben das Recht sich zu organisieren und zusammenzuschließen sowie das Prinzip der Rechtstaatlichkeit und das Recht auf persönliche vom Staat unabhängige Autonomie (Freedom House 2008a).

[10] Frei: 1-2,5; Teilweise frei: 3-5; Nicht frei: 5,5-7 (Freedom House 2008a).

[11] Ein Wert zwischen 1 und 0.800 bedeutet High Human Development (Human Development Reports 2008).

[13] Vgl. Kap.4.3.1.

[14] Vgl. Kap. 4.3.3.

[15] Vgl. Kap. 4.3.3.

[16] Die Mini­sterposten werden zwischen den Koalitionsbeteiligten im Verhältnis zu ihrem Stim­menanteil verteilt. Die Mitglieder der nachgeordneten Ebene, also die Staatssekre­täre, gehen aus anderen Koalitionsparteien hervor, um die Herausbildung von „par­teipolitischen Fürstentümern“ zu unterbinden und das Koalieren weiter zu fördern (Imbusch u.a. 2004: 362).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836639729
Dateigröße
590 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald – Politikwissenschaften, Politikwissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
mehrheitsdemokratie lijphart lateinamerika konsensdemokratie argentinien
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Titel: Mehrheitsdemokratie versus Konsensdemokratie
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