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Gewalt in der frühen Kindheit und die Folgen für Bindungsverhalten und Bindungsfähigkeit

©2009 Diplomarbeit 194 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‘Wenn Menschen anfangen etwas zu schreiben, glauben sie, dass sie etwas Bestimmtes schreiben müssen ... ich glaube, dass diese Haltung fatal ist. Die Einstellung, die man zum Schreiben haben sollte, lautet: ‘Ich habe eine ziemlich interessante Geschichte zu erzählen. Ich hoffe, jemand interessiert sich dafür. Jedenfalls ist es das Beste, was ich zur Zeit leisten kann.’ Wenn man sich nach diesen Zeilen richtet, überwindet man sich und legt los’.
Welches besondere Band hält Mutter und Kind zusammen? Was passiert, wenn es zu einer Trennung kommt? Was genau ist Bindung? Auf der Suche nach Antworten entwickelte der englische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby Ende der 50er Jahre die sogenannte Bindungstheorie. Er arbeitete mit Mary Ainsworth zusammen, wobei Bowlby selbst die wesentlichen Grundzüge dieser Theorie unter Einbeziehung der empirisch-wissenschaftlichen Ansätze der Ethologie, Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse und Systemtheorie formulierte.
Im Zentrum der Bindungstheorie steht die Mutter-Kind-Dyade. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Säugling die angeborene Neigung hat, sich an eine primäre Bindungsperson, meist die Mutter, zu binden.
Zur Zeit Bowlbys lag der Fokus der Bindungsforschung auf der Beobachtung normal entwickelter Kinder, obwohl Bowlby seine Theorie auf der Basis klinischer Daten und Beobachtungen entwickelte. Er untersuchte also hauptsächlich ‘kranke’ Kinder, um die gewonnenen Daten auf ‘gesunde’ Kinder zu übertragen und so die Bindungstheorie zu entwickeln.
Erst seit 1980 werden vermehrt ‘high-risk-samples’ erforscht, also Kinder, die in Hochrisikofamilien aufwachsen. Darunter fallen Kinder, die depressive oder schizophrene Mütter haben, aber auch solche, die aus Familien stammen, in denen sie physischer oder psychischer Gewalt, sexueller Misshandlung oder Vernachlässigung ausgesetzt sind. Heute prägt die Bindungstheorie mehr denn je Forschung und Praxis in Psychologie, Psychotherapie und und Pädagogik.
Das Thema ‘Gewalt gegen Kinder’ ist dagegen nicht nur ein aktuelles, wie vielfach angenommen wird. Wahrscheinlich wurden Kinder misshandelt seit die Menschheit existiert. Nur die Gründe, weshalb dies geschah, veränderten sich im Laufe der Zeit. Erst ab dem 18. Jahrhundert setzte eine stetig zunehmende Verbesserung in der Behandlung von Kindern ein. Doch erst seit den 80er Jahren wird auf die verheerenden Folgen von körperlicher und psychischer Misshandlung, sexuellem […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Anna Käser
Gewalt in der frühen Kindheit und die Folgen für Bindungsverhalten und
Bindungsfähigkeit
ISBN: 978-3-8366-4181-4
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland,
Diplomarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

i
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ... 4
1
Bindung ... 11
1.1
Historischer Überblick ... 11
1.2
Entwicklung der Bindungstheorie ... 15
1.3
Grundannahmen der Bindungstheorie ... 18
1.3.1
Ontogenese der Bindung: Das Vierphasenmodell nach Bowlby ... 18
1.3.2
Konzept Bindung ... 21
1.3.3
Bindungsverhalten ... 22
1.3.4
Explorationsverhalten ... 27
1.3.5
Innere Arbeitsmodelle ... 29
1.3.6
Konzept der Feinfühligkeit ... 32
1.4
Die Bindungsqualität ... 33
1.4.1
Mary Ainsworth und die ,,Fremde Situation" ... 34
1.4.2
Die Bindungsqualität am Ende des ersten Lebensjahres ... 36
1.4.3
Beziehungsrepräsentanzen der Bindungspersonen ... 42
2
Gewalt ... 49
2.1
Exkurs: Aggressivität ... 51
2.2
Gewalt gegen Kinder in der Familie ... 58
2.3
Kindesmisshandlung ... 61
2.4
Erklärung von Kindesmisshandlung ... 62
2.4.1
Aggressivität als Grund der Kindesmisshandlung ... 63
2.4.2
Psychopathologisches Erklärungsmodell ... 64
2.5
Formen der Misshandlung ... 66
2.5.1
Körperliche Misshandlung ... 67
2.5.2
Psychische Misshandlung ... 70

ii
2.5.3
Vernachlässigung ... 72
2.5.4
Sexueller Missbrauch ... 74
2.6
Krankheitsbilder infolge von Misshandlung ... 79
2.6.1
Angsterkrankungen ... 80
2.6.2
Depressionen ... 82
2.6.3
Essstörungen ... 84
2.6.4
Sexuelle Störungen ... 87
3
Folgen von Kindesmisshandlung aus
bindungstheoretischer Sicht ... 90
3.1
Bindungsqualität und Interaktionsverhalten misshandelter
Kinder ... 91
3.2
Folgen von Kindesmisshandlung im Kindes- und
Erwachsenenalter ... 94
3.2.1
Folgen aus der Sicht der Bindungstheorie ... 95
3.2.2
Folgen körperlicher und psychischer Misshandlung sowie
Vernachlässigung ... 97
3.2.3
Folgen sexuellen Missbrauchs ... 99
3.2.4
Folgen im Erwachsenenalter ... 104
3.3
Bindungsstörungen ... 104
3.3.1
Bindungsstörungen und Traumata ... 105
3.3.2
Typologie von Bindungsstörungen ... 110
3.4
Risiko- und Schutzfaktoren ... 116
4
Prävention und Intervention ... 122
4.1
Beratung und Therapie ... 124
4.2
Videoanalyse in Diagnostik, Beratung und Therapie ... 129
4.3
Präventionsprogramme ... 132
4.3.1
Notwendigkeit früher Prävention bei Misshandlung, Missbrauch und
Vernachlässigung ... 133
4.3.2
Perspektiven der Prävention psychischer Störungen im Kindes- und
Jugendalter ... 135

iii
4.3.3
Handlungsbereiche der Prävention ... 138
4.3.4
Das STEEP-Programm ... 140
4.4
Interventionsprogramme ... 144
4.4.1
Bindungstheorie in Beratung und Therapie ... 144
4.4.2
Beiträge der Bindungsforschung zur Familientherapie ... 152
4.4.3
Video-Mikroanalyse-Therapie ... 155
4.4.4
Das Projekt ,,Kreis der Sicherheit" ... 158
4.5
Folgerungen für die Sonderpädagogik ... 162
5
Zusammenfassung und Ausblick ... 166
6
Literaturverzeichnis ... 172
7
Internetquellennachweis ... 188
8
Abbildungsnachweis ... 189
9
Tabellennachweis ... 191

4
Einleitung
,,Wenn Menschen anfangen etwas zu schreiben, glauben sie, dass sie etwas Be-
stimmtes schreiben müssen ... ich glaube, dass diese Haltung fatal ist. Die Einstel-
lung, die man zum Schreiben haben sollte, lautet: ,,Ich habe eine ziemlich inter-
essante Geschichte zu erzählen. Ich hoffe, jemand interessiert sich dafür. Jeden-
falls ist es das Beste, was ich zur Zeit leisten kann." Wenn man sich nach diesen
Zeilen richtet, überwindet man sich und legt los."
1
Welches besondere Band hält Mutter und Kind zusammen? Was passiert, wenn
es zu einer Trennung kommt? Was genau ist Bindung? Auf der Suche nach Ant-
worten entwickelte der englische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John
Bowlby Ende der 50er Jahre die sogenannte Bindungstheorie. Er arbeitete mit
Mary Ainsworth zusammen, wobei Bowlby selbst die wesentlichen Grundzüge
dieser Theorie unter Einbeziehung der empirisch-wissenschaftlichen Ansätze der
Ethologie, Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse und Systemtheorie formu-
lierte.
Im Zentrum der Bindungstheorie steht die Mutter-Kind-Dyade. Dabei wird davon
ausgegangen, dass ein Säugling die angeborene Neigung hat, sich an eine pri-
märe Bindungsperson, meist die Mutter, zu binden.
Zur Zeit Bowlbys lag der Fokus der Bindungsforschung auf der Beobachtung
normal entwickelter Kinder, obwohl Bowlby seine Theorie auf der Basis klinischer
Daten und Beobachtungen entwickelte. Er untersuchte also hauptsächlich ,,kran-
ke" Kinder, um die gewonnenen Daten auf ,,gesunde" Kinder zu übertragen und
so die Bindungstheorie zu entwickeln.
Erst seit 1980 werden vermehrt ,,high-risk-samples" erforscht, also Kinder, die in
Hochrisikofamilien aufwachsen. Darunter fallen Kinder, die depressive oder schi-
zophrene Mütter haben, aber auch solche, die aus Familien stammen, in denen
sie physischer oder psychischer Gewalt, sexueller Misshandlung oder Vernach-
lässigung ausgesetzt sind. Heute prägt die Bindungstheorie mehr denn je For-
schung und Praxis in Psychologie, Psychotherapie und und Pädagogik.
Das Thema ,,Gewalt gegen Kinder" ist dagegen nicht nur ein aktuelles, wie viel-
fach angenommen wird. Wahrscheinlich wurden Kinder misshandelt seit die
1
Bowlby 1991 zit. nach Dornes 2006, S. 15

Einleitung
5
Menschheit existiert. Nur die Gründe, weshalb dies geschah, veränderten sich
im Laufe der Zeit. Erst ab dem 18. Jahrhundert setzte eine stetig zunehmende
Verbesserung in der Behandlung von Kindern ein. Doch erst seit den 80er Jah-
ren wird auf die verheerenden Folgen von körperlicher und psychischer Miss-
handlung, sexuellem Missbrauch sowie Vernachlässigung auf die aktuelle, aber
auch auf die zukünftige Situation betroffener Kinder aufmerksam gemacht. Erst
seit diesem Zeitpunkt wird nach wirksamen Präventions- und Interventionsmög-
lichkeiten für solche Kinder und ihre Familien geforscht.
Bei meinem Praktikum in der Erziehungsberatungsstelle auf dem Heuchelhof in
Würzburg hatte ich mit Kindern zu tun, die Gewalt in jeder Form und jeglichem
Ausmaß erlebt haben. Dort lernte ich Möglichkeiten der Bindungstheorie im Be-
zug auf Diagnostik und Intervention kennen und schätzen. Umso mehr war ich
überrascht, als ich erfuhr, dass sich die Bindungsforschung erst sehr spät mit
dem Thema ,,Kindesmisshandlung und ihre Auswirkungen auf das Bindungsver-
halten von Kindern" konfrontiert sah. Meiner Meinung nach hängt das mit der
vorher noch nicht existierenden gesellschaftlichen Akzeptanz dieses Themas
zusammen. Bis in die 80er Jahre hinein war sexueller Missbrauch in allen gesell-
schaftlichen Bereichen, einschließlich der Medizin und der Psychologie, ein
Tabuthema, das erst durch das Aufkommen der Frauenbewegung und damit
verbundenen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen ins Licht der Öffent-
lichkeit trat. Dies hatte zur Folge, dass die Gesellschaft für dieses brisante
Thema sensibilisiert wurde und somit erst in der Lage war, die Misshandlungs-
problematik zu sehen und ihre ganze Tragweite anzuerkennen.
,,Seit der Wiederentdeckung der modernen Misshandlungsproblematik [...] hat sich
weltweit ein deutlicher Trend ergeben, das Scheitern im Verhältnis zum Kind, das
Misshandeln, die vielfältige Zurichtung von Kindern sowie das Fehlen einer für die
Entwicklung von Kindern notwendige Pflege, Förderung und Erziehung immer
mehr zu einem Problem der einzelnen Eltern zu machen."
2
An dieser Stelle möchte ich mit meiner Diplomarbeit anknüpfen und anhand von
Literaturrecherchen die bisher erforschten Folgen körperlicher und psychischer
Misshandlung, sexuellen Missbrauchs sowie Vernachlässigung von Kindern auf
ihr Bindungsverhalten und ihre Bindungsfähigkeit aufzeigen. Weiterhin ist es
2
Wolff 2002, S. 70.

