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Der Zusammenhang zwischen Coca, Drogenwirtschaft und Entwicklung in Bolivien

Eine dependenztheoretisch orientierte Deutung des bolivianischen Coca-Kokain-Komplexes

©2009 Magisterarbeit 148 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Seit mittlerweile über 30 Jahren ist das zentralandine Land Bolivien Schauplatz des Konflikts um die Coca-Pflanze. Im weiten Spannungsbogen des Konflikts kollidieren die traditionelle, mythisch-spirituelle Weltsicht der Indios im Bezug auf die planta divina mit den Verwertungsinteressen der Spaß- und Konsumgesellschaften westlicher Prägung. Als Rohstoff für die Drogenproduktion international geächtet, erwachsen für Bolivien aus der exzessiven Coca-Produktion erhebliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme. In diesem Zusammenhang lassen sich anhand des Coca-Kokain-Komplexes exemplarisch einige typisch entwicklungsgeografische Problemfelder nachzeichnen:
- Die Wirtschaftsstrukturen rund um die Coca sind von reiner Ressourcenextraktion und dem Verbleib des allergrößten Teils der Wertsteigerung in den Konsumentenländern gekennzeichnet. Durch den Umfang der Coca-Kokain-Ökonomie entstehen für Bolivien zudem bei nur geringer Exportdiversifikation prekäre gesamtwirtschaftliche Abhängigkeiten vom Export eines Agrarprodukts und seiner Derivate.
- Durch die weitgehende Illegalität dieses Sektors wird Bolivien international unter erheblichen politischen Druck gesetzt und damit die nationale Selbstbestimmung eingeschränkt. Darüber hinaus wird die nationale Souveränität infolge der nicht angemessenen Beteiligung Boliviens an Entscheidungsprozessen und der Intervention verschiedener nicht-bolivianischer Akteure unterminiert.
- Die rein antidrogenpolitisch motivierte Stigmatisierung der Coca reflektiert nicht ihren traditionellen Stellenwert für die indianischen Gesellschaften und zeigt so die fortgesetzte Nicht-Anerkennung und Nicht-Achtung der Lebens- und Wirtschaftsweisen der bolivianischen Urbevölkerung. Diese Form kultureller Marginalisierung verweist auf die fortgesetzte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Marginalisierung eines Großteils der autochthonen Bevölkerung. Im Rahmen eines neu aufkeimenden indianischen Selbstbewusstseins im Kampf um die indigene Emanzipation gewinnt dieser Umstand erheblich an gesellschaftlicher Brisanz und Sprengkraft.
An diesen Gegebenheiten hat sich trotz eines über 20 Jahre währenden, intensiven Antidrogenkrieges nur wenig geändert. Die zahllosen antidrogenpolitischen Strategien können damit weitgehend als gescheitert angesehen werden. Die grundsätzlich veränderten politischen Konstellationen des Landes nach den Wahlen im Dezember 2005 leisteten jedoch einer […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Göran Wiebke
Der Zusammenhang zwischen Coca, Drogenwirtschaft und Entwicklung in Bolivien
Eine dependenztheoretisch orientierte Deutung des bolivianischen Coca-Kokain-
Komplexes
ISBN: 978-3-8366-4563-8
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg im Breisgau, Deutschland,
Magisterarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Dem Andenken an meinen Vater gewidmet

Danksagung
Mein Dank gilt zunächst meiner Mutter, meiner Großmutter und meiner Tante, drei starken
Frauen, ohne die mir die Welt noch immer ein Fleck auf einer weißen Karte wäre,
des Weiteren meiner Schwester und meiner Tante für ihre sicher mühselige Arbeit bei der
Korrektur,
allen, die mich bei dieser Arbeit und im Leben in Bolivien unterstützt haben, insbesondere
meinen zahlreichen, interessanten Interviewpartnern und Herrn Lic. Edgar Humerez Tito von
der UMSA
sowie Herrn HD Dr. Dittrich für die kollegiale Betreuung und Beratung während der guten
und der nicht so guten Phasen einer Magisterarbeit
und ferner allen meinen Freunden, die mich bei dieser Arbeit mal unterstützt und mal
abgelenkt haben, und zwar für beides gleichermaßen.

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
A:
THEORETISCHE EINBETTUNG
1.
Entwicklungsbegriff und Entwicklungsziele
6
2.
Entwicklungstheoretische Einbettung
9
2.1
Dependenztheoretische Grundaussagen und -annahmen
9
2.2
Die Dependenztheorien in der entwicklungstheoretischen Diskussion
18
2.3
Rechtfertigung der theoretischen Einbettung
20
2.3.1
Die Aktualität dependenztheoretischer Prämissen vor dem gewandelten
Hintergrund des 21. Jahrhunderts
20
2.3.2
Dependenztheoretische Prämissen im bolivianischen Kontext
22
B:
BOLIVIEN: RAHMENBEDINGUNGEN DES COCA-KOKAIN-KOMPLEXES
1.
Botanische Grundlagen und Einordnung der Anbaugebiete
23
1.1
Botanische Grundlagen
23
1.2
Physiologische Eigenschaften des Coca-Blattes
24
1.3
Beschreibung der Anbaugebiete
25
2.
Kulturhistorischer Überblick über Nutzung
und Verbreitung des Coca-Blattes
29
2.1
Coca in den präkolumbianischen Kulturen
29
2.2
Die aktuelle kulturelle und soziale Funktion der Coca in den indianisch geprägten
Gesellschaften des bolivianischen Andenraums
30
2.2.1
Religiös-ritueller Gebrauch
30
2.2.2
Medizinischer Gebrauch
31
2.2.3
Sozialer Gebrauch
31
2.2.4
Aufputschender Gebrauch
32
2.2.5
Die Verbreitung traditioneller Coca-Nutzung in Bolivien
32

3.
Drogenkonsum und Drogenhandel
34
3.1
Kokainherstellung
34
3.2
Kokainkonsum in den USA, Europa und Lateinamerika
35
3.3
Internationaler Drogenhandel
36
4.
Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Rahmenbedingungen in Bolivien
37
4.1
Abriss der jüngeren bolivianischen Geschichte
seit der nationalen Revolution 1952
37
4.2
Wirtschaftliche Kenndaten
40
4.3
Gesellschaftliche Kenndaten
41
C:
DER COCA-KOKAIN-KOMPLEX IN BOLIVIEN
1.
Der Bedeutungswandel der Coca von der Konquista
bis zum Drogenrohstoff
42
1.1
Kirche, Silber und Coca
42
1.2
Coca im Wandel veränderter Nutzungsmöglichkeiten
44
1.3
Das Einheitsabkommen zu Betäubungsmitteln der UNO 1961
45
2.
1971-1987: Militärdiktatoren und Kokainmafia.
Die Entstehung der bolivianischen Kokain-Ökonomie
46
2.1
Die Entstehung der Kokain-Ökonomie unter Banzer
46
2.2
Die Narcocracia
49
2.3
Nach der Demokratisierung
51
2.3.1
Migrationsbewegungen in den Chapare
51
2.3.2
Militarisierung und soziale Konflikte
53
2.3.3
Alternative Entwicklung
56
3.
1987-2005: Der Krieg gegen die Drogen.
Bolivianische Drogenkontrollpolitik unter US-amerikanischen Vorzeichen 58
3.1
Internationaler Rahmen der Drogenkontrollpolitik
58
3.1.1
Multilaterale Übereinkünfte
58
3.1.2
Grundlagen US-amerikanischer Drogenkontrolle im Ausland
59
3.1.3
Bilaterale Verträge
62

3.2
Antidrogenstrategien in Bolivien
64
3.2.1
Der ,,Plan trienal" und die Gründung der bolivianischen
Drogenkontrollinstitutionen
64
3.2.2
Das Gesetz 1008
65
3.2.3
Bolivianische Ansätze
66
3.2.4
Die Opción Cero und der Plan für die Würde
68
3.2.5
Der Niedergang US-amerikanisch-bolivianischer Ansätze
der Drogenkontrolle
70
3.2.6
Militärisch-polizeiliche Interdiktionsmaßnahmen
72
3.3
Soziale Widerstandsbewegungen
73
3.4
Alternative Entwicklung
76
4.
2005-2008: Der bolivianische Weg. Entwicklung mit Coca
79
4.1
Die politische Situation Boliviens nach der Wahl 2005
79
4.2
Eckpfeiler der neuen Coca-Politik
81
4.2.1
Normativer Rahmen
81
4.2.2
Neuerungen im institutionellen Rahmen
84
4.3
Umsetzung und Einschätzung
85
D: DER BOLIVIANISCHE COCA-KOKAIN-KOMPLEX IM LICHTE
DEPENDENZTHEORETISCHER MODELLVORSTELLUNGEN
1.
Grundlagen: Das Einheitsabkommen von 1961
und die revalorización der Coca
89
2.
Wirtschaft
91
3.
Politik
98
4.
Sozialer Kontext
102
5.
Entwicklung
104
Schlussbetrachtung und Ausblick
106

Anhang
Verzeichnis der besuchten Bibliotheken
112
Verzeichnis der Interviews
113
Abbildung 1: Nährwertvergleich von 100g Coca-Blättern mit 50 pflanzlichen
lateinamerikanischen Nahrungsmitteln
117
Karte 1:
Coca-Anbau in Bolivien, 2007
118
Karte 2:
Coca-Anbau in den Yungas und Apolo, 2007
119
Karte 3:
Coca-Anbau im Chapare, 2007
120
Tabelle 1:
Prävalenzen des Kokainkonsums 2007 oder letztes verfügbares Jahr in
ausgewählten Ländern und Regionen
121
Tabelle 2:
Prävalenzen des Crack- und pasta base-Konsums 2007 in ausgewählten
Ländern
121
Tabelle 3:
Coca-Anbau und Erradikation in Bolivien 1970 - 2008, nach Regionen 122
Abbildung 2: Coca-Anbau und Alternativer Anbau im Chapare 1976 - 2003
124
Tabelle 4:
Bolivien: Coca-Kokain-Ökonomie 1980
125
Tabelle 5:
Bolivien: Coca-Kokain-Ökonomie 1993
126
Tabelle 6:
Bolivien: Coca-Kokain-Ökonomie 2007
127
Literaturverzeichnis
129