Einleitung
6
mein Ziel, die Einsatzmöglichkeiten der Bindungstheorie in Prävention und Inter-
vention aufzuzeigen, durch die meiner Meinung nach die wichtige Bedeutung
dieser Theorie deutlich wird.
In der Diplomarbeit wird ersichtlich werden, wie eine unsichere Bindung oder gar
eine Bindungsstörung aufgrund von Misshandlung in der frühen Kindheit die
Lebensqualität eines Kindes oder auch Erwachsenen zerstören kann. Dabei wird
deutlich, wie eine sichere Bindung als Schutzfaktor wirken kann, um der betroffe-
nen Person eine neue Perspektive aufzuzeigen, ihm so zu neuem Lebensmut zu
verhelfen und möglicherweise die intergenerationale Weitergabe des ,,Misshand-
lungssyndroms" zu durchbrechen. Dies ist in den meisten Fällen allerdings ,,nur"
durch intensive präventive Maßnahmen oder gezielte Therapie möglich.
Die Diplomarbeit ist in vier Hauptkapitel eingeteilt. Das erste Kapitel beleuchtet
die Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth. In einem historischen
Überblick werden zunächst die Werdegänge der beiden Autoren aufgeführt,
sowie ihre Gründe, sich mit dem Thema ,,Bindung" auseinander zu setzen, um
letztendlich die Bindungstheorie zu entwickeln. Daraufhin folgt ein Abriss über
die Entwicklung der Bindungstheorie. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der
Bindungstheorie erklärte die psychoanalytische Welt die Mutter-Kind-Bindung
anhand von Triebtheorie und Objektbeziehungstheorie. Doch Bowlby zufolge
wiesen die beiden von Sigmund Freud entwickelten Theorien Mängel auf, und so
versuchte er, das Band zwischen Mutter und Kind mit Hilfe anderer wissen-
schaftlicher Ansätze als der Psychoanalyse zu entschlüsseln.
Als nächstes folgen die Grundannahmen der Bindungstheorie mit den wichtigs-
ten Aussagen und Begrifflichkeiten der Theorie, die als Grundlage dieser Arbeit
dienen und im weiteren Verlauf immer wieder auftauchen. Zunächst werden die
vier Phasen der Entwicklung der Bindung eines Säuglings an seine Mutter
anhand eines Modells von Bowlby aufgezeigt. Daraufhin werden die Begriffe
,,Bindung" und ,,Bindungsverhalten" definiert und voneinander abgegrenzt. Dem
Bindungsverhalten eines Kindes ist sein Explorationsbedürfnis entgegengesetzt.
Bindungs- und Explorationsverhalten werden mit Hilfe innerer Arbeitsmodelle
eines Kindes gesteuert.
Als nächstes wird die Bindungsklassifikation dargelegt, die Mary Ainsworth auf
der Grundlage der Bindungstheorie formulierte. Die verschiedenen Muster wer-

Einleitung
7
den anhand eines Verfahrens namens ,,Fremde Situation" ermittelt. Dabei kön-
nen sich vier Muster ergeben, die in der Regel das ganze Leben lang bestehen
bleiben und oft auch an die nächste Generation weitergegeben werden. Für das
Erwachsenenalter kann man ebenfalls Bindungsmuster klassifizieren, die sich
aus den Bindungsrepräsentationen ergeben.
Das zweite Kapitel behandelt innerfamiliale Gewalt gegen Kinder. Zunächst wird
der Gewaltbegriff definiert und in einem Exkurs vom Begriff ,,Aggressivität" abge-
grenzt. Den Exkurs wurde verfasst, da die Begriffe ,,Gewalt" und ,,Aggressivität"
häufig fälschlicherweise synonym verwendet werden und Aggressivität ein Grund
von Gewalt gegen Kinder ist. Daraufhin folgt ein Abriss über Gewalt gegen Kin-
der in der Familie in einem geschichtlichen Kontext. Die Intention dabei ist, dem
Leser zu vermitteln, dass dieses Thema damals aktuell war und es heute auch
noch ist. Einzig und allein der Bedeutungsgehalt und die Rechtfertigung der
Erziehungsgewalt haben sich verändert. Hierauf wird der Begriff ,,Kindesmiss-
handlung" als synonymer Begriff zur Gewalt gegen Kinder eingeführt und defi-
niert, worauf Versuche von Erklärungen von Kindesmisshandlung folgen. Als
nächstes wird auf einen zentralen Punkt dieser Arbeit eingegangen, die ver-
schiedenen Formen der Formen der Gewalt. Diese sind körperliche und psychi-
sche Misshandlung, Vernachlässigung sowie sexueller Missbrauch. Sie sind der
Ausgangspunkt für die folgenden Kapitel, und auf diese werden auch die Folgen
von Gewalt für Bindungsverhalten und Bindungsfähigkeit von Kindern und auch
Erwachsenen bezogen.
Der letzte Teil des Kapitels beschäftigt sich mit Krankheitsbildern, die infolge kör-
perlicher und psychischer Misshandlung, sexuellem Missbrauch und Vernachläs-
sigung entstehen können. Dabei wird speziell auf Angsterkrankungen, Depres-
sionen, Essstörungen und sexuelle Störungen eingegangen, welche die häufigs-
ten und bekanntesten Folgen sind. Zudem lassen sich zum Teil Verbindungen
zum Thema ,,Bindung" knüpfen, womit dem Leser demonstriert werden soll, wie
groß die Spannbreite der Auswirkungen ist.
Das dritte Kapitel behandelt den Kern der Diplomarbeit, die Folgen von Gewalt in
früher Kindheit aus der Sicht der Bindungstheorie. Es wird aufgezeigt, welche
Konsequenzen frühe Gewalterfahrungen auf Bindungsverhalten und Bindungsfä-
higkeit haben.

Einleitung
8
Zu Beginn werden Bindungsqualität und Interaktionsverhalten misshandelter
Kinder anhand verschiedener Studien namhafter Bindungsforscher wie Byron
Egeland und Alan Sroufe, Patricia Crittenden und Gabriele Gloger-Tippelt disku-
tiert. Im weiteren Verlauf werden Bindungsqualität und Interaktionsverhalten
misshandelter Kinder aufgezeigt, daraufhin die Folgen von Kindesmisshandlung
im Kindes- und Erwachsenenalter aus bindungstheoretischer und psychologi-
scher bzw. sonderpädagogischer Sicht. Als nächstes wird es um Bindungsstö-
rungen gehen, die dem Bereich der Psychopathologie zuzuordnen sind und oft
nach schwerwiegenden traumatischen Erlebnissen innerhalb der Mutter- Kind-
Dyade zu beobachten sind.
Im letzten Punkt dieses Kapitels wird die Bedeutung von Risiko- und Schutzfak-
toren demonstriert. Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung sind schwere
oder traumatische Erfahrungen, Schutzfaktoren dagegen sind Einflussfaktoren,
welche die Auswirkungen von Risikofaktoren modifizieren können, indem sie die
Widerstandskraft von Kindern stärken.
Das vierte und letzte Hauptkapitel behandelt Präventions- und Interventionsmög-
lichkeiten von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung. Das Kapitel hat
nicht den Anspruch, ganzheitlich auf präventive oder interventive Maßnahmen
einzugehen, sondern bezieht sich auf Angebote aus bindungstheoretischer Per-
spektive. Dabei wird grundsätzlich zwischen indirekten, direkten und erweiterten
bindungsorientierten (präventiven) Bindungsinterventionen unterschieden.
Im ersten Unterpunkt dieses Kapitels wird zunächst auf die Definitionen von
Beratung und Therapie eingegangen, um die beiden Begriffe voneinander abzu-
grenzen, da sie im weiteren Verlauf nicht mehr differenziert werden.
Im nächsten Unterpunkt wird die Videoanalyse vorgestellt, die einen wichtigen
Stellenwert innerhalb von Diagnostik, Beratung und Therapie inne hat.
Im folgenden Unterpunkt werden Präventionsprogramme behandelt. Zunächst
werden die Begriffe ,,Beratung" und ,,Therapie" definiert und voneinander abge-
grenzt, um daraufhin die Bedeutung der Videoanalyse für Diagnostik, Beratung
und Therapie aufzuzeigen. Daraufhin wird die Notwendigkeit früher Prävention
bei Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung demonstriert. Als nächstes
werden die Perspektiven der Prävention psychischer Störungen thematisiert,
wobei zwischen zwei Ebenen der Prävention unterschieden wird. Der nächste

Einleitung
9
Punkt behandelt das ,,STEEP-Programm" exemplarisch für eine bindungsorien-
tierte präventive Maßnahme. Dabei handelt es sich um eine Frühprävention, die
Eltern durch beziehungsorientierte Interventionen dazu verhelfen soll, den emo-
tionalen und sozialen Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden.
Der nun folgende Punkt behandelt Interventionsprogramme. Zunächst wird auf-
gezeigt, wie die Bindungstheorie bisher Eingang in Beratung und Therapie
gefunden hat. Wichtig ist dabei, das Konzept des Beraters als ,,sichere Basis"
darzustellen, die der Bindungstheorie zufolge einen bedeutungsvollen Stellen-
wert besitzt. Daneben ist es wichtig, die therapeutische Beziehung als eine reelle
Beziehung anzusehen sowie die Beziehung zum eigenen Selbst und die Eltern-
Kind-Beziehung innerhalb der Therapie zu analysieren.
Daraufhin folgt eine Darstellung der integrativen Funktion der Bindungstheorie in
der Familientherapie, da die Gründe einer unsicheren Bindung innerhalb des
Systems Familie liegen und in diese Art der Therapie die ganze Familie einbezo-
gen wird.
Der nächste Unterpunkt handelt von der Video-Mikroanalyse-Therapie, in der die
Bedeutung der Videodarstellung von Familienkonstellationen sichtbar wird. Die-
ser Ansatz wird als Kurzzeittherapie eingesetzt und basiert meist auf einem psy-
chotherapeutischen Ansatz.
Im folgenden Unterpunkt wird das Projekt ,,Kreis der Sicherheit" exemplarisch für
ein Interventionsprogramm vorgestellt. Dieses bindungsgeleitete Programm rich-
tet sich an Eltern-Kind-Paare, deren Kinder im Vorschulalter und mit hohem Ent-
wicklungsrisiko behaftet sind. Die Intervention wird besonders bei misshandel-
ten, missbrauchten und vernachlässigten Kindern angewendet.
Im letzten Unterpunkt des vierten Kapitels wird er Versuch unternommen, einen
Bezug der Bindungstheorie zur Sonderpädagogik zu knüpfen, an dessen Lehr-
stuhl die vorliegende Diplomarbeit verfasst wird.
Die vorliegende Diplomarbeit orientiert sich an der Oxford-Zitatation. Direkte
Zitate werden wortwörtlich aus der Vorlage übernommen, Fehler der Autoren
unverbessert wiedergegeben, Satzzeichen unverändert übernommen. Änderun-
gen innerhalb eines Zitats werden durch ,,[...]" gekennzeichnet. Um direkte und
indirekte Zitate optisch voneinander abzugrenzen, wird mit dem Kürzel ,,Vgl." in

Einleitung
10
den Fußnoten auf auf indirekte Zitate hingewiesen, bei direkten Zitaten wird dar-
auf verzichtet.
Die Bezeichnung weiblicher und männlicher Personen durch die jeweils masku-
line Form entspricht nicht der anzustrebenden Gleichstellung von Mann und
Frau. In der vorliegenden Arbeit wird auf die Verwendung von Doppelformen und
anderen Kennzeichnungen für die weibliche bzw. männliche Form verzichtet, um
Lesbarkeit und Übersichtlichkeit zu wahren. Es werden nur Unterschiede ge-
macht, wenn das Geschlecht für die Darstellung einer Tatsache eine Rolle spielt.

11
1 Bindung
1.1 Historischer Überblick
Edward John Mostyn Bowlby wurde am 26. Februar 1907 in London geboren. Er
wuchs in einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie mit fünf Geschwistern
auf. Sein Vater, ein erfolgreicher und berühmter Chirurg, war aus beruflichen
Gründen nur selten zu Hause. Der Kontakt zu seiner Mutter war auf wenige
Stunden pro Tag beschränkt, weshalb er eine eher distanzierte Beziehung zu ihr
hatte. Der junge Bowlby wurde von Angestellten aufgezogen. Mit drei Jahren
verlor er seine wichtigste primäre Bezugsperson, sein Kindermädchen. Diese
drei Tatsachen in seiner Kindheitsgeschichte waren wahrscheinlich der Grund
dafür, dass Bowlby ein starkes Interesse für Fragen von Bindung, Trennung und
Verlust entwickelte und sich theoretisch eingehend mit diesen Themen beschäf-
tigte.
3
Trotz der Tatsache, dass seine schulischen Leistungen nur mittelmäßig waren,
schloss er seinen ersten Studienabschnitt in Cambridge in Medizin mit verschie-
denen Auszeichnungen ab. 1927, im dritten Jahr seines Studiums, beschäftigte
er sich erstmals mit entwicklungspsychologischen Themen, die ihn zu dem
Schluss führten, seine medizinische Laufbahn zumindest zeitweise aufzugeben.
Er brach sein Studium ab und arbeitete zwei Jahre lang in einem psychoanaly-
tisch orientierten Heim für Kinder und Jugendliche mit gestörtem Sozialverhal-
ten. Die Arbeit mit den sozial auffälligen Kindern und Jugendlichen war für
Bowlby ein emotionales und inhaltliches Schlüsselerlebnis, das seine spätere
Theorieentwicklung stark prägte, insbesondere seine Erfahrungen mit einem
sehr anhänglichen und einem sehr distanzierten Kind. In deren Verhaltenswei-
sen sah er die Auswirkungen früher Trennungen von den Eltern und anderer Stö-
rungen ihres Familienlebens.
4
Nach diesen zwei Jahren entschloss er sich zu einer Ausbildung in Kinder-
psychiatrie, nachdem er während seiner Studienzeit eine psychoanalytische
Ausbildung begonnen hatte.
3
Vgl. Brisch 2005, S. 29 ­ 32.
4
Vgl. Bretherton 1999, S. 27 ­ 31.

1 Bindung
12
Bis zum zweiten Weltkrieg arbeitete Bowlby als Leiter der London Child Gui-
dance Clinic. Während des Krieges schloss er sich einer Gruppe von Armeepsy-
choanalytikern und -psychiatern an, die junge Offiziere mit Hilfe von statistischen
und psychologischen Tests untersuchte. Nach dem Krieg baute er eine Abteilung
für Kinderpsychotherapie in der Tavistock Clinic auf, die den Einfluss der Tren-
nung von Mutter und Kind auf die kindliche Entwicklung untersuchte.
Einer neu gegründeten Forschergruppe in der Tavistock Clinic schloss sich unter
anderem James Robertson an, mit dem Bowlby einen ,,sehr bewegenden und
beeindruckenden"
5
Dokumentarfilm mit dem Titel ,,A two year old goes to hos-
pital" drehte. Darin wurden verschiedene Phasen des Verhaltens eines zweijähri-
gen Mädchens aufgezeigt, das ohne Mutter ins Krankenhaus kommt. Die Reakti-
onsphasen auf die Trennung von seiner Mutter, Protest, Trauer und Anpassung,
waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Bowlby und Robertson veränder-
ten mit diesem Film die Besuchspraktiken in Kinderkliniken zunächst in London,
später auch in vielen anderen Ländern der Welt.
Bowlbys erste Veröffentlichung ,,Forty-four juvenile thieves: Their characters and
home life" kam 1946 auf dem Markt. Sie behandelt die Wirkung von Umweltein-
flüssen auf die frühkindliche Entwicklung. Dabei bezog er sich auf seine Erfah-
rungen, die er mit 44 jugendlichen Dieben machte. Mit dieser Publikation wollte
er aufzeigen, wie frühe emotionale Traumatisierungen durch Verlust- und Tren-
nungserlebnisse die Entwicklung von Verhaltensstörungen beeinflussen können.
Damals schon grenzte er sich von der Psychoanalyse und besonders Sigmund
Freud ab, indem er zu beweisen versuchte, dass frühkindliche Erlebnisse in der
Beziehung zu den Eltern die emotionale Entwicklung eines Kindes grundlegend
bestimmen und nicht nur Ödipuskomplex oder Sexualität.
In seinem Aufsatz ,,The nature of the child's tie to his mother", der 1958
erschien, legte er seine Theorie dar, nach der es ein biologisch angelegtes Sys-
tem der Bindung gibt, das die Entwicklung der starken emotionalen Beziehung
zwischen Kind und Mutter steuert. Seine Auffassungen waren stark von der
ethologischen Forschung beeinflusst, insbesondere durch die Arbeiten von Niko-
laas Tinbergen und Konrad Lorenz
6
.
5
Brisch 2005, S. 30.
6
Siehe dazu 2.2: Die Entwicklung der Bindungstheorie.

1 Bindung
13
Daraufhin hielt er drei Vorträge vor der Britischen Psychoanalytischen Gesell-
schaft, bei denen er seine Auffassungen zur Bindungstheorie öffentlich zur Dis-
kussion stellte. Die Reaktionen waren kritisch bis ablehnend, insbesondere die
Tatsache, dass sich Bowlby gegen Freuds Triebtheorie stellte, nach der vor
allem die orale Befriedigung durch das Stillen an der Mutterbrust für die Entwick-
lung der Mutter-Kind-Bindung wichtig ist. Auch die Anhänger Melanie Kleins
begegneten Bowlbys neuartigen Gedanken mit großer Skepsis. Allein Anna
Freud ist es zu verdanken, dass die Veröffentlichung seiner neuen Theorie nicht
zu seinem Ausschluss aus der Psychoanalytischen Gesellschaft führte.
1951 verfasste er im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Bei-
trag über die Situation der vielen heimatlosen und verwaisten Kinder in der
Nachkriegszeit. Darin beschrieb er
die nachteiligen Folgen, die entstehen, wenn
Kinder ohne ihre Mutter in Institutionen aufwachsen, in denen ihre emotionalen
und kognitiven Bedürfnisse unzureichend befriedigt werden. Die Hauptaussage
des Berichtes ist, dass die lang andauernde Trennung des Kindes von der Mut-
ter bei ungenügendem Ersatz ein großer Risikofaktor
7
für seine weitere gesunde
seelische Entwicklung ist.
Diese Überlegungen flossen in die 1958 veröffent-
lichte Monographie "Maternal Care and Mental Health" (dt.: ,,Mütterliche Für-
sorge und seelische Gesundheit") ein, die sich mit 450 000 verkauften Exem-
plaren der englischen Ausgabe sofort zum Bestseller entwickelte
8
und ihn in For-
scherkreisen berühmt machte.
9
Die gemeinsamen wissenschaftlichen Aktivitäten mit der kanadischen Entwick-
lungspsychologin Mary Ainsworth (1913 ­ 1999), die auch in Bowlbys Forscher-
gruppe in der Tavistock Clinic arbeitete, waren für die Entwicklung der Bindungs-
theorie von grundlegender Bedeutung. Ainsworth promovierte in Toronto über die
Sicherheitstheorie, derzufolge ,,jedes menschliche Wesen für seine emotionale
Entwicklung ein Urvertrauen zu einer wichtigen Bezugsperson entwickeln
müßte"
10
. Wenig später erhielt ihr Ehemann eine Stelle in Uganda, wohin Mary
Ainsworth ihn begleitete. Dort führte sie ein Feldforschungsprojekt über mütterli-
ches Pflegeverhalten sowie Bindungs- und Trennungsverhalten von Kindern in
7
Siehe dazu 3.4: Risiko- und Schutzfaktoren.
8
Vgl. Holmes 2002, S. 44.
9
Vgl. Brisch 2005, S. 29 ­ 32.
10 Brisch 2005, S. 33.

1 Bindung
14
verschiedenen alltäglichen Situationen durch, das sie in ihrem Buch ,,Infancy in
Uganda" veröffentlichte. 1956 zog sie nach Baltimore, wo sie an der John-Hop-
kins-Universität lehrte und eine erste Längsschnittstudie mit Säuglingen durch-
führte.
Bekannt wurde sie durch ihre Entwicklung der sogenannten ,,Fremden Situation"
(,,strange situation"), eines testähnlichen standardisierten Settings zur Unter-
suchung des Bindungs- und Trennungsverhaltens von Kindern im Beobach-
tungslabor. Ainsworth stellte dabei drei Ausprägungen von Bindungstypen bei
Kindern fest, die sich in Interaktion mit der Bindungsperson entwickeln können.
Diese sind ,,sicher", ,,unsicher-vermeidend" und ,,unsicher-ambivalent"
11
.
12
1969
veröffentlichte Ainsworth ihre Ergebnisse zur Bindung bei Säuglingen. Hierbei er-
fuhren die theoretischen Überlegungen zum Konzept der Bindung eine erste
empirische Fundierung.
Beinahe gleichzeitig veröffentlichte Bowlby 1969 den ersten Band seiner Trilogie
,,Attachment and Loss" über die Bindungstheorie mit dem Originaltitel ,,Attach-
ment" (dt.: ,,Bindung", 1975). 1973 erschien der zweite Band mit dem Originaltitel
,,Separation. Anxiety and Anger" (dt.: ,,Trennung", 1976), in dem der Einfluss von
Trennungserlebnissen thematisiert wird. 1980 erschien der letzte Teil der Trilogie
mit dem Originaltitel ,,Loss, Sadness and Depression" (dt.: ,,Verlust", 1983).
13
Eine weitere empirische Fundierung erhielt die Bindungstheorie durch eine Viel-
zahl von Längsschnittstudien, die Ainsworth mit einer großen Anzahl an Dokto-
randen durchführte, unter ihnen bekannte Bindungsforscher wie Alan Sroufe,
Everett Waters oder Mary Main. Unter Ainsworth' Schülern waren auch Klaus
und Karin Grossmann, die in Deutschland seit Jahrzehnten weltweit beachtete
Längsschnittstudien über menschliche Bindungen durchführen und so einen
wesentlichen Grundstein für die europäische Bindungsforschung legten.
Mary Main spezialisierte sich später auf den Aspekt der Sprache innerhalb der
Bindungstheorie und entwickelte das sogenannte ,,Adult-Attachment-Interview"
14
.
Mit diesem halbstrukturierten Interview konnte man nun Bindungserfahrungen
11 Siehe dazu 1.4.2: Die Bindungsqualität am Ende des ersten Lebensjahres.
12 Vgl. Ainsworth 1978, S. 55 ­ 58.
13 Vgl. Brisch 2005, S. 33.
14 Siehe dazu 1.4.4: Beziehungsrepräsentanzen der Bindungspersonen.