Abkürzungsverzeichnis
ADEPA
Asociación de Productores de Algodón
ADEPCOCA
Asociación Departamental de Productores de Coca
ALBA
Alternativa Bolivariana para las Américas
ALCA
Area de Libre Comercio de las Américas
ATPDEA
Andean Trade Promotion and Drug Eradication Act
BC
Base de Cocaína
BIP
Bruttoinlandsprodukt
BSP
Bruttosozialprodukt
CAN
Comunidad Andina de Naciones
COB
Central Obrera Boliviana
COFECAY
Consejo de Federaciones Campesinas de los Yungas
CONALID
Consejo Nacional contra el Uso Indebido y el Tráfico Ilícito de Drogas
CSUTCB
Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia
DEA
Drug Enforcement Administration
DIGPROCOCA
Dirección General de Desarrollo Integral de las Regiones Productores
de Coca
DOS
Department of State
EL
Entwicklungsland
EU
Europäische Union
FELCN
Fuerza Especial de Lucha contra el Narcotráfico
FOL
Forward Operation Location
FTC
Fuerza de Tarea Conjunta
HCl
Kokainhydrochlorid
HDI
Human Development Index
IDH
Impuesto Directo a los Hidrocarburos
IL
Industrieland
INE
Instituto Nacional de Estadística
IWF
Internationaler Währungsfonds
Jh.
Jahrhundert
LIC
Low Intensity Conflict
MAS-IPSP
Movimiento al Socialismo-Instrumento Político por la Soberanía de los
Pueblos
MERCOSUR
Mercado Común del Sur

MIR
Movimiento de Izquierda Revolucionaria
NBI
Necesidades Básicas Insatisfechas
NAS
Narcotic Affairs Section
NPE
Nueva Política Económica
PBC
Pasta Básica de Cocaína
PIDYS
Plan Integral de Desarrollo y Sustitución de Cultivos de Coca
PND
Plan Nacional de Desarrollo
PRODES
Proyecto de Desarrollo Chapare ­ Yungas
SOA
School of the Americas
UMOPAR
Unidad Móvil de Patrullaje Rural
UNDCP
Unites Nations Drug Control Programme
UNODC
United Nations Office on Drugs and Crime
USAID
United States Agency for International Development
VCDI
Viceministerio de Coca y Desarrollo Integral
VDS-SC
Viceministerio de Defensa Social y Sustancias Controladas
WHO
World Health Organisation

1
Einleitung
Seit mittlerweile über 30 Jahren ist das zentralandine Land Bolivien Schauplatz des Konflikts
um die Coca-Pflanze. Im weiten Spannungsbogen des Konflikts kollidieren die traditionelle,
mythisch-spirituelle Weltsicht der Indios im Bezug auf die planta divina mit den
Verwertungsinteressen der Spaß- und Konsumgesellschaften westlicher Prägung. Als
Rohstoff für die Drogenproduktion international geächtet, erwachsen für Bolivien aus der
exzessiven Coca-Produktion erhebliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Probleme. In diesem Zusammenhang lassen sich anhand des Coca-Kokain-Komplexes
exemplarisch einige typisch entwicklungsgeografische Problemfelder nachzeichnen:
Die Wirtschaftsstrukturen rund um die Coca sind von reiner Ressourcenextraktion und dem
Verbleib des allergrößten Teils der Wertsteigerung in den Konsumentenländern
gekennzeichnet. Durch den Umfang der Coca-Kokain-Ökonomie entstehen für Bolivien
zudem bei nur geringer Exportdiversifikation prekäre gesamtwirtschaftliche Abhängigkeiten
vom Export eines Agrarprodukts und seiner Derivate.
Durch die weitgehende Illegalität dieses Sektors wird Bolivien international unter
erheblichen politischen Druck gesetzt und damit die nationale Selbstbestimmung
eingeschränkt. Darüber hinaus wird die nationale Souveränität infolge der nicht
angemessenen Beteiligung Boliviens an Entscheidungsprozessen und der Intervention
verschiedener nicht-bolivianischer Akteure unterminiert.
Die rein antidrogenpolitisch motivierte Stigmatisierung der Coca reflektiert nicht ihren
traditionellen Stellenwert für die indianischen Gesellschaften und zeigt so die fortgesetzte
Nicht-Anerkennung und Nicht-Achtung der Lebens- und Wirtschaftsweisen der
bolivianischen Urbevölkerung. Diese Form kultureller Marginalisierung verweist auf die
fortgesetzte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Marginalisierung eines Großteils
der autochthonen Bevölkerung. Im Rahmen eines neu aufkeimenden indianischen
Selbstbewusstseins im Kampf um die indigene Emanzipation gewinnt dieser Umstand
erheblich an gesellschaftlicher Brisanz und Sprengkraft.
An diesen Gegebenheiten hat sich trotz eines über 20 Jahre währenden, intensiven
Antidrogenkrieges nur wenig geändert. Die zahllosen antidrogenpolitischen Strategien können
damit weitgehend als gescheitert angesehen werden. Die grundsätzlich veränderten

2
politischen Konstellationen des Landes nach den Wahlen im Dezember 2005 leisteten jedoch
einer gänzlich neuen Herangehensweise an die Problematik Vorschub, die insbesondere aus
drei politischen Prämissen von Präsident und Regierungspartei herrührt:
-
der Rolle und Bedeutung von Morales als erstem indigenen Präsidenten Südamerikas
-
der politischen Herkunft Morales' aus der Coca-Bauernbewegung
-
der sozialistischen Ausrichtung der Regierungspartei
Vor diesem Hintergrund sind neue Untersuchungen, die sowohl die historischen Strukturen
und Prozesse als auch mögliche aktuelle Veränderungen in den genannten Problemfeldern
unter den veränderten politisch-ökonomisch-sozialen Vorzeichen analysieren, absolut
notwendig. Durch die Ergebnisse solcher Studien wird es möglich, die Auswirkungen einer
veränderten Coca-Politik zu vergleichen und zu bewerten. Eine theoretisch stringente
Untersuchung, die sowohl die historischen als auch die aktuellen Entwicklungen des Coca-
Kokain-Komplexes einbezieht, steht trotz der Fülle von Sekundärmaterial bisher noch aus.
Die vorliegende Arbeit will in bescheidenem Rahmen einen Beitrag leisten, diese Lücke
schließen zu helfen.
Die Untersuchungen dieser Arbeit werden in den theoretischen Rahmen der
Dependenztheorien eingebettet, da sie einen konsistenten Erklärungszusammenhang der oben
genannten Problemfelder anzubieten scheinen. Gleichwohl soll im Hinblick auf die
entwicklungstheoretische Debatte dieser Rahmen nicht allzu eng aufgefasst werden. Weder
wird ein globaler Gültigkeitsanspruch postuliert, noch wird angenommen, dass alle Theoreme
im konkreten Fall zwingend gleichermaßen zutreffend sein müssen. Vielmehr sollen sie als
theoretisches Modell verstanden werden, das es ermöglicht, sich einem Verständnis des
Zusammenhangs von Entwicklung mit Strukturen und Prozessen des Coca-Kokain-
Komplexes anzunähern. Insofern handelt es sich also bei der Untersuchung um eine
theoriegeleitete Studie, in der Aktualität und Gültigkeit modelltheoretischer Annahmen
anhand eines konkreten Fallbeispiels überprüft werden sollen.
Die konkreten Zielsetzungen dieser Arbeit sind mit Bezug auf die oben genannten
Problemfelder:
1.
den Coca-Kokain-Komplex und seine historische Genese im undogmatisch
aufgefassten, dependenztheoretischen Rahmen darzustellen

3
2.
die inhärenten Strukturen und Prozesse des Coca-Kokain-Komplexes zu analysieren
und im Bezug auf ihre Auswirkungen auf eine dependenztheoretisch verstandene
Entwicklungskonzeption zu bewerten
Zur Untersuchung dieser Fragestellungen wurden anlässlich eines Forschungsaufenthaltes
zwischen Februar und August 2008 intensive Recherchen durchgeführt. Dabei konnte neben
der gezielten Untersuchungsarbeit ganz allgemein ein Bild vom Land und der Thematik
gewonnen werden. Die Beantwortung der untersuchten Fragestellungen wird durch die
Auswertung
und
argumentative
Kontextualisierung
der
im
Rahmen
des
Forschungsaufenthaltes gewonnenen oder anderweitig verfügbaren Sekundärmaterialien
erfolgen.
Konkret wurden folgende methodische Schritte durchgeführt:
Intensive Bibliotheksrecherche
(Verzeichnis der besuchten Bibliotheken im Anhang.)
Ausgiebige Interviews mit Experten fast aller relevanten Bereiche
(Verzeichnis der Interviews im Anhang.)
1
Zeitungsrecherche in deutschen, bolivianischen und anderen Tages-, Wochen- und
Fachzeitungen
Internetrecherche auf einschlägigen Seiten und in dort veröffentlichten Dokumenten
Beschaffung öffentlichen und nicht-öffentlichen Daten- und Informationsmaterials
Intensive teilnehmende Beobachtung der politischen und sozialen Prozesse im Land mit
besonderem Fokus auf die Problematik der refundación (Neugründung) Boliviens und
die Coca-Thematik
Im Verlaufe der Untersuchung stellte sich heraus, dass viele der notwendigen Daten nicht zu
beschaffen oder sehr widersprüchlich waren. Dies liegt vor allem an folgenden Eigenheiten
des Untersuchungsgegenstandes:
-
Drogenhandel: Diese illegale Wirtschaftsaktivität nicht wird offiziell erfasst, sie hat
per se das Bestreben, unentdeckt zu bleiben und verfügt über potente Schutzpatrone.
-
Politischer
Gehalt:
Die
Problematik
ist
explizit
politisch
gefärbt,
die
Datenhandhabung, -erfassung und -publizierung hat daher erhebliche politisch-
1
Nur die US-Botschaft, USAID und die DEA haben trotz mehrfacher und langfristiger Anfragen ein Interview
verweigert.

4
ökonomische Konsequenzen, wodurch Daten nicht nur wissenschaftlich, sondern nach
politischem Kalkül zu betrachten sind.
-
Insuffizienz des bolivianischen Staates: Für eine adäquate, konsequente und
transparente Handhabung der Thematik fehlen finanzielle, logistische, personelle und
institutionelle Ressourcen.
-
Geografische Schwierigkeiten: Durch die Lage der Anbaugebiete und Boliviens an
sich wird die Kontrolle von Coca- und Drogenproduktion sowie deren Handel
erheblich erschwert. In den Produktionsgebieten, aber auch in den größtenteils
unerschlossenen Grenzgebieten ist der Staat in weiten Teilen nicht oder kaum präsent.
Hinzu kommen die Bedeutung nicht-quantifizierbarer Sachverhalte in dependenztheoretischen
Ansätzen sowie die angesichts der Komplexität der behandelten Problemstellungen sehr
beschränkten Möglichkeiten einer angemessenen, vollständigen und tiefgehenden Analyse im
Rahmen einer studentischen Magisterarbeit.
Trotz des bedeutenden illegalen Anteils dieses Wirtschaftssektors soll hier betont werden,
dass die Mechanismen des Handels auf dieses Gut wie auf jedes andere zutreffen.
2
Die
Illegalität führt lediglich dazu, dass Gewinnspannen höher ausfallen und politische und
polizeilich-militärische Kontrollmaßnahmen mit einem ungestörten Handelsverlauf
interferieren.
Die Drogenkontrolle gliedert sich in vier Teilbereiche:
-
Prävention und Rehabilitation: Vorbeugung von Drogenkonsum und Wieder-
eingliederung ehemaliger Konsumenten
-
Erradikation: Vernichtung von Pflanzen, die als Drogenrohstoff dienen können
-
Interdiktion: polizeiliche Arbeit zur Unterbindung von Drogenproduktion und -handel
sowie zugehöriger Delikte
-
Alternative Entwicklung: produzentenbezogener Entwicklungsansatz zur Schaffung
ökonomischer Alternativen zur Drogenpflanzenproduktion
Die Arbeit wird die genannten Fragestellungen vor dem geografischen Hintergrund Boliviens
bearbeiten. Dazu muss eingeschränkt werden, dass ein konkreter räumlicher Bezug aufgrund
der Problemstellung als Makroanalyse eines ursächlich internationalen Problemkomplexes
nur bedingt gelten kann. Zentrale analytische Kategorien wie zum Beispiel Abhängigkeit
können nur anhand des Abstraktums des politischen Raumes, beziehungsweise des
2
Dietz (1990), S. 71

5
Wirtschaftsraumes Boliviens erarbeitet werden. Ein konkret eingrenzbarer räumlicher Bezug
ist hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Coca-Anbau, den Erradikationsmaßnahmen und
der Produktion von und dem Handel mit Drogen gegeben. Außerdem waren die sozialen
Konflikte
größtenteils
an
die
Produktionsgebiete
gebunden,
wie
auch
die
drogenkontrollpolitisch motivierten Maßnahmen der alternativen Entwicklung sich direkt auf
Coca-Anbau- und Abwanderungsgebiete konzentrieren. Lediglich für diese Bereiche lässt
sich die Analyse also gezielt räumlich abgrenzen.
Der zeitliche Horizont der Untersuchung wird vom Gegenstand bestimmt. Eine organisierte,
explizit international ausgerichtete Drogenproduktion entstand in Bolivien erstmals unter dem
Diktator Hugo Banzer Suárez, der 1971 die Macht ergriff. Alle folgenden Entwicklungen sind
bis ungefähr August des Jahres 2008 berücksichtigt. Daten zu Coca-Anbau und Wirtschaft
lagen für 2008 noch nicht vor, sodass viele aktuelle Aspekte mit Bezug auf das Jahr 2007
dargestellt werden.
Die Arbeit formuliert im ersten Abschnitt A den zugrunde liegenden Entwicklungsbegriff (A:
1). Nach der Darstellung der Dependenztheorien und ihrer Grundannahmen (A: 2.1) werden
diese in der entwicklungstheoretischen Diskussion verortet (A: 2.2). Anschließend wird kurz
die Auswahl dieses theoretischen Ansatzes begründet (A: 2.3). Der folgende Abschnitt B
stellt die allgemeinen Rahmenbedingungen des bolivianischen Coca-Kokain-Komplexes vor.
Nach der botanischen und physiologischen Charakterisierung des Coca-Blatts (B: 1.1 - 1.2)
werden die Anbaugebiete vorgestellt (B: 1.3). Anschließend wird ein kulturhistorischer
Überblick über die Verwendung der Coca im lateinamerikanischen und bolivianischen
Kontext gegeben (B: 2). Darauf folgt die Darstellung der Problematik des weltweiten
Kokainkonsums und -handels. Auch auf die Grundlagen der Kokain-Herstellung wird an
dieser Stelle eingegangen (B: 3). Das abschließende Kapitel (B: 4) widmet sich der
Beschreibung der geschichtlich-politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Grundlagen des heutigen Boliviens. Der folgende Hauptteil der Arbeit (C) beschreibt die
Entwicklung des Coca-Kokain-Komplexes in Bolivien. Dabei wird zunächst kurz auf
historische Entwicklungen eingegangen (C: 1.1 - 1.2) und anschließend mit der Darstellung
des UN-Einheitsabkommens zu Betäubungsmitteln die Grundlage der internationalen
Drogenkontrolle vermittelt (C: 1.3). Anschließend werden die eigentlichen Entwicklungen des
bolivianischen Coca-Kokain-Komplexes ausgeführt. Die Entwicklungen werden in drei
Phasen eingeteilt. Die erste Phase markiert Entstehung und ersten Boom der bolivianischen
Kokain-Ökonomie (C: 2). Ab 1987/88, dem Beginn der zweiten Phase (C: 3), wurde im Land

6
durch die Schaffung eines umfangreichen rechtlichen und institutionellen Rahmens der
Drogenkontrolle der Kampf gegen den Drogenhandel aufgenommen. In der letzten Phase
hatte 2005 eine aus der Coca-Bauernbewegung stammende Regierung die Macht
übernommen und es wurde versucht, neue und eigenständige Wege in der Coca-Politik zu
gehen (C: 4). In dem abschließenden Analyseabschnitt D werden die Auswirkungen der
historischen und aktuellen Entwicklungen des Coca-Kokain-Komplexes auf die
dependenztheoretisch verstandene Entwicklungskonzeption untersucht.
A: THEORETISCHE EINBETTUNG
1.
Entwicklungsbegriff und Entwicklungsziele
Der Versuch der Definition von Entwicklung ist ein kontroverser und bis heute nicht
abgeschlossener Prozess. Durch den Verlauf der akademischen Debatte, die Einsicht in Fehler
und Erfolge angewandter Entwicklungsstrategien und sich verändernde ideologische
Grundsätze war und ist der Entwicklungsbegriff vielfachen Änderungen und Erweiterungen
unterworfen. Eine zunächst rein ökonomisch fixierte Auffassung von Entwicklung wurde
allmählich um strukturelle, soziale und ökologisch-nachhaltigkeitsbezogene Aspekte
erweitert. Heute hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Entwicklung ein komplexes und
multidimensionales Phänomen ist, das womöglich nicht end- oder allgemeingültig definiert
werden kann.
3
Dennoch ergibt sich aus den drängenden Entwicklungsproblemen der Zeit und
zur Konzipierung und Bewertung von entwicklungspolitischen Strategien die Notwendigkeit,
einen operablen und möglichst quantifizierbaren Entwicklungsbegriff zu finden.
4
Entwicklung ist notwendigerweise ein Begriff mit normativem Anspruch und hängt
dementsprechend auch von ethisch-moralischen oder auch ideologischen Wertvorstellungen
ab. Damit ergibt sich automatisch die Frage nach der Legitimität der Begriffsbestimmung.
Eine wie auch immer geartete Definition ist naturgemäß subjektiv und kulturell geprägt und
ebenso wie das zu Definierende einem steten Wandel unterworfen.
5
Von den verschiedenen in
der Literatur angebotenen Zugangsmöglichkeiten erscheint daher der Zugang über den
internationalen Konsens ­ wenn auch dieser nicht frei von Kritik sein kann
6
­ in diesem Sinne
als am ehesten gerechtfertigt. Dementsprechend gilt als Ziel von Entwicklung die Umsetzung
der 1948 im Rahmen der Vereinten Nationen festgelegten allgemeinen Menschenrechte und
3
Wagner und Kaiser (1995), S. 4
4
Quantifizierende Ansätze reduzieren zweifellos ein komplexes Phänomen auf wenige Indikatoren. Da aber
,,Entwicklung in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen und zu quantifizieren [...] utopisch erscheint" (ebd.,
S. 16), sollte ein möglichst repräsentativer aggregierter Index konstruiert werden. Einen dahin gehenden
Versuch stellt der Human Development Index (HDI) der UNO dar.
5
Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 48
6
Vergl. ebd., S. 53

7
ihrer nachfolgenden Erweiterungen und Modifizierungen. Nach diesen Maßgaben lautet das
allgemeine Oberziel von Entwicklung: Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen.
7
Den Versuch, dieses Oberziel in bewertbare Teilziele aufzugliedern, stellt das von Nohlen
und Nuschler erarbeitete ,,Magische Fünfeck von Entwicklung" dar. Mit Bezug auf die von
den internationalen Organisationen proklamierten Entwicklungsziele stellen sie einen in fünf
Teilaspekte gegliederten Zielkatalog auf, der alle grundlegenden strukturellen und
prozesshaften Aspekte von Entwicklung und Unterentwicklung erfassen will. Er deckt sich
weitestgehend, wenn auch mit anderer Prioritätensetzung, mit den von den
Dependenztheorien postulierten Zielen: Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit, Wachstum
und Partizipation (vergl. Kap. A: 2.1) und wird daher im Rahmen dieser Magisterarbeit als
Zielvorstellung von Entwicklung übernommen.
1.
Wachstum: Die Versorgung der Bevölkerung mit elementaren Grundgütern hat zur
Voraussetzung, dass diese Güter produziert oder importiert werden. Wachstum ist
so, trotz aller Kritik, eine ,,unverzichtbare Strategiekomponente"
8
der
Entwicklungspolitik. Nuschler schränkt jedoch ein, dass dieses Wachstum drei
Forderungen erfüllen müsse, um nicht zum ,,Wachstum ohne Entwicklung"
9
zu
verkommen:
- Es müsse sozialverträglich und durch eine gerechte Verteilung seiner
Wohlstandseffekte
zur
gesamtgesellschaftlichen
Wohlstandsvermehrung
eingesetzt werden.
- Es müsse umweltverträglich und nachhaltig im Sinne des sustainable
development sein, um nicht langfristig Entwicklungspotenziale zu zerstören.
- Es müsse arbeitsintensiv sein, um nicht in dem Phänomen ,,Wachstum ohne
Beschäftigung"
10
zu münden.
2.
Arbeit: Arbeit ist ,,ein unverzichtbares Kernelement"
11
von Entwicklung, da sie bei
menschenwürdigen Bedingungen und angemessener Entlohnung:
- Eine reichlich vorhandene Entwicklungsressource nutzt.
- Sie die individuellen Möglichkeiten schafft, dass Menschen aus eigener Kraft
ihre Fähigkeiten entfalten, Armut überwinden und soziale Integration erreichen
(self-reliance).
7
Nuschler (1996), S. 188
8
Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 58
9
Nuschler (1996), S. 189
10
Ebd., S. 189
11
Ebd., S. 190