1 Bindung
15
sowie aktuelle Einstellungen zur Bindung bei Erwachsenen retrospektiv erfas-
sen.
15
Bowlby beschäftigte sich später auch mit der Bedeutung von Bindung über die
Lebensspanne. Für ihn ist
,,Bindungsqualität, wie sie sich in den ersten Monaten zwischen einem Säugling
und seiner primären Bezugsperson entwickelt, kein Fixum, sondern ein Kontinu-
um, das sich durch emotionale Erfahrungen in neuen Beziehungen zeitlebens in
verschiedene Richtungen ändern kann."
16
In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte sich John Bowlby intensiv mit der
therapeutischen Umsetzung seiner Theorie. Dabei waren ihm die Prävention von
Fehlentwicklungen in der frühen Eltern-Kind-Beziehung ebenso wichtig wie die
psychotherapeutische Arbeit.
Heute ist die Bindungstheorie eine durch empirische, besonders auch durch pro-
spektive Längsschnittstudien, gut fundierte Theorie über die emotionale Entwick-
lung des Menschen und trägt als ein wichtiger Baustein zum besseren Verständ-
nis lebenslanger menschlicher Entwicklung bei.
17
1.2 Entwicklung der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie verbindet Bowlby zufolge ethologisches, entwicklungspsy-
chologisches, psychoanalytisches und systemisches Denken. Sie befasst sich
mit den
,,grundlegenden frühen Einflüssen auf die emotionale Entwicklung des Kindes und
versucht, die Entstehung und Veränderung von starken gefühlsmäßigen Bindun-
gen zwischen Individuen im gesamten menschlichen Lebenslauf zu erklären."
18
Die Psychoanalyse bietet zur Erklärung der Mutter-Kind-Bindung zwei verschie-
dene Theorien an, zum einen die Triebtheorie, zum anderen die Theorie der
Objektbeziehungen, die nach Bowlby jedoch beide große Mängel aufweisen.
19
15 Vgl. Brisch 2005, S. 34.
16 Brisch 2005, S. 34.
17 Vgl. Brisch 2005, S. 35.
18 Brisch 2005, S. 35.
19 Vgl. Holmes 2002, S. 82.

1 Bindung
16
Der Triebtheorie zufolge, die von Freud formuliert wurde, ist die Libido das Band,
das Mutter und Kind aneinander bindet. Wenn der Säugling hungrig ist, erlebt er
einen Spannungsaufbau, der die Notwendigkeit bedeutet, Nahrung aufzuneh-
men, indem er an der Mutterbrust saugt. Dadurch kann er seine kindliche
Sexualität auszudrücken und die Spannung wieder abbauen. Die Mutter ist für
ihn das Instrument, seine Libido zu befriedigen. Ist die Mutter bzw. ihre Brust
nicht da, baut sich im Kind aufgrund der nicht entladenen Libido eine Spannung
auf, die von ihm als Angst empfunden wird. Auf diese Weise lernt das Kind,
seine Mutter zu lieben, weil sie es füttert und ihm so die innere Spannung nimmt.
Die Basis der Liebe bedeutet bei Freud stets die Befriedigung körperlicher
Bedürfnisse:
20
,,Der Grund, warum der Säugling in den Armen der Mutter ihre Nähe spüren will ist
nur der, dass er schon aus Erfahrung weiß, dass sie all seine Bedürfnisse ohne
Verzögerungen befriedigt. Somit ist die Situation, die er als 'Gefahr' betrachtet und
gegen die er geschützt werden will, die der Nicht-Befriedigung einer wachsenden
Spannung aufgrund von Bedürfnissen, und gegen die ist er hilflos."
21
Doch trotz dieser Fokussierung auf physiologische Bedürfnisse betont Freud,
dass die Abwesenheit der Mutter eine Gefahr für das Kind darstellt. Diese Aus-
sage geht in die Richtung der Objetktbeziehungstheorie, die auf Melanie Klein
zurückgeht. Demnach gibt es eine enge Verbindung zwischen den physiologi-
schen Vorgängen der Fütterung und des Entfernens der Mutter.
Bowlby zufolge wird Bindung nicht auf Triebe oder Bedürfnisse zurückgeführt,
sondern es gibt ein biologisch angelegtes und angeborenes System der Bin-
dung
22
, das für die Entwicklung der starken emotionalen Beziehung zwischen
Mutter und Kind verantwortlich ist. Diese Theorie ist stark von der ethologischen
Forschung Charles Darwins beeinflusst, die besagt, dass jeder Mensch mit Ver-
haltenssystemen ausgestattet ist, die durch Anpassungsleistungen an die jewei-
lige Umwelt das Überleben der Spezies sichern.
23
Besonders interessierte sich Bowlby für die Feldforschung über die frühe Prä-
gung, die von Konrad Lorenz, dem Hauptvertreter der klassischen vergleichen-
20 Vgl. Holmes 2002, S. 82 ­ 83.
21 Freud zit. bei Holmes 2002, S. 83.
22 Vgl. Bowlby 1984, S. 173.
23 Vgl. Asendorpf 2002, S. 55 ­ 58.

1 Bindung
17
den Verhaltensforschung und der evolutionären Erkenntnistheorie, durchgeführt
wurde. Ebenso prägte der niederländische Ethologe Nikolaas Tinbergen die
Grundzüge von Bowlbys Theorien. Beide stellten Forschungen über angebore-
nes Verhalten bei Tieren mit Hilfe von Experimenten an. Besonders bekannt ist
das klassische Beispiel der Graugänse.. Lorenz fand heraus, dass man Grau-
gansbabys nach der Geburt in einer sensiblen Phase leicht auch auf eine
Attrappe prägen kann, zu der sie sich bei Gefahr flüchten und sich an sie ku-
scheln. Zudem zeigen sie Reaktionen der Angst, wenn sie von der Attrappe
getrennt werden, selbst wenn diese sie nicht mit Nahrung versorgt hat.
24
Auch
bei diesen Experimenten schien die Bindung von der Nahrung unabhängig zu
sein.
Auch die lerntheoretischen Studien des amerikanischen Psychologen und Ver-
haltensforschers Harry Harlow über die Auswirkungen, die unterschiedliche Mut-
ter-Kind-Beziehungen auf das Verhalten von Rhesusaffen haben, beeinflussten
Bowlbys Arbeit.
25
Harlow führte Experimente mit Rhesusaffenbabys durch, die
sofort nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt und mit Ersatzmüttern aus
Draht aufgezogen wurden. An einer der beiden Mütter war eine Flasche mit Nah-
rung angebracht, die andere hatte keine Nahrung, war aber dafür mit einem flau-
schigen Tuch umwickelt. Es zeigte sich, dass die jungen Äffchen die weiche Mut-
ter bevorzugten und sich an sie schmiegten.
26
Harlow zog daraus den Schluss,
dass die Aufgabe der Mutter nicht die bloße Nahrungsbefriedigung der Jungtiere
ist.
Aufgrund dieser Experimente über Prägung vermutete Bowlby, dass auch Men-
schen mit angeborenen Verhaltensweisen ausgestattet sind, wie beispielsweise
der Bildung enger sozialer Eltern-Kind-Beziehungen, und dass diese Verhaltens-
weisen von der Fütterung unabhängig sind
27
.
Heute gehört die Bindungstheorie zu den etablierten Theorien innerhalb der Psy-
chologie. Sie befasst sich mit der emotionalen Entwicklung des Menschen und
besonders mit den emotionalen Folgen, die sich aus negativen Bindungserfah-
24 Vgl. Montada 2002, S. 35.
25 Vgl. Holmes 2002, S. 84.
26 Vgl. Rauh 2002, S. 197 ­ 198.
27 Vgl. Holmes 2002, S. 84.

1 Bindung
18
rungen ergeben können. Sie wurde von Bowlby ursprünglich als klinische Theo-
rie entwickelt, um
,,die menschliche Neigung zur Knüpfung starker emotionaler Bindungen an be-
stimmte andere Menschen auf neue und erhellende Weise zu konzeptionalisieren
und die vielen Formen von emotionalen und Persönlichkeitsstörungen, einschließ-
lich Angst, Zorn, Depression und emotionaler Entfremdung, die durch ungewollte
Trennung und Verlust ausgelöst werden, zu erklären."
28
1.3 Grundannahmen der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie beschäftigt sich mit Phänomenen, die vor der Zeit Bowlbys
in der psychoanalytischen Welt als ,,Abhängigkeitsbedürfnis" (,,dependency
need") oder ,,Objektbeziehungen" ("object relations") bezeichnet wurden. Mit
Hilfe der Bindungstheorie sollen in den folgenden Unterkapiteln affektive Bindun-
gen zwischen Mutter und Kind verständlich gemacht werden.
29
.
1.3.1 Ontogenese der Bindung: Das Vierphasenmodell nach Bowlby
Schon bei der Geburt ist ein Kind mit einer Vielzahl von Verhaltensmodellen aus-
gestattet, die durch bestimmte Reize aktiviert und wieder beendet werden kön-
nen. Unter diesen Systemen befinden sich bereits wichtige Bausteine für die
sich später entwickelnde Bindung. Dazu zählen die primitiven Systeme wie
Schreien, Saugen, Festhalten und Orientierung. Einige Wochen später folgen
Lächeln und ,,Schwätzeln"
30
, noch später Kriechen und Gehen.
Treten diese Verhaltensweisen erstmals auf, sind sie noch einfach strukturiert,
werden jedoch mit zunehmendem Alter komplexer. Zudem besteht von Anfang
an die auffallende Tendenz bei Neugeborenen, auf bestimmte Reize verstärkt zu
reagieren. Diese sind die auditiven Reize einer menschlichen Stimme, die visu-
ellen Reize eines menschlichen Gesichts und die taktilen und kinästhetischen
Reize von Menschenarmen und -körpern. Aus diesen anfangs sehr einfach
gestrickten Reizen entwickeln sich die verfeinerten und komplexen Systeme, die
28 Bowlby 1976, S. 57.
29 Bowlby 1987, S. 23.
30 Vgl. Bolby 1984, S. 247.

1 Bindung
19
schon in der frühen Kindheit und das gesamte Leben lang Bindung an be-
stimmte Figuren vermitteln.
31
Bowlby gliederte die Entwicklung des Bindungsverhaltens in die folgenden vier
Phasen. Sie lassen sich jedoch nicht klar voneinander abgrenzen, sondern kön-
nen je nach Entwicklungsstand des Kindes ineinander übergehen.
1. Orientierung und Signale ohne Unterscheidung der Figur
In Phase 1 ist die Fähigkeit eines Babys, Personen voneinander zu unterschei-
den, entweder sehr beschränkt oder noch nicht vorhanden. Diese Phase dauert
von der Geburt bis zu einem Alter von mindestens acht, häufig sogar bis zu
zwölf Wochen, bei ungünstigen Bedingungen sogar noch länger.
Charakteristisch für diese Phase ist die Orientierung des Babys auf eine Person,
das Mit-den-Augen-verfolgen, Greifen und Langen, Lächeln und Schwätzeln,
Schreien, Festsaugen, Umklammern und Anschmiegen. Häufig hört ein Baby
auf zu schreien, wenn es eine Stimme hört oder ein Gesicht sieht. Dabei unter-
scheidet es jedoch noch nicht zwischen seiner Bindungsperson und anderen
Personen.
32
2. Orientierung und Signale, die sich auf eine (oder mehrere) unterschiedene
Person (Personen) richten
In Phase 2 verhält sich das Baby ebenso freundlich anderen Personen gegen-
über wie in Phase 1. Sein Verhalten ist jetzt jedoch stärker auf die Mutter als auf
andere Personen gerichtet. Es reagiert deutlich besser und schneller auf ihre
Äußerungen und Verhaltensweisen. Sie kann das Kind auch eher zum Lachen
oder zum Vokalisieren bringen und besser trösten kann als andere Personen.
Mary Ainsworth nennt diese Phase die ,,Phase der unterschiedlichen sozialen
Reaktionsbereitschaft"
33
. Der Säugling zeigt schon leichte zielorientierte Tenden-
zen.
Unterscheidungsreaktionen auf auditive Reize manifestieren sich meist nach vier
Wochen, auf visuelle Reize nach etwa zehn Wochen. Bei den meisten Babys,
die in einer Familienumgebung aufwachsen, sind beide Reize deutlich vor dem
31 Vgl. Bowlby 1984, S. 247.
32 Vgl. Bowlby 1984, S. 247 ­ 248.
33 Ainsworth zit. bei Grossmann & Grossmann 2005, S. 73.

1 Bindung
20
Alter von zwölf Wochen an zu erkennen. Diese Phase dauert bis etwa sechs
Monate an, kann jedoch auch länger dauern.
34
3. Aufrechterhaltung der Nähe zu einer unterschiedenen Figur durch Fortbewe-
gung und Signale
In Phase 3 wird das Kind zunehmend wählerisch bei der Behandlung von Perso-
nen. Auch sein Repertoire an Reaktionen erweitert sich. Der zunehmend mobile
Säugling kann jetzt aktiver und selbstständiger als vorher die Nähe zur Bin-
dungsperson bestimmen. Die Vokalisation des Babys wird differenzierter, es be-
ginnt, Erzähllaute zu äußern und lernt, zu rufen, zu grüßen oder fragend und
anklagend zu jammern. Zeitgleich nehmen die freundlichen und nicht-unter-
scheidenden Reaktionen auf alle anderen Personen ab. Das Baby wählt sich
nun untergeordnete Bindungsfiguren aus. Fremde werden von ihm nun mit grö-
ßerer Vorsicht behandelt und rufen häufig Alarm- und Rückzugsreaktionen her-
vor. Es beginnt zu ,,Fremdeln".
In dieser Phase wird das Verhalten eines Babys gegenüber seiner Mutter mehr
und mehr zielkorrigiert und die Bindung zwischen beiden wird deutlicher. Der
Säugling beginnt in dieser Phase eine rudimentäre Vorstellung von seiner Mutter
als Quelle von Schutz, Trost und Wohlbehagen zu erwerben. Diese Phase wird
von Piaget als das vierte Stadium der sensomotorischen Entwicklung beschrie-
ben, in dem Objektpermanenz entsteht. Ein Objekt oder eine Person haben für
das Baby nun eine eigene Existenz, unabhängig seiner eigenen Handlung. Das
bedeutet, es erinnert sich an Dinge oder Personen, auch wenn es diese im
Moment nicht sieht.
35
Die Nähe zu seiner Bindungsfigur wird vom Kind durch ein-
fach organisierte, zielkorrigierte Systeme aufrechterhalten.
Diese Phase der Bindungsentwicklung beginnt meist zwischen sechs und sieben
Monaten, kann sich jedoch auch bis nach den 12. Monat verzögern. Dies
geschieht besonders bei Kindern, die wenig Kontakt mit einer Hauptbindungsfi-
gur hatten. Phase 3 endet zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr eines
Kindes.
36
34 Vgl. Bowlby 1984, S. 248.
35 Vgl. Rauh 2002, S. 174 ­ 175.
36 Vgl. Bowlby 1984, S. 248.

1 Bindung
21
4. Bildung einer zielkorrigierten Partnerschaft
In Phase 4 beginnt das Kind zunehmend, seine Mutter zu beobachten und zu
erkennen, dass diese eigene Ziele und Pläne hat. Das Weltbild des Kindes wird
nun komplexer und sein Verhalten flexibler, da es nach und nach einen Einblick
in die Gefühle und Motive der Mutter bekommt. Es versteht, dass womöglich
Interessenkonflikte zwischen den Plänen der Mutter und seinen Wünschen ent-
stehen. Ist es an dieser Stelle angekommen, ist die Grundlage für eine weitaus
komplexere Beziehung zwischen Kind und Mutter gelegt. Diese Beziehung nennt
Bowlby ,,zielkorrigierte Partnerschaft".
37
Eine zielkorrigierte Partnerschaft beginnt bei Kindern normalerweise nicht vor
dem zweiten Lebensjahr, bei den meisten Kindern eher um den dritten Geburts-
tag oder noch später, jedoch nicht bevor sie sprechen können und verstehen,
was die Mutter beabsichtigt.
38
1.3.2 Konzept Bindung
Bindung bedeutet das imaginäre, affektive Band zwischen zwei Personen, das
auf Gefühlen basiert und beide über Raum und Zeit hinweg verbindet. Bindung
ist also ein emotionales Band, das sich in der Kindheit zwischen einem Kleinkind
und seiner Mutter bzw. seinen Eltern entwickelt. Der Einfluss einer Bindung ist
jedoch nicht auf diesen Lebensabschnitt begrenzt, sondern dehnt sich auf alle
Lebensabschnitte aus. Babys binden sich an ihre Mütter oder primäre Pflegeper-
sonen und erwarten von ihnen Schutz und Fürsorge.
Die mit einer Bindung verbunden Gefühle sind sehr unterschiedlich und variieren
je nach Situation. Meist assoziiert man mit Bindung Gefühle wie Zuneigung und
Liebe. Sie ist allerdings auch mit Trennungsleid und Sehnsucht verknüpft. Die
intensivsten Gefühle treten während der Entstehung, der Aufrechterhaltung, der
Unterbrechung und dem Ende von Bindungen auf. Das Entstehen einer Bindung
kann man mit dem Prozess des Sich- Verliebens vergleichen. Die ,,unangefoch-
tene Beständigkeit einer Bindung"
39
nennt man Liebe. Sie ist eine große Quelle
psychischer Sicherheit für die Beteiligten. Man empfindet Angst und Ärger, wenn
diese Bindung gefährdet wird, sogar Kummer und Trauer, wenn die Bindung
37 Bowlby 1984, S. 249.
38 Vgl. Bowlby 1984, S. 249.
39 Grossmann & Grossmann 2005, S. 69.

1 Bindung
22
unterbrochen oder gar abgebrochen wird. Angst und Wut erhöhen jedoch wie-
derum Aufmerksamkeit und Kampfbereitschaft, für den Erhalt der Bindung zu
kämpfen.
1.3.3 Bindungsverhalten
Bowlby definiert Bindungsverhalten (,,Attachment") als das ,,Aufsuchen und Auf-
rechterhalten der Nähe eines anderen Lebewesens"
40
und führt Bindungsverhal-
ten auf die ,,Aktivierung bestimmter Verhaltenssysteme"
41
zurück, die sich
,,im Kleinkind als Resultat einer Wechselbeziehung mit der Umwelt seiner evolutio-
nären Angepasstheit entwickeln, besonders der Wechselwirkung mit der wichtigs-
ten Figur in dieser Umwelt, nämlich der Mutter."
42
Ödipuskomplex, Sexualität und Nahrung werden dabei eine untergeordnete
Rolle zugeschrieben.
Bowlby formulierte seine Hypothese über das Bindungsverhalten in Anlehnung
an die Instinkttheorie, nach der das Band zwischen Mutter und Kind das Produkt
der Aktivität einer großen Anzahl von Verhaltenssystemen ist, deren vorausseh-
bares Ergebnis die Nähe zur Mutter ist.
43
Es ist wichtig, zwischen einer bestehenden Bindung und offen gezeigtem Bin-
dungsverhalten zu unterscheiden. Bindungsverhalten wird nur unter Belastung
offensichtlich, eine Bindung dagegen besteht kontinuierlich über Raum und Zeit
hinweg. Besteht keine Gefahr für den Erhalt der Bindung, wird auch kein Bin-
dungsverhalten gezeigt. Ein Kleinkind, das gut gelaunt ist und in Anwesenheit
seiner Mutter kein Bindungsverhalten zeigt, ist trotzdem an die Mutter gebunden.
Es ist falsch, die Abwesenheit von Bindungsverhalten unter positiven, sicheren
Umständen als Abwesenheit von Bindung zu interpretieren. Zeigt das Kind unter
bestimmten, widrigen Bedingungen jedoch kein Bindungsverhalten, sollte man
stutzig werden, da in diesem Fall die Person für das Kind keine Bindungsperson
ist, oder es zu oft leidvoll hatte erfahren müssen, dass seine Bindungsperson es
nicht beruhigt und so ihre Schutzfunktion nicht genügend ausgeübt hat.
44
40 Bowlby 1984, S. 186.
41 Bowlby 1984, S. 173.
42 Bowlby 1984, S. 173.
43 Vgl. Bowlby 1984, S. 240 ­ 241.
44 Vgl. Grossmann & Grossmann 2005, S. 70 ­ 71.

1 Bindung
23
Das Bindungsverhalten zeigt sich meist erst im 2. Lebensjahr, wenn Phase 3
oder 4 aus Bowlbys Vierphasenmodell
45
erreicht wurde, da das Kind in diesem
Alter beweglicher geworden ist, und die Verhaltenssysteme je nach Entwick-
lungsstand mehr oder weniger aktiviert sind. Die Verhaltenssysteme zeigen sich
besonders, wenn mindestens eine der folgenden Bedingungen eingetreten ist.
1. Der Zustand des Kindes ist wichtig. Wenn es müde, hungrig oder krank ist,
Schmerzen hat oder friert, wird sich das Kind besonders mutterbezogen ver-
halten und intensives Bindungsverhalten zeigen. Für die Mutter wird es
schwierig sein, die Verhaltensweisen ihres Kindes zu beenden.
2. Die Verhaltenssysteme werden auf Standort und Verhalten der Mutter bezo-
gen und aktiviert, wenn diese abwesend ist, sich entfernt oder gar die Nähe
zum Kind abwehrt.
3. Für die Aktivierung der Verhaltenssysteme, die Bindung vermitteln, sind wid-
rige Umweltbedingungen wichtig. Wenn beispielsweise alarmierende
Geschehnisse auftreten oder das Kind Abwehrhandlungen anderer Erwach-
sener oder Kinder erfährt, sucht es verstärkt die Nähe der Mutter und wird
alles daran setzen, dass sie in seine Nähe kommt.
46
Das Bindungssystem stellt nach Bowlby ein
,,primäres, genetisch verankertes motivationales System dar, das zwischen pri-
mären Bezugspersonen und dem Säugling in gewisser biologischer Präformiertheit
nach der Geburt aktiviert wird und überlebenssichernde Funktionen hat."
47
Die Verhaltenssysteme werden durch die Stimme oder den Anblick der Mutter
und durch ihre Berührung am wirksamsten beendet. Nach dem dritten Geburts-
tag des Kindes werden diese Systeme weniger leicht aktiviert, da die Nähe zur
Mutter nun weniger dringend wird.
48
45 Siehe dazu 1.3.1: Die Ontogenese der Bindung: Das Vierphasenmodell nach Bowlby.
46 Vgl. Bowlby 1984, S. 240 ­ 245.
47 Bowlby zit. bei Brisch 2005, S. 35 ­ 36.
48 Vgl. Bowlby 1984, S. 172 ­ 174.

1 Bindung
24
Für Bowlby hat das Bindungsverhalten drei Funktionen:
1. Schutz
2. Lernen
3. Anpassung an den Lebensraum
Die wichtigste Funktion ist Schutz und Beschütztwerden vor Gefahren. Für das
unselbständige menschliche Neugeborene und Kleinkind ist die Schutzfunktion
durch eine Bezugsperson von lebenserhaltender und lebenswichtiger Bedeu-
tung.
Zweitens hat das Baby durch sein Bindungsverhalten die Möglichkeit, Tätigkei-
ten und Dinge, die es für sein Überleben und seine Rolle in der Gemeinschaft
benötigt, von seiner Mutter abzuschauen und zu erlernen.
Die dritte Funktion von Bindungsverhalten ist Bowlby zufolge eine biologische:
,,Sie ist die Konsequenz, die im Laufe der Evolution das betreffende Verhalten
der biologischen Ausrüstung einer Art einverleibt hat."
49
Bei dieser Hypothese stützte sich Bowlby auf Charles Darwin und seine Theorie
der Anpassung an den Lebensraum. Das ,,Einverleiben" ist die Folge eines Vor-
teils im Sinne des Überlebens und des differentiellen Zuchterfolgs, den dieses
Verhalten einem Individuum verleiht. Individuen, die mit einem vorteilhaften Ver-
halten ausgestattet sind, sind am besten an die Umwelt angepasst und besitzen
so im Kampf um knappe Ressourcen Vorteile. Sie hinterlassen mehr Nachkom-
men als andere, denen dieses Verhalten fehlt, und deren Nachkommen durch
Vererbung auch nicht damit ausgestattet sein werden (,,Survival of the fittest").
Auf diese Weise werden mit der Zeit alle Mitglieder einer Spezies mit der Fähig-
keit zur Entwicklung dieses Verhaltens ausgestattet.
50
Die Formen von Bindungsverhalten richten sich gewöhnlich auf die Mutter oder
die primäre Bindungsperson. Daher muss sich das Kind zur Mutter hin orientie-
ren. Orientierungsverhalten ist also ein wesentliches Kriterium für Bindungsver-
halten.
49 Bowlby 1984, S. 212.
50 Vgl. Asendorpf 2002, S. 54 ­ 57.