8
- Sie sozialethisch wertvoll die Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung und
Selbstwertschätzung des Menschen fördert.
3.
Gerechtigkeit / Gleichheit: Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit bildet ,,das
notwendige qualitative Korrektiv zu Wachstum"
12
, indem sie die gerechte
Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts auf die Erzeuger im nationalen
wie auch im internationalen Maßstab anstrebt. Als Gegenteil von karitativer
Nothilfe zielt sie zudem auf eine langfristige Veränderung der Struktur der
Unterentwicklung ab und stellt damit im extremsten Fall die Systemfrage.
Insgesamt stellt die ,,Herstellung sozialer Gerechtigkeit ein Wesensmerkmal echter
Entwicklung"
13
dar.
4.
Partizipation: verlangt, indem sie dem Konzept von Marginalität konträr
entgegensteht, ,,die Mitwirkung am politischen Entscheidungsprozeß und [...] die
Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft".
14
Sie zielt
darauf ab, die Menschen anhand von empowerment und struktureller
Transformation zu Trägern ihrer eigenen Entwicklung zu machen und fördert
damit auch die Idee der self-reliance. Insgesamt gehe Partizipation über die
Erfüllung
des
liberal-demokratischen
Freiheitsbegriffs
hinaus
und
sei
,,unaufhebbar mit menschenrechtlichen Mindestnormen verbunden"
15
und ist
damit ein integraler Bestandteil erfolgreicher Entwicklung.
5.
Unabhängigkeit: wird als die Souveränität der Staaten verstanden, ihr politisches,
ökonomisches, kulturelles und soziales System selbstbestimmt zu wählen und ist
in diesem Sinne auch in den Artikeln 1 und 2 der ,,Charta der wirtschaftlichen
Rechte und Pflichten der Staaten" festgehalten worden. Die daraus resultierenden
Forderungen unterschiedlicher politischer Stoßrichtungen nach größeren innen-
und außenpolitischen Handlungsspielräumen der EL heben letztlich auf die
Vorstellung ab, dass ,,Entwicklung [...] gleichbedeutend mit wachsender
individueller und kollektiver Eigenständigkeit"
16
ist.
Durch die Zusammenschau prozesshafter und struktureller Aspekte von Entwicklung wird
hier deutlich, dass sich die Messung und Bewertung von Entwicklung nicht in der
Zustandsbeschreibung innerhalb eines gedachten Prozesses erschöpfen kann, sondern dass
12
Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 60
13
Nyerere-Bericht, zitiert in: Nuschler (1996), S. 194
14
Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 62
15
Ebd., S. 63
16
Nyerere-Bericht, zitiert in ebd., S. 197; vergl. auch Bratzel (1978), S. 7, Anm. 2

9
Aspekte, die zur Perpetuierung oder Überwindung von Unterentwicklung ausschlaggebend
sind, berücksichtigt werden müssen. Strategische Handlungsanweisungen zur Umsetzung
dieser Teilziele können nur auf der Grundlage eines konsistenten theoretisch-empirisch
fundierten Modells von Entwicklung erarbeitet werden. Doch sind an dieser Stelle die
Grenzen internationaler Übereinkünfte erreicht und es wird der Bereich akademischer und
ideologischer Diskussion und Kontroversen rund um die Entwicklungstheorien beschritten.
2.
Entwicklungstheoretische Einbettung
2.1
Dependenztheoretische Grundaussagen und -annahmen
Die Dependenztheorien wurden Ende der 1960er Jahre in Lateinamerika speziell zur
Erklärung lateinamerikanischer Entwicklungsproblematiken entwickelt. In ihrer Konzeption
setzten sie sich bewusst von den bis dahin gängigen wirtschafts- und wachstumsorientierten
Modernisierungstheorien ab. Durch das allmählich offenbar werdende Scheitern der
modernisierungstheoretischen Ansätze wurde auch die gesamte ideologische Basis dieser
Theorien in Frage gestellt. Nicht nur der kapitalistische Weltmarkt, sondern auch die
nationalen Bourgeoisien waren damit als Träger von Entwicklung diskreditiert.
Demgegenüber eröffnete das weltweite Aufkommen linker, sozialrevolutionärer Bewegungen
und der Erfolg der kubanischen Revolution die Perspektive der sozialistischen Revolution als
gangbaren alternativen Entwicklungsweg.
17
Der Klassenkampf sollte nach dieser
Interpretation das Mittel zur Überwindung der dualistischen Strukturen in den Ländern
Lateinamerikas sein.
18
Damit war der Weg zu Rezeption und Adaption marxistisch-
leninistischen
Gedankenguts
für
die
Dependenztheorien
bereitet.
Nach
Marx'
Wirtschaftslehre liegt das Ziel kapitalistischer Produktion nicht in der Bedarfsdeckung,
sondern in der Kapitalakkumulation. Daraus resultiert ein Grundwiderspruch zwischen der
Produktion und der Aneignung eines Gutes. Diese Diskrepanz ist Ausdruck gesellschaftlich-
struktureller Machtverhältnisse, die nur durch die sozialistische Revolution überwunden
werden können. Lenin weitete diesen Gedanken in seiner Imperialismus-Theorie auf die
Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonien und den Kolonialmächten aus. Durch den
Verbund privatwirtschaftlicher und nationalstaatlicher Interessen würden Strukturen der
17
Diese wurde ,,konstitutiv für das Denken der Dependenztheoretiker"; Dieterich (1981), S. 21; ,,Den Einfluss,
den die kubanische Revolution [...] auf das sozialwissenschaftliche Denken in Lateinamerika hatte[n], darf
hierbei nicht unterschätzt werden"; Gerlach, Kalmring, Kumitz, et al. (Hg.) (2004), S. 195f
18
Die Dependenztheoretiker hatten ,,für sich die Schlussfolgerung gezogen [...], daß das Problem der
Unterentwicklung eine Frage des Klassenkampfes und demgemäß auch nur als solches zu lösen war."
Dieterich (1981), S. 21

10
Ausbeutung und Abhängigkeit entstehen, die durch die Ausübung politischer Macht
zementiert würden.
Mit der Übernahme dieser Grundannahmen erhoben die Dependenztheorien für sich einen
universellen,
historischen
und
globalen
Gültigkeitsanspruch.
Somit
stellen
die
Dependenztheorien den Versuch dar, die historisch-strukturelle Entstehung von Entwicklung
und Unterentwicklung in einer kohärenten und allgemeingültigen Theorie zu erklären.
19
Im
Gegensatz zu anderen Entwicklungstheorien heben sie dabei die Bedeutung exogener
Verursachungsfaktoren für die Entstehung der Unterentwicklung hervor. Entsprechend ihrer
marxistisch-leninistischen
Ausrichtung
ist
der
argumentative
Ausgangpunkt
der
Dependenztheorien das System des weltweiten Kapitalismus. Die Integration weiter Teile der
Welt in das entstehende System der internationalen Arbeitsteilung im Rahmen des
Kolonialismus wird als Beginn der Prozesse von Entwicklung und Unterentwicklung gesehen.
Anders als in den Modernisierungstheorien werden Entwicklung und Unterentwicklung dabei
nicht als zwei aufeinander folgende Phasen, sondern als sich gegenseitig bedingende
Ausprägungen des gleichen sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Prozesses
verstanden.
20
Die Unterentwicklung des einen stellt sich somit als die Kehrseite der
Entwicklung des anderen dar und wird im Rahmen des kapitalistischen Weltsystems
insbesondere über dessen historisch-strukturelle Bedingtheiten vermittelt.
21
Diese Vorstellung
wird im namensgebenden Zentralkonzept der Abhängigkeit widergespiegelt (dependencia
(span.) = Abhängigkeit). Im Verlauf der Kolonisationsprozesse hätte sich zwischen EL und IL
eine asymmetrische Beziehungsstruktur herausgebildet, die von den Dependenztheoretikern
mit dem Konzept der strukturellen Anhängigkeit beschrieben wird. Strukturelle Abhängigkeit
wird damit als das sich selbst reproduzierende Ergebnis der historischen, von Ungleichheit
und einseitiger Dominanz geprägten Beziehungen zwischen EL und IL verstanden.
Kennzeichnend für den Zustand struktureller Abhängigkeit der EL ist der Umstand, dass ,,die
Reproduktionsdynamik des metropolitanen Kapitalismus sich auf die Peripherie-Ökonomien
überträgt und die Peripherie-Ökonomie sich den Akkumulationserfordernissen des
19
Es wird hier bewusst die Pluralform verwendet, da es sich bei den Dependenztheorien nicht um eine
einheitliche, geschlossene Theorie handelt, sondern um ein ,,Bündel von [...] Begriffen und Thesen, die
irgendwie durch den Gedanken der ,,Abhängigkeit" zusammengehalten" werden (Gerlach, Kalmring,
Kumitz, et al. (Hg.) (2004), S. 23). Vergl. auch Nuschler (1996), S. 167
20
,,Entwicklung und Unterentwicklung sind historisch gleichzeitige, funktional aufeinander bezogene Seiten
[...] der Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems." Scholz (2004), S. 79; vergl. auch Gerlach,
Kalmring, Kumitz, et al. (Hg.) (2004), S. 23, 198; Wagner und Kaiser (1995), S. 84; Bratzel (1978), S. 7f;
Dieterich (1981), S. 31; Fischer und Akinyemi (Hg.) (2002), S. 46ff
21
Unterentwicklung wird so als dem kapitalistischen System immanent und sogar für dessen Funktionieren als
essentiell betrachtet (vergl. Grimm (1979), S. 134; Tibi (Hg.) (1975), S. 17). ,,Der kapitalistische
Produktionsprozess in den IL ist nur durch die Ausbeutung der EL funktionsfähig"; Ücüncü (1986), S. 31,
Anm. 17