1 Bindung
25
Man spricht jedoch erst von Bindung, wenn das Kind nicht nur seine Mutter
erkennt, sondern sich auch so verhält, dass die Nähe zu ihr erhalten bleibt.
51
Man kann zwei Hauptgruppen von Verhaltensweisen klassifizieren, die Bindung
ausmachen. Zum einen das Signalverhalten, das bewirkt, dass die Mutter zum
Kind kommt, zum anderen das Annäherungsverhalten, das bewirkt, dass das
Kind zur Mutter kommt. Beide haben als voraussehbares Ergebnis die größere
Nähe von Mutter und Kind.
Zum Signalverhalten zählen unter anderem Schreien, Lächeln, ,,Schwätzeln"
52
,
später dann Rufen und das Arm-Ausstrecken. Die verschiedenen Signalkompo-
nenten des Bindungsverhaltens sind jedoch nicht austauschbar. Das Schreien
des Babys wirkt auf die Mutter ganz anders als sein Lächeln Anfangs sind diese
Verhaltensweisen nicht zielkorrigiert. Ein Signal wird ausgesandt und vom Part-
ner entweder beantwortet oder nicht. Wird es beantwortet, hören Schreien und
Lächeln für gewöhnlich auf. Wird auf das Signal jedoch nicht reagiert, kann das
daraus resultierende Verhalten unterschiedlich sein. Schreit das Baby, wird die-
ses Signal vermutlich noch lange weiter abgegeben. Das Signal kann jedoch
auch enden oder durch ein anderes ersetzt werden. Lächelt das Baby beispiels-
weise, und die Mutter zeigt darauf keine Reaktion, wird dieses Signal nicht ewig
andauern, sondern geht womöglich in Schreien über.
Beispiele von Annäherungsverhalten sind Annäherung, Festhalten, nichtnähren-
des Saugen oder Ergreifen der Brust. Um die Nähe der Mutter zu erreichen,
setzt ein Kind alle verfügbaren Fortbewegungsfertigkeiten ein. Das bedeutet,
dass die betreffenden Verhaltenssysteme nicht nur zielkorrigiert sind, sondern
als Plan organisiert, da die Techniken, mit denen dieses Ziel der Nähe erreicht
werden soll, je nach Alter und Entwicklungsstand des Kindes flexibel sind.
Das Anklammern ist anfangs noch eine Reflexreaktion, die man auch bei Affen
und Menschenaffen findet, wird später jedoch zunehmend zielkorrigiert. Das
Saugen an der Brustwarze ist für Ernährung sowie Bindung wichtig. Dennoch
wird viel mehr Zeit mit nicht-nährendem Saugen als mit nährendem verbracht.
53
51 Vgl. Bowlby 1984, S. 190.
52 Bowlby 1984, S. 190.
53 Vgl. Bowlby 1984, S. 229 ­ 234.

1 Bindung
26
Sobald ein Kind krabbeln kann, begibt sich auf kleine Exkursionen
54
, um Perso-
nen und Objekte zu erkunden. Wird es ihm erlaubt, entfernt es sich sogar aus
dem Blickfeld der Mutter. Es kommt jedoch regelmäßig zu ihr zurück, um sich zu
vergewissern, dass sie noch da ist. Es benutzt sie also als Ausgangsbasis für
seine Erkundigungstouren. Diese enden abrupt, wenn das Kind erschrocken
oder verletzt ist, oder wenn sich die Mutter entfernt. Dann kehrt es schnell zu ihr
zurück, ist dabei verstört oder schreit verzweifelt. Dieses Verhalten ist meist
nach etwa acht Monaten zu beobachten, wenn das Kind in der dritten Phase des
Vierphasenmodells nach Bowlby angelangt ist.
55
Wenn ein Baby in diesem Alter ist, kann man beobachten, dass es sich in
Gegenwart seiner Mutter anders verhält als in ihrer Abwesenheit. Dieser Unter-
schied ist am stärksten ersichtlich, wenn es eine fremde Person erblickt oder
sich an einem fremden Ort befindet. Ist die Mutter in der Nähe, ist ein Kind meist
vertrauensvoller und zeigt eine größere Erkundungsbereitschaft, da es sich
sicher fühlt. Ist diese jedoch abwesend, ist es meist furchtsamer und lässt sich
nicht selten von Kummer überwältigen, auf den häufig Ärger folgt.
56
Versuche
hierzu hat besonders Mary Ainsworth durchgeführt.
57
Ab dem zweiten Lebensjahr etwa suchen sich die meisten Kinder zusätzliche
Bindungsfiguren aus. Diese werden hierarchisch in Haupt- und Nebenbindungs-
figuren gegliedert. Wer Hauptbindungsfigur ist, und wer Nebenbindungsfiguren
eines Kindes sind, hängt größtenteils davon ab, wer für es sorgt, und welche Mit-
glieder noch im gleichen Haushalt leben. Es ist eine empirische Tatsache, dass
dies in fast allen Kulturen Mutter und Vater sind, zudem ältere Geschwister und
möglicherweise noch Großeltern. Gewöhnlich fungiert die Mutter als Hauptbin-
dungsfigur, jedoch haben Untersuchungsergebnisse gezeigt, dass ein Kind, zu
dem sich ein Mutterersatz auf ,,mütterliche Weise"
58
verhält, diesen so behandelt,
als wäre er seine Mutter. Vater, Geschwister und Großeltern übernehmen meist
den Part der Nebenbindungsfiguren.
Es ist ungewiss, ob das soziale Verhalten von Kindern gleichzeitig auf eine
Hauptfigur und andere Bindungsfiguren oder ob es nicht erst später auf Nebenfi-
54 Siehe dazu 1.3.4: Explorationsverhalten.
55 Siehe dazu 1.3.1: Ontogenese der Bindung: Das Vierphasenmodell nach Bowlby.
56 Vgl. Bowlby 1984, S. 198 ­ 199.
57 Siehe dazu 1.4.1: Mary Ainsworth und die ,,Fremde Situation".
58 Bowlby 1984, S. 281.

1 Bindung
27
guren gerichtet wird. Fest steht, dass Babys, die eine intensive Bindung an ihre
Hauptbindungsfigur entwickeln, mit höherer Wahrscheinlichkeit ihr soziales Ver-
halten auch auf andere Figuren richten. Babys dagegen, die unsicher gebunden
sind, werden ihr Bindungsverhalten nur auf eine Figur richten und Schwierigkei-
ten bei der Entwicklung von Bindungsbeziehungen mit anderen Figuren haben.
Ist für ein Kind keine Bindungsfigur verfügbar, kann es sein Bindungsverhalten
auch auf Ersatzobjekte richten. Diese können beispielsweise nachts ein beson-
derer Teddy, eine weiche Kuscheldecke oder auch der Daumen zum Lutschen
sein, die das Kind über die Abwesenheit der Mutter hinwegtrösten.
59
Für den Aufbau einer sicheren Bindung sind folgende Verhaltensweisen der
Eltern nötig: Sensitivität für kindliche Signale, eine positive Haltung dem Kind
gegenüber, Synchronisation im Sinne einer sanften Abstimmung reziproker
Interaktionen mit dem Kind sowie Unterstützung und Stimulation durch häufige
Interaktionsaufnahme mit dem Kind. Diese Formen elterlichen Interaktionsver-
haltens tragen mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu bei, dass das Kind als sicher
gebunden
60
klassifiziert werden kann.
61
1.3.4 Explorationsverhalten
Dem Bindungsverhalten eines Kleinkinds steht sein Explorationsbedürfnis
gegenüber, das nach Bowlby ein weiteres motivationales System ist. Beide ste-
hen in wechselseitigem Verhältnis zueinander. Das Bindungssystem und das
Explorationssystem sind zwei getrennte, aber dennoch integrale und sich ergän-
zende Systeme, zwischen denen ein ,,dynamisches Gleichgewicht"
62
herrscht.
Beide wirken in einem verhaltensbiologischen und ontogenetischen Rahmen für
die Anpassung an bestimmte Lebenssituationen zusammen.
63
Exploration bedeutet, dass ein Kleinkind seine Umwelt erkundet und sich
dadurch von seiner Mutter entfernt. Es tut dies, wenn es seine Mutter als sichere
emotionale Basis sieht. Auf diese Weise kann es sich von ihr entfernen, ohne
59 Vgl. Bowlby 1984, S. 279 ­ 283.
60 Siehe dazu 1.4.2: Die Bindungsqualität am Ende der ersten Lebensjahres.
61 Vgl. Schneewind 2008, S. 134.
62 Ainsworth, Bell & Stayton 1971, S. 170.
63 Vgl. Grossmann & Grossmann 2005, S. 76 ­ 79.

1 Bindung
28
emotional in Stress zu geraten. Eine sichere Bindung ist daher Voraussetzung
für ein gesundes und erfolgreiches Explorationsverhalten.
Abbildung 1 Bindungs-Explorations-Balance
Quelle: Schieche 2001, S. 299.
Explorationsverhalten beginnt, wenn das Baby anfängt zu krabbeln, also etwa
mit sieben bis acht Monaten, wenn die Entwicklung des Kindes ungefähr von der
zweiten in die dritte Phase nach Bowlbys Entwicklungsmodell übergeht. Ab die-
sem Zeitpunkt ist es wichtig, dass die Mutter dem Erkundungsbedürfnis ihres

1 Bindung
29
Kindes Raum gibt, ihm auf der anderen Seite jedoch auch Grenzen setzt. Wird
es im Alter von einem Jahr in einen Laufstall gesetzt, wird sein Explorationsbe-
dürfnis kaum befriedigt werden. Es ist jedoch auch nicht richtig, den Raum über-
haupt nicht einzugrenzen, so dass das Kind im krassesten Fall das ganze Haus
erkunden kann. Die Mutter muss darauf achten, den Explorationsraum der jewei-
ligen Altersentwicklung des Kindes anzupassen, ohne dass er zu eng oder zu
weit ist. Dabei muss sie stets als sichere Basis in Sichtkontakt des Kindes blei-
ben. Sobald es von seiner Erkundigung zur Mutter zurückkehrt, muss es sich
von ihr emotional angenommen und sicher fühlen können. Fühlt es sich sicher,
ist sein Explorationsverhalten ,,vorprogrammiert"
64
und muss nicht erzwungen
werden.
Ist eine Mutter feinfühlig, wird sie die Selbststeuerung ihres Kindes bezüglich der
Distanz und Nähe zu ihr akzeptieren. Sie kann sich darauf verlassen, dass es in
Stresssituationen ihre Nähe sucht. Tritt dieses erwartete Verhalten jedoch nicht
auf, wurde es durch Zurückweisungen vermutlich häufig unterdrückt. Bindet eine
Mutter ihren Säugling übertrieben an sich, wird er sich zwar sicher fühlen, aber
gleichzeitig auch frustriert sein, da ihm kein ausreichender Spielraum für sein
Explorationsbedürfnis geboten wird.
Die wechselseitige Beziehung zwischen Bindung und Exploration ist kein Phäno-
men, das nur in der Kindheit auftritt, sondern ein beständiger Vorgang, der sich
während des gesamten Lebens fortsetzt.
65
Explorationsverhalten kann durch das Verfahren der ,,Fremden Situation"
66
, das
von Mary Ainsworth konzipiert wurde, beobachtet werden.
67
1.3.5 Innere Arbeitsmodelle
Innere Arbeitsmodelle sind ein Konstrukt zur Erklärung der Steuerung des Explo-
rationsverhaltens. Mit dem Konzept der inneren oder auch internen Arbeitsmo-
delle (,,inner/internal working models") versuchte John Bowlby, in Auseinander-
setzung mit der Theorie Piagets zur sensumotorischen Entwicklung des Kindes
zu erklären, wie sich die frühen Interaktionserfahrungen von Kindern auf ihre
64 Brisch 2005, S. 39.
65 Vgl. Brisch 2005, S. 38 ­ 39.
66 Siehe dazu 1.4.1: Mary Ainsworth und die ,,Fremde Situation".
67 Vgl. Grossmann & Grossmann 2005, S. 119.