11
metropolitanen Kapitals anpasst".
22
Andererseits werden die Grundmuster der Abhängigkeit
sowohl auf externer als auch auf interner Ebene ständig reproduziert, obwohl die ursprünglich
begründende Situation zu existieren aufgehört hat. Der Ursprung der strukturellen
Abhängigkeit wird von den Dependenztheoretikern in der Einbindung der EL in das koloniale
Wirtschaftssystem gesehen. Durch die Ausübung von Macht und Gewalt wären die
bestehenden Strukturen von Produktion und sozialer Organisation zerstört worden und
entsprechend den Verwertungsinteressen der Kolonialmächte restrukturiert worden. Tiefer
liegendes Kennzeichen dieser Form der kolonialen Wirtschaftsorganisation war, dass
einerseits der Produktionsapparat vollkommen auf die dominanten Interessen der
Kolonialmacht ausgerichtet wurde und andererseits ein immenser Wertetransfer von den
Kolonien in die Mutterländer stattfand. Die von diesem Wertetransfer ausgehenden
wirtschaftlichen Impulse werden oft als entscheidender Ausgangspunkt für die wirtschaftliche
Entwicklung Europas betrachtet.
23
Die Kapitalakkumulation hätte die kapitalistische
Durchdringung Europas gefördert, damit Handel und Produktion stimuliert und so schließlich
die industrielle Revolution ausgelöst. Die Entwicklung Europas wird so in engem
Zusammenhang mit der Ausbildung unterentwickelter Strukturen in Übersee gesehen.
Gleichzeitig wurde damit die bis heute nicht überwundene Rolle der EL in der internationalen
Arbeitsteilung strukturell gefestigt. Sie dienen nach wie vor vor allem als Rohstoffquellen,
deren Handel auf den Export einiger mineralischer oder agrarischer Primärgüter konzentriert
ist. Durch die Konzentration auf wenige extraktive Sektoren findet im Land keine breiter
gefächerte Kapitalakkumulation statt. Infolgedessen fehlen finanzielle Ressourcen, um einen
eigenständigen
Produktionsapparat
aufzubauen.
Aus
diesem
Grunde
gelten
die
Entwicklungsländer als doppelt abhängig vom Weltmarkt: Die gesamtwirtschaftliche
Konzentration auf wenige Güter und wenige Partner bringt eine prekäre Abhängigkeit des
Staatshaushaltes, der Deviseneinkommen und der Beschäftigungssituation von Nachfrage-
und Preisentwicklung dieser Güter auf dem Weltmarkt mit sich. Andererseits sind die
Entwicklungsländer im Rahmen der Güterversorgung für Bevölkerung und Industrie abhängig
von Importen. Diese typische Art der Weltmarkteinbindung der Entwicklungsökonomien
führt zu einer Form struktureller Benachteiligung der Entwicklungsländer, indem der
Rohstoffexport einerseits einseitig den Verwertungsinteressen der dominierenden Wirtschaft
22
Senghaas (1977), S. 51; vergl. auch Tibi (Hg.) (1975), S. 136
23
,,Es sei hier nachdrücklich betont, dass es u.a. die Gewinnabschöpfung ­ Ausbeutung ­ war, die den
Industrieländern zu ihrem Aufschwung und ihrer heutigen wirtschaftlichen Stellung verhalf." Bratzel (1978),
S. 13; vergl. auch Fischer und Akinyemi (Hg.) (2002), S. 45ff; Grimm (1979), S. 134ff; Tibi (Hg.) (1975), S.
16, 132f; Galeano (1971), S. 34; Frank (1969), S. 279; Gerlach, Kalmring, Kumitz, et al. (Hg.) (2004), S. 13;
Lühring und Schmidt-Wulffen (1982), S. 18f

12
untergeordnet ist und andererseits ein Großteil der im Zuge von Ausbeutung und
Weiterverarbeitung anfallenden Wertschöpfung in den Industrieländern verbleibt. Im Rahmen
dieser asymmetrischen Beziehungen findet ein kontinuierlicher Wertetransfer in die
Industrienationen statt, sodass die Entwicklungsländer im internationalen Handel dauerhaft
strukturell benachteiligt werden.
24
Durch diese systematische Benachteiligung der
Entwicklungsländer werden vorhandene Entwicklungspotenziale aufgezehrt und damit
egalisiert. Die Überwindung der Unterentwicklung wird also nach dependenztheoretischer
Auffassung durch die Persistenz ihrer strukturellen Verursachungsfaktoren verhindert.
Aus den Besonderheiten der Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern
entwickelte Galtung die strukturelle Theorie des Imperialismus, auf die auch die
Dependenztheoretiker immer wieder zurückgriffen. Imperialismus ließe sich nicht zeitlich
eingrenzen, sondern bezeichne allgemein ein ungleiches ,,strukturelles Verhältnis zwischen
zwei organisierten Kollektiven".
25
Im Rückgriff auf das bereits von Prebisch eingeführte
Zentrum-Peripherie-Modell wird die Welt in Zentrum- und Peripherienationen unterteilt, die
jeweils wiederum ein Zentrum und eine Peripherie aufweisen.
26
Das Zentrum der Peripherie
wird von den nationalen Eliten gebildet, deren Konsummuster, ordnungspolitische und
kulturelle Vorstellungen an jenen der Zentrumsnationen orientiert sind. Sie fungieren damit
als Brückenkopf der Zentrumsnationen in der Peripherie in Form einer kollaborierenden
Führungsschicht. Da ihre partikularen Interessen durch die Kooperation mit den
Zentralnationen befriedigt werden, besteht einerseits eine Interessensharmonie zwischen
ihnen und dem Zentrum der Metropolen und andererseits eine Interessensdisharmonie
zwischen ihnen und der Peripherie der Peripherienation, indem sie ein dezidiertes Interesse
daran haben, die sie favorisierenden Zustände aufrecht zu erhalten.
27
Durch die bestehenden
Machtverhältnisse in den Peripherienationen ist es ihnen möglich, eine politische,
ökonomische, soziale und kulturelle Leitfunktion gegenüber ihren Peripherien einzunehmen
und diese durch ihre Dominanz im gesellschaftlichen Zusammenhang durchzusetzen. Die
24
Über die Art und Wirkweise des Wertetransfers ist viel und kontrovers diskutiert worden. Prinzipiell wird
zwischen offenen und verdeckten Formen des Wertetransfers unterschieden (Nohlen und Nuschler (Hg.)
(1982), S. 118, 137). Zu den offenen Formen zählen zum Beispiel Gewinntransfers oder überhöhte
Patentkosten, während zu den verdeckten Formen vor allem die Verschlechterung der terms of trade, der
ungleiche Tausch oder auch Monopolpreise, Zölle und Subventionen gezählt werden (vergl. Gerlach,
Kalmring, Kumitz, et al. (Hg.) (2004), S. 29f, 202ff; Bratzel (1978), S. 39; Wagner und Kaiser (1995), S. 69f;
Tibi (Hg.) (1975), S. 16).
25
Galtung, zitiert in: Bratzel (1978), S. 42f
26
Die Kennzeichen von Zentrum und Peripherie werden bei Senghaas (1977), S. 13 umrissen. Tetzlaff
charakterisiert fünf Typen von Peripherien, vergl. Senghaas (1977), S. 14.
27
Dazu schreibt Frank: ,,Sie [die lateinamerikanische und metropolitane Bourgeoisie ­ G.W.] haben mehr als
ein gemeinsames langfristiges Interesse an der Verteidigung des Systems der kapitalistischen Ausbeutung";
Frank (1969), S. 308

13
spezifischen Gegebenheiten der EL-Ökonomien werden von Senghaas in seinem Modell des
peripheren Kapitalismus erläutert.
28
Demnach stellt der periphere Kapitalismus eine
besondere Form der kapitalistischen Entwicklung der unterentwickelten Länder dar, die sich
durch strukturelle Abhängigkeit, eine besondere Form der kapitalistischen Reproduktion und
eine spezifische Struktur der Kapitalakkumulation auszeichnet. Nach Senghaas ist der
periphere
Kapitalismus
eine
vom
metropolitanen
Kapitalismus
,,fundamental
unterschiedliche"
29
Struktur, die die ,,exzessive Aneignung des gesellschaftlichen
Mehrprodukts durch die herrschenden Klassen in den Metropolen"
30
erlaubt. Die spezifische
Reproduktions- und Akkumulationsdynamik des peripheren Kapitalismus zeichnet sich
dadurch aus, dass sie ,,zum Schaden der Mehrzahl der Menschen"
31
gereicht, während der
ökonomische Nutzen auf eine kleine, in die Weltwirtschaft integrierte Elite verteilt wird.
Dieses wird in der Theorie des peripheren Kapitalismus als Folge der spezifischen
Strukturdefekte peripher-kapitalistischer Ökonomien gesehen, aus deren Ausrichtung auf
exportorientierte
Sektoren
und
die
Verwertungsinteressen
des
dominierenden
Auslandskapitals keine lokalen Entwicklungsimpulse hervorgehen können. Es entsteht keine
differenzierte Produktionsstruktur, wie auch die Herausbildung differenzierter Markt- und
Siedlungsnetze sowie die Entstehung einer differenzierten Sozialstruktur verhindert wird.
Internationales Kapital, dynamische Impulse, technische Fortschritte und Prozesse
kapitalistischer Akkumulation bleiben dementsprechend in peripher-kapitalistischen
Ökonomien hauptsächlich auf exportorientierte oder damit verbundene Sektoren beschränkt.
32
Die Folgewirkungen der einseitigen Exportorientierung der Entwicklungsökonomien auf die
nationale Industrie- und Produktionsstruktur fasst Amin in seinem Modell der abhängigen
Reproduktion zusammen.
33
Kennzeichnend für Entwicklungsökonomien sei demnach
einerseits die Verbindung des Exportgütersektors mit dem Luxuskonsumgütersektor. Ersterer
generiert eine kleine einkommensstarke Schicht, deren Konsummuster sich an den IL
orientieren, wodurch der Luxuskonsumgütersektor gefördert wird. Die auf eine Elite
beschränkte Kapitalakkumulation verhindert nach diesem Modell die für eine autozentrierte
Reproduktion
notwendige
Verbindung
des
Massenkonsumgütersektors
mit
dem
Produktionsgüter- und Kapitalgütersektor. Durch die unzureichenden Verflechtungen der
28
Vergl. Senghaas (1977), S. 33ff
29
Ebd., S. 17
30
Senghaas, zitiert in: Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 107
31
Senghaas (1977), S. 17
32
Das Modell des peripheren Kapitalismus ist als Formel mit weltweitem allgemeinem Gültigkeitsanspruch
Ziel massiver Kritik aus unterschiedlichsten Richtungen geworden (vergl. Nuschler (1996), S. 168f; Nohlen
und Nuschler (Hg.) (1982), S. 106f; Gerlach, Kalmring, Kumitz, et al. (Hg.) (2004), S. 211).
33
Vergl. Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 141; Grimm (1979), S. 161f; Scholz (Hg.) (1985), S. 331f;
Schematische Abbildung des Modells vergl. Wagner und Kaiser (1995), S. 83

14
Wirtschaftssektoren werden mögliche Produktionsressourcen nicht effektiv genutzt und die
resultierenden inkohärenten Wirtschaftskreisläufe sind weder an den Erfordernissen sich
entwickelnder Volkswirtschaften noch an den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung
ausgerichtet. Im nationalen Maßstab ergibt sich daraus die mangelnde Fähigkeit der
Entwicklungsökonomien zur Versorgung der eigenen Bevölkerung sowie die mangelnde
Fähigkeit der autozentrierten Entwicklung, während im internationalen Maßstab ,,das Schema
der erweiterten Reproduktion des Kapitals erst in den zentralen Volkswirtschaften vollständig
wird."
34
Die Effekte der Penetration metropolitaner Interessen in den Entwicklungsgesellschaften und
ihre Dominanz in den Entwicklungsökonomien haben auch tief greifende gesellschaftliche
Deformationen zur Folge. Das Konzept der strukturellen Abhängigkeit wurde daher von den
Dependenztheoretikern von zunächst rein wirtschaftlichen Aspekten auf den politischen,
sozialen und kulturellen Bereich ausgeweitet. Dabei wird angenommen, dass die externen
strukturellen Gegebenheiten intern in strukturell determinierende Verursachungs- und
Perpetuierungsfaktoren von Unterentwicklung übersetzt werden. Im Laufe der Zeit können
sich ehedem externe Faktoren zu konstitutiven Elementen der internen Sozialstruktur der EL
wandeln, sodass die rigide Trennung zwischen internen und externen Faktoren fast
aufgehoben wird.
35
Die tief greifenden internen Folgewirkungen struktureller Abhängigkeit werden von den
Dependenztheorien mit dem Konzept der strukturellen Heterogenität beschrieben, mit dem die
bedeutenden sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Disparitäten als typisches
Merkmal von Entwicklungsgesellschaften subsumiert werden. Zwar tritt strukturelle
Heterogenität in allen Bereichen auf, aber es wird zumeist besonders ,,der im ökonomischen
Bereich auftretenden Heterogenität grundlegende oder auch kausale Bedeutung für den
sozialen, politischen und kulturellen Bereich beigemessen."
36
Im ökonomischen Bereich wird
strukturelle Heterogenität als die gleichzeitige Existenz verschiedener Produktionsweisen
verstanden, die im Hinblick auf ihre Relation zum dominierenden dynamischen
kapitalistischen Sektor hierarchisch organisiert sind. Insbesondere wird damit auf die
Koexistenz und Verschränkung des dynamischen kapitalistischen Sektors mit nicht
vollständig oder gar nicht kapitalisierten Sektoren Bezug genommen. Diese Verflechtung
zwischen traditionellem und kapitalistischem Sektor wird als entscheidend für den
34
Cardoso, zitiert in: Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 141
35
Vergl. Grimm (1979), S. 171; Scholz (2004), S. 79; Dieser immer wieder betonte Zusammenhang zwischen
externen und internen Faktoren wird bei einigen vorschnellen Kritiken der Dependenztheorien ausgeblendet.
36
Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 96

15
Surplustransfer zugunsten der herrschenden Klassen und mithin für die Dynamik
kapitalistischer Akkumulation in peripher-kapitalistischen Systemen erachtet: ,,Die
Gesamtgesellschaft ist so strukturiert, dass sie volkswirtschaftlichen Überschuss für die
nationalen und internationalen kapitalistischen Klassen produziert, weil die rückständigen
Sektoren ebenfalls über direkte und indirekte Mechanismen an der Produktion dieses
Überschusses beteiligt sind."
37
Die Heterogenitätseffekte einer derart hierarchisch gegliederten Gesellschaftsstruktur
berühren
alle
wichtigen
gesellschaftlichen
Bereiche,
wie
zum
Beispiel
die
Produktionsstruktur, die Einkommensverteilung, die Konsumprofile, die ungleiche
Ausstattung
mit
Technologie
und
damit
unterschiedliche
Niveaus
der
Produktivitätsfortschritte
oder
die
sozialgeografische
Aufteilung
des
Landes
in
Wachstumspole und Peripherien und daraus ableitbare politisch und kulturell heterogene
Strukturen.
38
Strukturelle Heterogenität verursacht durch die nur selektive Integration
bestimmter
Sektoren
in
den
kapitalistische
Weltmarkt
tief
greifende
soziale
Desintegrationseffekte. Diese drücken sich vor allem in der Marginalisierung breiter
Bevölkerungsteile aus. Letztlich ist Marginalität damit Endpunkt und gesellschaftlicher
Ausdruck einer kausalen Folgekette von abhängiger Weltmarktintegration und struktureller
Heterogenität. Marginalität drückt sich nach den Dependenztheorien in den ,,strukturell
gegenüber der Restbevölkerung von stabilen Arbeitsverhältnissen bei vernünftiger
Produktivität und vernünftigem Einkommen ausgeschlossenen Bevölkerungssektoren" aus.
39
Nach diesem Verständnis zeigt sich Marginalität insbesondere in ökonomischen Faktoren wie
geringen
oder
fehlenden
Einkommen,
Unterbeschäftigung,
Unterbezahlung,
in
behelfsmäßigen Wohnverhältnissen oder, genereller gesagt, in Armut, Hunger und
Krankheit.
40
Dieses Marginalitätsverständnis wurde in den Dependenztheorien jedoch weiter
geschärft und auf Aspekte politischer, ethnischer oder sozio-kultureller Ausgrenzung
ausgeweitet. Demgemäß zeigt sich Marginalität ebenso in fehlenden Bürgerrechten,
mangelnder politischer Partizipation oder mangelnder Teilhabe an technischer und sozialer
Infrastruktur. Es wird ersichtlich, dass sich nach diesen Definitionen in den verschiedenen
Aspekten gesellschaftlicher Marginalität die Auswirkungen von Unterentwicklung in den EL
ausdrücken. Sie ist insofern sowohl Inbegriff als auch Indikator von Unterentwicklung und
37
Cordova, zitiert in: Gerlach, Kalmring, Kumitz, et al. (Hg.) (2004), S. 26
38
Senghaas (1977), S. 47
39
Cordova, zitiert in: Gerlach, Kalmring, Kumitz, et al. (Hg.) (2004), S. 209; Cordova unterscheidet
anschließend zwischen drei Typen der Marginalisierung (ebd., S. 209).
40
Vergl. Bratzel (1978), S. 47f; Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 104

16
kann in ihrem Ausmaß auf die Tiefe sozio-ökonomischer Polarisierung und struktureller
Heterogenität von Entwicklungsgesellschaften verweisen.
Aus der Konzeption von Entwicklung und Unterentwicklung in den Dependenztheorien leiten
sich zwingend entwicklungsstrategische Zielsetzungen ab. Unabhängigkeit muss als
Gegenentwurf der postulierten Abhängigkeitsverhältnisse der primäre entwicklungspolitische
Imperativ sein. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zielt auf die Beseitigung
struktureller Heterogenität ab, während ein sozial ausgewogenes, auf die Befriedigung der
Grundbedürfnisse
ausgerichtetes
Wirtschaftswachstum
die
Armutseffekte
der
Marginalisierung zu mindern vermag sowie die Güterproduktion und -versorgung sichert.
Hinzu kommt die Forderung nach der Erhöhung der Partizipationschancen, wodurch
Aspekten
der
politischen,
ethnischen
oder
sozio-kulturellen
Marginalisierung
entgegengewirkt
wird.
Dementsprechend
müssen
dependenztheoretische
Entwicklungsstrategien einerseits die Überwindung struktureller Verursachungsfaktoren von
Unterentwicklung auf externer und interner Ebene und andererseits den Aufbau eines
nationalen Produktionsapparates zur Sicherung von Wachstum und Beschäftigung, sowie zur
Befriedigung von Grundbedürfnissen und Konsumwünschen der Bevölkerung anstreben. Die
strukturelle Abhängigkeit der EL soll durch die temporär-selektive Dissoziation der
Entwicklungsökonomien vom Weltmarkt und die Readjustierung der Beziehungen zu den
Metropolen überwunden werden. Durch die Dissoziation sind die Bedingungen für den
Aufbau homogener, binnenmarktorientierter Strukturen bereitet und vorhandene Produktions-
und Entwicklungspotenziale können zugunsten einer bedarfsorientierten autozentrierten
Entwicklung umgeleitet werden.
41
Darunter fällt zunächst insbesondere die Umstellung der
Landwirtschaft von Export- auf Lebensmittelproduktion, die mit einer tief greifenden Reform
der außeninduzierten und historisch begründeten Strukturen einhergehen muss. Durch
Produktivitätssteigerungen in diesem Bereich und die Verschränkung mit der nationalen
Industrie sieht Senghaas die Voraussetzungen zur Entwicklung und Entfaltung der internen
Produktionskräfte gegeben. Dabei muss vor allem die mangelnde Vernetzung der
Wirtschaftssektoren überwunden werden, um durch die Binnenintegration den Aufbau eines
kohärenten Produktionsapparates und geschlossener Wirtschaftskreisläufe in den Peripherien
zu erreichen. Sind die Voraussetzungen für eine eigenständige, entwicklungswirksame
Kapitalakkumulation in den Peripherie-Ökonomien auf der Produktionsseite gegeben, muss
41
Scholz (2004) hält die Strategie für ,,im Prinzip eigentlich überzeugend" (S. 85) und verweist auf die
protektionistischen Phasen europäischer Wirtschaftsentwicklung. Auch Fischer und Akinyemi (Hg.) (2002)
betonen, dass Protektionismus durchaus ,,ökonomisch sinnvoll" (S. 80) sein kann. Dennoch wird die
Möglichkeit wirklicher Abschottung vom Weltmarkt unter den heutigen globalisierten Bedingungen
bezweifelt.