1 Bindung
30
soziale und emotionale Entwicklung auswirken. Das sich entwickelnde Kind baut
eine Reihe von Modellen von sich selbst und anderen Menschen auf, die es auf
wiederholte Muster der Interaktionserfahrungen mit ihnen gründet. Auf dieser
Grundlage entwickelt es je nach Lebensalter mehr oder weniger genaue Vorstel-
lungen darüber, wer seine Bindungsfiguren sind, wo sie zu finden sind, wie sie in
verschiedenen Situationen reagieren und wie verfügbar und zugewandt sie sind.
Ebenso spielt beim Arbeitsmodell des Selbsts, das der Mensch von sich aufbaut,
das Wissen, wie er selbst in den verschiedenen Beziehungen zu diesen Bin-
dungsfiguren einzuordnen und zu bewerten ist, eine vergleichbare Schlüssel-
rolle.
Auf der Struktur dieser komplementären Modelle basieren nach Bowlby die
Annahmen und
,,Voraussagen der Person, wie zugänglich und reaktionsbereit ihre Bindungsfiguren
für den Fall sind, daß sie sich um Hilfe an sie wendet. Und im Sinne der hier ver-
tretenen Theorie, hängt es von der Anordnung dieser Modelle auch ab, ob die Per-
son das Vertrauen hat, daß ihre Bindungsfiguren im allgemeinen sofort verfügbar
sind, oder ob sie mehr oder weniger fürchtet, daß sie gelegentlich, häufig oder die
meiste Zeit über nicht verfügbar sein werden."
68
Kinder haben unterschiedliche innere Arbeitsmodelle, je nachdem, mit welchen
Personen sie zu tun haben. Bleibt das Verhalten einer Bindungsperson unverän-
dert, so bleiben die inneren Arbeitsmodelle des Kindes stabil. Verändert sich das
Verhalten der Bindungsperson in der Interaktion mit dem Kind jedoch einschnei-
dend, können sich innere Arbeitsmodelle ändern.
69
Auch wenn sich das Verhal-
ten eines Kindes in verschiedenen Situationen unterscheidet, bleibt die innere
Organisation grundsätzlich erhalten. Unterschiedliche Modelle führen demnach
zu unterschiedlichem Verhalten
70
:
,,Wie diese Modelle konstruiert sind und Wahrnehmung und Urteilsvermögen be-
einflussen und wie adäquat und wirksam sie sich für das Planen erweisen, wie gül-
tig und verzerrt ihre Darstellungen sind und welchen Bindungen ihrer Entwicklung
68 Bowlby 1986, S. 247 ­ 248.
69 Vgl. Bowlby 1986, S. 245 ­ 248.
70 Vgl. Fremmer-Bombik 1999, S. 110.

1 Bindung
31
förderlich oder hinderlich sind ­ all dies sind Fragen von großer Bedeutung für das
Verständnis der verschiedenen Arten und Weisen, in denen sich das Bindungsver-
halten heranwachsender Kinder organisiert."
71
Innere Arbeitsmodelle sind anfangs noch flexibel, werden aber im zunehmenden
Verlauf der Entwicklung stabiler und entwickeln sich zu einer ,,psychischen
Repräsentanz", der sogenannten ,,Bindungsrepräsentation"
72
. Sie sind zum Teil
bewusst, zum Teil unbewusst.
73
Bowlby zufolge werden die im familiaren Kontext entstandenen Arbeitsmodelle
als Erwartungen in andere Beziehungen hineingetragen. Dies geschieht durch
Generalisierungen, die sich auf die Selbsteinschätzung beziehen. Ein uner-
wünschtes Kind fühlt sich nicht nur von seinen Eltern unerwünscht, sondern es
wird davon ausgehen, dass es im allgemeinen unerwünscht ist. Umgekehrt
erlangt ein Kind, das sicher gebunden aufwächst, die Überzeugung, dass seine
Eltern es lieben und darüber hinaus auch die Sicherheit, dass es liebenswert ist
und auch von anderen geliebt wird.
74
Erwartungen in andere Beziehungen erfolgen aber auch durch Generalisierun-
gen, die sich auf die soziale Umwelt beziehen. Ein Mensch, der als Kind mit sta-
biler Unterstützung und emotionaler Zuwendung der Eltern rechnen konnte, geht
aufgrund seiner Arbeitsmodelle mit mehr Vertrauen in neue Beziehungen hinein.
Seine Erwartungen in andere Menschen sitzen tief und sind häufig in der Kind-
heit bestätigt worden, dass es ihm als Erwachsenen schwer fällt, sich ,,eine
andere Welt auch nur vorzustellen"
75
. Dies gibt ihm eine ,,nahezu unbewußte
Zuversicht, daß ihm stets zuverlässige Figuren zur Hilfe kommen werden, wann
und wo auch immer er in Schwierigkeiten geraten sollte."
76
Er kann mit mehr
Vertrauen auf andere Menschen zugehen und nimmt potentiell beunruhigende
Situationen wahrscheinlich mit Erfolg in Angriff. Wer jedoch nicht mit solcher
Unterstützung in seiner Kindheit rechnen konnte, hat wahrscheinlich negative
Arbeitsmodelle von anderen Menschen und wird misstrauischer sein, sich leich-
ter zurückziehen oder auch leichter in Streit geraten.
77
71 Bowlby 1984, S. 322 ­ 323.
72 Brisch 2005, S. 37.
73 Vgl. Brisch 2005, S. 37.
74 Vgl. Bowlby 1986, S. 249.
75 Bowlby 1984, S. 253.
76 Bowlby 1984, S. 253.
77 Vgl. Bowlby 1986, S. 245 ­ 251.

1 Bindung
32
1.3.6 Konzept der Feinfühligkeit
Das Konzept der Feinfühligkeit wurde wesentlich von Mary Ainsworth nach ihren
Studien in Uganda und Baltimore entwickelt. Ein wichtiges Ergebnis ihrer Unter-
suchungen war, dass die Feinfühligkeit der Mutter eine entscheidende Rolle für
die Qualität der Mutter-Kind-Bindung spielt. Sie stellte fest, dass Kinder von Müt-
tern mit feinfühligem Pflegeverhalten häufiger in der ,,Fremden Situation" ein
Verhaltensmuster aufzeigten, das auf eine sichere Bindung schließen lässt. Bei
Müttern mit weniger feinfühligem Verhalten ergab sich der umgekehrte Befund,
nämlich häufig eine unsichere Bindung.
Feinfühliges Verhalten besitzt charakteristische Verhaltensweisen. Die Mutter
muss in der Lage sein, kindliche Signale aufmerksam wahrzunehmen. Dazu
sollte sie diese Signale aus der Perspektive des Säuglings richtig deuten und
sich in seine Gefühlswelt hineinversetzen können. Hat sie die Signale richtig ent-
schlüsselt, muss sie entsprechend darauf reagieren und darauf achten, die Mut-
ter-Kind-Interaktion nicht durch Über- oder Unterstimulation zu erschweren. Die
Reaktion auf die kindlichen Signale muss zudem prompt erfolgen.
Ainsworth entwickelte dazu eine Skala, die die Feinfühligkeit bzw. Nicht- Feinfüh-
ligkeit im Verhältnis zu kindlichen Signalen erfassen soll:
,,The optimally sensitive mother is able to see things from her baby's point of view.
She is alert to perceive her baby's signals, interprets them accurately, and re-
sponds appropriately and promptly unless no response is the most appropriate un-
der the circumstances."
78
Säuglinge feinfühliger Mütter zeigen im Laufe des ersten Jahres eine sichere
Bindung und sind zunehmend in der Lage, selbstständig zu spielen und Explora-
tionsverhalten zu zeigen. Bei Angst oder Stress suchen sie Trost und Sicherheit
bei ihren Müttern und zeigen weniger ängstliches Verhalten oder Ärger bei der
Interaktion mit iihnen. Nachdem sie kurzen Kuschelkontakt mit der Mutter hat-
ten, können sie sich im allgemeinen schnell wieder von ihr lösen. Zudem erhal-
ten sie sich kooperationsbereiter, wenn es darum geht, Grenzen einzuhalten.
Säuglinge von weniger feinfühligen Müttern dagegen sind häufig unsicher
gebunden. Sie sind entweder auffallend unabhängig von der mütterlichen Unter-
78 Ainsworth 1978, S. 142.

1 Bindung
33
stützung oder zeigen deutlich negative Gefühle wie Ängstlichkeit, Ärger und
Aggressivität. Beim Spiel entfernen sie sich kaum von der Mutter, lassen sich in
ihrer Nähe jedoch auch nicht beruhigen.
79
Dazu siehe folgende Graphik:
Abbildung 2 Das Bindungssystem
Quelle: Holmes 2002, S. 98.
Die Intensität der Bindung ist somit ein Resultat der Feinfühligkeit. Darum soll es
im folgenden gehen.
1.4 Die Bindungsqualität
Mary Ainsworth führte Untersuchungen auf der Grundlage der Bindungstheorie
in Uganda und Baltimore durch. Durch diese und zahlreiche weitere Untersu-
chungen in verschiedenen Ländern konnte die ,,evolutionäre, genetisch festge-
legte Bereitschaft des menschlichen Säuglings belegt werden, Bindungen an
seine primären Bezugspersonen zu entwickeln."
80
79 Vgl. Brisch 2005, S. 40 ­ 42.
80 Grossmann & Grossmann 2005, S. 82.

1 Bindung
34
1.4.1 Mary Ainsworth und die ,,Fremde Situation"
Die Untersuchungen in Uganda und Baltimore umspannten das erste Lebens-
jahr von Säuglingen und zeigten die Entwicklung von Bindungsverhalten bis in
das zweite Lebensjahr hinein. Dabei wurden Verhaltensweisen dokumentiert, die
auf eine bestehende Bindung schließen lassen. Es konnte
deutlich gemacht
werden, welch entscheidenden Einfluss das feinfühlige mütterliche Verhalten auf
das Befinden und das Verhalten des Säuglings hat.
Um die unterschiedlichen Interaktionsmuster für alle Säuglinge unter vergleich-
baren Bedingungen objektiv erfassen zu können, entwickelte Ainsworth ein stan-
dardisiertes Verfahren, die sogenannte ,,Fremde Situation" (,,Strange Situation"),
die noch heute zur Messung kindlicher Bindungsmuster angewendet wird. Hierzu
wird eine experimentelle Laborsituation simuliert, in der man Interaktionsmuster
unabhängig vom vertrauten häuslichen Umfeld und der häuslichen Routine
beobachten kann.
81
Die Fremdheit ist wichtig, um das Bindungs- und Explorati-
onssystem des Kindes zu aktivieren.
Das Verfahren wird nach einem festen Schema in acht Episoden durchgeführt,
in denen das Kind in zunehmender Intensität Unvertrautheit, Neuheit und
Fremdheit sowie zwei kurze Trennungen von der Mutter erfährt. Jede dieser Epi-
soden dauert maximal drei Minuten. Die Kinder, die daran teilnehmen, sind etwa
zwölf Monate alt.
81 Vgl. Grossmann & Grossmann 2005, S. 81 ­ 84.

1 Bindung
35
Tabelle 1
Verlauf der ,,Fremden Situation" in der Standardform
1. Episode
Kind und Bezugsperson werden in den Beobachtungsraum
geführt und dort alleine gelassen.
2. Episode
Die Bezugsperson verhält sich ruhig, während das Kind
den Raum erkunden kann.
3. Episode
Ein fremder Erwachsener betritt den Raum, ist zuerst ru-
hig, beginnt sich jedoch nach einer Minute mit der Bezugs-
person zu unterhalten und wendet sich nach einer weiteren
Minute dem Kind zu. Die Bezugsperson verlässt den
Raum.
4. Episode
Die fremde Person und das Kind bleiben allein zurück.
5. Episode
Die Bezugsperson kehrt zurück, die fremde Person geht
hinaus. Die Bezugsperson versucht, das Kind zu beruhigen
und geht dann wieder hinaus.
6. Episode
Das Kind bleibt im Raum allein.
7. Episode
Die fremde Person kehrt zurück und beginnt zu interagie-
ren.
8. Episode
Die Bezugsperson kommt wieder zurück und die fremde
Person geht.
Quelle: Petermann, Kusch & Niebank 1998, S. 153.
Die Qualität der Bindungsbeziehung lässt sich aus der Art ermitteln, wie das
Kind die Mutter nach den kurzen Trennungsepisoden empfängt. Dabei sind vier
Strategien zu beobachten, die eine Folge der Erfahrung sind, die Kinder mit
ihren Bindungspersonen im Lauf ihres ersten Lebensjahres gemacht haben.
82
Sie werden im folgenden vorgestellt.
82 Vgl. Grossmann & Grossmann 2005, S. 132 ­ 135.

1 Bindung
36
1.4.2 Die Bindungsqualität am Ende des ersten Lebensjahres
Mary Ainsworth konnte anhand der Fremden Situation drei Bindungsstrategien
klassifizieren. Gruppe A umfasst unsicher-vermeidend gebundene Kinder,
Gruppe B sicher gebundene Kinder, Gruppe C unsicher-ambivalent gebundene
Kinder. Eine vierte Bindungsstrategie wurde von Mary Main entdeckt, nämlich
die desorientierten und desorganisierten Kinder.
Die unterschiedlichen Bindungsmuster sind ,,spezifische Adaptionsmuster im
Rahmen durchschnittlich normaler Mutter-Kind-Beziehungen"
83
. Das heißt, die
Bindungsmuster sind Verhaltensstrategien, mit denen sich Kinder an die Einstel-
lungen und Verhaltensweisen der Eltern ihnen gegenüber anpassen.
Wahrscheinliche Ursachen für die Entwicklung unterschiedlicher Bindungsmus-
ter sind mütterliches Verhalten, Charakteristiken des Kindes sowie Kulturein-
flüsse.
84
Abbildung 3 Einflussfaktoren auf die Entwicklung der
unterschiedlichen Bindungsmuster
Quelle: Petermann, Kusch & Niebank 1998, S. 156.
83 Brisch 2005, S. 77.
84 Vgl. Petermann, Kusch & Niebank 1998, S. 156.

1 Bindung
37
1. unsicher-vermeidend gebundene Kinder (Gruppe A)
Kinder, die der ersten Gruppe angehören, zeigen insgesamt ein kontaktvermei-
dendes Verhalten der Mutter gegenüber. Wenn sie hoch genommen werden,
zeigen sie keine Tendenzen, sich anzuklammern und keine Reaktion, wenn sie
wieder abgesetzt werden. Sobald die Mutter nach denn Trennungs-Episoden zu
den Kindern zurückkehrt, ignorieren sie diese und zeigen sich gleichgültig.
Schon bei der Begrüßung zeigen sie Vermeidungsreaktionen, indem sie bei-
spielsweise den Kopf abwenden oder sich entfernen. In der Trennungsreaktion
sind sie nicht gestresst und man merkt ihnen den Kummer nicht an. Zeigen sie
dennoch Trennungsschmerz, lassen sie sich durch die Interventionen der frem-
den Person besänftigen und behandeln diese ähnlich wie ihre Mutter.
85
Gottfried Spangler konnte zeigen, dass Kinder, die unsicher-vermeidend an ihre
Mutter gebunden sind, etwa 15 bis 20 Minuten nach Beendigung der Fremden
Situation einen erhöhten Kortisolspiegel aufweisen, was ein Indikator für physio-
logischen Stress ist. Das ist der Beweis für Trennungsstress und -leid auf phy-
siologischer Ebene, wenn Kinder auf der Verhaltensebene keine Lösung haben,
weil sie ,,psychologisch am Zugang zur Bindungsperson verhindert sind."
86
Unsicher gebundene Kinder kennen nicht das Gefühl der Sicherheit und orientie-
ren sich daher stets an ihrer Mutter, um sich ihrer Anwesenheit rückzuversi-
chern. Mütter unsicher gebundener Kinder zeigten in der Vergangenheit des Kin-
des wenig feinfühliges Verhalten. Das innere Arbeitsmodell eines unsicher-ver-
meidenden Kindes wird in ,,angespannter Vorsicht"
87
sichtbar. Die Kinder haben
ein erfahrungsbedingtes inneres Arbeitsmodell aufgebaut, mit dem sie von vorn
herein keine Unterstützung durch ihre Mutter erwarten, sondern nur Zurückwei-
sung. Sie haben gelernt, dass Gefühle wie Kummer oder Ärger keinen Platz in
der Beziehung zu ihrer Mutter haben und versuchen deshalb, diese Gefühle zu
unterdrücken oder ohne Unterstützung durch Andere zu bewältigen.
88
Um wei-
tere Zurückweisungen zu vermeiden, verleugnen sie jedes Verlangen nach
engen Bindungen und entwickeln Misstrauen und Angst davor, sich auf andere
Menschen zu verlassen.
89
So kann es passieren, dass ihre negativen Gefühle
85 Vgl. Ainsworth, Bell & Stayton 1971, S. 175.
86 Grossmann 2001, S. 37.
87 Fremmer -Bombik 1999, S. 116.
88 Vgl. Ainsworth 1987, S. 319 ­ 320.
89 Vgl. Fremmer-Bombik 1999, S. 118.

1 Bindung
38
und ihr Ärger manchmal in der sicheren häuslichen Umgebung aus ihnen her-
ausbrechen.
2. Sicher gebundene Kinder (Gruppe B)
Kinder mit einer sicheren Bindung zeichnen sich durch eine ausgewogene
Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten aus. Sie sind sich der
sicheren Bindung zur Mutter bewusst und müssen keine Anstrengungen unter-
nehmen, um sich der Bindung rückfragend sicher sein zu können.
In der ,,Fremden Situation" bemühen sich diese Kinder auf gesunde Weise inten-
siv um Nähe und Kontakt zur Mutter sowie Interaktion mit ihr. Ist die Mutter
abwesend, sind sie in der Lage, ihre Betroffenheit offen auszudrücken. In den
Wiedervereinigungs-Episoden begrüßen sie die Mutter freundlich, entspannen
sich in ihrem Arm, um kurz darauf weiter zu explorieren. Haben sie Kontakt und
Nähe erreicht, versuchen sie, beide aufrecht zu erhalten und protestieren, wenn
die Mutter sie wieder auf den Boden setzt. Säuglinge der Gruppe B können,
müssen jedoch nicht, freundlich mit der fremden Person umgehen. Sie zeigen
jedoch deutlich mehr Interesse an der Interaktion mit der Mutter als mit der
Unbekannten. Zwar mögen sich die Säuglinge von der Fremden ein wenig trös-
ten lassen, richtigen Trost finden sie jedoch nur bei der Mutter.
90
Ainsworth konnte nachweisen, dass sicher gebundene Kinder ausgeglichener
sind, selten weinen und ein gutes Verhältnis zwischen selbstständigem Spielen,
Exploration und Kontakt mit der Mutter aufweisen. Sie sind weniger aggressiv
und ängstlich und gehen angemessener auf Ge- und Verbote ein.
91
Das innere Arbeitsmodell eines sechsjährigen sicher gebundenen Kindes er-
möglicht ihm auch nach einer einstündigen anstrengenden Trennung eine ent-
spannte Offenheit gegenüber der Bindungsperson. Das erkennt man daran,
dass das Kind einen freien und flüssigen Dialog mit der zurückkehrenden Bin-
dungsperson beginnt, seine Zuversicht wird dabei durch freundliche Zugewand-
heit bestätigt. Der Aktionsradius für Explorationen ist daher nicht eingeschränkt
und die Stimmung entspannt.
90 Vgl. Ainsworth, Bell & Stayton 1971, S. 176.
91 Vgl. Grossmann & Grossmann 2005, S. 123 ­ 127.

1 Bindung
39
Alan Sroufe und seine Mitarbeiter von der University of Minnesota konnten in der
in den frühen 70er Jahren nachweisen, dass sich aus sicheren Bindungen in der
frühesten Kindheit kindliche Kompetenz entwickelt, die sich bei Kindern im Vor-
schulalter in angemessen autonomem Handeln, Kooperationsbereitschaft, Wiss-
begierde, Konfliktfähigkeit und einer guten emotionalen Organisation zeigt.
Damit entkräfteten sie die Vermutungen, dass sichere Bindung zu Abhängigkeit
und Unselbstständigkeit führen könnte.
92
3. unsicher-ambivalent gebundene Kinder (Gruppe C)
Kinder der Gruppe C werden als eine ,,heterogene Gruppe"
93
betrachtet, die im
Vergleich zu anderen Kindern in der ,,Fremden Situation" unangepasster wirkt.
Sie scheinen weniger in der Lage, ihre Mutter als sichere Basis für die Explora-
tion in der unvertrauten Umgebung zu nutzen. Diese Kinder hängen sich oft an
ihre Mutter, jedoch ohne sich entspannen zu können. Sie beobachten diese
ängstlich, intensiv und ausdauernd, ihre Aufmerksamkeit der Mutter gegenüber
ist erhöht. In der Trennungsphase geben sie ihrem Kummer lautstark Ausdruck,
zeigen bei der Rückkehr der Mutter jedoch ein sehr ambivalentes Verhalten.
Einerseits suchen sie Nähe und Kontakt zur Mutter, andererseits leisten sie
Widerstand, indem sie sich abwenden und zornig reagieren. Sie lassen sich
schwer beruhigen, sind unzufrieden, weinen häufig und weisen Ablenkungsma-
növer mit Spielsachen teilweise sehr aggressiv ab.
Unsicher-ambivalent gebundene Kinder besitzen ein inneres Arbeitsmodell, das
nicht aus stabilen positiven oder negativen Erwartungen aufgebaut ist, sondern
aus Inkonsistenzen in der mütterlichen Zuwendung und im Kontakt entstanden
ist.
94
Die innere Einstellung, die Kinder der Gruppe C in die ,,Fremde Situation"
mitbringen, macht sie unruhig und aktiviert ihr Bindungssystem, da sie sich in
einer fremden Umgebung wiederfinden und mit einer fremden Person konfron-
tiert sind. Ihr unsicheres inneres Arbeitsmodell lässt sie die Nähe zur Bindungsfi-
gur bereits vor der Trennung suchen, wodurch das Explorationsverhalten einge-
schränkt wird. Sobald die Mutter den Raum verlässt, werden die Kinder in der
Erwartung bestärkt, dass die Bindungsfigur einmal mehr nicht verfügbar ist.
Diese Trennung belastet die Kinder sehr stark. Das ambivalente Verhalten bei
92 Vgl. Grossmann & Grossmann 2005, S. 86.
93 Ainsworth, Bell & Stayton 1971, S. 177.
94 Vgl. Ainsworth 1987, S. 314 ­ 325.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836641814
DOI
10.3239/9783836641814
Dateigröße
9.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg – Philosophische Fakultät I
Erscheinungsdatum
2010 (Februar)
Note
2
Schlagworte
bindung kindheit gewalt bowlby mutter kind beziehung
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