17
auf der Konsumptionsseite die Binnennachfrage mobilisiert werden. Die zur Überwindung der
oft konstatierten Binnenmarktenge notwendige Schaffung von Kaufkraft soll zum einen über
die Ausweitung der Beschäftigung und zum anderen über den Abbau der
Einkommensunterschiede erreicht werden. Letzteres verweist auf die zentrale Problematik der
oft ungleichen Verteilungssituation in den Entwicklungsökonomien. Dieser muss durch eine
Reorganisation peripherer Gesellschaftsformationen in allen relevanten Bereichen begegnet
werden. Dependenztheoretische Entwicklungsstrategien enthalten dementsprechend als
zentrales Element die Forderung nach tief greifenden sozialen und politischen Reformen mit
dem
Ziel
der
sozial
ausgewogenen
Umverteilung
und
Mobilisierung
von
Entwicklungsressourcen. Deren politische Durchsetzbarkeit hängt jedoch wesentlich von den
bestehenden Machtverhältnissen in den EL ab. Indem die elementare Notwendigkeit solcher
Reformen von den Dependenztheorien hervorgehoben wird, bedeutet diese Forderung im
Extremfall die Infragestellung bestehender Herrschafts- und Machtstrukturen und verweist auf
den
inhärent
sozial-revolutionären
Charakter
dependenztheoretischer
Entwicklungsstrategien.
42
Durch die Umsetzung dieser Maßnahmen sind auf interner Seite die
Voraussetzungen für eine autozentrierte Entwicklung geschaffen.
Die Prozesse wirtschaftlicher Belebung und struktureller Homogenisierung sollen in den
Entwicklungsländer zu einer nachholenden Entwicklung führen, die sie im internationalen
Vergleich konkurrenzfähig und unabhängig sein lässt. Ist dieser Zustand erreicht, kann die
Reintegration in den Weltmarkt vorgenommen werden. Um die Nachhaltigkeit des erreichten
Entwicklungsstandes zu sichern, sollte angestrebt werden, auch auf internationaler Ebene
strukturelle Reformen zu erreichen. Dazu zählt zunächst vor allem eine verstärkte Süd-Süd-
Kooperation, anhand der die erneute Ausbildung von Abhängigkeiten über die horizontale
Auffächerung der Güter- und Partnerstruktur der Außenhandelsbeziehungen vermieden
werden soll. In diesen strukturell nicht vorgeprägten Austauschbeziehungen können die
positiven Effekte des Handels gerechter verteilt und entwicklungsfördernd genutzt werden.
Durch diesen horizontalen Handel werden auch die Positionen im System der internationalen
Arbeitsteilung neu verteilt und entstehende Synergieeffekte können im Sinne der collective
self-reliance zur Konsolidierung der angestoßenen Entwicklung genutzt werden.
In einem letzten Schritt müssten notwendigerweise auch die Mechanismen und Strukturen des
internationalen Handels reformiert werden. Nur so können die internen Strukturreformen um
ihre externen Verursachungsfaktoren ergänzt und erzielte Veränderungen auch dauerhaft
realisiert werden. Da in diesem Bereich zentrale machtpolitische und wirtschaftliche
42
Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 107ff; Ücüncü (1986), S. 3f

18
Interessen der Zentren berührt werden, kann nur eine Solidarisierung der Dritten Welt ihre
Durchsetzungsfähigkeit in der internationale Wirtschaftspolitik so weit erhöhen, dass sie ihr
gemeinsames Anliegen umsetzen können und der internationale Handel fortan ausgeglichen
und gerecht gestaltet werden kann.
43
2.2
Die Dependenztheorie in der entwicklungstheoretischen Diskussion
Von internationaler Entwicklungspolitik im eigentlichen Sinne kann erst ab dem Ende des
Zweiten Weltkriegs gesprochen werden. Dabei herrschte zunächst ein westlich-europäisch
geprägtes Entwicklungsideal vor, das sich insbesondere durch die Ausrichtung auf
wachstumsorientierte, modernisierungstheoretische Entwicklungsstrategien auszeichnete.
44
Die zugrunde liegende Vorstellung war, dass Entwicklung einen linearen Prozess darstellt, in
dem Entwicklungsvorsprünge durch eine nachholende Entwicklung aufgeholt werden können.
Hauptinstrument hierfür war makroökonomisches Wachstum, dessen wohlstandsmehrende
Effekte über den trickle-down-Effekt letztlich auch den armen Bevölkerungsteilen zugute
kommen und so eine Verbesserung der Entwicklungssituation erreichen sollten. In
Südamerika fanden diese Vorstellungen im Konzept des desarrollismo ihren Niederschlag.
Zwar konnte der desarrollismo zunächst von den günstigen Wachstumsbedingungen der
Nachkriegszeit profitieren, geriet aber nach Anfangserfolgen mit dem Scheitern der
importsubstituierenden
Industrialisierung
und
den
sich
verschärfenden
Entwicklungsproblemen der lateinamerikanischen Länder in eine tiefe Krise.
45
Mit dem
Ausbleiben der erhofften Entwicklungsfortschritte wurde auch die gesamte ideologische Basis
des desarrollismo in Frage gestellt. Der rein auf ökonomische Aspekte verengte
Entwicklungsbegriff, die modernisierungstheoretische Ausrichtung auf ein okzidentales
Entwicklungsleitbild, sowie das auf die orthodoxe Wirtschaftstheorie rekurrierende Vertrauen
in die positiven Effekte des kapitalistischen Weltmarktes wurden zu zentralen Ansatzpunkten
der Kritik. Demgegenüber wurden in der Folge im Rahmen der Dependenztheorien die
43
Trotz des utopischen Charakters solcher Forderungen stellt Senghaas fest, dass die Restrukturierung der
internationalen Beziehungen ,,wichtig und überfällig" sei (Senghaas (1977), S. 63). Vergl. auch Wagner und
Kaiser (1995), S. 151ff; Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 108
44
Es sind insbesondere zwei Faktoren, die die vorläufige Vorherrschaft des europäischen-westlichen
Entwicklungsideals begründeten: einerseits die damals noch wenig reflektierte Leitfunktion westlich-
europäischer Gesellschaftsformen infolge des Kolonialismus (Nuschler (1996), S. 181) und anderseits der
augenfällige Umstand, dass die westlich-kapitalistischen Staaten mit ihrem Entwicklungsmodell einen
Großteil der als Entwicklungsprobleme anerkannten Schwierigkeiten überwunden haben (Wagner und Kaiser
(1995), S. 6).
45
Zu diesen krisenhaften Symptomen gehörten unter anderem die Zunahme der Massenarmut, wachsende
Landflucht und Slum-Bildung und besonders das Ausbleiben der trickle-down-Effekte im Verbund mit
wirtschaftlicher Stagnation und steigender Auslandsverschuldung (vergl. Gerlach, Kalmring, Kumitz, et al.
(Hg.) (2004), S. 23; Schätzel (1996), S. 462).

19
Modelle
peripher-kapitalistischer
Entwicklung
entworfen,
die
die
abhängige
Weltmarktintegration als exogenen Verursachungsfaktor von Unterentwicklung auffassten.
Die Dependenztheorien wurden breit und teilweise sehr kontrovers rezipiert.
46
Die Kritik an
den Dependenztheorien richtete sich vor allem gegen ihren totalitären und monokausalen
Erklärungsanspruch. Die Überbetonung des Weltmarktes führe zu einem einseitig
deterministischen Verständnis der Entwicklungsökonomien, das sich in der Form in der
Realität nicht bestätigen würde. Die durchaus unterschiedlichen Reaktionen von
Entwicklungsökonomien auf Weltmarktveränderungen könnten so nicht erklärt werden. Das
deute darauf hin, dass die internen Dynamiken in Entwicklungsländern differenzierter und
unabhängiger seien, als von den Dependenztheorien behauptet. Dementsprechend müssten
auch endogene Faktoren zur Erklärung von Unterentwicklung herangezogen werden. Die
vereinfachende Zweiteilung der Welt in Zentrum und Peripherie würde der differenzierten
Situation der Länder nicht gerecht werden und verschließe zentrale Aspekte dem analytischen
Zugang. Auch die historische Analyse der indigenen Gesellschaften sowie der
Kolonialwirtschaft bleibe oberflächlich, fehlerhaft und ideologisch geblendet.
47
So könnten
die Dependenztheorien keine Erklärung für den Entwicklungsvorsprung der europäischen
Länder zur Zeit der Kontaktaufnahme mit anderen Zivilisationen liefern. Andererseits würde
die erfolgreiche Entwicklung der weißen Kolonien ausgeblendet.
48
In neuerer Zeit sei es vor
allem die erfolgreiche Entwicklung der ostasiatischen Tigerstaaten, die mit ihrer
weltmarktorientierten Industrialisierungsstrategie mit einer dem dependenztheoretischem
Verständnis
genau
entgegen
gesetzten
Entwicklungsstrategie
erfolgreich
waren.
Grundsätzlich seien die Dependenztheorien von der Zeit überholt worden. Ein in
ideologischem Blockdenken verharrender universaler Erklärungsansatz entspreche nicht mehr
der vielfältigen und differenzierten ökonomischen und politischen Wirklichkeit. In diesem
Sinne sei auch zu fragen, ob der Nationalstaat angesichts seines Kompetenzverlustes unter
dem Zeichen der Globalisierung überhaupt noch die richtige analytische Maßstabsebene
darstelle.
Das Aufkommen der Dependenztheorien stieß in der Folgezeit eine intensive, zum Teil
polemisch geführte und ideologisch aufgeladene entwicklungstheoretische Debatte an. Die
Debatte entfernte sich im Laufe der 1980er Jahre immer weiter von den realen Gegebenheiten
46
Hauptwerke der ursprünglich für die lateinamerikanische Situation entwickelten Dependenztheorien waren
neben anderen besonders A.G. Franks ,,Capitalism and Underdevelopment in Latinamerica" (1969) und F. H.
Cardosos und E. Falettos ,,Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika" (1969). Samir Amin fungierte
als Wegbereiter für die Rezeption der Dependenztheorien in Afrika, während die Rezeption in Deutschland
hauptsächlich durch die Arbeiten von Senghaas angestoßen wurde.
47
Scholz (2004), S. 85
48
Nuschler (1996), S. 170

20
der Zeit, geprägt durch den Neoliberalismus der Reagan-Thatcher-Ära und wurde ohne
wesentlichen Erkenntnisfortschritt an verhärteten akademischen Fronten geführt.
49
Die
zunehmende Praxisferne resultierte in einer gewissen Theorieverdrossenheit, als sich
herausstellte, dass letztlich keine Theorie es vermochte, die vielzähligen, komplexen und
immer fallspezifischen Faktoren der Unterentwicklung allgemeingültig zu fassen. Schließlich
erklärte Menzel (1992) in seinem Werk ,,Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der
großen Theorie" die akademische entwicklungstheoretische Debatte insofern als gescheitert,
als dass keine Globaltheorie zum Komplex Entwicklung/Unterentwicklung formuliert werden
könne. Sozialistisch inspirierte Theorien hatten angesichts des Zusammenbruchs des real
existierenden Sozialismus zunächst keine akademische Zukunft. Das fortgesetzte Aufklaffen
der Schere zwischen Arm und Reich sowie die neuen weltwirtschaftlichen Prozesse der
Globalisierung mit ihren sehr unterschiedlichen Effekten von Integration und Exklusion
führten aber zu einer gewissen Wiederbelebung dependenztheoretischer Grundannahmen in
der entwicklungstheoretischen Debatte.
Die Ergänzung des bisher prozessualen Entwicklungsbegriffs um historisch-strukturelle
Aspekte und die kritische Betrachtung kapitalistischer Weltmarktintegration stellt abseits
akademischer Kontroversen den besonderen Verdienst der Dependenztheorien dar.
2.3
Rechtfertigung der theoretischen Einbettung
2.3.1
Die Aktualität dependenztheoretischer Prämissen vor dem gewandelten
Hintergrund des 21. Jahrhunderts
Die Dependenztheorien sind, als das Ende der großen Theorie ausgerufen wurde, sicherlich
etwas vorschnell aus der entwicklungstheoretischen Diskussion verschwunden. Zentrale
Annahmen der Dependenztheorien sind nie endgültig widerlegt worden, wie auch bestehende
Widersprüche nie aufgelöst worden sind.
50
Obwohl die Dependenztheorien als Globaltheorie zur umfassenden Erklärung von
Entwicklung und Unterentwicklung als gescheitert angesehen werden müssen, bedeutet das
nicht, dass zentrale Elemente oder Theoreme zur Analyse einer konkreten, räumlich und
zeitlich abgegrenzten Situation nicht dienlich sein könnten. Es wird immer wieder hervor
gehoben, dass dependenztheoretische Erklärungsmodelle sehr wohl zur Erklärung spezifischer
Sachverhalte, beziehungsweise bestimmter Aspekte der Entwicklungssituation eines Landes
auch heute noch hilfreich sein können.
49
Nohlen und Nuschler (Hg.) (1982), S. 32
50
Nuschler (1996), S. 13

21
Die Prozesse der Globalisierung haben neue Dynamiken in den weltweiten
Wirtschaftsbeziehungen entstehen lassen, die nach neuen Erklärungsmodellen verlangen.
Dabei kann auch der Rückgriff auf Bekanntes dienlich sein. Die Prozesse der
Handelsexpansion der Kolonialwirtschaft stellen gewissermaßen die Frühform globalisierter
Wirtschaftsbeziehungen dar. Für die Dependenztheoretiker war aber gerade dieses der
Ursprung der interdependenten Beziehungen von Entwicklung und Unterentwicklung. Es ist
wichtig auch im Falle einer global vernetzten Wirtschaft zu untersuchen, inwieweit sie
Entwicklung
fördert
oder
Strukturen
der
Unterentwicklung
aufgebaut
werden.
Dependenztheoretische Erklärungsansätze können dabei behilflich sein, zu untersuchen, ob,
wie und in welchem Maße sich neue Abhängigkeiten herausbilden. Die Globalisierung führt
auch zu einer Neuordnung der Raumstruktur: neue Zentren entstehen, aber auch neue
Peripherien. Die weltweite wirtschaftliche Integration führt auf ihrer Kehrseite zu verschärfter
Exklusion. Wirtschaftlich nicht relevante Gruppen werden immer stärker marginalisiert.
Fragmentierung, Peripherisierung und Marginalisierung als Zeichen zunehmender
struktureller Heterogenität infolge der Weltmarktintegration sind Prozesse, die die
Dependenztheorien schon früher zu erklären versuchten. Einige dieser Konzepte können in
modifizierter Form auch auf die modernen Prozesse übertragen werden. Vor diesem
Hintergrund ist zu befürchten, dass die Globalisierung eher zu einer Verschärfung des
Entwicklungsklimas beiträgt. Einen Zusammenhang von verstärkter Weltmarktaktivität und
zunehmenden Anzeichen von Unterentwicklung zu untersuchen, ist ureigenstes Gebiet der
Dependenztheorien. Hier stellt sich auch die Frage nach der Entwicklung der
Einkommensdisparitäten im Zuge der Globalisierung. Allgemein wird das fortgesetzte
Aufklaffen der Entwicklungsschere konstatiert. Aber auch im konkreten Fall ist für viele
Entwicklungsländer die Zunahme der Einkommensdisparitäten nachgewiesen, während sich
in den Zentrumsnationen das Phänomen der neuen Armut entwickelt. Die daraus
resultierenden Folgeeffekte ähneln den von den Dependenztheorien angenommenen
Entwicklungen sehr.
51
Eine Analyse der Akkumulationsstruktur aus anderem Blickwinkel
scheint daher geboten. Insgesamt wird also die Debatte um die Bewertung der Globalisierung
kontrovers
geführt.
In
diesem
Rahmen
kommen
die
alten
Positionen
der
entwicklungstheoretischen Debatte wieder zum Tragen, indem die grundsätzliche Frage
lautet, ob eine stärkere Marktintegration eher positive oder eher negative Folgen mit sich
bringt. Kritische Globalisierungsgegner vertreten dabei dezidiert anti-kapitalistische
Positionen. Die Gültigkeit theoretischer Grundannahmen der Dependenztheorien wird also
51
Schätzel (2000), S. 145f, 157

22
zumindest für verschiedene Teilbereiche der weltwirtschaftlichen Entwicklung vermutet. Die
Dependenztheorien bieten ein Modell an, mit dem die strukturell differenzierenden
Wirkungen wirtschaftlicher Integration untersucht werden können. Ob diese, von der Last
eines universalen Gültigkeitsanspruchs befreit, zutreffend sind, muss zumindest geprüft
werden.
2.3.2
Dependenztheoretische Prämissen im bolivianischen Kontext
Die Realität einer abhängig-kapitalistischen Weltmarktintegration wird in der Geschichte
Boliviens besonders deutlich. Ein bestehendes Sozial- und Wirtschaftssystem wurde zerstört
und gemäß den Verwertungsinteressen der Kolonialmacht umstrukturiert. Bolivien hat dabei
im Laufe der Jahrhunderte unermessliche Werte in die Zentrumsnationen transferiert. Die
Ressourcenausbeutung
folgte
klar
den
Interessen
der
Zentralnationen.
Das
Akkumulationsmodell bevorzugte eindeutig die Kolonialmacht und nationale Eliten als deren
Stellvertreter. Als Folge dessen hat Bolivien noch heute eine der weltweit ungerechtesten
Situationen der Einkommensverteilung. Intern führte diese Dynamik zur Ausbeutung und
Marginalisierung weiter Bevölkerungsteile. Die Integration des extraktiven Bergbausektors in
die Weltwirtschaft brachte in diesem Bereich keine Entwicklungsimpulse hervor. Im
Gegenteil, noch in den 1980er Jahren waren Einkommen und Lebenserwartung der mineros
extrem niedrig.
52
Ohne eine breit gefächerte Kapitalakkumulation im Land hat sich nie eine
ausgeglichene Produktionsstruktur entwickelt, die die Güterversorgung der Bevölkerung
eigenständig sicherstellen könnte. Diese Situation macht das Land insgesamt in hohem Maße
vom Weltmarkt abhängig. Die kaum differenzierte Wirtschaftsstruktur bleibt anfällig für jähe
Preisveränderungen der wenigen Hauptexportprodukte.
53
So steht der vergangene und
aktuelle Reichtum Boliviens an Bodenschätzen der prekären Armutssituation der Bevölkerung
gegenüber. Diese Situation wird mittlerweile auch intern anerkannt. Die sozialen
Bewegungen und die heute regierende MAS (Movimiento al Socialismo) vertreten einen von
sozialistischen Positionen inspirierten Diskurs. In ihrer Bewertung der jüngeren
Entwicklungsgeschichte Boliviens kommen sie zu dem Schluss, dass die neoliberal geprägte
Weltmarktintegration der Vorgängerregierungen nicht zur Entwicklung des Landes
beigetragen hätte. Dementsprechend nehmen sie in ihrem Programm dezidiert konträre
Positionen ein und verfolgen eine Wirtschaftsstrategie, die in vielen Bereichen den von den
52
Letztere lag damals bei rund 30 Jahren (Nohlen und Nuschler (Hg.) (1992), S. 204).
53
Das wird zum Beispiel an den dramatischen Folgen des Zinnpreiseinbruchs 1985 ersichtlich. Heute könnte
neben den Mineralien besonders Veränderungen der Energie- und Sojapreise empfindliche Auswirkungen
haben.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836645638
Dateigröße
2.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg – Forst- und Umweltwissenschaften, Studiengang Geographie
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
bolivien coca kokain entwicklungstheorien dependenztheorie
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Titel: Der Zusammenhang zwischen Coca, Drogenwirtschaft und Entwicklung in Bolivien
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